Von Klaus-Dieter Regenbrecht
sind bisher erschienen

Tabu Litu - ein documentum fragmentum
in neun Büchern

Continuity - Hitchcocks, Pocahontas

Das Camp - Acht neue Erzählungen

Die Reisen des Johannes

AmoRLauf - ein Bildungsroman

Transit Wirklichkeit

Im Goldpfad 10 - ein Schlüsselroman

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Regenbrecht, Klaus-Dieter

Jonas von Dohms zu Brügge

Koblenz: Tabu Litu Verlag Klaus-Dieter Regenbrecht

Books on Demand GmbH

ISBN: 978-3-9258-0572-1

2., überarbeitete Aufl. 2014

Impressum:

© 2014 Copyright by Klaus-Dieter Regenbrecht, Koblenz

http://www.kloy.de

Satz und Layout: kloy

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags und der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Autors durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren reproduziert oder mittels elektronischer Systeme verarbeitet werden.

It hath been observed by wise men and women,
I forget which, that all persons are doomed
to be in love once in their lives.

Henry Fielding, Tom Jones

Unser Gedächtnis und unser Herz sind
für die Treue nicht groß genug.

Marcel Proust, Auf der Suche
nach der verlorenen Zeit

Die wichtigsten handelnden Personen:

Jonas Brügge, „von Dohms zu Brügge“, Sohn von Dirk Sommer und Bettina Brügge, wächst bei Miriam und Josef Dohms auf.

Dirk Sommer, Lufthansa-Flugkapitän, Vater von Jonas

Bettina Brügge, Mutter von Jonas, Tochter von Bertold und Margot Brügge (geb. Singer).

Daniela Dohms, Tochter von Josef und Miriam Dohms (geb Singer).

Miriam Dohms, Schwester von Margot Brügge, Mutter von Daniela Dohms, Lehrerin für Französisch und Biologie.

Josef Dohms, Ehemann von Miriam, Lehrer für Deutsch und kath. Theologie.

Bertold Brügge, Vater von Bettina und Tobias Brügge, Inhaber eines Frankfurter Bankhauses.

Margot Brügge, (geb Singer), Ehefrau von Bertold, Schwester von Miriam Dohms.

Tobias Brügge, Sohn von Margot und Bertold.

Sophia Western, Tochter von John W und Carolin, Kindergarten- und Schulkameradin von Jonas und Daniela.

John W Western, Angehöriger US-Army zunächst in Frankfurt/M, später Washington DC, Kriegsteilnehmer Naher Osten.

Carolin Western, geb. Holzer.

Aaron Western, Bruder von Sophia.

1

Die Liebe der jungen Frau Brügge war von besonderer Art. Der Lufthansa-Pilot, der sie auf einer Damentoilette des Frankfurter Flughafens schwängerte, war nach einer nur knapp glimpflich verlaufenen Notlandung, auf der Landebahn herrschte dichter Nebel bei schmierigen Verhältnissen, zu schnell gekommen und zitterte fürchterlich. Die ganze Zeit.

Der Lufthansa Flug LH401 vom John F. Kennedy Airport in New York City war am ersten November ruhig verlaufen, und erst über den britischen Inseln geriet man in widrige Wetterverhältnisse und Turbulenzen, die nicht nur bei den Passagieren zu Erregungszuständen mit schnellerem Atem und feuchten Händen führten.

Über dem Frankfurter Flughafen herrschte Hochbetrieb wie in einem Kontakthof im Bahnhofsviertel, denn die Lande- und Startbahnen waren mit Blitzeis überzogen; es sah aus wie glänzendes, hauchzartes Organza, das den glatten Asphalt schwarz durchschimmern ließ.

LH401 verbrachte so viel Zeit in der Warteschleife, dass der Anflug zu einem anderen Flughafen schwierig geworden wäre. Die Streufahrzeuge schafften es aber rechtzeitig, eine ausreichende Anzahl von Landebahnen frei zu bekommen, so dass keine unmittelbare Notsituation entstand.

Der Anflug war schwierig, die Bahn war schmierig; der Touchdown, verfolgt mit klopfenden Herzen und begleitet von lautem Stöhnen, endete in erleichtertem Beifall.

„Holy fuck“, dachte Flugkapitän Sommer, „wie soll man sauber runterkommen, wenn das Baby so störrisch ist.“

Und Flugbegleiterin Alina, die schon mal vergaß, ihre Blusenknöpfe wieder ordnungsgemäß zu schließen, bevor sie aus dem Cockpit in den Passagierraum stolzierte, meinte, „bei dir ist jedes Runterkommen ein Höhepunkt, Dirk.“

„Und jedes arrival ein Abgang“, dachte der Copilot.

So lange Dirk Sommer noch in der Maschine war und die Landeformalitäten erledigte, reichte sein Adrenalinschub aus, um ihn weiter funktionieren zu lassen, und zwar einwandfrei. Erst in der Halle, in der laute Aufregung und ein wimmelndes Gewusel an den Schaltern und vor den Bildschirmen herrschte, wurde ihm schummerig und seine Sinne gingen auf „deaf mute.“

Er lief einen der Gänge entlang, die zu den Parkhäusern führten. Der Gang war menschenleer und eine der Leuchtröhren flackerte unregelmäßig. Sommer glaubte einen Moment, die Morsezeichen für SOS entziffert zu haben. Und schon packte ihn eine Frau um die Hüfte und zog ihn durch die Tür zur Damentoilette. Betty, in ihrer Uniform einer Klofrau, war auf den Gang hinaus getreten, weil sie sich wunderte, dass schon längere Zeit kaum jemand in den Toilettenräumen auftauchte, hatte den schwankenden Piloten gesehen, sein gemurmeltes „SOS“ gehört und zugegriffen.

Natürlich war ihr seine Erektion aufgefallen, die sich deutlich in der engsitzenden Uniformhose abzeichnete; das Jackett hatte er über die Schulter geworfen und klemmte unter dem Riemen seiner Reisetasche.

