Susanne Pointner

Adam, wo bist du?
Eva, was tust du?

Über die Befreiung aus Isolation
und Abhängigkeit in Paarbeziehungen

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-7015-0587-6
Copyright © 2016 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus, Wien
unter Verwendung eines Gemäldes von Wladimir Dawidowitsch Baranow-Rossiné, »Étude pour Adam et Ève« (Foto: AKG-Images)
Typografische Gestaltung und Satz: Michael Karner, Gloggnitz
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Paar-Tänze: Was Paare bindet und verbindet

Ein erfolgreiches Paar

Was sind verstrickte Beziehungen?

Selbstfürsorge und Hingabe

Selbstfürsorge lernen

Eigenständig und liebesfähig zugleich

Adam und Eva

Der Mythos

Der Baum der Erkenntnis

Die erste Äußerung der Selbsttätigkeit

Die Auswirkungen des »neo-romantischen« Liebesideals auf die Beziehungsgestaltung

Droge Verliebt-Sein

Sicherheit und Leidenschaft

Partnerwahl nach marktwirtschaftlichen Kriterien

Warum es nicht funktioniert

Sein lassen

Beziehungssucht und Bindungsangst

Suchtmittel Beziehung

Flucht nach vorne: Anpassung und Manipulation

Bindungsvermeidung

Die Hassbindung

Erstarrung

Personale Begegnung

Macht unsere Paarbeziehung noch Sinn?

Die Arbeit am Paarmythos

Veränderungsprozesse

Nicht um jeden Preis

Und bist du nicht willig – dann bleib ich bei mir

Mitgefühl für mich und für dich

Sehnsucht als Ressource

Paare lösen die Verstrickung

Trennungsbegleitung

Eine Paarsitzung

Neue Wege

Abschluss

Danksagung

Literatur

Vorwort

Dieses Buch hat eine große Stärke: Es erzählt. Es erzählt in lebhafter Sprache, bilderreich und gebildet. Es erzählt aus unterschiedlichen Gesichtspunkten – aus der Sicht der Erlebenden und Betroffenen, aus der Sicht der Therapeutin, aus der Sicht der Theorie, aus der Sicht der Wissenschaft, aus der Sicht der Kunst, aus der Sicht des Märchens und des Mythos. Die Autorin verwebt dabei die unterschiedlichen Gesichtspunkte mit den verschiedenen Zeitperspektiven: Da ist die Rückblende in Vergangenes, Geschehenes, Reales, Mythisches, Erforschtes, Erfahrenes, Erlebtes, das plötzlich Gegenwart ist. Da ist das Aktuelle, Präsente, Problematische, Schmerzliche, Gewalttätige, Hoffnungsvolle, Liebe, Gefühlte, das nicht im Heute begrenzt bleibt. Und alles drängt in die Zukunft, will Wandel, Änderung, ist voller Sehnsucht und Hoffnung, dann auch Resignation unter der Last des Gegenwärtigen und Vergangenen. So wird die Zeit eins, Vergangenes wird Zukunft, Künftiges bestimmt die Gegenwart, und alles findet sich ein in der Paarsituation.

Die Autorin lässt nichts aus. Sie beginnt wirklich bei Adam und Eva. Es ist der archetypische Rahmen, in welchem sie das Heutige begründet sieht. Sie bringt auch den Mythos zum Sprechen, gibt selbst poetische Beschreibungen, wo der Charme des Paarseins sich mit dem Aneinander-Leiden vereint. Dabei behält sie eine gute Mischung aus Nähe und Detailbeschreibung einerseits und distanzierendem Überblick andererseits. Beschreibungen – aus ihnen lebt das Buch. Sie zeigt auf, wie die Biografie mit der Gegenwart verknotet ist, entwickelt den Faden entlang der Fragen von Menschen, die in solchen Paarsituationen stehen, flicht Gedanken und Haltungen der Partner, aber auch der Therapeuten ein. Der Stil ist schmissig, unterhaltsam, anregend, die Diskussion unter Paaren stimulierend, zügig, pointillistisch, modern.

