978-3-401-80019-6.tif

Titel

Christoph Marzi

Malfuria

Die Königin der Schattenstadt

Arenaneu.tif

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012
© 2008 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Einbandillustration: Ralf Nievelstein
ISBN: 978-3-401-80019-6
www.arena-verlag.de

Für Ivan

Prolog

Die große Silbermünze funkelte im gleißenden Licht der Sonne. Das junge Mädchen, das hoch oben auf dem schroffen Felsen von Gibraltar saß und hinaus auf die ruhige See blickte, betrachtete den Schatten, der gehorsam und still jeder seiner Bewegungen folgte. Die pechschwarzen Haare des Mädchens fielen ihm bis über die Schulter und in den dunklen Augen stand die Sehnsucht nach fremden Ländern, fernab des mächtigen Hauses, das sich hinter ihr über den Gassen der Stadt erhob.

Der warme Ostwind kräuselte die klaren Wellen in der breiten Bucht, die bis hinüber nach Marokko reichte, wo es geheimnisvolle Geister in sorgsam verkorkten und seltsam geformten Flaschen geben sollte, genau wie die fliegenden Teppiche, von wunderschönen Dschinnis gewebt. Die dunkelhäutigen Händler, die bei ihrem Vater vorsprachen, wussten davon zu berichten.

Dann stellte sich Kassandra vor, all diese fernen Orte bereisen zu können, und manchmal, in den stillen Augenblicken zwischen Wachen und Schlafen, malte sie sich aus, eine richtige Reisende zu sein.

»Du darfst nicht träumen.« Das waren die Worte ihrer Lehrerin, der Maestra. »Du musst lernen, deine Gedanken zu lenken und die Gefühle zu beherrschen. Sei kühl wie der Tau und ebenso schön.«

Kassandra Karfax schüttelte den Kopf und ihr Schatten tat es ihr gleich.

Sie spürte das palastähnliche Haus ihrer Familie in ihrem Rücken, als sei es ein lebendiges Wesen, das lauerte, auf sie wartete. Es war voll von geschäftigen Menschen, zu jeder Tageszeit und Nachtstunde wurden dort redselig Geschäfte abgeschlossen, heimliche Pläne geschmiedet und zwielichtig Intrigen gesponnen. Ihr Vater, den man den Arxiduc nannte, war ein mächtiger Mann, der die Fäden der Welt in seinen Händen hielt.

Kassandra wusste, was das für sie bedeutete.

»Einmal wirst du das Herz dieses Hauses sein und du wirst schlagen, damit es am Leben bleibt. Du wirst über all das hier gebieten.«

Das Mädchen strich über das Metall in ihrer Hand. Schwer lag die Silbermünze zwischen ihren Fingern. So eisighell und doch so schimmerndes Mondlicht am Tage.

Sie seufzte. Gerade einmal dreizehn Jahre war sie alt. Sie wollte nicht das Herz des alten Hauses sein, das sich mit seinen verschlungenen Säulengängen und Türmen wie ein Palast an die Felsen über dem unendlich blauen Meer krallte, während unten eine tosende Brandung gegen die zackigen Klippen schlug, so wild und so ungestüm, dass selbst die bunten afrikanischen Gischtgeister diesen Ort mieden. Kassandra wollte das Leben fühlen. Sie wollte Abenteuer bestehen und irgendwann, das wusste sie, wollte sie von einem Prinzen geküsst werden. So, wie es in den Büchern stand, die sie heimlich las.

Die Sonne verlor an Kraft, sie spürte es im Gesicht. Bald würde sich die orangerote Scheibe den Wassern nähern und eine sichelförmige Mondmagie würde über die Welt fluten, messerscharf wie der Silberglanz der nächtlichen Himmelsscheibe in alter Zeit.

Alle sagten sie ihr, was sie tun sollte, allen voran die Maestra. Seit vielen Jahren schon war sie da und manche munkelten, sie sei eine Bruja, jemand, der die magischen Künste beherrschte, eine mächtige Hexe, jung und schön. Und ja – die Maestra hatte sie gelehrt, den uralten Buchstabenzauber zu gebrauchen. Aber ihre Fragen, die hatte Agata la Gataza nie beantwortet.

Kassandra beobachtete die Affen, die überall auf dem Felsen herumsprangen. Selbst in der Stadt machten sie sich breit. Sie hockten in den krummen Ästen der Pinien und hoch oben in den Palmwedeln, kletterten an den steilen Hauswänden hinauf und sprangen auf die Balkone. Sogar auf den Gaslichtlaternen saßen sie, dicht über den flackernden Lichtern, von wo aus sie die Menschen mit spöttischem Gekeife bedachten. Sie machten Faxen und manchmal bleckten sie die Zähne.

Kassandra mochte sie.

Draußen in der Bucht, wo der warme Ostwind auf den kühlen Westwind traf, schwebten zwei große Galeonen im Himmel über der See. Die riesigen Segel fingen das Licht der Dämmerung ein und das Wappen der Familie, an deren Spitze das Mädchen einmal stehen würde, wehte im Wind.

Von unten, aus den Gassen der Stadt, drang das Lachen der Kinder zum Felsen hinauf. Nie hatte sie dort spielen dürfen, das geziemte sich nicht für jemanden wie sie. Die kratzenden Zeichenstifte und sanften Pinsel waren ihre einzigen Gefährten gewesen.

Die Silbermünze lag immer schwerer in ihrer Hand.

»Ja, ich werde es tun, heute!«, flüsterte sie ganz leise ihrem Schatten zu. Sie sagte es trotzig, aber dabei war ihre Stimme rau und ein wenig zitternd wie der wehende Wind im Abendrot.