„Die Aufregung“, hatte er später entschuldigend erklärt, und behauptet, dass er sich seines steifen Gliedes überhaupt nicht bewusst gewesen sei.

„Als du da auf meinem Stuhl hocktest, Dirk, konnte ich nicht anders.“

Er war erschöpft, zitterte, sah fiebrig aus, und im Sitzen spannte sich seine Hose noch mehr.

„Das geht ja gar nicht“, murmelte Betty, machte den Gürtel auf, öffnete den Hosenknopf und zog den Reißverschluss herunter; der optische Eindruck der Erektion war so stark, dass sich in ihrem Kopf das zugehörige mechanische Geräusch einstellte, als sei eine elastische Feder freigegeben worden, die sanft vibrierte.

„What a bumper.“ Betty spürte, dass sie besser nicht allzu viel Zeit mit einem Blowjob verschwendete, knöpfte ihren Kittel auf, schob den schmalen Streifen ihres Slips in die kleine Einkerbung zwischen ihrer linken äußeren Schamlippe und der Innenseite ihres Oberschenkels, beide völlig haarlos.

„Bingo“, lachte sie, und Dirk machte große Augen. Als er für Bettys langsamer anschwellende Lust zu schnell kam und fast bewusstlos wurde, tätschelte sie seine Wangen, „hei, bleib bei mir“, und dachte, „wer weiß, wie lange der schon mit seinem Steifen rumläuft.“

Nach Schichtwechsel, der kurz danach erfolgte, brachte Betty Dirk in das Hotel am Flughafen, päppelte ihn mit zwei Whiskey wieder auf, und die zweite Nummer war dann schon eher nach dem Geschmack der jungen Frau Brügge. Bettina Brügge war eine Prä-Inkarnation, die burleske Fleischwerdung vor und von einer Dita von Teese, mit ihrem wallenden schwarzen Haar und der mit Korsagen zurecht getrimmten Hüfte, mit den echten Brüsten, die perfekt in 75C BH passten und den wohlgeformten Schamlippen, rasiert, schon damals 1988, als sich nur wenige Frauen die Scham rasierten. Plus dazugehöriger Garderobe. Die Kostümierung der Klofrau samt Häubchen gehörte dazu, auch wenn Betty sich für den tatsächlichen Dienst auf dem Flughafen nicht schminkte.

. . .

Die frühen achtziger Jahre waren, was den Intimbereich anbelangte, noch stark von den Naturvorstellungen der Flower-Power-Zeit geprägt. Man ließ wachsen, was wachsen wollte. Bärte und lange Haare wucherten überall. Sean Connery soll als James Bond angeblich nicht nur auf dem Kopf ein Toupet getragen haben. Wer wäre in einer solchen Zeit auf die Idee gekommen, sich ausgerechnet da zu rasieren, wo die Natur am lustvollsten war. Die rasierte Scham, vor allem bei Frauen, gab es zu allen Zeiten, wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen. Über die Beschneidung hinaus war bei Muslimen die Entfernung der Schambehaarung seit jeher gängige Praxis. Päderasten bevorzugten schon immer Prostituierte, die ihnen mit rasierter Scham den Unterleib eines jungen Mädchens anbieten wollten.

Hygiene, Religion, Ästhetik und Erotik sind in der Menschheitsgeschichte seltsame Wege gegangen. Dass Schamhaare nicht einfach nur Haare waren, bedurfte keiner weiteren Erläuterung, wuchsen sie doch erst mit der Pubertät, der Geschlechtsreife, wie die weiblichen Brüste und der männliche Bartwuchs.

Gelegentlich wird der Mensch auch als das nackte Tier bezeichnet. Die vergleichsweise wenigen Haare betonen somit seine animalische Herkunft.

Warum also versuchte sich der Mensch in einen Zustand zu versetzen, der vom Aussehen her dem ähnelte, der vor der Geschlechtsreife zu sehen war? Um sich wieder in ein vermeintlich unschuldiges Kind zurück zu verwandeln? Dagegen sprach, dass sich die Intimrasur um die Jahrtausendwende eindeutig aus sexuellen Motiven heraus und in der Pornographie rasant verbreitet hatte, zumindest was den westlichen Kulturkreis Europas und Nord-Amerikas anging. In Japan dagegen nannte man Frauen, die nach eigenem Empfinden zu dünne Schambehaarung hatten und diese mit Kopfhaarperücken verdichteten, Blumen der Nacht.

L’Origine du monde, der Ursprung der Welt, nannte Gustave Courbet sein Bild von 1866, das Partien eines liegenden, nackten Frauenkörpers zeigte, die gespreizten Oberschenkel im Anschnitt, über die Brust und um den Körper herum ein Laken so drapiert, dass nur eine Brustwarze sichtbar wurde; im Bildzentrum ein stark behaarter Venushügel und eine sich nur einen winzigen Spalt öffnende Vulva.

Der Gegenstand also, von dem wir hier ausgehen und dem wir uns zuwenden wollen, ist nichts anderes als die menschliche Natur. Ich hoffe, dass meine Leser, mit klarer Vernunft und feinstem Geschmack gesegnet, nicht anfangen zu nörgeln oder beleidigt sind, weil dieser eine Gegenstand als gewöhnlich und vulgär empfunden wird. Die menschliche Natur besitzt eine solch außerordentliche Vielfalt, dass kein Autor sie je erschöpfend darstellen kann. Genauso gut könnte er anfangen, die Haare aller Menschen auf der Welt zu zählen.

. . .

