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Titel:

Kennkartenporträts für Julius und Berta Stern, 1938.

Quelle: Stadtarchiv Baden-Baden

© KulturAgentur Dr. Martin Ruch

Gestaltung: punktgenau GmbH, Bühl

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt, 2015

ISBN-13: 978-3-7392-9400-1

Inhaltsverzeichnis

Kaddisch: Das Kaddisch-Gebet ist wahrscheinlich eines der bekanntesten jüdischen Gebete überhaupt und viele Nichtjuden wissen davon. Meistens wird es das „Totengebet“ genannt, was es aber nur indirekt ist, in Wirklichkeit ist es die Heiligung des göttlichen Namens und man sagt es stellvertretend für die Verstorbenen, um sich an sie zu erinnern.

Übersetzung:

Erhoben und geheiligt werde sein großer Name auf der Welt, die nach seinem Willen von Ihm erschaffen wurde – sein Reich soll in eurem Leben in den eurigen Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in nächster Zeit erstehen. Und wir sprechen: Amen! Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten. Gepriesen sei und gerühmt, verherrlicht, erhoben, erhöht, gefeiert, hocherhoben und gepriesen sei der Name des Heiligen, gelobt sei er, hoch über jedem Lob und Gesang, Verherrlichung und Trostverheißung, die je in der Welt gesprochen wurde, sprechet Amen! Fülle des Friedens und Leben möge vom Himmel herab uns und ganz Israel zuteil werden, sprechet Amen. Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, stifte Frieden unter uns und ganz Israel, sprechet Amen.

(www.talmud.de, 3.7.2015)

Einleitung

David Grossmann, israelischer Schriftsteller, geb. 1954, schrieb am 10. Mai 2015 in der Süddeutschen Zeitung über den Verlust von Millionen Lebenswelten in der Shoah: „Mich schmerzt der Gedanke daran, dass man so vielen Menschen ihre Persönlichkeit und Individualität geraubt hat. Und ihre Einzigartigkeit durch den Entzug des Namens ausgelöscht hat. Man machte sie stattdessen zu Nummern. Beraubte sie ihrer persönlichen Dinge, ihrer Intimität, ihrer Freunde und Familien, ihrer Begabungen und Geheimnisse.“

Jedes Individuum, das in der Schoah ermordet wurde, verkörperte eine ganze Welt. Und jedes dieser ausgelöschten Individuen hat ein Recht darauf, wenigstens in der Erinnerung weiter zu leben. Für viele Namen konnte das seither an vielen Orten geleistet werden, in Yad Vashem, in Museen, unzähligen Büchern und Gedenkprojekten. Aber diese Arbeit ist längst nicht abgeschlossen.

Deportationsliste August 1942 für Baden-Baden.

Quelle: Leo Baeck Institute, New York, Sign AR 2537

Sterbebuch Baden-Baden, Eintrag Julius Stern.

Quelle: Stadtarchiv Baden-Baden

Zwei weitere Namen sollen an dieser Stelle genannt werden, die Namen zweier Menschen, die mit Offenburg und Baden-Baden in besonderer Weise verbunden sind, ein Ehepaar, das am 17. August 1942 den gemeinsamen Tod einem Schrecken in Theresienstadt oder Auschwitz vorgezogen hat. Denn auch Julius und Berta Stern sollten deportiert werden, auch sie standen „auf der Liste“. Sie flohen und emigrierten endgültig aus dieser grausamen, wahnsinnig und mörderisch gewordenen Welt. So fand man Julius und Berta Stern dann tot in ihrer Wohnung in der Hardäckerstraße 12 in Baden-Baden, „am Vorabend des Tages, an dem sie beide in ein Vernichtungslager im Osten abtransportiert werden sollten“, wie ein Angehöriger nach dem Krieg sagte.1 „Selbsttötung durch Gift“ lautete der amtliche Befund. Im Krematorium Baden-Baden fand am 19.8.1942 die Einäscherung statt, Frau Stern um 19 Uhr, Herr Stern um 16.30 Uhr. „Die Leiche war von 17.8 bis 19.8. in der Leichenhalle aufbewahrt. Bemerkung: Asche an Angehörige abgegeben.“

Ein letztes Mal noch befasste sich dann die städtische Verwaltung mit dem „Fall Stern“. Am 2. September 1942 schrieb der Oberbürgermeister der Welt- und Kulturstadt an das „Finanzamt – Abt. Jüdisches Vermögen“: „Wie mir gemeldet wurde, befinden sich in der Wohnung des verstorbenen Juden Stern eine größere Anzahl Lebensmittel, wie Mehl, Eier, Konserven usw. Um einen Verderb zu verhindern sollen die Lebensmittel dem Städt. Krankenhaus zugeführt werden.“ Doch das Finanzamt antwortete Tags darauf: „Die Schlüssel für das Haus des verstorbenen Juden Stern sind mir von der Gestapo noch nicht übergeben worden.“ Das Amt wollte selbst über die Verwendung entscheiden.2

Seit dem Jahr 2009 weisen zwei „Stolpersteine“ des Künstlers Gunter Demnig an ihrem letzten Wohnsitz in Baden-Baden auf die beiden Stern hin mit der Inschrift: „Gedemütigt, entrechtet, Flucht in den Tod 17.8.42.“ Auf der Liste der Shoah Victims in Yad Vashem, Israel, steht auch ihr Name: Julius Stern und Berta, geb. Schnurmann, als „murdered Jews from Germany“, ermordete Juden aus Deutschland.