Daneben sind die Analysen, die Erhellung der Hintergründe und Verstehenszusammenhänge die Kunst dieses Buches. Die Autorin geht leichten Fußes durch komplexe Themen und vielschichtige Inhalte – der Leser, die Leserin muss sich an keiner Stelle durch die schwere Kost mühsamer Theorie durcharbeiten. Es werden gesellschaftliche Verbindungen der psychischen Phänomene – uns den Spiegel vorhaltend – in manchmal leicht ironischem Ton eingebracht, was zudem einen Unterhaltungswert hat.

In diesem Buch geht es um die Verknüpfung mit eigenen Situationen: zu sehen, wie man selbst behindert wird durch den anderen/die andere bzw. wie man sie/ihn behindert und woran das liegen könnte. Welche Rolle Liebe, Romantik und Wünsche, aber auch Verzeihen und Versöhnen haben, und wie sogar die Spiritualität zugegen ist. Es ist auch gut zu sehen, wie sich die Paarsituation bei homosexuellen Paaren vergleichbar gestaltet.

Viele praktische Anleitungen und manche Tipps anhand des Zusammenlebens von Bert und Anna werden gegeben. Es ist angenehm, einem Paar so in der Nähe zusehen zu können, dabei um ihre Gedanken und Gefühle zu wissen – Bert und Anna begleiten die Leser und Leserinnen durch das Buch, bilden den roten Faden und werden mit der Zeit gute Bekannte. So gute Bekannte, dass man schließlich das Gefühl bekommt, Einsicht in oft undurchschaubare Paarkonflikte und Missverständnisse gewonnen zu haben, auch wenn es nicht für ein totales Verstehen reicht. Ist es vielleicht darum anregend für Gespräche in der eigenen Paarsituation?

Wenn Sie sich in einer leicht bekömmlichen Weise, erlebnisnah und praxisbezogen mit dem Thema Beziehung und Partnerschaft auseinandersetzen wollen – für sich selbst, für Ihre Freunde, aber ebenso für die Klienten und Patienten –, dann nehmen Sie dieses Buch zur Hand, gehen Sie ruhig an den Strand oder legen sich aufs Bett, zur Not auch alleine, und lassen Sie sich davontragen.

Eine große, interessierte Leserschaft wäre der Dank, der der Autorin für ihre gesammelte Erfahrung, für ihre Reflexionen, ihr Bemühen und ihren Humor zustünde.

Alfried Längle
Wien, im November 2015

Paar-Tänze: Was Paare bindet und verbindet

»Wir verlangen Beständigkeit, Haltbarkeit, Fortdauer, und die einzig mögliche Fortdauer des Lebens wie in der Liebe liegt im Wachstum, im täglichen Auf und Ab – und in der Freiheit; in der Freiheit im Sinne von Tänzern, die sich kaum berühren und doch Partner in der gleichen Bewegung sind.«

ANNE MORROW LINDBERGH

Paaren beim Tanzen zuzusehen, ob AnfängerInnen oder MeisterInnen, kann pure Freude vermitteln. Jedes Paar ist einzigartig in Ausdrucksform und Bewegungsablauf, hat eine unnachahmliche Würde und Ästhetik. Ob beim Wiener Walzer im Ballsaal oder beim Shaken in der Disco – Zuseher spüren, wie sie aufeinander bezogen sind, wie sie die Spannung halten und die Harmonie suchen. Und doch: TanzlehrerInnen wären prädestiniert als ZuweiserInnen für die paartherapeutische Praxis. Was bei Turnieren so leicht und beschwingt wirkt, ist Knochenarbeit. Der »freie Tanzstil« macht es für die Paare nicht leichter, im Gegenteil – haltlos und verloren versucht manch junger oder nicht mehr ganz junger Möchtegern-Gene-Kelly seinen Rhythmus zu finden, ohne die unauffällige Anweisung der Dame, die sich führen lässt. Mädchen lassen den mittlerweile angeblich zum Ritual gehörenden Zungenkuss über sich ergehen oder graben in Mutters Mottenkiste nach der Grace-Kelly-Variante des erotischen Ausweichmanövers. Wenn sie dann trotz Neonspots zueinander finden und, nach anfänglicher Taubheit in abendlichem Geplauder, später in nächtlicher Umarmung andere Rhythmen erkunden, beginnt der kurze oder lebenslange Weg zu ihrem ganz persönlichen Paartanz. Dabei tauchen Fragen auf, die TänzerInnen seit Beginn der Menschheitsgeschichte bewegen: Wie beginnen wir? Wer macht womit den Anfang? Wie nahe können wir uns kommen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren? Wie weit können wir uns voneinander entfernen, ohne dass der Spannungsbogen verloren geht? Wie sehr müssen wir uns im Auge behalten, und wie offen sollte die Aufmerksamkeit für die anderen TänzerInnen und die Umgebung sein? Wie finden wir den gemeinsamen Takt wieder, wenn jemand einen Fehltritt macht? Und wie beenden wir den Tanz?

