978-3-401-80017-2.tif

Titel

Christoph Marzi

Malfuria

Das Geheimnis der singenden Stadt

Arenaneu.tif

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012
© 2007 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Umschlagfoto: © gettyimages, Erich Kuchling; © mauritius
ISBN: 978-3-401-80017-2
www.arena-verlag.de

Für meine
zauberhaften Hexenmädchen
Catharina, Luzi und Stella

Prolog

Sie waren wegen ihr gekommen, so viel stand fest. Die Nebelnymphen, die in den frühen Morgenstunden am Strand anzufinden waren, hatten es ihr gesagt. Vor Tagen schon.

Jetzt waren sie hier und nichts würde sie aufhalten.

Nuria Niebla, die alt und gebrechlich wirkte, stützte sich auf ihren Gehstock und wankte zu dem Küchenschrank, der schäbig aussah wie sie selbst. Zwischen den Tassen, Tellern und dem anderen wertlosen Tand hatte sie die Papierrollen aufbewahrt, all die Jahre lang. Vergilbt waren sie, ganz fleckig und an den Ecken eingerissen. Nicht mehr so elegant, wie sie einst gewesen waren. Nur altes Papier, auf das vor langer Zeit ein Mädchen lebendige Bilder gemalt hatte. Damals nannte man sie einfach Nuria. Sie war ein ganz gewöhnliches Mädchen gewesen und nicht die alte Rabenmutter, die den Dorfbewohnern stets mit ihren Mittelchen und Wässerchen half, wenn sie ein Leiden plagte.

Doch die Zeiten ändern sich. Jetzt war sie eine alte Frau, deren einziger Begleiter ein mürrischer Rabe namens Rabe war.

Die Leute im Dorf dachten, dass sie weise sei, aber das war sie nicht. In ihrem Herzen war sie noch immer das junge Mädchen, das es auf die Insel verschlagen hatte und das hier zu zeichnen begonnen hatte.

»Du solltest fortgehen«, hatten die Nebelnymphen ihr geraten. Dicht über den Wassern hatten sie geschwebt.

»Ich bin zu alt zum Fortlaufen.« Das war die Wahrheit.

»Aber sie werden kommen.«

»Ich werde vorbereitet sein.«

Ihr Entschluss hatte festgestanden. Doch jetzt, wo es so weit war, verließ sie der Mut.

Vorsichtig öffnete sie die gläsernen Türen des Schranks und holte die Pergamentrollen hervor. Zeichnungen waren es und Karten, die sie all die Jahre über angefertigt hatte. Sie atmeten in ihren Armen wie lebendige kleine Kinder. Das brüchige Papier zitterte förmlich, als habe es schlecht geträumt.

»Ihr müsst keine Angst haben«, flüsterte die alte Frau den Pergamentrollen zu. Die faltigen Hände streichelten zärtlich über die raue Oberfläche, spürten die Verzweiflung. »Es wird bald vorüber sein.« Sie senkte ihre Stimme, redete behutsam auf die Karten und Bilder ein.

Doch das Papier, das jünger war als sie selbst, fürchtete sich noch immer. Es raschelte sein Papierrascheln und wisperte sein Papierwispern. Es flehte sie an, es nicht allein zu lassen.

Nuria Niebla seufzte und schaute zum Fenster hinaus. Draußen erklangen die panischen Schreie der Menschen, die um ihr Leben rannten. Dabei hatte keiner der Dorfbewohner die geringste Ahnung, woher die Wesen kamen, die dem Arxiduc folgten. Wäre es ihnen bekannt gewesen, dann hätten sie sich erst gar nicht die Mühe gemacht zu fliehen. Denn dem, was im Dorf wütete, konnte man nicht entkommen. Allein den Versuch zu wagen war so unsinnig wie der, seinem Spiegelbild davonlaufen zu wollen. Nuria Niebla wusste, es würde keine Rettung geben. Das Dorf würde schon bald nicht mehr existieren und die Bewohner anderer Dörfer würden erschauern, wenn sie auch nur seinen Namen nannten.

Die alte Frau schloss den Schrank.

Ihr ganzes Leben lang hatte sie befürchtet, dass der Arxiduc sie finden würde. Jetzt war er hier und nichts auf der Welt konnte sie retten.

»Ihr müsst keine Angst haben«, flüsterte sie dem bebenden Papier erneut zu. Die Pergamentrollen raschelten aufgeregt, tuschelten untereinander.

Dunkle Schatten huschten draußen am Fenster vorbei. Wie Flügelschläge aus dunklen Wolkenfetzen, so sahen sie aus. Nuria Niebla spürte, wie die Kälte bis in die behagliche Stille ihrer Küche eindrang.

Die alte Frau ließ sich auf einem Stuhl nieder, der mitten im Raum stand. Ein alter Stuhl aus Holz war es, einer, den sie selbst gezimmert hatte, vor vielen Jahren. Zu ihren Füßen glänzten die Dielen feucht und der beißende Geruch des Petroleums, das sie überall um den Stuhl herum verschüttet hatte, stieg ihr in die Nase.

Die Pergamentrollen hielt sie fest im Arm, drückte sie an sich, fest, ganz fest.

So würde der Arxiduc sie vorfinden. Eine Frau mit Kittelschürze und schmutzigem Rock, die wie eine Bauersfrau aus der Gegend aussah und doch keine war. Ein Kopftuch machte noch lange keine Bauersfrau. Sie war mehr gewesen. Jemand, den die Welt schon fast vergessen hatte.

Der Rabe, der auf dem Küchentisch stand, senkte den Kopf und betrachtete sie traurig. Die beiden kannten einander noch nicht lange, aber Nuria Niebla war die Rabenmutter des Dorfes, schon immer gewesen, und hatte sich des einsamen Tieres angenommen. Jetzt konnte sie ihr eigenes Antlitz in den Augen des Raben erkennen.