Miriam Singer war eine der Frauen, die sich zu der Zeit von Love & Peace Blumen ins Haar geflochten hatten und niemals auf die Idee gekommen wären, sich die Schambehaarung zu entfernen. Sie war eine der Beteiligten, als 1978 die Bürgerinitiative gegen den Ausbau der Startbahn West ins Leben gerufen wurde, und die bei vielen Protest-Aktionen auf dem Gelände dabei war, auf dem ein paar Jahre später Dirk Sommer seine Maschine sauber zur Landung brachte. Dass sie sich nicht ganz so engagieren konnte, wie sie das gerne getan hätte, lag daran, dass sie in den Vorbereitungen zu ihrem zweiten Staatsexamen steckte. Sie hatte Französisch und Biologie studiert.

Bei den Demonstrationen hatte sie auch ihren späteren Mann kennengelernt, Josef Dohms, der ein paar Jahre älter und Studienrat mit den Fächern Deutsch und katholische Religion, war. Auch wenn beide nicht in vorderster Front vor den Absperrungen zu finden waren, der Strahl der Wasserwerfer reichte weit. So weit, dass beide an einem kalten Novembertag patschnass wurden und sich zähneklappernd in seine kleine Wohnung verzogen, wo sie sich gegenseitig mit Handtüchern abrieben und in trockene Klamotten schlüpften. Josef und Miriam in seinen Sachen. „Scheiße, war das Wasser kalt.“

Auf seinem Schreibtisch stand ein Foto von Karol Wojtyla, dem dritten Papst des Jahres 1978. Im August war Papst Paul VI nach fünfzehnjährigem Pontifikat gestorben, sein Nachfolger Johannes Paul I nach nur dreiunddreißig Tagen. Johannes Paul II war der erste Nichtitaliener seit rund 400 Jahren auf dem Papststuhl. An der Wand hing außerdem ein Zeitungsfoto, das Günter Grass mit dem Bundespräsidenten Heinemann und dem brasilianischen Bischof Dom Hélder Pessoa Câmara 1970 in Bonn beim Deutschen Forum für Entwicklungshilfe zeigte. Die kleine Wohnung sah insgesamt eher nach Theologiestudent als nach Studienrat aus.

„Du bist so schön“, hatte Josef nur gemurmelt, während er sie abtrocknete, aber stets das Handtuch so gehalten, dass seine Hände ihre heilige Haut nicht berührten. Und das Handtuch kratzte auf ihrer Haut; seine Hände dagegen, das sah sie, waren glatt und weich wie die einer Wachsfigur in einem Devotionalien-Laden in Rom.

„Bist du Priester“, fragte sie ihn, nachdem sie sich in dem

Zimmer umgesehen hatte.

„Nein“, war seine Antwort, „ich bin Lehrer, aber, ja, ich habe Theologie studiert, schlimm?“

„Nein, überhaupt nicht.“

Sie war ja auch dabei, Lehrerin zu werden. Dass sie mit ihm auch geschlafen hätte, wenn er Priester gewesen wäre, sprach sie nicht aus. Ihr war klar, woher seine Befangenheit rührte; wahrscheinlich beschäftigte er sich den ganzen Tag neben Gebeten mit sexuellen Phantasien.

„Dich kriege ich“, ging ihr durch den Kopf und sie lächelte ihn an. Einfach süß.

Miriams ältere Schwester Margot war seit einigen Jahren verheiratet, hatte zwei Kinder, Bettina und Tobias, die beide schon beziehungsweise noch in der Pubertät steckten. Nach der Geburt von Tobias hatte Miriams Schwester zu ihrem Mann Bertold Brügge gesagt, „so, das war’s dann jetzt aber auch.“

Was sie damit gemeint hatte, erklärte Schwager Bertold der jüngeren Schwester seiner Frau, als er mit ihr, die nun mit Josef verheiratet war, ein Verhältnis angefangen hatte, „kein Sex, verstehst du, Miri.“

„So ist meine Schwester, konsequent.“

Ob da nun ein archaisches Stellvertreterinnenprinzip griff, ähnlich dem alttestamentarischen, das zum Onaniebegriff geführt hatte, jedenfalls übernahm Miriam diesen Part, und zwar gerne und gewissenhaft, denn Josef war ein herzensguter Mann, aber nicht gerade der Bringer im Bett.

Bertold Brügge gehörte das Bankhaus Brügge & Cie, seit zwei Generationen in Frankfurt ansässig. Er war verdammt reich und hatte unbedingt einen männlichen Nachkommen für das Unternehmen gewollt. Auch wenn seine Frau Margot den Sex nicht kategorisch aufgekündigt hätte, er wäre sicher nicht der treueste Mann gewesen, der er dann doch für Miriam wurde, nachdem er sich von Ende der Sechziger bis Anfang der Achtziger mit zunehmend langweiliger werdenden Bordellbesuchen und kurzen aber teuren Liebschaften mehr oder weniger vergnügt hatte. Seit zwei Jahren trafen sich Bertold und Miriam regelmäßig in seiner Jagdhütte auf der Höhe über dem Rheingau oder gingen auf Kurztripps in alle Welt, wenn Josef zu seinen Exerzitien ins Kloster ging.

Bertold hatte Feuer im offenen Kamin gemacht, das Wetter an diesem Novembertag 1988 war sehr ungemütlich, fast hätten sie es wegen Blitzeis nicht zur Hütte geschafft. Miriam und er hatten es so arrangiert, dass sie nicht nur ein paar Stunden miteinander verbringen konnten, sondern den Abend und die ganze Nacht. Sobald es warm genug war, würden sie sich vor dem Kamin lieben, sich unterhalten, den Abend bei einem guten Essen in einem Weingut verbringen und dann hatten sie noch die ganze Nacht vor sich.