Nicht umsonst finden Paare, die einen Tanzkurs besuchen, außerhalb der Tanzschule und des Ballsaals wenig Möglichkeit zum Üben. Wer »Standardtänze« erlernen will, muss sich einlassen auf vorgegebene Schritte, um dann innerhalb dieses Rahmens mit dem Partner/der Partnerin die individuelle Note zu finden. Junge Menschen haben heute mehr Raum, aber auch mehr Notwendigkeit, das Vorgegebene zu hinterfragen. Es gibt viel Literatur zum Thema Paarbeziehung, nicht zuletzt deshalb, weil wir wählerisch geworden sind in der Akzeptanz von Vorbildern. Wir wollen unsere eigene Schrittfolge erfinden und sind oft erstaunlich kreativ im Auffinden neuer Lebensmodelle. Der Haken ist: Beim Paartanz gibt es eine zweite Person, die ebenso autonom und authentisch sein will. Das Abstimmen der solotänzerisch begabten Frauen und Männer stellt eine Herausforderung dar. Oft entstehen wunderbare Choreografien. Manchmal enden die beiden, zumindest vorübergehend, in den entgegengesetzten Ecken des Saales, den Blick auf die deformierten Schuhspitzen gerichtet. Hin und wieder ringen sie in der Mitte des Raumes, mehr Sumoringern als Flamencotänzern gleich, um die Führung. Meistens durchlaufen sie Phasen, in denen sie sich verlorengehen, solche, in denen sie sich ineinander verkeilen, und solche, in denen die Musik sie in harmonischem und lebendigem Fließen trägt. Von allen können wir lernen.

Gesellschaftliche Veränderungen haben einen Wertewandel in Paarbeziehungen bewirkt. Die Betonung der Authentizität, der Dialogbereitschaft, der Abstimmung und Unterstützung der Partner in der persönlichen Entwicklung hat zentrale Bedeutung bei der Partnerwahl und in der Beziehung gewonnen. Wir erwarten nicht mehr in erster Linie Kooperation und wechselseitige Unterstützung auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene. Die Ansprüche an den Partner/die Partnerin sind heute subtiler, mehrschichtiger, weniger soziokulturell fokussiert – aber nicht weniger hoch oder weniger bindend. Wir sehnen uns nach Verbindlichkeit aufgrund von innerer Entschiedenheit anstatt von Normen und Traditionen. Wir streben gemeinsame ganzheitliche Entwicklung auf emotionaler und geistiger Ebene an und suchen dabei nach möglichst individuellen Lebensformen. Wir sichern uns ab gegen physische oder finanzielle Risiken – und erwarten Experimentierfreude im Beziehungsfeld. Es reicht nicht, dass die Verbindung Notwendigkeiten abdeckt und rechtliche, materielle, gesellschaftliche Vorteile bringt – sie soll sinnstiftend, erfüllend, belebend sein.

Diese Herausforderungen eröffnen Entwicklungsfelder und neue Räume für Begegnung in der Zweierbeziehung. Oft sind Paare jedoch überfordert, den hohen Idealen gerecht zu werden. Einerseits fehlen oft die Voraussetzungen, weil grundlegende Bedürfnisse, etwa nach Sicherheit und Nähe, nicht ausreichend gedeckt werden. Die psychische Stabilität ist nicht in dem Maße vorhanden, wie die Frischverliebten das von sich und dem/der anderen erwarten. Andererseits ist das Sinnstreben oft in unangemessener Weise auf die Partnerschaft fokussiert. Die Beziehung soll nicht einengen, aber auf allen Ebenen befriedigen.