Schon früh war das Schattenmädchen Kassandras beste Freundin geworden. Wenn sie allein in ihren Gemächern gewesen war, dann hatte sie mit ihr gesprochen. Sonst war niemand bei ihr gewesen. Ihr hatte sie sich anvertraut, immer schon. Erst recht, als man ihr die Bücher genommen hatte.

Und dann hatte sie erfahren, wie sie ihr das Leben schenken konnte.

Die Maestra wäre nicht erfreut, wenn sie wüsste, dass ihre Schülerin sie heimlich bestohlen hatte. Nein, fuchsteufelswild wäre sie, ganz außer sich vor Wut. Doch Agata la Gataza hatte nicht die geringste Ahnung von dem, was Kassandra tun würde. Sie war in ihrer Kammer hoch oben im Nordturm, wo sie mit den Raben sprach, das tat sie immer, wenn sie allein war. Man munkelte, dass selbst ihre Kissen mit den weichen Federn wilder Raben gefüllt waren, Federn, die ihr die Kraft zu fliegen verliehen.

Manchmal fürchtete Kassandra sich vor der Maestra.

Der Abendwind blies ihr das dunkle Haar aus dem blassen Gesicht. Sie berührte ihren Schatten und der Entschluss war noch da, wie er es wohl immer schon gewesen war.

Sie wollte ihr das Leben geben, das sie verdiente.

Wenn das alte knisternde Pergament, das sie der Maestra gestohlen hatte, die Wahrheit schrieb, dann würde sie ihr immer zur Seite stehen.

Deshalb war sie jetzt hier.

»Wir gehören zusammen«, flüsterte sie so leise, als fürchte sie, dass die Maestra sie doch noch hörte. Die untergehende Sonne spiegelte sich auf der Silbermünze.

Sie durfte nicht mehr lange warten. In dem Pergament, das sie gestohlen hatte, war von der Sonne und den Sternen die Rede gewesen, von der Dämmerung eines sanften und sichelförmigen Mondes und wilden Winden, die einander kreuzten wie Pfade in der Nacht. Für jede Art von Magie gab es einen richtigen Moment und auf diesen einzigartigen Moment zu warten, erforderte Geduld.

Kassandra kniete sich auf den harten Felsen und roch die Wärme des Steins auf ihrer Haut. Sie berührte den Schatten vor sich mit der Fingerspitze, zärtlich und vertraut. Er war kühl wie das Wasser aus einem tiefen Brunnen.

Sie wusste, dass das, was sie vorhatte, schnell gehen musste.

Also nahm sie die Silbermünze und setzte dort an, wo ihre Haut den hellen Schatten berührte. Es gab nur diesen einen Weg, es zu tun, keinen anderen.

Als die Sonnenscheibe auf das Meer traf, da tat Kassandra den ersten tiefen Schnitt.

Sie spürte ihn.

Schrie auf.

Fast hätte sie die Münze fallen lassen.

Das scharfe Silber tat ihr so weh, als habe sie tief in ihre eigene Haut geschnitten. Erschrocken starrte sie auf die Stelle, doch da war kein Blut. Nichts. Nur der Schmerz und ein Stück ihres Schattens, der jetzt lose im Wind zappelte, obwohl sie ihren Arm ganz ruhig hielt.

Sie holte tief Luft, setzte erneut die Silbermünze an, schnitt langsam an der Trennlinie zwischen der blassen Haut und dem Schatten entlang und sah, wie sich die Dunkelheit von ihr löste.

Stück um Stück.

Atemzug um Atemzug.

Die Schmerzen trieben ihr die Tränen in die Augen, ließen sie aufkeuchen. Die Luft flimmerte ihr vor den Augen und das Salz, das sie weinte, rann ihr übers Gesicht und benetzte die Lippen. Leise, ganz leise wimmerte sie und schnitt doch weiter und weiter, führte mit zittriger Hand die Silbermünze an ihrer Haut entlang und hielt nicht inne, bis sie sich ihren Schatten vom Leib geschnitten hatte, so ganz und gar, als sei er schon immer ein Wesen mit einem Herz aus Nacht und Nirgendwo gewesen.

Schließlich glitt ihr die Silbermünze aus den Fingern. Sie fiel zu Boden und blieb auf dem Fels vor ihr liegen.

Eine Schattenhand hob sie auf.

Kassandra blickte auf. Sie sah ihrer Freundin in die Augen, die voll dunkelblauer Finsternis waren, so schön, wie sie es sich immer schon vorgestellt hatte.

»Wer bin ich?«, fragte das Schattenmädchen. Es streckte die Hand nach Kassandra aus und half ihr behutsam auf die Beine.

»Du bist mein Schatten«, sagte Kassandra. »Du bist wie ich.«

»Habe ich einen Namen?«

Kassandra berührte das Gesicht, das wie ihres war. »Den hast du«, gab sie zur Antwort und ihre Stimme zitterte dabei.

Dann sagte sie dem Schattenmädchen, welchen Namen es trug.

»Bist du meine Freundin?«, fragte Kassandra zögerlich.

»Ich bin, was ich bin«, sagte das Schattenmädchen und lächelte, wie die Nacht es tut, wenn die Wolken den Mond verhüllen.

Kassandra sah an sich herab.

Ihr Schatten folgte nicht länger den Bewegungen ihres Körpers.

»Du bist wirklich wie ich«, flüsterte sie.

Und dann erfüllte mit einem Mal ein lautes Getöse die Luft. Kassandra wusste nicht, wo es herkam. Wild wirbelnde Rabenfedern schälten sich aus der Dämmerung und aus ihrer Mitte trat schnellen Schrittes die Maestra auf das Mädchen zu.