»Sie werden sich holen, was du ihnen niemals geben wirst«, hatte der Rabe zu ihr gesagt. Nuria hatte ihm von den Nebelnymphen erzählt, sie vertraute ihm. »Der Arxiduc wird keine Gnade walten lassen. Dein Verderben wird auch das aller anderen sein.« Er hatte sie mit seinen pechschwarzen Rabenkulleraugen angesehen und sie hatte gewusst, dass er recht hatte.

Jedoch getan hatte sie nichts.

Nur gewartet.

Darauf, dass sie zur Insel kommen würden.

Wie töricht sie doch gewesen war!

Jetzt war es so weit und jene, die dem Arxiduc dienten, brachten Leid und Finsternis über das gesamte Dorf. Der Rabe hatte es vorhergesehen.

Nuria Niebla schloss die Augen. Das, was sie dem Arxiduc niemals würde geben wollen, hielt sie zärtlich in ihren Armen wie ein Kind, das man trösten und beschützen musste.

Die alten Pergamentkarten zeigten Länder und Kontinente, Wälder und Ebenen. Breite Straßen kreuzten sich auf ihnen mit schmalen Wegen, Flüsse strömten in die blaue See. Jeder Strich und jede Linie hatte ihre Bestimmung. Papier nur, gewiss, aber eines, in das ihr Herzblut geflossen war.

Niemals dürfte der Arxiduc diese Zeichnungen benutzen. Unvorstellbar wäre, was dann geschähe.

»Er wird sie dir wegnehmen«, krächzte der Rabe auch jetzt noch.

Die Schreie draußen verstummten mehr und mehr. Es ging zu Ende. Nichts würde von dem Dorf an den Steilklippen nahe dem Port Xarraca übrig bleiben. Nur Schatten würde es hier geben. Finsterste Nachtfetzen, die in den Ruinen der Häuser lauern und arglosen Wanderern ganz sicher zum Verhängnis werden würden.

»Du musst etwas für mich tun«, sagte die alte Frau zu dem Raben.

Die schwarzen Knopfaugen betrachteten sie stumm.

Vor dem kleinen runden Fenster wurde es mit einem Mal so dunkel, als habe draußen jemand das Mondlicht ausgeschaltet. Alle Laute verstummten. Das klägliche Wimmern der Dorfbewohner wich der Stille, die der alten Frau die Tränen in die Augen trieb.

»Er ist hier«, krächzte der Rabe.

Nuria spürte, wie die Angst in ihr höher kroch.

»Du musst über die See fliegen«, wisperte sie.

»Was soll ich tun?«

Sie sagte es ihm.

»Du darfst keine Zeit verlieren.«

Für einen kurzen Augenblick nur begegneten sich ihre Blicke. »Hast du mich verstanden?«

Der schwarze Vogel nickte, wie nur Raben es tun können. Dann trat er vor, hüpfte der alten Frau auf die Schulter und berührte ganz sanft ihr Gesicht mit dem Schnabel. Es war eine zärtliche Geste, ein letztes Lebwohl. Beide wussten, dass sie einander nie wieder begegnen würden.

Dann flog er aus dem Fenster, hinaus in die Nacht. Und noch bevor der letzte Flügelschlag verklungen war, öffnete sich die Tür. Ein Mann stand dort, ein Schattenriss nur.

»Arxiduc«, sagte die alte Frau.

Die Gestalt rührte sich nicht.

Aber die Schatten, die den Arxiduc umgaben, flossen in das Haus hinein. Sie reckten ihre Finsterfinger nach der alten Frau, wollten sie packen und ihr in die Augen fließen.

Doch Nuria Niebla lächelte, weil sie genau so sterben wollte.

Mit einem Lächeln im Gesicht.

Sie wusste, dass der Rabe die anderen warnen würde. Er würde über Meere und Länder fliegen, um sein Ziel zu erreichen. Den letzten Wunsch würde er seiner Rabenmutter nicht abschlagen, komme, was wolle.

»Flieg zur Cala Silencio«, hatte sie ihm aufgetragen. »Flieg wie der Wind und ruf nach Malfuria.«

Das Streichholz, das sie die ganze Zeit über versteckt in ihrer Hand gehalten hatte, flammte zischend auf. Nuria Niebla ließ es zu Boden fallen und spürte die lodernde Hitze. Die Schatten schrien auf, gepeinigt und überrascht. Und während das Feuer sich wie ein hungriges Tier an den anderen Häusern des Dorfes labte, stand der Arxiduc wie ein Schattenriss an den Klippen und sah dem Raben hinterher, der kaum mehr als ein schwarzer Punkt in der Nacht war.

Die singende Stadt

Sie kam jeden Tag hierher und sprach mit dem Wind, der meistens um diese Zeit zur Burg hoch über dem Hafen wehte und in den knorrigen Zweigen der Pinien hockte. Catalina Soleado kannte den wispernden Wind schon seit ihrer Kindheit und wusste, auf welchen Namen er hörte: El Cuento. Warm war er wie die Sonne und so geheimnisvoll wie eine Geschichte, die ihr leise um die Nase wehte und selbst dann noch ein Lächeln in das gebräunte Gesicht mit den hellen grünen Augen zaubern konnte, wenn niemand sonst dies vermochte. Auch heute, an diesem Tag, vor dem sie sich schon seit Langem gefürchtet hatte.

Der Wind war ein Freund, und wenn er ihr die Geschichten erzählte, die er draußen weitab der weißen Klippen oder sonst wo gefunden hatte, dann fühlte sie sich wie jemand, der einfach nur glücklich war.