„Wie läuft es so mit den Kindern, Berti?“

„Naja, du weißt doch, Bettina will Schauspielerin werden, aber auf keine Schauspielschule, sie will echte Rollen spielen, im Leben.“

Betty war nicht nur eine Prä-Inkarnation der Dita von Teese, ihre Schauspielerei hatte sehr große Ähnlichkeit mit dem, was später als reality soaps auf den privaten Kanälen für fatale Fehlrezeptionen bei den jugendlichen Zuschauern sorgen sollte. Vor ihrer Rolle als Klofrau hatte sie sich bei einer anderen Aktion einige Exemplare von „Der Wachturm“ und „Erwachet!“ besorgt und war mit einem ehemaligen Klassenkameraden aus der Abi-Klasse als Zeugen Jehovas von Haustür zu Haustür gezogen, um die Menschen zu missionieren. Nicht ohne Erfolg.

„Hauptsache, sie hat ihr Abi in der Tasche, Bertold, das andere wird sich im Laufe der Jahre fügen.“

„Ich werde drei Kreuzzeichen machen, wenn Tobias das auch geschafft hat. Dann mache ich nur noch so lange weiter, bis eins der Kinder so weit ist, die Bankleitung zu übernehmen, und dann können wir beide endlich ein gemeinsames Leben beginnen, Miriam.“

„Wer weiß, was alles noch passieren wird.“

Was auf jeden Fall an diesem Abend, in dieser Nacht passierte, war, dass Bettina Brügge und Miriam Dohms schwanger wurden. Die Babys kamen beide am siebzehnten August des darauffolgenden Jahres zur Welt. Über die genaue Uhrzeit der Empfängnis, im Gegensatz zu den Geburten, könnte niemand je mit Bestimmtheit Angaben machen, gab es doch in dem fraglichen Zeitraum insgesamt fünf Geschlechtsakte von zwei Paaren, die zu je einer Befruchtung führten.

Miriam jedoch wurde sich zuerst ihrer Schwangerschaft bewusst, zwischen den Jahren, nachdem ihre Regelblutung mehr als sechs Wochen ausgeblieben war. Sie konnte sich nicht hundertprozentig sicher sein, aber sie spürte mit allen Fasern, dass Bertold und nicht Josef, ihr Ehemann, derjenige war, der für die erfolgreiche Zeugung verantwortlich war. Bertold freute sich, meinte aber, „wir müssen das jetzt nicht klären, Miriam, oder wird Josef misstrauisch werden?“

„Eher nicht, Liebling, wir haben zwar selten Sex und er führt nicht Buch darüber, wann wir welchen haben, aber er wartet schon lange darauf, dass ich schwanger werde.“

„Und gerade das könnte irgendwann zu Mutmaßungen bei ihm führen.“

„Ja, vielleicht.“

Miriam und Bertold waren sich jedenfalls einig, dass sie das Kind bekommen würden, wer immer der Vater war. Das konnte später noch geklärt werden, da verwischten sich ja keine genetischen Spuren, das war nun einmal so.

Bei Bettina dauerte es etwas länger, bis sie ihre Schwangerschaft wahrnahm. Sie war jünger, ihre Periode kam seit ihrer Pubertät unregelmäßig, eine Zeitlang hatte sie die Pille genommen, dann wieder nicht. Sie wandte sich an ihren Vater, der nicht lange überlegen musste.

„Abgetrieben wird nicht, mein Kind, auf keinen Fall. Weißt du denn, wer der Vater ist?“

„Ja, Papa, er heißt Dirk, Dirk Sommer, und ist Kapitän bei der Lufthansa, also genau genommen Co-Pilot, der aber bald die Flugstunden für den Käptn zusammen hat.“

„Verheiratet?“

„Ja, klar, aber ich hab mit dem nichts mehr.“

Dirk hatte Betty gar nicht beichten müssen, dass er verheiratet war und die Auslandsaufenthalte für seine außerehelichen Aktivitäten nutzte. Überrascht war sie also nicht, als er nach einigem Herumdrucksen mit der Sprache herausrückte.

„Hier in Frankfurt, jetzt auch noch du, Betty, das wird mir zu viel, ich hoffe, du verstehst das. Ich meine, ich mag dich wirklich, du bist die aufregendste Frau, die mir je untergekommen ist …“

„Schon gut, Dirk, die aufregendste Frau ist nicht auf Dauer zu haben, mach dir da keine Sorgen oder Hoffnungen.“ Was also war zu tun seitens Bertold Brügges, Inhaber des Frankfurter Bankhauses Brügge & Cie, Vater einer Tochter, die ein Kind von einem verheirateten Piloten erwartete? Vater womöglich eines Kindes mit Miriam, die Tante seiner Tochter Bettina und Schwester seiner Frau Margot war. Er beruhigte seine Tochter und meinte, „das kriegen wir schon hin, mir wird was einfallen, verlass dich drauf.“

Er gab sich ein knappes halbes Jahr Zeit dafür, dann musste alles geregelt sein. Und es wurde geregelt. Von Bertold Brügge. Der Sohn Bettina Brügges, auf den Namen Jonas getauft, sollte in der Familie Dohms als Pflegekind aufwachsen als Bruder von Daniela Dohms. Das Arrangement sah vor, dass nur Bertold, seine Tochter Bettina und seine Schwägerin Miriam wussten, wer die wirklichen Eltern von Jonas waren. Abgesehen natürlich von den Behörden und demjenigen ärztlichen Personal, das bei der Geburt dabei war. Bettina Brügge entband in einer Privatklinik in Bad Schwalbach, die auf plastische Chirurgie spezialisiert war. Die Klinik und ihr Leiter waren Kunden des Bankhauses Brügge & Cie.

Nur wenige Wochen nach der Geburt, als Jonas schon bei seiner Pflegefamilie war, ging Betty in die Schweiz nach Genf, um nach einem Bankpraktikum, vom Papa arrangiert, Jura zu studieren. Sie versprach, in den nächsten Jahren bei Kontakten mit ihrem Sohn das Geheimnis der Mutterschaft für sich zu behalten. Da die beiden Kinder, Jonas und Daniela, am gleichen Tag zur Welt kamen und sich zunehmend verblüffend ähnlich sahen, wurden sie sehr bald allgemein als echtes Zwillingspaar angesehen und behandelt.