»Du wagst es, den Mond und die Sonne zu beleidigen?«, fauchte Agata la Gataza.

Kassandra kauerte am Boden, zu kraftlos, um sich ihrer Lehrerin zu widersetzen.

Der neugeborene Schatten indes zischte wütend wie eine verlöschende Kerze und dann sah Kassandra, zu was er wirklich fähig war.

Agata de la Gataza schrie auf, als das Schattenmädchen sich ihr entgegenwarf. Die Luft begann vor Kälte zu brennen und Kassandra hielt sich weinend die Hände vors Gesicht. Sie spürte, wie etwas in ihr zerbrach. Und sie ahnte, dass die Welt von nun an nie mehr so sein würde wie jemals zuvor.

Nicht hier, nicht jetzt

Noch immer glänzte der Staub des Sternenschauers in Catalinas Blick, während sie neben dem alten Schatten herlief. Die Sehnsucht nach dem Lichterjungen brannte in ihrem Herzen und trieb ihr die Tränen in die Augen. Zu kurz nur war ihre Begegnung im dichten Getümmel der flüsternden Märkte gewesen, zu groß das Missverständnis, das sie erneut entzweit hatte. Nach allem, was passiert war, hatten sie einander in der fremden Stadt namens Lisboa wiedergefunden und im gleichen Augenblick auch schon wieder verloren.

Catalina wusste, wie schnell manche Gelegenheiten an einem vorübergehen können, aber sie wusste nicht im Geringsten, was man dagegen tun konnte. Das Lächeln, das für einen kurzen Moment über ihr schmutziges Gesicht gehuscht war und an die glücklichen Tage von Montjuic erinnert hatte, war schnell wieder von der Wirklichkeit ausgelöscht worden.

Jetzt rannte Catalina durch die engen Gassen hoch oben in der Alfama und war ganz außer Atem. Sie folgte dem lebendigen Schatten des alten Kartenmachers Arcadio Márquez, der ihr während der vergangenen beiden Jahre ein Vater gewesen war.

Erst vor wenigen Stunden war sie in diese fremde Stadt gekommen und hatte sich so vieles davon erhofft. Die Stadt am Ende der Welt, so nannte man sie. Doch was auch immer sie sich ersehnt hatte, nichts von alldem war eingetreten.

Sie hatte Wunder gesehen und sie zerstört.

Das war der Gedanke, der sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte, drängend und bohrend, und der sie mit Entsetzen erfüllte.

Catalina war in Malfuria hierhergekommen, dem uralten Sturm aus Rabenfedern, dem einzigen Ort, der die Macht besessen hatte, dem Übel, das die Schatten über die Welt brachten, Einhalt zu gebieten.

Und was hatte sie getan? Sie hatte Malfuria zerstört.

Sie war die Mephistia, die Verräterin, die das Herz der Hexenheit ausgelöscht hatte. Catalina Soleado hatte der Welt die Hoffnung geraubt und jetzt war sie, wie alle anderen auch, auf der Flucht. Denn die Dunkelheit war nach Lisboa gekommen und nichts würde sie mehr aufhalten können.

Menschen liefen aufgeschreckt und verwirrt durch die Straßen, ohne Hoffnung, ohne Ziel, nur die Furcht begleitete alle gleichsam.

Und Catalina?

Ausgerechnet einem Schatten hatte sie sich anvertraut, dem Schatten des alten Kartenmachers. Er hatte ihr versprochen, sie zu der Einzigen zu bringen, die jetzt vielleicht noch helfen konnte.

Catalina hoffte inständig, dass sie das Richtige tat. Konnte sie einem Schatten wirklich trauen? Durfte sie Márquez folgen?

Sie hatte keine andere Wahl. Dabei war sie des Fliehens so müde. Sie wollte sich ausruhen, die Augen schließen und gar nichts mehr tun. Sie wollte vergessen, schlafen, träumen. Doch die Ereignisse ließen sie nicht zur Ruhe kommen, nicht hier, nicht jetzt.

Dichte Wolkengebilde aus geflochtener Nacht schwebten über Lisboa und dem Tejo und alle reckten sie ihre Tentakel nach den Häusern, Menschen und Pflanzen. Die Fäden der Meduza, so hatten sie die Menschen in alter Zeit genannt. Sie hatten eine dunkle Armada mit sich gebracht, eine hohe Wand aus gewaltigen fliegenden Galeonen, die Lisboa von allen Seiten her einschloss und niemandem die Flucht erlaubte.

»Catalina!« Wenn der Schatten des alten Márquez sie anschaute, dann hatte sie beinahe das Gefühl, durch ihn hindurchsehen zu können. Er schwamm vor ihr durch die Nacht wie dunkle flüssige Luft, führte sie eilig durch das Labyrinth aus engen Gassen, vorbei an alten Kirchen, auf deren Dächern bunte Blumen wuchsen, und breiten Plätzen, wo wilde Rosenbäume knurrten, wenn sie ihnen zu nahe kamen.

»Wir müssen uns beeilen!« Der Schatten hatte ihr den dunklen Kopf zugewendet. »Wir haben nicht mehr viel Zeit!«

Zwei Jahre lang hatte Catalina bei Arcadio Márquez in einer Windmühle mit schäbigen Flickenfetzenarmen gelebt, an einem weit entfernten schönen Ort, der einmal Barcelona gewesen war. Márquez hatte sie das Zeichnen gelehrt und vieles mehr. Er hatte ihr ein richtiges Zuhause gegeben, nachdem ihre Mutter sie dort zurückgelassen hatte, ohne ein einziges Wort der Erklärung.