Oft saß sie, wie gerade jetzt, auf der breiten Festungsmauer vor dem Kastell, ließ die Füße baumeln und blickte auf die azurblaue See hinaus, wo die kleinen Fischerboote mit den dreieckigen Segeln ihre Runden drehten. Und während der Wind ihr Worte zuflüsterte, die zu Geschichten wurden, da kam ihr das Leben, das sie führte, gar nicht so einsam vor und die singende Stadt war mit einem Mal das Zuhause, das hier zu finden sie niemals geglaubt hätte.

Catalina hatte die wuselnden Worte im Wispern des Windes schon als kleines Kind erkannt. Am Strand in ihrer Heimat war sie ihm das erste Mal begegnet und von da an waren sie Freunde gewesen. Schon damals hatte er ihr Geschichten erzählt und sie zum Lachen gebracht. Immer war er für Streiche zu haben gewesen und niemals war einer der Nachbarn dahintergekommen, wer die Wäsche von der Leine geweht oder die Hunde so lange am Fell gekitzelt hatte, dass ihr wütendes Gebell selbst den müdesten Schläfer aus seiner Siesta hatte aufschrecken lassen. Sie hatten viel Spaß miteinander gehabt, der Wind und sie.

Ihre Eltern aber waren von all dem nicht gerade begeistert gewesen. »Du darfst mit niemandem darüber reden!«, hatten sie gewarnt.

Catalina hatte nicht verstanden, was schlimm daran sein sollte, dass sie mit dem Wind sprach.

»Die anderen Menschen halten dich für verschroben.«

»Was heißt das… verschroben sein?« Sie war gerade einmal fünf Jahre alt gewesen, noch zu klein, um die Besorgnis ihrer Eltern zu verstehen. Aber alt genug, um die Furcht in ihrer beider Augen zu erkennen.

»Verschroben sein heißt, dass du anders bist.«

»Anders als wer?«

»Anders als die anderen. Die Menschen reden normalerweise nicht mit dem Wind.«

»Was ist so schlimm daran?«

»Die Menschen mögen es nicht, wenn jemand anders ist.«

»Aber es wäre langweilig, wenn alle gleich wären!«

»Du bist noch zu jung, um das zu verstehen.«

»Was soll denn schon passieren, wenn sie es herausfinden?«, hatte sie gefragt.

Ihr Vater hatte langsam ihre Hände ergriffen und sie ganz ernst angeschaut. »Nicht alle Menschen«, hatte er gesagt, »sind auch gleichzeitig gute Menschen. Und selbst die guten Menschen sind manchmal böse, ohne dass sie es wirklich sein wollen. Sie tun dann schreckliche Dinge. Dinge, von denen sie glauben, dass sie richtig sind. Das, Catalina, ist überhaupt das Allerschlimmste.«

Sie war wirklich noch zu jung gewesen, um das zu verstehen.

»Ich werde es für mich behalten«, versprach sie. Und genau das hatte sie all die Jahre getan.

Catalinas Blick wanderte von der Küstenlinie zu den bunten Häusern, deren Dächer im Sonnenlicht funkelten, hinüber zu den spitzschrägen Kirchtürmen der Sagrada Família, und zurück an den Ort, wo die klare blaue See das Land berührte.

La Marina, das Viertel der Fischer und Seeleute, lag träge in der flimmernden Hitze der Mittagssonne. Kaum jemand regte sich dort unten. Selbst die Katzen lagen ausgestreckt in den Ecken und schliefen schnurrend. Boote mit Netzen und schlaffen Segeln säumten die Piers. Von hier oben sahen die Menschen, die sich in den Gassen herumdrückten, winzig wie Ameisen aus. In den sanften Wellen tanzten kleine Gischtgeister, die sich während der Siesta bis in den Hafen von Barcelona vorgewagt hatten.

»Du siehst müde aus«, stellte El Cuento fest.

»Ich musste gestern Abend noch eine Karte kopieren.« Sie gähnte und legte den Kopf in den Nacken. Der große Strohhut rutschte zur Seite. Braunes Haar kam darunter zum Vorschein, das sie zu zahlreichen, dünnen Zöpfen gebunden hatte, die viel zu zerfranst waren, um ordentlich zu wirken. »Die Serra de la Mala Costa, der Puig d’en Forns und die zackige Küstenlinie von Punta Xarraca bis zum Torre d’en Valls.« Sie seufzte gequält auf. »Die Karte von Eivissa soll übermorgen schon fertig sein.«

Eigentlich hatte Catalina Gefallen am Zeichnen gefunden. Doch sie ärgerte sich darüber, dass sie sich damit begnügen musste, die Karten des Meisters zu kopieren. Seit Langem brannte sie darauf, dass der alte Márquez ihr endlich den Tuschestift anvertraute und sie ihre eigenen Karten zeichnen ließ.

»Du lächelst jetzt öfter als früher«, sagte der Wind.

Catalina schloss für einen Moment die Augen und konnte das Meer riechen. »Es geht mir gut.« So schnell waren die Worte aus ihr herausgesprudelt, dass dies wohl die Wahrheit sein musste. Sie öffnete die Augen wieder und blinzelte in die Sonne hinein.

Noch vor wenigen Monaten hätte sie nicht gedacht, dass sie das je sagen würde. Doch Barcelona und die Windmühle des Kartenmachers Márquez waren wirklich so etwas wie ihre zweite Heimat geworden. »Man nennt Barcelona die singende Stadt«, hatte ihre Mutter ihr beim Abschied zugeflüstert. »Sie wird auch für dich singen, Catalina.«

Catalina hatte nicht daran glauben können, nicht damals, als ihre Mutter sie ohne ein Wort der Erklärung bei Márquez zurückgelassen hatte. Und doch hatte sie recht behalten.

Wenn Catalina heute in La Marina unterwegs war und die winzigen Fische mit den mosaikbunten Schuppen an ihrem Kopf vorbeiflogen oder einfach nur hoch oben auf den Laternen hockten, dann wusste sie, dass sie kaum einen Ort auf der Welt den Straßen Barcelonas vorziehen würde.