Der Abgrund zwischen Liebessehnsucht und alltäglicher Isolation ist der Nährboden für Vermeidungs- und Suchtsymptomatik in der Beziehung. Es steht nicht die Psychopathologie der so genannten Beziehungssucht im Fokus dieses Buches, obwohl wir Elemente davon analysieren werden, sondern die latente Tendenz zur Verstrickung, die Paarbeziehungen generell innewohnt. Es geht um die Spannung zwischen Autonomie und Verbunden-Sein, um die subjektiv erlebte Einschränkung von Willensfreiheit und um Verantwortlichkeit. Wir betrachten die Sehnsucht nach Hingabe sowie das Bedürfnis, andere zu benutzen, um eigene Defizite auszugleichen, und die Bereitschaft, sich benutzen zu lassen. Der tägliche Kleinkrieg, hinter dem oft ein tiefer Schmerz liegt, ist unter die Lupe zu nehmen, und die Schritte, die Paare auf dem Weg zu einer reifen Beziehung erarbeitet haben, sind modellhaft zu analysieren.

Die seelischen Konflikte von Kindern, deren Eltern emotional verstrickt sind, sei es nun im Zusammenleben oder nach der Trennung, sind in der kinder- und jugendtherapeutischen Praxis Alltag. In dem Film »Alles wird gut« von Patrick Vollrath holt ein Wochenendvater seine achtjährige Tochter Lea ab, die Eltern wechseln kein Wort. Vater und Tochter gehen in den Prater, Spielzeug einkaufen, haben Spaß; doch der Vater wirkt angespannt und unter Zeitdruck. Nach und nach passieren seltsame Dinge. Spätestens am Schalter im Flughafen Schwechat ist Lea die Sache nicht mehr geheuer – das Drama spitzt sich zu.

Für die Geschichte wurde gut recherchiert – leider gibt es dafür ausreichend Material. Die Kinder und auch die Paare leiden und suchen nach Auswegen. Vielen gelingt das Beendigen des Stellungskriegs, und manche erheben sich wie Phönix aus der Asche und gestalten kreative und lebensfreundliche Modelle von Paarbeziehungen, Familien oder Patchworkfamilien. Diese Pioniere zu begleiten ist eine herausfordernde und erfüllende Aufgabe und ermöglicht Einblick in die manchmal verzweifelte Suche von Paaren nach guten, liebevollen und authentischen Lebensvollzügen.

Als eines dieser Paare lernen wir Anna und Bert kennen. Sie sind ein erfolgreiches Paar, beliebt, und aus Sicht ihrer Bekannten so glücklich verheiratet, wie man es nach 14 Jahren Ehe eben sein kann. Was sich hinter der Fassade abspielt, wissen ihr Sohn, ein paar enge Freunde und Familienmitglieder – und eine Paartherapeutin.

Ein anderes Paar, das wir zu dem Thema später ins Bild holen, sind Adam und Eva. In einer sehr freien Interpretation der biblischen Erzählung werden männliche und weibliche Grundmuster umrissen, stellvertretend für grundmenschliche Verhaltensweisen in Zweierbeziehungen. Wenn von männlichen und weiblichen mythologischen Figuren, Archetypen, Rollen und Grundmustern die Rede sein wird, ist jedoch hinzuzufügen, dass Männer und Frauen »weibliche« und »männliche« Erlebens- und Verhaltensweisen in sich tragen. Die geschlechtsspezifische Zuschreibung, sei sie nun mehr biologisch oder mehr soziologisch bestimmt, wird heute berechtigterweise hinterfragt. In der therapeutischen und beraterischen Praxis begegnen uns unbewusst übernommene Vorstellungen von »Mann« und »Frau« in durchaus noch sehr traditionellen Mustern und Stereotypen. In der Betrachtung des Ist-Zustands muss daher auf diese oft unreflektierten Modelle und Vorstellungen eingegangen werden.

Bestimmte Pole und Verhaltensmuster finden sich tendenziell eher bei Männern bzw. bei Frauen, diese Aufteilung ist aber kontextabhängig und durchaus veränderbar. In diesem Buch erfolgt der Einfachheit halber die sprachliche Bezugnahme generell auf heterosexuelle Paare. Es zeigt sich in der Arbeit mit homosexuellen Paaren, dass sich hier ganz ähnliche Muster abbilden wie bei heterosexuellen Paaren. Sie bringen zwar manchmal spezifische Themenbereiche mit, generell sind sie aber mit den gleichen Freuden und Leiden konfrontiert wie heterosexuelle Paare.