Sie war ein gewöhnliches Mädchen gewesen, das Kartenmacherin hatte werden wollen, nicht mehr. Sie hatte die Geschichten des Windes genossen und ansonsten hatte sie gezeichnet. Und sie hatte all die Jahre nicht gewusst, was ihre Leidenschaft einst bedeuten würde.

Bis die finstersten Schatten nach Barcelona gekommen waren, die sich wie Harlekine hinter weißen Masken und schwarzen Roben verbargen und die in den Straßen ausschwärmten, um Catalina Soleado zu finden. Binnen weniger Augenblicke war ihr ganzes Leben so schnell ein anderes geworden, dass sie noch immer nicht ganz glauben konnte, dass all die Dinge, die sie erlebt hatte, auch wirklich geschehen waren.

Sie war aus der Windmühle geflohen und Jordi Marí über den Weg gelaufen, nun ja, förmlich in ihn hineingerast, mehr oder weniger. Gemeinsam waren sie weit durch den Himmel und über die See gereist. Sie hatten sich gefunden und es hatte weh, so wehgetan, als sie sich verloren hatten.

»Catalina, schneller!« Márquez flog voraus und auch der Wind – El Cuento – pfiff besorgt.

Catalina fühlte, wie die warme Brise ihr drängend über ihre Schulter wehte. Der Wind war schon von Kindesbeinen an Catalinas Freund und Begleiter. Erst vor Kurzem war er zu ihr zurückgekommen und hatte berichtet, was mit Jordi geschehen war, von all den Dingen, von denen sie nichts geahnt hatte, den Dingen, die zu Missverständnissen geführt hatten.

»Die Menschen wissen gar nicht, wie ihnen geschieht«, flüsterte er jetzt Catalina leise zu.

Sie lauschte. Von überall her tönten Schreie, überall waren die Menschen wie von Sinnen, weil die Glocken von Santo Amaro geschlagen hatten. Jeder, der in Lisboa lebte, wusste, dass Unheil nahte, wenn die Glocken schlugen, doch keiner ahnte, wie das Gesicht dieses Unheils wirklich aussah. »Es ist die Armada«, sagte El Cuento, »und sie ist so gewaltig, wie ich nie zuvor eine erblickt habe.«

Catalina beschleunigte ihre Schritte, um die dunkle Gestalt vor ihr nicht aus den Augen zu verlieren. Der Schatten des Kartenmachers war viel schneller, als es der Kartenmacher gewesen war. Er war nicht länger ein alter Mann, der ein wenig gebeugt ging, sondern ein altersloses Wesen aus flinker Finsternis.

»Wie weit ist es noch?«

Der Schatten hielt kurz inne. »Nicht mehr lange, Catalina. Nuria Niebla erwartet uns beim Chafariz – einem Brunnen in der alten Stadt, nahe der Beco do Mexicas.«

Catalinas Herz schlug schneller.

Nuria Niebla!

Wie hoffnungsvoll der Name doch klang.

Nur um die alte Frau zu finden, war Catalina überhaupt erst nach Lisboa gekommen. Denn Nuria Niebla, die alte Nebelhexe, war ihre Großmutter. Eine weise Frau war sie, eine, die lebendige Karten zu zeichnen vermochte. Mit ihrer Gabe konnte sie die Welt verändern, genau wie Catalina selbst. Und sie war jemand, der, so erhoffte es sich Catalina, sich ihrer annehmen würde. Nuria Niebla war alles, was dem Mädchen an Familie geblieben war.

Deswegen, nur deswegen, hatte sie dem Schatten des alten Márquez vertraut. Deswegen rannte sie jetzt hinter ihm durch die verschlungenen Gassen.

»Woher kennen Sie meine Großmutter?«, fragte sie Márquez und spürte, wie ihr die warme Abendluft in der Kehle brannte. Sie hatte keine Mühe, den Schatten des Kartenmachers so zu sehen, wie sie ihren Meister gesehen hatte. Er war da und er war wirklich. Er war ein Wesen mit einem eigenen Willen, das sogar mit der gleichen Stimme wie der alte Mann sprach.

»Nicht ich habe sie gefunden. Nuria Niebla war es, die mich gefunden hat.«

Catalina erinnerte sich an den Abend, an dem der große Harlekin in die Windmühle gekommen war. Er hatte Besitz von Arcadio Márquez ergriffen. Der Mann, bei dem sie sich so zu Hause gefühlt hatte, war im Bruchteil eines Augenblicks zu einer Gefahr geworden. Angegriffen hatte er sie, wie ein Raubtier, und nur mit Mühe war Catalina die Flucht geglückt.

»Was ist passiert?«, fragte sie. »Was ist damals mit Ihnen passiert? Und was ist jetzt anders?«

Das war es, was sie wirklich beschäftigte.

»Erinnerst du dich an den Harlekin?«, fragte Márquez. »Wenn ein flüsternder Schatten einem Menschen in die Augen fließt, dann verändert sich alles. Das, was der Mensch einmal gewesen ist, wird aus dem Körper vertrieben und der kalte Schatten des Flüsterers nistet sich dort ein.« Er waberte tonlos und kühl an den weißen Hauswänden entlang und auf dem Kopfsteinpflaster einen kleinen Hang hinauf. »Der Schatten aber, der trennt sich in diesem Moment von seinem Körper.«

»Wie meinen Sie das?« Catalina verstand nicht, was genau er ihr sagen wollte.