Ihr Blick glitt den Hang hinab. Mächtige Festungsmauern umarmten die weißen Häuser, die sich eng an den Berg schmiegten, der vom Westen her den großen Hafen und La Marina wie auch die Steilklippen und den Rest der Stadt überragte. Montjuic war der einzige Berg in der Gegend. Stieg man beharrlich all die in den Stein gehauenen Treppenstufen empor und lief dann durch das Labyrinth aus engen Gassen, dunklen Tunneln und verzweigten Wegen, so erreichte man schließlich das Kastell. Niemand lebte mehr hier oben. In den einsamen Höfen wuchs dichtes Unkraut. Moosmarder und winzige, flink dahinhuschende Eidechsen versteckten sich in den Mauern. Man konnte sie in ihren Nestern rascheln hören, wenn man nur lauschte. Gleich neben dem Kastell befand sich eine Kirche, die ebenfalls alt war, in der aber noch ein Pastor lebte – und vor der Kirche schließlich wuchsen auf einem kleinen Platz Palmen und Pinienbäume.

Dies war Catalinas Lieblingsort. Die Windmühle, in der sie gemeinsam mit dem Kartenmacher Arcadio Márquez wohnte, befand sich weiter unten am Berg, in Dalt Vila, einem der ältesten Stadtteile Barcelonas.

Catalina lebte seit fast zwei Jahren in der Stadt und sie wusste noch immer nicht, warum ihre Mutter sie damals aus ihrer Heimat im Südwesten hierhergebracht hatte. Alles war so plötzlich geschehen. Die Blumen auf dem Grab ihres Vaters waren noch nicht einmal verwelkt, da hatte Sarita Soleado ihrer Tochter verkündet, dass sie sich für eine lange Reise bereit machen sollte. Einen Grund hatte sie nicht genannt. Dafür hatte sie in Windeseile gepackt und so war Catalina ihrer Mutter nach Barcelona zu Arcadio Márquez gefolgt, bei dem sie nach dem Wunsch ihrer Mutter die Kunst des Kartenmachens erlernen sollte.

Ihre Mutter war noch am selben Tag weitergezogen. Wohin, das hatte sie nicht sagen wollen – oder auch nicht sagen können. Catalina war bei Márquez geblieben, ohnmächtig in ihrem Kummer und ihrer Einsamkeit.

Doch dann war sie dem Wind begegnet, der ihr in die singende Stadt gefolgt war. El Cuento hatte ihr geraten, die Augen zu öffnen und die Stadt genauer anzuschauen.

»Viele Dinge«, hatte er ihr gesagt, »bleiben uns verborgen, weil wir sie gar nicht erst sehen wollen. Du darfst keine Angst haben. Musst offen sein für das, was vor dir liegt.«

So hatte sie also die Augen geöffnet und die Furcht war tatsächlich verschwunden.

Denn eine neue Welt hatte sich vor ihr aufgetan. Eine Welt, die voller Wunder war und in der das Leben nur so pulsierte.

Noch immer konnte Catalina staunen, wenn sie die Dampfdroschken und Straßenbahnen erblickte, die mit zischenden Lauten und schnaubendem Getöse durch die Straßen fuhren. So viele Menschen lebten in der Stadt und keiner glich dem anderen. Überall gab es Musik und Tänze in den Gassen, auf den Plätzen und an den breiten Kanälen. Selbst wenn keine Lieder erklangen, so lebte die Musik in den Gesichtern der Menschen fort wie eine niemals enden wollende Melodie. Ihre Mutter hatte recht gehabt. Die Stadt sang auch für sie.

Catalina streckte sich. Sobald die Siesta zu Ende war, musste sie noch in den kleinen Laden am Placa Molina. Sie sollte für Márquez bunte Tusche und tiefblaue Tinte erstehen, dazu einige neue Federn für die Stifte. Bald würde es Zeit werden, aufzubrechen. Doch vorher wollte sie noch ein paar Geschichten von El Cuento hören. Ganz besonders heute wollte sie darauf nicht verzichten.

El Cuento, der, wenn er nur wollte, ein unauffälliges Lüftchen sein konnte, belauschte heimlich die Fischer, wenn sie in ihren Booten saßen. Still und leise nahm er sich der Wörter an und die Seeleute ahnten nicht im Geringsten, dass ihre Geschichten mit dem Wind über die Wellen flogen, um irgendwann und irgendwo weitererzählt zu werden.

»Du bist ein neugieriger Wind«, stellte Catalina nicht zum ersten Mal fest.

»Und du bist eine ziemlich neugierige Zuhörerin«, konterte der Wind.

Catalina grinste. Zugegeben, da war etwas dran. Sie liebte seine Geschichten, die von fernen Abenteuern, lauernden Gefahren, bösartigen Stürmen, entführten Mädchen und wagemutigen Kapitänen erzählten.

»Diese Geschichten sollten anders sein«, beschwerte Catalina sich und schüttelte unwillig ihre Zöpfe. »Eigentlich sollten sie von wagemutigen Mädchen und entführten Kapitänen erzählen.« Immerzu waren es die Mädchen, die sich hilflos ihrem Schicksal ergaben und gerettet werden mussten. Sie sorgten für Verwirrung, weil sie in kniffligen Momenten genau das Falsche taten. Sie wirkten töricht und tollpatschig, romantisch und hilflos.

»Ich gebe die Geschichten nur wieder, wie ich sie gehört habe.«

»Vermutlich haben sich Männer das alles ausgedacht«, grummelte Catalina.