Inhaltsverzeichnis

2

Eines der vielen nicht tot zu kriegenden Gerüchte, die sich um Elvis is still alive rankten, besagte, dass der King in Bad Nauheim im Taunus als molliger aber rüstiger Rentner gut getarnt seine letzten Lebensjahre verbrachte. Sollte das stimmen, wäre er 2013 achtundsiebzig Jahre alt gewesen; was spräche dann dagegen, dass er, wie andere weiter kolportierten, jeden Dienstag im Nauheimer Männergesangverein „Moosröschen“ sang und wegen seiner nach wie vor mehr als zwei Oktaven umfassenden Stimme sehr geschätzt wurde.

Sein amerikanischer Akzent fiel im Chorgesang nicht weiter auf, weil es beim Singen leichter fällt, eine Sprache phonetisch korrekt nachzuahmen. Auch bei einem Paul McCartney oder Mick Jagger war sehr deutlich ein Unterschied zu hören; sangen sie, klangen sie nach American pop, sprachen sie, klangen sie rather British.

Vom ersten Oktober 1958 bis zum zweiten März 1960, das stand auf jeden Fall fest, leistete Elvis Presley in Friedberg beim 1st Medium Tank Battalion/32nd Armor der 3. US-Panzerdivision seinen Militärdienst ab. Eine Zeitlang wohnte er in der Goethestraße in Bad Nauheim, ein kuscheliger Kurort in der Wetterau und etwa dreißig Kilometer von Frankfurt entfernt.

Eine der jungen Frauen, die Elvis the Pelvis, den Hüftschwinger aus dem Süden der USA, seit Beginn seiner Karriere anhimmelten und bei seiner Ankunft in Friedberg kreischend dabei war, hieß Franziska Spranger, die 1965, als Elvis auf dem Höhepunkt seiner Hollywood-Karriere war, Bernd Holzer heiratete. Das Ehepaar Franziska und Bernd Holzer bekam zwei Kinder. 1966 kam Carolin zur Welt und zwei Jahre später ein Sohn, Peter. Franzi hatte Wert darauf gelegt, dass ihre Tochter einen Namen bekam, der sich auch für Amerikaner leicht aussprechen ließ: Caroline oder auch Carol.

Carolin hatte von ihrer Mutter die Liebe zu allem Amerikanischen nicht nur als unkritische Verehrung geerbt, sondern war schon als junges Mädchen fest entschlossen, so wie andere sagten „ich heirate mal einen Millionär“, einen Amerikaner zu heiraten und dann glücklich und üppig in den Vereinigten Staaten zu leben.

Amerikanische Soldaten waren nicht nur in Friedberg stationiert. Die Gegend um Frankfurt war übersät von Einrichtungen der US-Army wie das Hamburger-Brötchen von Sesamkörnern und nach dem Verzehr die Serviette von Ketchup-Flecken. Neben Frankfurt gab es auch in Wiesbaden, Mainz und weiteren hessischen wie rheinland-pfälzischen Orten, Ramstein oder auch Hahn, Stützpunkte der Amerikaner. Bereits 1976 wurde die Kennedy-Kaserne in Frankfurt aufgelöst, als erste von mehr als zehn Einrichtungen, die bis 2003 noch folgen sollten. Die Zahl der amerikanischen Soldaten in Deutschland lag auch nach 2010 immer noch bei fast 60.000.

Die Friedberger Warte stand auf der leichten Erhebung des Eulenbergs und war schon im fünfzehnten Jahrhundert Teil einer Wehranlage vor den Stadtmauern Frankfurts. Der schlanke Turm mit seiner schiefergedeckten Haube trotzte mit Leichtigkeit elegant und trutzig der Profanität des Straßenverkehrs auf der B 521. Das zugehörige Bauwerk mit dem Tor in der Mauer beherbergte wie auch die Sachsenhäuser Warte im Süden Frankfurts ein traditionelles Apfelweinlokal.

Beim Äbbelwoi und deftigem Schweinenackenbraten in Apfelweinmarinade mit Sauerkraut und Knödeln lernten sich John W. Western und Carolin Holzer 1986 in der Friedberger Warte kennen. Er war mit Kameraden seiner Einheit unterwegs, sie mit Freundinnen aus ihrem Semester. Die Tische wurden zusammengerückt und die beiden Gruppen vermischten sich freudig. Mit einem Missverständnis war es für John und Carolin weiter gegangen.

John hatte „Caroline, no“ gesagt, Carolin hatte „Carol, I know“ verstanden, als sie ihm beim Abschied vor dem Lokal sagte, sie wollte gerne mit ihm alleine weiter durch die Nacht und Frankfurt ziehen. Sie mussten, nachdem das Missverständnis aufgeklärt war, beide über den Freudian slip lachen und hatten noch viel Spaß zunächst in Sachsenhausen, dann in ihrer kleinen Wohnung. Mit viel Freud sozusagen und ohne Slip.

Johns middle initial W. stand nicht etwa für Wayne sondern für Walter. John Walter Western war Nachfahre deutscher Einwanderer aus der Pfalz im neunzehnten Jahrhundert. Heinrich Wester war, so weit sein Ururenkel das recherchiert hatte, in der Zeit nach 1850 zusammen mit Henry John Heinz, dem Begründer des gleichnamigen Ketchup-Imperiums, aus Kallstadt an der Weinstraße nach Nordamerika eingewandert. Für John W. stand deshalb schon sehr früh fest, dass er zur Army und in Deutschland stationiert sein wollte. Dass er den Namen seiner Schwiegermutter wie das englische frenzy aussprach, im Sinne von Wahnsinn also, konnte jeder nachvollziehen, der mit Franziska enger zu tun bekam.