Er lachte und es klang wie die kühle Dämmerung, die auf uralte Steine tropft. »Ich bin das, was vom alten Arcadio Márquez geblieben ist. Ich bin all seine Erinnerungen, all seine Gefühle, all das, was einst den Körper zum Menschen machte. Aber ich bin nicht Arcadio. Ich bin der Schatten, der sein stetiger Begleiter gewesen ist.«

»Das verstehe ich nicht.«

Der Schatten des alten Márquez nickte. »Nicht einmal ich verstehe es.«

Er wollte etwas hinzufügen, doch plötzlich hielt er inne, horchte.

Gleich darauf streifte der sanfte Wind aufgeregt Catalinas Gesicht. »Die schwarze Armada«, hauchte El Cuento besorgt. »Sie beginnt die Stadt mit Dunkelheit zu beschießen.«

Catalina blieb stehen.

Wie leiser Kanonendonner klang es, gedämpft und zischend. In der Ferne, tief unten in der Baixa und drüben in Bélem, hallten die Schreie der Menschen.

»Schneller!«, drängte Márquez erneut. Doch bevor sie sich wieder in Bewegung setzen konnten, ließ etwas Großes die Erde unter ihren Füßen erzittern.

Ein Beben kam über die Stadt, so laut knirschend und bröckelnd kreischend wie jene Erschütterung in dem wunderschönen Stadtteil Barcelonas, den Catalina mit einer winzigen Bleistiftzeichnung auf einem Holztisch zerstört und verändert hatte.

»Was war das?« Sie schwankte, versuchte ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Die vielen Zöpfe, die ihr wild und zottelig vom Kopf abstanden, schaukelten unruhig mit jedem Wort hin und her.

El Cuento sauste hoch in die Nacht hinaus und lugte über die flachen Dächer hinweg. Dann kehrte er wieder zu dem Mädchen zurück. »Ein Wolkenfetzen aus tiefster Nacht ist zur Erde gestürzt«, wehte er ihr ins Ohr. »Drüben zwischen Avenida und der Alfama liegt er zwischen den Häusern und seine Fäden schlängeln sich durch die Stadt. Wir müssen einen neuen Weg einschlagen!«

Catalina teilte dem Kartenmacher mit, was der Wind ihr gesagt hatte.

»Das wird uns wertvolle Zeit kosten.« Márquez waberte unruhig hin und her.

»Aber es gibt doch eine Möglichkeit, zu diesem Brunnen zu kommen?«

Er nickte langsam und schwebte wie ein ganz gewöhnlicher Schatten an der Wand. »Wir müssen zum Castelo de Sao Jorge gelangen, von dort führt ein Pfad hinab in die alte Stadt.« Er seufzte und es klang wie ein Laut, der aus den Tiefen eines Brunnenschachts dringt. »Wir dürfen Nuria Niebla nicht verpassen. Du bist die Einzige, die ihr helfen kann bei dem, was sie vorhat. Das hat sie gesagt.«

Catalina schwieg.

Ja, sie sehnte sich danach, ihre Großmutter endlich zu treffen, jemanden, dem sie vertrauen konnte, der all ihre Fragen beantworten konnte, die sie quälten, seit Tagen schon. Aber sie fürchtete sich gleichzeitig davor. Denn das, was Nuria von ihr verlangen würde, hatte schon zu vielen das Verderben gebracht.

Catalina hatte am eigenen Leib erfahren, zu was sie fähig war. Nur ein einziger Federstrich aus ihrer Hand genügte, um schnell wie ein Sternschnuppensturz ganze Stadtteile zu zerstören. Wenn sie zeichnete, dann war alles möglich. Dann konnte sie verändern, was immer ihr beliebte.

Aber sie wusste jetzt auch, dass man für die Magie, die ihr wie ein Lied aus den Fingern floss, immer einen Preis zahlen musste. Denn demjenigen, der einem am nächsten stand, wurde ein schlimmes Schicksal zuteil, wenn man die Magie nutzte. Das war der Preis, den die Magie verlangte, wenn sie einem zu Diensten war.

Und wieder fragte sich Catalina angstvoll, was die Magie für das, was sie diesmal getan hatte, von ihr einfordern würde. Voller Wut hatte sie Malfuria gezeichnet und vernichtet, mit so wenigen Strichen nur, dass es ihr rückblickend wie ein furchtbarer Traum erschien. Doch wer musste nun den Preis zahlen? Würde Jordi Marí erneut etwas Schlimmes widerfahren? Er war bereits einmal das Opfer ihrer Fähigkeit geworden.

Catalina zerriss es das Herz, wenn sie daran dachte.

Wie dumm sie doch gewesen war! Alles, aber auch wirklich alles, hatte sie falsch gemacht!

»Du musst nach vorne blicken.« El Cuento, der Wind, rauschte an ihr vorbei. Wie immer schien er zu ahnen, was in ihr vorging. »Malfuria ist in den anderen Winden verweht und nichts wird diesen Ort zurückbringen.«

»Ich weiß«, murmelte Catalina. Überall in Lisboa waren die schwarzen Rabenfedern zu Boden gesunken. Gestern noch hatte sie geglaubt, dass nur der Sturm der Rabenfedern, der Agata la Gataza trug, die Macht besaß, sich den Schatten zu widersetzen. Und jetzt?

Nein, sie wollte nicht länger darüber nachdenken, sonst würde das geschehen, was sie am meisten fürchtete. Sie würde schlichtweg aufgeben. Sie würde dieser furchtbaren Müdigkeit nachgeben, die ihr in den Knochen saß und die ihr leise zuflüsterte, sich einfach hinzusetzen und auf die Dunkelheit zu warten. Auf die Harlekine und ihre Umarmung.