El Cuento wehte ihr um die Füße, die schmutzig waren, voller Sand, und in ausgetretenen Sandalen steckten. »Du kannst die Geschichten ja aufschreiben und aus den wagemutigen Kapitänen wagemutige Mädchen machen.«

»Ich bin Kartenmacherin und keine Schreiberin.«

»Eine reichlich junge Kartenmacherin«, neckte er sie, »oder vielmehr: ein junges Mädchen, das Kartenmacherin werden will.«

»Ich bin vierzehn!«

»Vierzehn ist noch jung«, wehte der Wind ihr die Worte um die Ohren.

»Ach«, sagte sie spöttisch. »Dann bist du ein alter Besserwisser.«

El Cuento lachte sein leises Lachen und gemeinsam schwiegen sie einen Moment. Doch plötzlich erhob er sich und strich ihr über die Wange.

»Du weißt, welcher Tag heute ist, nicht wahr?«, fragte er mit einem sanften Wispern.

Unwillig sah sie hoch und schüttelte den Kopf. »Ich will nicht darüber sprechen.« Ihr Blick war auf die wogenden Wellen gerichtet und ihre Augenbraunen waren plötzlich zornig zusammengekniffen.

Irgendwo jenseits des tiefen Blaus lagen Cala Silencio und ihr altes Leben. All die Dinge, die einmal passiert waren. Dinge, die vorüber waren.

»Seitdem du in der Stadt lebst, hast du nie wieder von ihm gesprochen.«

Wie recht El Cuento doch hatte. Und sie hatte auch nicht vor, das zu ändern.

»Weil es da nichts zu reden gibt. Er ist tot.«

»Du warst nicht mehr schwimmen seit jenem Tag.«

Sie musste schlucken, blinzelte. »Warum willst du ausgerechnet jetzt darüber sprechen?«

»Ich bin der Wind«, sagte der Wind, »und ich habe ein gutes Gedächtnis.«

Sie gab sich geschlagen. Heute jährte sich der Tod ihres Vaters zum zweiten Mal und Catalina hatte ihr Möglichstes versucht, um die Gedanken daran zu verscheuchen.

»Papa hat Tage wie diesen hier gemocht.« Sie musste unwillkürlich lächeln. »Er hätte nicht gewollt, dass ich traurig bin. Leider hat er nur vergessen, mir zu verraten, wie das geht.«

Sie streckte die Hand aus und El Cuento ließ sich darauf nieder, wehte ihr um die Finger.

»Du warst seit jenem Tag nicht wieder im Meer«, sagte er.

»Ich mag die See nur aus der Ferne. Ich weiß jetzt, was sie tun kann.« Catalina sagte das ohne Bedauern. Es war eine Feststellung, denn es war das Meer, das ihren Vater zu sich genommen hatte.

»Möchtest du weinen?«

Energisch sagte sie: »Nein!«

»Aber warum nicht? Weinen Menschen denn nicht in solchen Momenten?«

El Cuento versuchte seit Jahren, die Menschen und ihre Verhaltensweisen zu verstehen. Er schlich sich heimlich in die Häuser und versteckte sich in den Takelagen der Schiffe, und das nur, um zu lernen, warum die meisten Menschen sich so verhielten, wie sie es taten. »Die Winde verwehen zu schnell, um Gefühle zu haben«, sagte er. Nur deshalb stellte er seine Fragen so unverhohlen.

Catalina legte weitaus mehr Entschiedenheit in ihre Stimme, als sie in Wirklichkeit empfand. »Ich weine nicht mehr«, sagte sie.

»Du erinnerst dich an den Tag?«, fragte El Cuento.

»Natürlich erinnere ich mich daran.« Sie merkte, wie ihre Stimme dunkel wurde. Wie konnte sie sich nicht daran erinnern, an diesen sonnigen Herbstag, der zum schrecklichsten in ihrem Leben werden sollte? Alles war noch da und würde auf immer da sein. Die Bilder, selbst die Gerüche und die Laute. Das aufgebrachte Wasser, in dem die Luftblasen sprudelten. Antonio, der verzweifelt an dem dicken Schlauch zerrte und dann erst die Kurbel drehte, die das Seil aufrollte, das ihren Vater beim Tauchen sichern sollte.

»Die See ist unser Freund.« War es nicht das, was ihr Vater immer geglaubt hatte?

Catalina hatte das Meer verflucht, geweint, geschrien. Aber es hatte nichts geholfen. Ihr Vater war an jenem Tag gestorben.

»Warum weinst du nicht mehr?«, fragte der Wind noch einmal.

Wann hatte sie aufgehört zu weinen? Sie wusste es nicht. Tatsache war, dass ihre Trauer nicht weniger geworden war. Aber die Verzweiflung hatte nachgelassen und mittlerweile waren auch die Momente wiedergekommen, in denen sie sich freuen konnte.

»Mein Vater hat mir einmal gesagt«, erklärte sie dem Wind, »wie wichtig es ist, dass wir diejenigen, die von uns gegangen sind, genau so in Erinnerung behalten, wie sie einmal gewesen sind. Dann sind sie nie ganz fort, hat er gesagt.« Sie schwieg einen Moment. »Ab und zu, wenn ich ganz fest an ihn denke, weiß ich, dass er recht damit hatte.«

El Cuento wehte eine verwirrte Figur in den Sand. »Es ist schwierig für einen Wind, das zu verstehen«, gab er zu.

Catalina betrachtete nachdenklich die singende Stadt im Sonnenlicht. »Eigentlich verstehe ich es nicht einmal selbst«, sagte sie.

El Cuento erhob sich in einer sanften Brise. »Du bist seltsam«, stellte er fest.

»Ich weiß«, entgegnete sie ihm. »Aber das merkt ja niemand.« Sie sprang von der Mauer und der Wind folgte ihr. Der Sand zu ihren Füßen formte sich zu einem Muster, das wie Catalinas Gesicht aussah.