Stolpersteine für Julius und Berta Stern, Hardäckerstr. 12, Baden-Baden.

Foto: Ruch

Gymnasium Hohenbaden, Baden-Baden, 2015. Foto: Ruch

Hier in Baden-Baden hatten die beiden gelebt, seit Julius Stern 1904 seine Stelle als Lehrer für Griechisch, Latein, Deutsch und Geschichte am Gymnasium der Stadt, heute Gymnasium Hohenbaden, angetreten hatte. Ihr erster Wohnsitz war Scheibenstr. 15 gewesen, im Januar 1928 zogen sie um in ihr neu errichtetes Eigenheim, Hardäckerstr. 12. Im Melderegister der NS-Zeit wurden beide als „Volljude“ registriert, obgleich Berta Stern, geb. Schnurmann aus Offenburg, als „evangelisch“ in ihrer Heiratsurkunde genannt worden war und Julius Stern aus der jüdischen Religionsgemeinschaft ausgetreten sein soll, wie eine vertrauenswürdige Schülerin später sagen wird. Eine Dokumentation zur Verfolgung der Juden in der NS-Zeit vermerkte zu ihrem Bekenntnis: „Ehe zwischen Freireligiösen (Dissidenten)“.

Herkunft

Julius Stern war der Sohn des Simon Stern3 und seiner Frau Sara, geb. Frankenbacher. Der Vater war als israelitischer Religionslehrer in Wollenberg (Kreis Heidelberg) tätig. Am 28.10.1865 kam Julius hier, wo sich seit Jahrhunderten eine jüdische Gemeinschaft befand4, zur Welt. Zwei Jahre später zog die Familie um nach Offenburg, der Kreisstadt in der Ortenau, wo Simon Stern nun ebenfalls wieder als Religionslehrer für die nach dem Gleichstellungsgesetz 1862 gerade gegründete neuzeitliche jüdische Gemeinde der Stadt tätig war. In vielen Amtshandlungen, bei Taufen oder Beerdigungen fungierte er darüber hinaus als Zeuge und wurde dabei stets mit seinem Beruf angegeben, etwa bei der Trauung des „Bürgers zu Grünstadt und Weinhändler zu Ludwigshafen, Witwer Bernhard Rudolf Goldschmit, geb. zu Grünstadt am 26. Juni 1836, mit der ledigen Charlotte Ballin von Schmieheim. Zeugen Simon Stern, hiesiger Religionsschullehrer und Seligmann Bodenheimer, Synagogendiener dahier. Offenburg, den 4. Merz 1867.“ Auch weitere Kinder des Simon Stern wurden im Kirchenbuch aufgeführt: „Im Jahr 1867, den 7. November nachmittag drei Uhr wurde dahier ein Kind weiblichen Geschlechts geboren, welches den Namen Betty erhielt. Seine Eltern sind der hiesige israelitische Religionslehrer Simon Stern und dessen Ehefrau Sara, geborene Frankenbacher von Ehrstädt.“

Adressbuch Offenburg 1868.

Quelle: Stadtarchiv Offenburg

Salmen Offenburg: Gasthaus – Synagoge – Erinnerungsstätte, 2015.

Foto: Ruch

Das Adressbuch der Stadt Offenburg hat im Jahre 1868 festgehalten, wo Religionslehrer Simon Stern damals wohnte, nämlich in der ersten kleinen Synagoge der jungen jüdischen Gemeinde. Sie befand sich im Haus „Bahnhofstrasse Nr. 86“, der heutigen Seestraße. Ein späteres Adressbuch belegt, dass Simon Stern mit der Familie 1875 dann in die eben von der Gemeinde erworbene größere Synagoge umgezogen ist, in den historischen Gasthof „Salmen“, den die Gemeinde zum Bethaus mit Wohn- und Unterrichtsräumen umgebaut hatte. Hier wurde Stern nun als „Religionslehrer und Kantor“ genannt.