Aber genau dagegen musste sie sich mit aller Kraft wehren, denn sonst wäre alles umsonst gewesen, das wusste sie tief in ihrem Herzen. Nur wenn sie ihre Gabe ein letztes Mal nutzte, würde sie das wiedergutmachen können, was sie angerichtet hatte. Und ihre Großmutter würde ihr dabei helfen.

Catalina bog hinter Márquez in die Rua de Sao Mamede ein. Der Schatten floss jetzt noch schneller den Weg hinauf, in Richtung des Castelo de Sao Jorge, das sich hoch über der Alfama befand. Klirrende Mosaikeidechsen rannten flink davon, wenn sie ihre Schritte vernahmen. Pflanzen mit hellen Blüten und dornigen Armen krochen wie kleine Tiere in den Schutz der Mauerritzen, weil sie spürten, wie die Schatten in die Stadt kamen. Aufgeregte Menschen, die mühselig ihr karges Hab und Gut geschultert hatten, liefen kopflos in alle Richtungen.

Blindlings folgte Catalina dem alten Kartenmacher den Berg hinauf, und als sie den Largo das Portas do Sol auf der Anhöhe über der Alfama erreichten, da wurde ihr das ganze Ausmaß der Katastrophe bewusst, die gerade über Lisboa hereinbrach.

Die Tejo-Mündung erstreckte sich vor ihnen in der Dunkelheit und die verloren wirkenden Positionslichter der vielen Schiffe, die zu fliehen versuchten, waren kaum mehr als Nadelstiche in der Finsternis, die sich wie Schweigen über alles und jeden zu legen schien.

Wie angewurzelt blieb Catalina stehen. Die schwarzen Galeonen, die dort unten in der Luft schwebten, waren so groß, dass es ihr schier den Atem raubte. Manche von ihnen sahen aus, als habe man auf einem Schiff von der Größe eines ganzen Stadtteils eine gewaltige Festungsanlage mit hohen Mauern und schrägen Türmen und spitzen Zinnen errichtet. Die Segel waren weit wie der Himmel und das Dröhnen der Gebläsemaschinen, die riesig wie Fabriken waren und hungrig wie Kraken aussahen, erfüllte die Luft.

»Die Armada der Schatten«, flüsterte Catalina.

Márquez nickte. Seine Hand deutete auf die Fäden der Meduza, die den Himmel verhängten und die Stadt umschlossen. »Die Dunkelheit ist gekommen, um Lisboa zu erobern. Aber die Armada, die Schiffe des Hauses Karfax, sie sind auf der Suche nach dir.«

Catalina zitterte und mit beiden Händen hielt sie sich an einem eisernen Geländer fest. »Sie sind wegen mir nach Lisboa gekommen«, flüsterte sie und ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. »All diese Schiffe sind gekommen, um mich zu holen.« Die Gewissheit, dass dies so war, raubte ihr die Stimme. Wer war sie denn, dass sie eine solche Armada schickten, um sie zu fangen?

»Da, schau!«

El Cuento sah sie zuerst.

»Wie wunderschön!«, murmelte Catalina.

Die gleißenden Zeppelinschiffe der Stadtwache von Lisboa waren von den Flughäfen aufgestiegen und feuerten spitze Kanonen aus Licht und Blitzen auf Bairro Alto und Estrela. Todesmutig näherten sie sich den Fäden der Meduza, die mächtig wie Quallen aus dunklen Wolkenfetzen ihre Tentakel in die Fluten des Tejo tauchten, wo sie die Schiffe zum Kentern brachten und die Flugmaschinen, die über den Wassern dahinglitten, zum Absturz zwangen.

»Sie werden nicht viel gegen sie ausrichten können«, stellte der alte Kartenmacher fest.

Unten am Flussufer krochen die ersten Meereskreaturen aus den Fluten und schleppten sich, den Schatten in ihrem Inneren folgend, an Land, wo sie die schreienden und in verzweifelter Panik in fast alle Himmelsrichtungen fliehenden Menschen anfielen. Jedes einzelne Lebewesen, das die Schatten berührten, wurde ihnen binnen Augenblicken untertan. Die Gischtgeister und Libellenwürmer fielen gierig über die Menschen her und trugen die Dunkelheit von einem Körper zum anderen.

Hilflos standen Catalina, Márquez und El Cuento an dem Ort, der nicht lange Schutz bieten würde, und keiner von ihnen konnte die Blicke lösen von dem, was die Finsternis anrichtete.

»Der Largo de Chafariz befindet sich dort unten«, sagte Márquez und deutete ins Zentrum der Alfama. »Die Flüsterer an Bord der Schiffe werden sich nicht lange aufhalten.«

»Ein Grund mehr, sich zu beeilen«, fauchte El Cuento.

Catalina erkannte jetzt auch, was das große Beben kurz zuvor ausgelöst hatte. Eine Wolke aus pechschwarzer Nacht war zwischen Estrela und die Alfama gestürzt. Das Gebilde lag schwerfällig wie ein gestrandeter Wal aus Nacht und Nichts zwischen den teilweise zerstörten Häusern und die langen Tentakel aus Dämmerung und Schatten, die ihm aus dem Bauch herauswuchsen, schlängelten sich hektisch zuckend durch die Straßen und packten, wessen sie habhaft werden konnten. Sogar Pflanzen verstrickten sich in den Finsterfäden und wurden zu Auswüchsen des Wolkengebildes, das sich, so wie es aussah, nicht mehr aus eigener Kraft in den Himmel erheben konnte und stattdessen sein Werk von der Erde aus verrichtete.