Sie hockte sich nieder, berührte das sandige Bildnis mit dem Finger, ganz zögerlich. »Hast du noch eine Geschichte für mich?«, fragte sie ihren Freund.

Der Wind, der seinen Namen nicht von ungefähr trug, gab ihr die Antwort, die sie hören wollte. Leise begann er Worte zu wispern, die er irgendwo in La Marina aufgeschnappt hatte. Und je länger er sprach, desto weiter rückte Catalinas Trauer in die Ferne. Sie spürte, wie die Sonnenstrahlen ihre spitze Nase kitzelten, schloss die Augen und genoss die Worte, die auf den Schwingen des Windes dahergeflogen kamen. Still lächelte sie in sich hinein und hörte die Melodie der singenden Stadt.

Catalina ahnte nicht im Geringsten, wie schnell sich Dinge ändern können, wenn man am wenigsten daran denkt.

Der Lichterjunge

Jordi Marí bekam nicht oft die Gelegenheit, Barcelona zu besuchen, auch wenn er sich jeden Tag ausmalte, wie es wäre, Teil des bunten Treibens zu sein.

»Schlag dir das aus dem Kopf«, sagte sein Vater immer. »Du bist ein Lichterjunge, wie ich einmal einer gewesen bin.« Heute war Malachai Marí einer der Lichtleuchter von Port Vell. »Jeder im Leben hat eine Aufgabe zu erfüllen und wir müssen uns nun einmal um den Leuchtturm kümmern.«

Er hatte seinem Sohn von pflichtvergessenen Lichtleuchtern erzählt, die ihre Aufgabe nicht ernst genommen und Schiffe mit Maus und Mann zum Untergang verdammt hatten. »Wenn die Lichter nicht mehr leuchten, dann gibt es keine Hoffnung für die Seeleute. Sie verlassen sich darauf, dass wir tun, was unsere Aufgabe ist, denn so funktioniert die Welt.«

Der Leuchtturm auf dem zerklüfteten Felseneiland draußen vor dem Hafen von Barcelona war Jordis Welt, seitdem er zurückdenken konnte. Er kannte es nicht anders.

Der runde, nahezu vierzig Meter hohe Turm aus ineinanderverkeilten Granitsteinen ragte aus dem Felsgestein der kleinen Insel, die gerade groß genug war, um dem Fundament des Leuchtturms Platz zu bieten. Eine eiserne Leiter, auf der Muscheln und Seegras klebten, führte zur einzigen Tür, die in fünf Metern Höhe in den Turm eingelassen war. Bei schlechtem Wetter konnte es sein, dass die Wellen sogar die eiserne Tür umspülten, so hoch konnte der Seegang vor dem Hafen sein.

Drinnen wand sich eine Wendeltreppe hinauf zu den Lagerräumen und den Wohnräumen. Ganz oben befand sich unter einem roten Kuppeldach aus Stahl das Drehfeuer mit seinen vier großen Brenngläsern. Wie eine riesige Glühbirne, so sah das Drehfeuer aus. Wenn es in Betrieb war, dann tickte die gesamte Apparatur wie ein Uhrwerk.

Draußen, vor den Fenstergläsern, befand sich ein Rundgang. Hierher kam Jordi oft, wenn die bösen Geister, die seinen Vater befielen, müde wurden und schwiegen. Er stand dann einfach nur da, hielt sich an dem eisernen Geländer fest und betrachtete die Wellen, die so unberechenbar und ungestüm sein konnten wie das Gemüt seines Vaters.

»Es tut mir leid.« Mit diesen Worten endete es immer. Tatsächlich, es tat Malachai Marí jedes Mal leid, dass er zugeschlagen hatte. Doch warum, fragte sich Jordi, machte er es dann immer und immer wieder?

»Du bist ungeschickt!«, herrschte sein Vater ihn oft an. Viel zu oft – und noch viel öfter, wenn er getrunken hatte. Eine Ohrfeige handelte sich der hochgewachsene Junge mit dem braunen Haar und den traurig dunklen Augen dann ein, ein Tritt ins Hinterteil oder einen kräftigen Stoß in die Rippen. Sein Vater konnte seinem Unmut auf vielfältige Weise Ausdruck verleihen. Es war sogar schon einmal vorgekommen, dass er mit einem Holzscheit oder gar einem Kochtopf nach dem Jungen geworfen hatte. »Warum, verdammt noch mal, habe ich keinen Jungen, der ein richtiger Junge ist?«, tobte er und hielt Jordi all die Dinge vor, die ein Junge in seinem Alter können müsse – und dummerweise waren dies alles Dinge, die Jordi nicht besonders gut beherrschte.

Früher hatte Jordi sich Mühe gegeben, hatte versucht, alles richtig zu machen. Doch mit der Zeit hatte er gemerkt, dass, egal, wie sehr er sich auch anstrengte, es doch nicht gut genug für Malachai Marí war. Fast schien es, als warte sein Vater nur darauf, dass ihm ein neues Unglück widerfuhr. Er spürte die lauernden, abwartenden Blicke in seinem Rücken, und das verunsicherte ihn noch mehr.

»Du bist wie deine Mutter, die war auch zu nichts zu gebrauchen.« Die Worte tropften wie glänzendes Gift von den Lippen seines Vaters. Ganz hasserfüllt konnte das unrasierte Gesicht sein, wenn er so sprach.

Jordi starrte seinen Vater meist nur stumm an. Und Malachai Marí raunte nach einer Weile des Schweigens. »Das… wollte ich nicht sagen.«

Beide sprachen dann lange nichts mehr. Viel zu lange. »Wo ist Mama hingegangen?« Nur einmal hatte Jordi seinem Vater diese Frage gestellt.

Malachai Marí hatte ihn geohrfeigt. »Das soll uns egal sein.« Tränen hatten in den Augen des Mannes gebrannt. »Sie ist fort, und das ist alles, was für uns von Bedeutung ist.«

Abends hatte Jordi vor dem runden Fenster in seinem Zimmers gekniet und nach draußen geschaut.