Sie war auch Jahre nach Elvis‘ Tod crazy about the King. John W. meinte zudem die Wortbedeutung Ekstase, denn Franzi war so unglaublich leicht erregbar, dass sie jederzeit in einem Anfall von Jähzorn komplett ausrasten konnte. Diese Erregbarkeit war an die Tochter mit nur dezent abgeschwächter Neigung zum Jähzorn weitergegeben worden. Ob allerdings die Schwiegermutter wie ihre Tochter ohne große Vorspielumwege zum Orgasmus kam, wusste John W. natürlich nicht; wollte er auch nicht wissen.

John W. Western war glücklich, dass er seine Frau so leicht glücklich machen konnte und hoffte, dass Carolin nie Glücksbringer für einen anderen Mann sein würde. Nein, er allein war derjenige, den sie mit ihrer sexuellen Erregbarkeit beglückte. Was man von ihrem Jähzorn nicht sagen konnte, denn der richtete sich gegen alles und jeden, der das Pech hatte, in einem Moment der Explosion in ihrer Nähe zu sein. Da die jähzornigen wie die erotischen Höhepunkte erhebliche psychische und physische Energie erforderten, wurden beide seltener und nahmen im Laufe ihres Lebens ab. Kehrten sich leider ins Gegenteil, in depressive Anfälle.

. . .

Was leicht übersehen werden kann, wenn man von der Metropole Frankfurt am Main spricht, ist die Tatsache, welch hohe Lebensqualität das unmittelbare Umland bietet. Gesegnete Weinanbaugebiete wie der Rheingau und Rheinhessen im Westen, Mainfranken nach Osten, dazu der Oberrhein und der Odenwald im Süden, und natürlich der Taunus und die Wetterau, Heimat des Apfelweins, nach Norden, eine solche Vielfalt an Landschaft und Lebensart, in Bezug auf Essen und Trinken, kann keine andere deutsche Metropole aufbieten. München vielleicht, aber auf eine ganz andere Art und Weise. Am nördlichen Rand des oberrheinischen Tieflands gelegen, das im Süden bei Basel beginnt, ist Frankfurt, dessen Name ja auf die Besiedelung durch die Franken hinweist, ebenso stark von seiner römischen Geschichte geprägt wie das gesamte Rheinland.

Freie Reichsstadt im Hochmittelalter, Krönungsstadt der deutschen Kaiser, 1848 Sitz des ersten frei gewählten Parlaments auf deutschem Boden, unterlag die Stadt 1949 nur knapp Bonn, von Adenauer favorisiert, als provisorische Hauptstadt.

Frankfurt ist europäischer Verkehrsknotenpunkt: Flughafen, Autobahnen, Internet, um nur die drei herausragenden Knotenpunkte zu nennen. Die Stadt hat in der Bundesrepublik als einzige das, was man eine Skyline nennen kann, aber auch eine der höchsten Kriminalitätsraten. Die Messestadt mit der bedeutendsten Buchmesse der Welt, Geburtsstadt Goethes, war lange Zeit neben Köln und München die Literaturstadt, bevor große Verlage wie Suhrkamp nach Berlin gingen. Und natürlich Frankfurt, die Bankenstadt, Sitz der Deutschen Bank, der Europäischen Zentralbank, der Wertpapierbörse und nicht zuletzt des Bankhauses Brügge & Cie, seit 1995 mit dem Firmenzusatz Corporate Finance GmbH.

. . .

Die Einfahrt zum 97th General Hospital war in unmittelbarer Nähe zur Friedberger Warte. Carol hatte darauf bestanden, hier zu entbinden, denn sie wollte unbedingt, dass ihre Tochter auf amerikanischem Boden, wenn auch exterritorial, zur Welt kam. Und hier, nebenan in der Friedberger Warte, hatte sie ihren John ja kennengelernt. Nun gut, hatte Major Western gedacht, mir soll‘s recht sein, denn die Schwangerschaft war so unproblematisch verlaufen, dass selbst einer Heimgeburt nichts im Wege gestanden hätte.

Dennoch hatte Schwiegermutter Franzi halbstündlich erst bei der Tochter, dann bei der Hebamme, und als die keine Anrufe mehr annahm, schließlich bei John angerufen, bis auch der wegen dienstlicher obligations keine Gespräche mehr annahm.

Remember, this is 1989, das Jahr, in dem George W. Bush Reagan als Präsident ablöste, der Serienkiller Ted Bundy in Florida auf dem elektrischen Stuhl starb, Patrick E. Purdy in Stockton, California, fünf Schulkinder erschoss und dreißig weitere verwundete, zwei US Navy Tomcats zwei libysche MiG-23 abschossen, die Sowjets Afghanistan verließen, am neunten November die Berliner Mauer fiel und damit das Ende des Kalten Krieges besiegelte. Das Jahr, in dem die USA im Dezember zwar in Panama einmarschierten und es im Persischen Golf immer wieder Scharmützel gegeben hatte, in dem aber die Operationen Desert Shield, 1990, und Desert Storm, 1991, im Irak noch Zukunftsmarschmusik der Generalstäbe waren. Der Betrieb im 97th General Hospital lief routinemäßig, es gab keinerlei Beunruhigung, also keinen Grund für eine schwangere Frau, hier nicht zu entbinden.

Nichts war von dieser Hospitalwirklichkeit weiter entfernt als die der Filmkomödie M.A.S.H., voll von schwarzem Humor. Richard Hookers Roman von 1968 mit dem Zusatz „A Novel About Three Army Doctors“, spielte im Koreakrieg, die Verfilmung jedoch hatte den Vietnamkrieg als Subtext. Dr. Richard Hornberger und W.C. Heinz hatten sich das Pseudonym „Hooker“ zugelegt, was ja Hure bedeutete und auf den Bürgerkriegsgeneral Joseph Hooker, alias „Fighting Joe“, zurückging, der, um seine Soldaten vor Geschlechtskrankheiten zu schützen, ihnen gesunde Prostituierte zuführte.