El Cuento wehte dem Mädchen um die Füße und zerrte ihm an der Hose.

»Beeilen wir uns«, stimmte Catalina ihm zu.

So machten sie sich an den Abstieg.

Durch verwinkelte Gassen führte sie der Weg. Pflanzen und Gestrüppe, die dort seit Jahrhunderten an den Häusern emporrankten, hatten sich darangemacht, ihre Heimat zu verlassen. Wilde Hecken schlugen nach jedem, der sich ihnen näherte. Sie witterten die Schatten, von allen Seiten. Raschelndes Blätterwerk bewegte sich wie grüne Teppiche an den Hauswänden entlang, suchte nach dem Licht, das immer weiter schwand. Diejenigen Blüten, die Zähne hatten, schnappten wütend nach den Schattententakeln, wenn sie ihnen nah genug kamen, doch wenn eine Schlingpflanze mit der Kälte der Nacht in Berührung kam, da wurde sie zu einem verlängerten Arm der Finsterfäden.

Catalina wusste es: Lisboa ging unter. Sie sah es mit eigenen Augen. Und irgendwo in dieser Finsternis, im Gewimmel der Gassen, war Jordi Marí, den Catalina einfach auf den flüsternden Märkten hatte stehen lassen. Sie hatte die einzige Gelegenheit, ihn wiederzutreffen, verstreichen lassen, nur aus Eifersucht und falschem Stolz.

Sie spürte, wie Wut sie packte, Zorn auf sich selbst, auf die Schatten, auf ihr ganzes gottverfluchtes Schicksal.

Es durfte nicht so enden wie in der singenden Stadt! Das würde sie einfach nicht zulassen!

»El Cuento?«

Der Wind wehte ihr durchs Haar, als sie stehen blieb. »Was willst du mir sagen?«

»Finde Jordi, bitte.«

Er prustete überrascht. »Ich lass dich nur ungern zurück.«

»Márquez wird auf mich aufpassen. Und bald schon treffen wir Nuria Niebla. Mir wird nichts geschehen. Finde Jordi und bleib bei ihm. Versprich es mir.«

»Jetzt steckst du selbst mitten in einer dieser Geschichten, die du immer von mir hören wolltest«, stellte El Cuento nachdenklich fest. Und zauberte damit ein kurzes Lächeln in das gebräunte Gesicht des Mädchens.

Sie sahen einander an.

»Du liebst ihn wirklich, oder?« Sanft strich er ihr über ihre zerzausten Zöpfe.

Sie schwieg einen Moment lang. Noch gestern hätte sie das nicht zugeben können, hätte alles trotzig abgestritten.

Doch jetzt nickte sie leise.

»Finde ihn«, bat sie den Wind. »Und sag ihm das, was ich dir gesagt habe.«

El Cuento blies ihr warm um die Füße, die in ausgetretenen Sandalen steckten, und gab ihr das Versprechen, das sie hören wollte. »Pass auf dich auf«, wisperte er zum Abschied, hauchte ihr Glück auf die Wange und dann war er auch schon fort.

Catalina schluckte, sah dorthin, wo der Sand sich am Boden kräuselte, und setzte sich erneut in Bewegung. Márquez, der die ganze Zeit über stillgeschwiegen hatte, schwebte schattenhaft vor ihr her.

Diesmal verharrten sie nicht, bis sie den Berg hinter sich gelassen hatten und mitten in das Gewirr aus engen Gassen eingetaucht waren. Der alte Márquez führte Catalina durch dieses Labyrinth, so sicher, als kenne er sich hier aus, so schnell auf andere Straßen und Hinterhöfe und Gassen ausweichend, als schien er zu wittern, wenn Gefahr sich näherte.

So umgingen sie die Finsterfäden und anderes Getier und Gewächs und erreichten schließlich den Largo do Chafariz de Dentro.

Catalina spürte, wie ihr Herz schneller schlug, als sie aus dem Gassengewirr heraus auf den Platz einbogen. Hier würden sie endlich Nuria treffen und alles, davon war Catalina noch immer überzeugt, würde besser werden.

Sie schaute sich um, voller Erwartung.

Ein kleiner Platz in der Mitte der Alfama war es, mit bunten Pflastersteinen und einem runden Brunnen, der wie ein lebendiges Wesen aussah. Knorrige Pflanzen mit menschlichen Gliedmaßen und Gesichtern aus Dornen bedeckten die Brunnenöffnung und rankten sich an einem Stein aus dunkler Lava empor, der eine mächtige Statue trug.

Einer Harpyie gleich wachte die Gestalt in der Mitte des Brunnens, riesig und beherrschend. Weite Flügel spannten sich vor den Dunkelwolken und der stolze Drachenkopf blickte mit strengen Augen über den Platz, als würde er jeden Moment zum Leben erwachen.

All das sah Catalina.

Doch noch etwas sah sie.

Der Platz war menschenleer.

»Nuria müsste längst hier sein.« Die Stimme des Schattens war plötzlich voller Furcht und Sorge. Seine Unruhe, die Catalina vorher schon gespürt hatte, war nun allgegenwärtig.

Genauso wie Catalina schien er gar nicht mit der Möglichkeit gerechnet zu haben, dass Nuria nicht hier war.

»Wartet.« Catalina überquerte mit raschen Schritten den Platz und spähte in die dunklen Ecken und Winkel der Häuser. Vielleicht hatte das, was ihre Großmutter tat, einen Sinn? Was, wenn sie sichergehen wollte, dass Catalina nicht von den Schatten befallen war, ehe sie sich zeigte?