Die Lichtkegel waren über die Felsen und die Wellen gewandert und ein sanfter Wind war ihm ins Gesicht geblasen, gerade so, als wolle er ihn trösten. Doch sofern der lauwarme Meereswind Worte ausgesprochen hatte, so wenig hatte Jordi diese verstehen können. Trotzdem war es ein leiser Trost gewesen, irgendwie.

Die Welt, in der er aufgewachsen war, war noch immer die Welt, in der er jetzt lebte. Es gab den Leuchtturm und den Lichtleuchter, der sein Vater war. Es war der Leuchtturm, für den sie lebten. Es war ihrer beider Aufgabe, den Schiffen zu leuchten. Die Gezeiten und das Wetter bestimmten ihren Tagesablauf und ihre Gedanken.

Das war Jordis Leben. Und er hatte sich damit abgefunden.

Doch dann kam der seltsame Tag, an dem Jordi das fliegende Schiff erblickte, und alles, aber auch wirklich alles, sollte sich für ihn verändern.

»Mir ist kalt«, dachte er nur und fragte sich, warum er die fliegende Galeone mit den gewundenen Gebläsemaschinen und den Segeln aus Nacht nicht schon früher bemerkt hatte. Keine zwei Seemeilen entfernt schwebte sie still und leise am Leuchtturm vorbei.

Jordi stand oben beim Drehfeuer und hatte gerade erst damit begonnen, die Fensterscheiben zu putzen, als er ihre Anwesenheit spürte. Einen Moment nur hatte er geglaubt, dass ihn ein Schatten gestreift haben mochte. Dann hob er den Blick und sah hinunter auf das klare Blau des Meeres, wo die rastlosen Gischtgeister ihre Wellentänze aufführten.

Die Galeone nahm mit geblähten Segeln direkten Kurs auf Port Vell.

»Wo kommt sie nur her?« Jordi wusste, dass niemand da war, um ihm eine Antwort zu geben, und er war froh darum. Sein Vater lag mal wieder unten auf dem Küchenboden, um ihn herum die leeren Flaschen.

In nahezu zwanzig Metern Höhe schwebte das fliegende Schiff über dem Wasser. Es war uralt, sein Rumpf pechschwarz und rund wie der gedrungene Hinterleib einer fetten Kreuzspinne. Faulige Seeschneckengehäuse und modriger Seetang klebten daran. Die Galeone mochte noch vor gar nicht langer Zeit im Wasser gefahren sein.

»Meduza.«

Jordi zuckte beim Klang der rauen Stimme zusammen. Sein Vater stand plötzlich hinter ihm und starrte mit rot geränderten Augen auf das fliegende Schiff. Dann hustete er und stieß eine Reihe von Flüchen aus.

Jetzt erst sah Jordi, was seinem Vater nicht entgangen war. Der Name stand deutlich lesbar auf dem Rumpf geschrieben.

Er kniff die Augen zusammen. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, dass dieses Schiff nach Barcelona kam. Warum es ihm Angst machte, konnte er sich auch nicht erklären. Es ist nur ein fliegendes Schiff, sagte er sich. Er hatte gehört, dass es noch einige von ihnen geben sollte.

»Was starrst du so in der Gegend herum?«, schnauzte Malachai Marí plötzlich. »Hast du nichts zu tun?«

»Ich«, stammelte Jordi, »ich habe das Schiff… es ist mir eben erst aufgefallen.«

Sein Vater gab ihm geistesabwesend eine Kopfnuss. »Du musst aufmerksamer sein.«

Jordi spürte den Schmerz, aber er sagte nichts. Klüger, den Mund zu halten.

»Meduza«, raunte Malachai Marí erneut.

Während Jordi nach dem Fensterputzlappen griff, beobachtete er aus den Augenwinkeln, wie die Galeone draußen vor dem Hafen vor Anker ging. Tief unter ihr schaukelten die kleineren Schiffe auf den Wellen wie Spielzeuge. Die weißen Segel der Fischerboote waren winzige Dreiecke auf dem Azurblau des Meeres, und als sich der Schatten der Meduza über sie legte, da sah es für einen ganz kurzen Moment so aus, als verschwände alle Farbe aus den Segeln.

»Was sie wohl nach Barcelona führt?«, fragte Jordi leise.

Eigentlich hatte er keine Antwort erwartet, aber sein Vater neigte den Kopf. »Sie kommt aus Gibraltar«, erwiderte er nachdenklich.

Jordi sah verwundert auf. Wenn sein Vater getrunken hatte, dann sprach er normalerweise kaum mit seinem Sohn. Er schimpfte und tobte, ja. Aber er sprach nicht mit ihm.

»Früher sind die fliegenden Galeonen sogar über Land geflogen«, murmelte der Lichtleuchter und betrachtete das schwarze Schiff. »Sie haben Hexen damit gejagt. Dafür hat man sie gebaut.«

»Woher weißt du das?«

Zuerst dachte Jordi, dass sein Vater ihn gar nicht gehört habe. Doch dann antwortete Malachai Marí: »Alle wissen das. Die fliegenden Galeonen der Familie Karfax aus Gibraltar. Legendär waren sie.« Er hustete laut. »Aber heute gibt es keine Hexen mehr und deswegen sieht man auch die fliegenden Galeonen immer seltener.«

Was, in aller Welt, redete sein Vater da nur?

Selbst wenn die fliegende Galeone einmal Hexen gejagt haben sollte… Jordi glaubte nicht, dass dies der Grund war, weshalb sie nach Barcelona gekommen war. Dies hier war die wirkliche Welt. Und Hexen gab es nur in den alten Geschichten. Nein, die Meduza musste wegen etwas anderem in die singende Stadt gekommen sein.