Ein erfolgreiches Paar

»Nun wisst ihr ja, wie es ist mit der Erwartung; begierig und leichtsinnig baut sie ein Bild auf.
Dann aber rechnet sie schonungslos ab über das
Gute, welches sie ganz ohne Grund gab«.

ALESSANDRO MANZONI, »Die Verlobten«

Anna, Bert und die Paartherapeutin sitzen im Dreieck um den Couchtisch und unterhalten sich, oberflächlich betrachtet, ruhig und höflich miteinander. Die Fliege an der Wand sucht allerdings schnell durch das Fenster das Weite – denn die Atmosphäre im Raum erinnert an einen Vulkan in der Eiszeit.

Anna ist mit ihren 42 Jahren eigentlich eine hübsche Frau. Ihr dunkles Haar, die klaren, scharfsinnigen Züge, der interessierte Blick ihrer großen, braunen Augen, ihr sinnlicher Körper mit seinen verhalten anmutigen Bewegungen sind unaufdringlich anziehend. Die langjährige, anspruchsvolle Tätigkeit im Reisebüro für nachhaltige Reiseformen hat ihre Gewandtheit in Sprache und Umgangsformen geschliffen und ihren Horizont erweitert. Doch ihr Charme scheint fast erstickt unter einer Decke von Erschöpfung, Resignation und Kälte. Lebendigkeit zeigt sie nur kurz in einem Aufblitzen von Wut und Schmerz. Sie fühlt sich offensichtlich nicht wohl in ihrer Haut und in ihrem Leben. Ihr Hosenanzug lässt sie elegant, aber steif erscheinen, als trüge sie ihn für eine Kostümprobe in dem Stück »The show must go on«.

Bert, ihr zwei Jahre älterer Ehemann, achtet wenig auf sein Outfit – oder gibt sich betont salopp. Die Jeans sind ausgebeult, das T-Shirt ist vom Waschen ausgebleicht. Sein großer, sportlich-schlaksiger Körper versucht sich mit der Form des knappen Dialog-Sessels im Therapieraum zu arrangieren. Als Mediziner und in seiner Identität als Führungskraft im Non-Profit-Bereich dürfte er sich mehr mit seiner Klientel als mit dem Management identifizieren. Seine Schultern scheinen Zentnerlasten zu tragen, doch er versucht, aufgerichtet und zugewandt zu bleiben. Seine feinen, blassen Züge und die ehemals wohl verträumten, nun mit Tränensäcken beschwerten Augen vermitteln: »Ich verstehe nicht, was passiert, aber ich werde alles wacker ertragen.«

Anna und Bert haben einen zweiten Anlauf zur Paartherapie gewagt. Vor zehn Jahren hatten sie die Sitzungen bei ihrer damaligen Therapeutin nach kurzer Zeit abgebrochen. Die akute Krise war schnell entschärft und beide hatten – wie sich nun herausstellt – das Gefühl, der/die andere würde vom Paartherapeuten bevorzugt. Außerdem waren die Sitzungen sehr dynamisch verlaufen – das war zwar entlastend, aber wenig ermutigend gewesen. Anna hatte Bert den Therapieabbruch immer wieder vorgeworfen und war überzeugt gewesen, dass Bert einen neuerlichen Versuch ablehnen würde. Im darauffolgenden Lebenscoaching, welches Anna zunächst im Rahmen einer beruflichen Fragestellung in Anspruch genommen hatte, war im Konsens mit der Beraterin zunehmend klarer geworden: Anna sollte sich trennen. Die Beziehung war zerrüttet, die Eskalationen verliefen herzzerreißend und nervtötend, die Liebe war zwar noch manchmal spürbar, aber zu oft vermischt mit überschäumender Wut oder überdeckt von Zynismus und Bitterkeit. Es gelang Anna jedoch nicht, sich loszueisen. Sie fühlte sich als Versagerin und beendete die Beratung.