Leider konnte John bei der Geburt nicht dabei sein; tatsächlich hielten ihn dienstliche Verpflichtungen davon ab. Was Carol, die fast amerikanischer war als ihr Mann, der sich gewissermaßen in umgekehrter Richtung seinen deutschen Wurzeln näherte und mittlerweile besser Deutsch sprach als seine Frau Englisch, nicht nur verstand sondern worauf sie sogar bestand, dass er nämlich gewissenhaft seinen Dienst leistete.

Wir schreiben wie gesagt das Wendejahr 1989, als die Bewegungen im gesamten Ostblock mit der unmittelbar bevorstehenden deutschen Wiedervereinigung in westlichen Militärkreisen sehr aufmerksam verfolgt wurden. Änderungen verursachten Instabilität und Instabilität konnte zu weiteren Veränderungen führen, die sich noch weniger kontrollieren ließen. Man musste vorsichtig sein, wollte man nicht von den Ereignissen überrascht und davon gefegt werden. Der virulenteste Erreger von aktiver Unruhe ist immer noch die Beruhigung. Sedation als Vorbereitung und Sensibilisierung von außerordentlichen Sensationen.

Als er rund drei Stunden nach der Entbindung im Hospital ankam, empfing ihn die deutsche Hebamme mit den leisen aber deutlichen Worten: „Seien Sie froh, dass Sie nicht dabei waren.“

Mehr wollte sie nicht sagen. Auch Carol winkte erschöpft ab, als er sie fragte, wie die Geburt denn verlaufen sei. John wollte sich nicht vorstellen, wie im Geburtsvorgang womöglich alle Erregungsregister seiner Frau gezogen worden waren. Die Tochter jedenfalls lag friedlich in ihrem Bettchen und sah aus wie Neugeborene eben aussahen, ziemlich zerknautscht. Dabei liebten John und Carol kaum etwas mehr als die glatt gebügelten Hosen und Hemden seiner Uniform.

„Und wie findest du dein Töchterchen, John?“

„Ich liebe es und ich liebe dich, Carol. Es ist so schade, dass ich nicht dabei sein konnte. Ich hätte das gerne miterlebt.“ „Ich freue mich darauf, wenn wir bald alle drei in unserer neuen gemeinsamen Heimat sind, Darling. Und ruf Mama bitte an, die gibt sonst keine Ruhe.“

Er rief an und beruhigte Franzi, dass alles glatt verlaufen sei, die Geburt ein Kinderspiel war, was Carol müde mit einem „haha“ quittierte. John W. wollte auf keinen Fall seine Schwiegermutter an der Wache abholen, deshalb sprach er auch mit Schwiegervater Holger, der gelobte, „die Oma festzuhalten, und wenn sie noch so tobt.“

John hatte seine Bedenken, was die von seiner Frau erhoffte Rückkehr in die Staaten anging, aber dass es noch mehr als zehn Jahre dauern würde, bis er dort wieder stationiert wurde, glaubte er in diesem Moment auch nicht. Und er hätte noch weniger geglaubt, dass er in dreizehn Jahren, kaum dass er zurück in den Staaten war, mit der coalition of the willing in den Golfkrieg ziehen musste. Unter dem Befehlshaber George W. Bush.

Zur Zeit der Geburt der Tochter Sophia hing das Bild des Vaters von George W. Bush als letztes in der Galerie der Präsidentenfotos in jeder US-Kaserne, als John W. noch Major war; im Rang eines Colonel ging er in den Irak und in die Staaten kehrte er 2005 als Ein-Sterne-General zurück, Brigadier General, der Dienstgrad, mit dem er als Fünfzigjähriger dann auch hochdekoriert ausschied. Dass nur vier Jahre später mit Obama ein Schwarzer ins Weiße Haus gewählt wurde, legte bei dem einen oder anderen die Vermutung nahe, die amerikanische Bevölkerung sei heimlich gegen eine andere ausgetauscht worden; von fremden Wesen aus dem All, von einer Weltverschwörung, die noch niemand bemerkt hatte. Aber bis dahin hatte die neugeborene Sophia wie ihre Eltern und alle anderen, die in der Zwischenzeit nicht starben, noch mehr als zwanzig Jahre Leben voller Überraschungen vor sich.

3

Miriam war jetzt schon in der Phase, nach rund zwei Jahren, dass sie nicht jedes Mal erklären wollte, Jonas und Daniela seien keine Zwillinge. Von Anfang an musste sie sich mit diesem Problem auseinandersetzen, denn es war ganz offensichtlich, dass die Kleinen gleichaltrig waren. Erst mit der Pubertät sollten sie sich so verändern, dass nicht nur ihre geschlechtsspezifischen Unterschiede deutlicher wurden.

Als beide Kinder drei, vier Jahre und älter wurden, glaubte sie selbst fast daran, dass ihre leibliche Tochter Daniela und ihr Pflegesohn Jonas Zwillinge waren. Das Aussehen von Personen wird ja immer auch unter dem Aspekt des Benehmens und Verhaltens, des gesamten Habitus, in dem sich die Erziehung und die Gene offenbarten, wahrgenommen und interpretiert. Mit anderen Worten, wären beide Kinder bei unterschiedlichen Elternpaaren aufgewachsen, wäre man ihnen in unterschiedlichen Milieus begegnet, man hätte wahrscheinlich nicht ganz so intuitiv diese enge Verwandtschaft vermutet.