Ausbildung

Der Sohn Julius Stern ging in Offenburg zur Volksschule und später ins Gymnasium, das zunächst noch ein „Großherzogliches Progymnasium“, dann ab dem Schuljahr 1884–85 ein reguläres „Gymnasium“ war. In den obligatorischen Jahresberichten wurde über das vergangene Schuljahr detailliert berichtet. So lesen wir heute noch: „Der Gesundheitszustand der Schüler war auch in diesem Jahr ein sehr günstiger. Das frische Aussehen derselben beweist, dass unsere Anforderungen an den häuslichen Fleiß nicht über das Maß des Zulässigen hinausgingen und dass die im Interesse der Gesundheit getroffenen Anordnungen sich bewährt haben. In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass zur Schonung des Sehvermögens der Schüler während der letzten Herbstferien Gasbeleuchtung in sämtlichen Unterrichtslokalen eingerichtet wurde.“5

Unter diesen also offensichtlich erhellenden Umständen bestand Julius Stern im Juli 1883 das Abitur. Am 21. Juli 1883 war in der Presse angekündigt worden: „Zur Abhaltung des Abiturientenexamens und Einsichtnahme vom Stand des hiesigen Gymnasiums ist Herr Oberschulrath von Sallwürk eingetroffen.“ Man konnte beruhigt dem Examen entgegen sehen, und wirklich: „An der gestern beendeten Abiturientenprüfung haben sämtliche 10 Geprüfte das Examen bestanden, und zwar 5 mit „gut“, 3 mit „ziemlich gut“ und 2 mit „hinlänglich.“6 Der feierliche Schlußakt fand am 31. Juli im Dreikönigsaal statt, nur wenige Tage nach der Einweihungsfeier des Denkmals für Lorenz Oken aus Bohlsbach, einer heute eingemeindeten Ortschaft Offenburgs. „Unserem Bericht über die Okenfeier ist nachzutragen, dass auch die Gymnasiasten einen Kranz an den Stufen des Denkmals niederlegten.“ Die Schlußfeier gestaltete der Direktor mit markigen Worten, auch Julius Stern wird sie gehört haben: „Insbesondere sei vor Räuber-, Ritter- und Indianergeschichten zu warnen, die die Phantasie mit abenteuerlichen Bildern erfüllen und den Sinn für Ernsteres zerstören. Leitstern der Jugend sei Okens Streben nach Klarheit und Wahrheit!“

Gymnasium Offenburg, Jahresbericht 1883. Quelle: Stadtarchiv Offenburg

Oken-Denkmal Offenburg, alter Standort, ca. 1900

Quelle: Postkartensammlung Ruch

Der offizielle Abschlußbericht nannte auch Julius Stern unter den Absolventen. Er hatte „Philologie“als angestrebtes Studienfach angegeben. In seinem letzten Jahr besuchten die Schule insgesamt 231 Schüler, von denen 19 israelitisch und 40 evangelischen Bekenntnisses waren, 23 erhielten altkatholischen Religionsunterricht.

Zum Wintersemester 1884/85 immatrikulierte er sich im Alter von 19 Jahren mit der Nummer 113 an der Universität Heidelberg als „Julius Stern aus Wellenberg, Sohn des Lehrers a. D. Simon Stern in Offenburg, israelitisch“, zum Studium der Philologie.7 Ein Verwandter wird später nach dem Krieg über diese Studienjahre sagen, Julius habe sie nur finanzieren können, indem er Nachhilfeunterricht gab.

Studium, Beruf

„Im Frühjahr 1889 bestand er in Karlsruhe die Staatsprüfung für klassische Philologie, absolvierte dann eine kurze Probezeit am Gymnasium in Karlsruhe und ging im Herbst nach Straßburg, um seiner Militärpflicht zu genügen. Von 1890–91 war er dann Praktikant am Gymnasium in Lörrach, darauf ein Jahr am Gymnasium in Baden, wurde im Dezember 1897 Professor am Gymnasium in Offenburg, 1902 in gleicher Eigenschaft nach Bruchsal und 1904 nach Baden-Baden versetzt.“8

Während der Zeit am Gymnasium in Lörrach verfasste Julius Stern eine erste wissenschaftliche Arbeit, die in den Jahresberichten der Schule erschien: „Homerstudien der Stoiker“9

Nach dem Studium und den ersten Referendarjahren kehrte Julius Stern in die Heimatstadt Offenburg zurück für wenige Jahre. Über diese Zeit geben die städtischen und Schulakten nähere Auskunft:

Jahresbericht Gymnasium Lörrach 1892/93

Der Jahresbericht des Offenburger Gymnasiums erwähnt im Jahrgang 1897–98: „Durch Erlaß Großherz. Oberschulrats vom 7. Dezember Nr. 23412 wurde Lehramtspraktikant Julius Stern vom Gymnasium Baden auf den 10. Dezember an die hiesige Anstalt versetzt. Seine Königliche Hoheit der Großherzog haben mit Allerhöchster Staatsministerialentschließung vom 12. Dezember Nr. 748 gnädigst geruht, den Lehramtspraktikanten Julius Stern zum Professor zu ernennen.“10

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