Vor Kurzem hatte die Schulpsychologin ihres elfjährigen Sohnes Christian dem Paar dringend geraten, sich Unterstützung zu holen – nicht für Christian, sondern für sie beide. Nachdem sich Anna nach einem Gespräch mit ihrer Freundin ihrer eigenen Ambivalenz und Angst vor Veränderung bewusst geworden war, brachte sie ihr Anliegen mit mehr Entschiedenheit und mit weniger Vorwurfshaltung als bisher vor. Bert und Anna liebten ihren klugen, in sich gekehrten, feinfühligen Sohn – es reichte, was er schon bisher wegen ihrer krisengeschüttelten Beziehung durchlitten hatte; seine Schulleistungen sollten nicht auch noch beeinträchtigt werden. Diesmal würde sie nicht weitermachen wie bisher – Veränderung der Beziehung oder Trennung war angesagt. Bert wehrte zunächst ab, nachdem Anna das Thema zwischendurch ruhen ließ, als sie es aber ruhig und ernsthaft wieder aufgriff, realisierte er den Ernst der Lage – und witterte die Chance auf Veränderung ihrer verfahrenen Lebenssituation. Die beiden vereinbarten eine einmalige Schnuppersitzung bei einer Therapeutin, die Annas Freundin empfohlen hatte.

Das Erstgespräch war schwierig verlaufen. Das Ausmaß an Interesse, das die Therapeutin für Berts Einwände gegen die Paartherapie zeigte, und dass sie manche davon als »Teil des Paarmythos« betrachtete, schrammte hart an Annas Toleranzgrenze. Am Ende, als Anna schon nach einer guten Mediatorin für die Trennungsbegleitung fragen wollte, hatte Bert zu ihrer Überraschung eingewilligt, »es sich mal anzuschauen«.

In der vierten Sitzung sind Anna und Bert bereit, von den Anfängen ihrer Beziehung zu erzählen. Als sie Bert bei einer Party von gemeinsamen Freunden kennenlernte, war er gerade von einem Hilfseinsatz in Asien zurückgekommen, voll Bilder, Mitgefühl, Visionen. Anna hatte es geschafft, von ihrem Studentenjob ihre Wohnung einzurichten, und noch in derselben Nacht wurde ein noch leeres Kästchen mit ein paar seiner persönlichen Gegenstände befüllt. Die ersten Jahre waren beide viel gereist, alleine und zusammen, bis sie seit der Geburt von Christian ihr Leben so arrangierten, dass das Kind keinem psychischen und physischen Risiko ausgesetzt war. Es sollte, trotz der notwendigen Investitionen in Wohnung und Ausbildungen, Geld angespart werden für einen längeren Auslandsaufenthalt, wenn ihr Sohn größer war. Inzwischen haben sich die beiden beruflich so etabliert und so aufgerieben in Beruf und Privatleben, dass von den alten Träumen keine Rede mehr ist. Über die Zukunft wird wenig gesprochen – wenn der Lebenstraum verraten ist, darf es auch keine Alternativen geben.

Trotzdem verbringen die beiden erstaunlich viel Zeit miteinander – oder eher nebeneinander. Freunde werden gemeinsam eingeladen oder besucht, Urlaub wird immer zu dritt gemacht. Anna geht ohne Bert nicht surfen und Bert ohne Anna nicht klettern, was bedeutet, dass beides kaum mehr stattfindet. Obwohl beide außerordentlich tüchtig in ihrem Beruf sind, weiß Anna nicht, wie man Öl und Wasser im Auto nachfüllt und Bert merkt sich nicht das Losungswort vom Sparbuch. Anna wacht, teils unbewusst, mit Argusaugen über Berts Umgang mit Alkohol, Bert hält das familiär vorgegebene Suchtpotenzial tapfer im Zaum. Bert weiß genauer, als er zugibt, über Annas mäßige, aber fortwährende Gewichtsschwankungen Bescheid. Die beiden können nicht mit- und nicht ohne einander. Sie sind voneinander abhängig, mit- und durch einander unglücklich. Sie nehmen die Kälte, Aggression und Abhängigkeit am Gegenüber wahr und erkennen nicht ihr eigenes Spiegelbild im Verhalten des anderen. Und doch: Sie bleiben. Gründe gibt es viele – allen voran ihr Sohn, aber auch die schöne Wohnung, das gemeinsame soziale Umfeld, wechselseitige familiäre Bindungen und, mehr als alles andere, die Angst vor dem Unbekannten und der Einsamkeit. Hinzu kommt aber auch die Unsicherheit, ob mit einem Partnerwechsel – denn allein bleiben war auch keine erstrebenswerte Option – die Probleme wirklich gelöst wären. Wenn sie sich so umsahen … Vielleicht war es ja der ganz normale Beziehungswahnsinn, den sie täglich erlebten?