Aber es war ja ausgemacht, dass Jonas bei Josef und Miriam aufwachsen sollte. Wenn kein Unglück geschah, sollten die Eltern erleben, wie sich Daniela und Jonas zu Schulkindern, Teenagern und jungen Erwachsenen entwickelten. Bei diesem Arrangement konnte die leibliche Mutter, Betty Brügge, jederzeit ihr Kind sehen, ohne dass irgendjemand einen Verdacht schöpfen würde. Das Gleiche galt für den vermutlichen Vater von Daniela, Bertold. Auch wenn sich der Prozess sehr langsam über Jahre hinweg entwickelte und nicht notwendigerweise darin enden musste, aber es wurde immer wahrscheinlicher, dass Josef eines Tages die Frage stellte, wie es möglich war, dass seine Tochter und sein Pflegesohn sich tatsächlich wie ein Ei dem anderen glichen. Was er definitiv wusste, war, dass seine Frau Miriam die Mutter von Daniela war; er war bei der Geburt dabei gewesen.

Was er nicht begriff, war, warum Miriam ihm nicht verraten wollte, wer die leiblichen Eltern von Jonas waren. Erst zehn Jahre später gab Miriam dem Drängen des Ehemannes nach und gab zu, dass Bettina Brügge die Mutter ihres Pflegekindes war. Diese Information beschäftigte und besänftigte Josef nur bedingt. Miriam hoffte und betete, das Geheimnis bis zum achtzehnten Geburtstag der Kinder bewahren zu können. Dann, das war mit Betty und Bertold ausgemacht, sollte reiner Tisch gemacht, sollten alle über die wirklichen Verhältnisse informiert werden.

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„Come on, buddies“, „stell dich nicht so an“, „mach bitte noch einen Knopf an deiner Bluse zu, dir quellen ja die Dinger …“, „ der kleine Jonas stinkt, kannst du den nicht mal?“, so marschierte Bertold Brügge mit seiner gesamten Familie in der amerikanischen Kaserne ein, um den Independence Day mit seinen Freunden zu feiern und um auszuloten, in welche Geschäfte er sein Geld investieren sollte, denn es stand fest, dass auch in absehbarer Zukunft weitere amerikanische Einrichtungen aufgelöst wurden.

Konversion. Und da steckte eine Menge Geld drin; die Hahn Air Base sollte von Frankfurt Airport übernommen und mit viel Geld auch aus Rheinland-Pfalz zu einem zivilen Flughafen umgewandelt werden.

Die amerikanischen Freunde legten Wert auf ein geordnetes Familienleben und freundschaftliche Beziehungen; und unter diesen Voraussetzungen Geschäfte vorzubereiten und durchzuführen, war schon unter Bertolds Vater Benjamin eine Grundlage gewesen. Der hatte das Bankhaus auch unter den Eindrücken gegründet, die er als Heranwachsender während und in der Nachfolge der Besatzung des Rheinlandes, einschließlich Frankfurt, der Alliierten bis 1923 gemacht hatte. Franzosen, Briten und Amerikaner gehörten seit jeher zur Welt, und nicht nur der Geschäftswelt, der Brügges.

Die Amerikaner waren es gewesen, die das Bankhaus, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg gegründet, nicht nur wieder zuließen, sondern erst richtig ins Geschäft brachten, unter anderem weil unter Benjamin Brügges Vorfahren Juden waren und er mit Martha Seliger eine Jüdin geheiratet hatte, deren Familie im Holocaust umgekommen war.

Mitglieder aus beiden Großfamilien, den Brügges und den Seligers, waren in die Vereinigten Staaten ausgewandert.

Am vierten Juli 1776 hatten dreizehn nordamerikanische Kronkolonien ihre Unabhängigkeit von England erklärt, was der Anfang der Vereinigten Staaten von Amerika war, auch wenn es bis zu dem heutigen Staatsgebilde noch ein langer Weg war, der mit einigem Recht als blutiger bezeichnet werden durfte.

Der vierte Juli 1991 war ein schöner Sommertag bei maximal 29 Grad. In der Frankfurter Drake and Edwards Kaserne begann man den Tag mit Antreten, zünftigen Böllerschüssen und einer Parade. Nicht erst zu BBQ und Country-Music waren die Frankfurter eingeladen, mit den Amerikanern zu feiern. Bertold Brügge, der wusste, was er den Amerikanern zu verdanken hatte, unterstützte das Fest nicht nur mit einer großzügigen Spende, sondern bestand darauf, dass die ganze Familie ihn in die Kaserne begleitete.

„Auf gar keinen Fall gehe ich mit zu diesen kulturlosen Kriegstreibern …“, hatte Josef Dohms heftig protestiert, aber seine Frau Miriam hatte ihn mit Sex geködert, mit ihm anschließend die Heilige Messe besucht und gemeint: „Du kannst ja hinterher beichten.“

Aus Trotz hatte er unter seinem selbstgestrickten Pullover, und zwar von ihm selbst gestrickten, ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ami go home!“ angezogen.

Bei ihrem Einzug in die Kaserne herrschte noch die Frische eines Sommermorgens, aber sie wollten ja den ganzen Tag in der Kaserne verbringen.

Sie, das waren Bertold und Margot Brügge, ihr Sohn Tobias, siebzehn, Josef Dohms und seine Frau Miriam, die Schwester von Margot, sowie deren beide Kinder Jonas und Daniela. Tochter Bettina, mittlerweile einundzwanzig, war in Genf und hatte ihr Studium aufgenommen. Der dress code war mit Hinblick auf‘s BBQ mit casual angegeben, was durchgängig Cowboy-Stiefel und Stetson oder Baseball-Cap, Jeans und Westernhemd mit Perlmuttknöpfen bedeutete und bei den Damen luftigste Blusen oder T-Shirts, die Josef in Nöte brachten, weil er bei all diesen zur Schau gestellten Möpsen nicht wusste, wohin schauen. Bertold hatte sich zudem mit einer Gürtelschnalle geschmückt, die jedem schweißgebadeten und blutig angeschlagenen Preisboxer als schwere Trophäe den Bauch verdeckt hätte. Statt Krawatte trug er einen sehr alten und teuren Indian bolo tie, Sterling Silber mit Lapis.

Nach den Festreden und dem Abmarsch der Blaskapellen, die Ulstertaler Blechbäser und die 314th Army Band Hessians