»Es soll uns nicht kümmern«, grummelte Malachai Marí, »was die Galeone hier zu suchen hat.« Er wendete seinen Blick von dem fliegenden Schiff ab und bemerkte den Eimer und den Putzlumpen, den Jordi noch immer in der Hand hielt und von dem Wasser auf den Boden tropfte.

»Jordi!«, knurrte er warnend.

Jordi wappnete sich innerlich. So klang Malachai, wenn die bösen Geister aus ihrem Schlaf erwachten, die sonst nur in den Flaschen lebten.

»Ich mache mich sofort an die Arbeit«, sagte er, so ruhig er konnte.

Eine Ohrfeige raubte ihm für einen Moment das Bewusstsein, und als er rückwärtstorkelte, da trat er gegen den Wassereimer, dessen Inhalt sich auf den Boden ergoss.

»Trottel!«, schimpfte sein Vater. »Wisch das sofort auf!« Seine Stimme wurde lauter, überschlug sich. Wie immer, erwachten die Geister mit Getöse und ganz plötzlich.

Jordi kniete sich auf den Boden und begann, mit dem Putzlumpen in der Pfütze herumzuwischen.

»Du putzt den Boden mit dem Glastuch?« Jordi spürte einen Tritt in den Rücken und fiel vornüber gegen die Fensterscheibe, die glücklicherweise nicht zerbrach. »Hast du eine Ahnung, wie teuer diese Tücher sind?« Malachai wartete die Antwort gar nicht erst ab. Dieses Mal spürte Jordi den Schmerz im rechten Oberschenkel explodieren. »Dummkopf!«, war das letzte Wort, das er hörte. Dann fiel eine Tür scheppernd zu und es wurde still. Schritte polterten die Treppe hinunter, wurden leiser und verstummten schließlich ganz.

Nur langsam setzte Jordi sich auf.

»Mist!«, fluchte er leise und schlug mit den Fäusten auf den Boden. Dass sie danach schmerzten, kümmerte ihn gar nicht mehr. Er griff nach dem Putzlumpen und warf ihn in die Ecke.

Dann lehnte er sich gegen die Glaswand und schloss die Augen. Er spürte die Tränen in den Augenwinkeln, wie er die Schmerzen im Bein und im Rücken spürte. Sein Ohr brummte, als säßen Bienen darin.

»Nein!« Zornig wischte er sich übers Gesicht. Früher hatte er oft geweint, wenn sein Vater einen seiner Wutanfälle gehabt hatte. Doch Jordi hatte dazugelernt. Am besten war es, einfach nicht auf den Schmerz zu achten, nicht darüber nachzudenken. Denn solche Gedanken machten es nur noch schlimmer. Und sie konnten gefährlich werden.

Er biss die Zähne zusammen, stand auf und humpelte zum Eimer. »Ich werde die Fenster putzen und dann…« Er hustete und merkte, wie hartnäckig die Tränen doch waren. »Warum tut er das nur?«

Nicht nachdenken!

Jordi atmete tief durch, warf einen Blick auf die fliegende Galeone im Hafen und führte die Arbeit, die er begonnen hatte, zu Ende. Zuerst nahm er die Wasserlache mit einem richtigen Putzlumpen auf, bevor er begann, die einzelnen Lampen des Drehfeuers zu reinigen.

Als er bei der vierten Lampe angelangt war, ließ das Zittern in seinen Händen nach. Langsam wurde er ruhiger.

Hexen, du meine Güte! Wie viele Flaschen musste sein Vater wohl geleert haben, um solch einen Unsinn zu erzählen? Jordi wollte es gar nicht wissen. Er wollte bloß die Arbeit beenden, bevor er…

Ein Glühstab rutschte aus der Verankerung und fiel zu Boden.

Glas splitterte.

Jordi stand stocksteif da.

Er schloss die Augen. Nein, bitte, nicht schon wieder!

Glühlampen waren teuer und selten. Sein Vater würde ihn grün und blau prügeln, wenn er davon erführe. Malachai Marí durfte nichts davon mitbekommen, auf gar keinen Fall.

Meduza

Groß war die Gestalt. Ganz in Schwarz gekleidet stand sie in der Gasse und rührte sich nicht. Sie schien den Jungen zu beobachten, der fassungslos auf dem Boden saß.

Das Gesicht der Gestalt wurde von einer lächelnden schwarz-weißen Harlekin-Maske verdeckt, die blutroten Lippen waren zu einem breiten Grinsen verzogen. Hinter den schmalen Augenschlitzen lag nur allertiefste Nachtschwärze.

Jordi bewegte sich nicht.

Die große Gestalt trat auf ihn zu. Sie beugte sich zu ihm herab, bis die leeren Augenschlitze ganz nah an seinem Gesicht waren.

Für einen kurzen Moment dachte Jordi, dass die schattenhafte Dunkelheit, die hinter der Maske verborgen lag, aus den Augenschlitzen herausfließen und ihn berühren würde. Doch dann erhob sich die Gestalt wieder. Was immer sie in dem Jungen hatte sehen wollen, nun schien er sie nicht weiter zu interessieren.

Jordi fühlte, wie ein Zittern in ihm hochkroch.

Das Harlekin-Ding verschwand in einem Hauseingang und es sah fast so aus, als wäre es eins geworden mit den Schatten, die dort lebten.

Jordi wusste gar nicht richtig, wie ihm geschehen war. Er betrachtete den Scherbenhaufen zu seinen Füßen und das braune Papier. Er erinnerte sich daran, wie die fliegende Galeone im Hafen festgemacht hatte, er dachte an die Hexen und das Harlekin-Ding. Er sah den Leuchtturm vor sich und seinen Vater. Und irgendwie spürte er, dass die Dinge bereits begonnen hatten, sich zu verändern.