Bert fragte sich schon am Beginn der Beziehung wie viele seiner Freunde: Kann ich mit Anna ein gemütliches Heim schaffen, eine Familie gründen, Verbundenheit erleben, die Welt erforschen, Erotik entfalten, Werte erleben, schaffen und gestalten, mich weiterentwickeln, die spirituelle Dimension entfalten, mich verändern, zusammenwachsen und doch ich selbst bleiben und immer mehr mein Eigenes leben? Nach einem Besuch bei einem alten Kumpel kurz vor Christians Schulbeginn grübelt er auf der Heimfahrt: »Liebe ich meine Frau nur deshalb, weil ich sie eigentlich brauche?«, während Anna sich im Zuge des Lebenscoachings ärgerlich fragte: »Ist es nicht normal, sprich gesund, meinen Mann zu brauchen, wenn ich ihn doch immer noch liebe? Warum braucht Bert viel weniger Nähe als ich – und wer von uns gehört denn nun in Therapie? Lassen Männer lieben und warum können Frauen das Lieben nicht lassen? Was ist denn eigentlich das Kennzeichen einer ungesunden, verstrickten oder missbräuchlichen Beziehung?«

Was sind verstrickte Beziehungen?

»Ein Bild für die symbiotische Ehe sind zwei Roboter, die einander gegenübersitzen … Jeder dieser Roboter hat die Hände an der geöffneten Schädeldecke des anderen und versucht, mit allen möglichen Werkzeugen die Schaltungen und Programme an dessen Steuerungszentren zu verändern. Das Ziel ist Harmonie, Übereinstimmung.«

WOLFGANG SCHMIDBAUER, »Die Angst vor Nähe«

Alfried Längle definiert für das Suchterleben zwei wesentliche Merkmale: einerseits das Erleben einer Anziehungskraft, einer fremden Macht, der nicht widerstanden werden kann; andererseits das Defiziterleben – als Mangel an Lebenswichtigem. Beides führt zur Schwächung der Widerstandskraft und zum Erleben des Mangels bei Fehlen des Suchtmittels.

Ähnliche Erfahrungen machten auch Anna und Bert in der Phase der jungen Liebe. Es gibt jedoch im Erleben einen wesentlichen Unterschied: Trotz der Mächtigkeit des außergewöhnlichen Zustandes erlebten die Verliebten diesen als stimmig. Auch wenn sich Anna in der Anfangszeit nach Bert sehnte, kaum hatte er den Raum verlassen; auch wenn sie fast willenlos alles andere zurückstellte, nur um bei ihm zu sein, blieb doch das Erleben der seligen Süße, eine tiefe innere Zustimmung, eine Sinnhaftigkeit, Ganzheitlichkeit in der Begegnung mit dem so begehrten Mann. Sie gibt sich hin, nicht auf, schon gar nicht her, war ihr Gefühl. Ist die Erfahrung tatsächlich so, wie in manchen Liedern geschluchzt wird? Ist die Liebe schon am Entschwinden, kommt es zu einem unfreiwilligen Verhaftet-Bleiben im Banne des Ersehnten, die Liebe weicht ihrem Schattenbild, der Symbiose, der Sucht. Menschen, die in einer Paarbeziehung sind, spüren und zeigen Bedürfnisse, die eher auf der Erwachsenenebene liegen, und Bedürftigkeiten, die kindlichen Motiven entsprechen und oft in verdeckter Form zum Vorschein kommen. Analytische, systemische, lerntheoretische und humanistische Ansätze stimmen überein, dass in einer »ungesunden« Beziehung wichtige Grundbedürfnisse in großem Maß unerfüllt bleiben. Auf die Unterschiede in den Erklärungsmodellen zu symbiotischen oder verstrickten Beziehungen werde ich hier nicht näher eingehen, sondern auf existenzanalytischer Basis einen erlebnisnahen Zugang anbieten. Die vom Wiener Psychiater Viktor Frankl gegründete und von Alfried Längle und seinen MitarbeiterInnen weiterentwickelte sinnzentrierte Psychotherapie (»Logotherapie und Existenzanalyse«) greift die Grundfragen auf, vor die der Mensch in seiner Existenz gestellt ist. Sie sind als Grundbedingungen (= personal-existenzielle Grundmotivationen) für ein erfülltes Leben erfahrbar:

Habe ich Schutz, Raum und Halt, um in der Welt sein zu können?

Habe ich Beziehung, Zeit und Nähe, um leben zu mögen?

Kann ich mich anerkennen, wertschätzen und abgrenzen, um ich selbst zu sein?

Hat es einen Sinn? Was soll werden? Kann ich in meinem Leben Sinn sehen?

Sind eines oder mehrere dieser Grundbedürfnisse zu wenig genährt, sei es biografisch bedingt über längere Zeit oder situativ durch die aktuelle Lebenssituation, so entsteht ein Bedürfnis, diesen Mangel auszugleichen. Das kann zu diversen existenziellen Fehlhaltungen und psychopathologischen Entwicklungen führen. Eine Folge der Störung existenziellen Versorgt-Seins kann innere Leere und damit einhergehend erhöhtes Suchtpotenzial sein. Zum Suchtmittel kann da alles werden – auch die Bindung an eine andere Person.

Die Person erlebt sich dann in ihrer inneren Stabilität und im Zugang zu ihrer Emotionalität, Gestaltungskraft und Handlungsfreiheit als unfrei und getrieben anstatt von Werten angezogen. Sie erlebt ihr Sein und Handeln in der Beziehung vorwiegend nicht als lebensfördernd und dem eigenen Wesen entsprechend. Bert spürt, dass sein grundsätzliches Mauern in Konfliktsituationen und, wenn ihm dann der Kragen platzt, sein Löwengebrüll, eigentlich nicht gut für ihn, Anna und Christian ist und dass es das anstehende Problem nicht löst. Aber immer noch besser Abblocken und Ausrasten als das Eigene gar nicht mehr vertreten oder ganz die innere Verbindung zu Anna abwürgen. Der (früh eingelernte) psychodynamische Bewältigungsversuch macht also bis zu einem gewissen Grad Sinn – aber Bert hätte das Potenzial für Handlungsweisen, die sich stimmiger, liebevoller anfühlen würden und die kein Verrat an sich selbst wären. Er ahnt das, findet aber keinen Weg zu dieser »personalen« Ausdrucksform. Sie würde ihn nicht unbedingt, jedenfalls nicht gleich und immer, fröhlicher stimmen oder lustvoller im Erleben sein, aber sie würde sich richtig anfühlen und damit Kräfte, Kreativität und Empathiefähigkeit – in einem Wort Liebesfähigkeit – freisetzen.

Wir gehen nicht nur nutzorientiert in Beziehungen, wir brauchen nicht nur Halt, Versorgung, Anerkennung und gemeinsame Entwicklung. Wir wollen, wenn wir lieben, auch und vor allem Leben schenken. Der/die Liebende will, wie Längle entsprechend den Grundmotivationen schreibt:

Da sein für den anderen/die andere; offen sein und einander sein lassen; Raum geben, halten und stützen.

Mit ihm/ihr verbunden sein, einander nahe sein; sich berühren lassen davon, wie es dem anderen geht und zu seinem/ihrem Wohlbefinden beitragen.

Interesse für den anderen/die andere zeigen und entfalten, dafür, wie er/sie denkt, fühlt, entscheidet, wie er/sie »tickt«, selbst wenn es ihm/ihr fremd oder sogar unrichtig erscheint. Er/sie will die Eigenart des anderen grundsätzlich schätzen, ihm/ ihr mit Achtung begegnen und sich selbst zeigen.

Und er/sie will für den/die andere leben wollen, sich einsetzen, gemeinsam das Wichtige im Leben tun wollen und immer wieder um einen gemeinsamen Kontext im Sinn von Weltanschauungen, Projekten, Werten ringen.