Aber egal, wohin sie blickte, nirgends fand sie einen Hinweis oder eine Spur von Nuria.

Catalina schluckte. Sie ballte die Fäuste. Nein, das durfte einfach nicht sein. Sie hatte den langen Weg zurückgelegt, nur um an diesem Brunnen zu stehen? »Was tun wir, wenn sie nicht kommt?«

»Wir müssen weiter.«

»Nein!« Catalinas Stimme war schneidend. »Wir warten auf sie. Sie wird kommen, ich weiß es.« Verzweifelt ging sie auf und ab. Nuria Niebla würde sie nicht einfach im Stich lassen. Sie war ihre Großmutter. Irgendjemand musste man doch trauen können.

Márquez seufzte gequält. »Ich kann dich nicht schützen, Catalina. Nicht vor den Flüsterern.« Er lauschte dem schabenden Geräusch der sich nähernden Finsterfäden. »Wenn Nuria nicht kommt, müssen wir fort. Es gibt keinen anderen Weg.«

»Aber wohin?«, fragte Catalina. Hastig blickte sie über ihre Schultern. Von ferne klang das Dröhnen der Gebläsemaschinen herüber, die die Armada antrieben. Vor ihrem inneren Auge erschienen die Harlekine. Bisher hatte sie noch keinen erblickt, nicht hier in Lisboa. Vermutlich warteten sie nur auf einen geeigneten Zeitpunkt, um in den Straßen und Gassen auszuschwärmen und sich auf die Suche nach ihr zu machen.

»Nicht mehr lange und Lisboa ist vollkommen eingeschlossen«, sagte sie. »Dann bleibt uns keine Möglichkeit mehr zur Flucht.«

Márquez schüttelte den Kopf. Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Du irrst dich«, sagte er. »Ein Ausweg bleibt uns. Wenn etwas passiert, etwas, das wir nicht vorhergesehen haben, dann müssen wir in die Stadt aus Nacht und Nirgendwo gehen. Die Stadt der Schatten. Das ist es, was Nuria gesagt hat.«

Catalina starrte ihn an. Sie kannte die Geschichten und Gesänge von dieser Stadt, die irgendwo jenseits von Licht und Lisboa existieren sollte. Fado Mariza, die junge Hexe drüben in der Alfama, war es gewesen, die ihr davon erzählt hatte. Doch hatte Fado nicht auch gesagt, dass es nur Geschichten waren – nichts als Märchen?

»Aber –« Sie stockte.

Márquez spähte über die Schulter. »Du musst keine Angst haben, Catalina«, sagte er. »Die Schattenstadt ist anders, als du es dir jemals vorstellen könntest. Dort gibt es eine Windmühle, musst du wissen, und noch vieles mehr.«

Catalina sah ihn verwirrt an. »Unsere Windmühle?«

»Du wirst es verstehen, wenn wir dort sind.«

»Aber was ist mit Nuria?« Catalina sah sich verzweifelt um.

»Wir können nicht mehr lange warten, unmöglich.«

»Ich will nicht ohne sie gehen.«

»Du musst es tun!«

»Ich . . .« Sie verdrehte die Augen und trat wütend gegen einen Stein, der über den Platz flog.

In Márquez’ Schattenaugen schwamm Mitleid. Er öffnete den dunklen Mund zu einer Antwort, doch in dem Moment gewahrte Catalina einen schnellen Schatten über ihr.

Mit ausgebreiteten Schwingen stürzte er auf sie zu, packte sie mit scharfen Krallen und ließ sie aufschreien vor Schreck und Bestürzung. Catalinas letzter Gedanke galt Jordi Marí, gleich hier und jetzt.

Alfama

Jordi Marí hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Nicht einmal schätzen konnte er, wie lange sie sich durch den wabernden Nebel bewegt hatten. Die alte Frau, Catalinas Großmutter, hatte ihn einfach aus der nahenden Dunkelheit, der Furcht, der kreischenden Panik in das grelle Weiß hineingezogen, und als die Welt um sie herum wieder klar wurde, da befanden sie sich in einer engen Gasse, die verwaist und still vor ihnen lag.

Dichte Büschel gelber und grüner Gräser mit spitzen Halmen, so lang wie schöne Wimpern, wehten über das Kopfsteinpflaster und es sah aus, als seien sie lebendige Wesen, die sich in einer Art Herde fortbewegten. Etwas hatte sie aufgescheucht und Jordi konnte sich denken, was es gewesen war.

Schatten!

Überall in der Stadt war das Chaos ausgebrochen. Es hatte begonnen, als er vor nicht einmal zwei Stunden mit Kamino Regalado die flüsternden Märkte besucht hatte, um Ersatzteile für ihr Fluggerät, den Falken, zu besorgen. Und dann hatten sich die Ereignisse förmlich überschlagen.

Jordis Hand tastete nach dem hellen glatten Stein in seiner Tasche, der ihm alles, was er vergessen hatte, im Bruchteil eines einzigen Augenblicks zurückgegeben hatte. Nur um es gleich darauf wieder zu verlieren.

Es war seine Entscheidung gewesen, Catalina in dem Moment zu verlassen, als er sie gerade erst wiedergefunden hatte, und diese Entscheidung war ihm so schwergefallen wie noch nie etwas zuvor in seinem Leben. Doch hatte er keine Wahl gehabt.

Und tatsächlich: Er hatte es geschafft, hatte die beiden Schakalwesen auf ihrer Suche nach dem Kartenmädchen auf die falsche Fährte gelockt, irgendwie. Aber am Schluss war er es gewesen, der gerettet werden musste, von einer, die – so sah es aus – endlich einmal zu den Guten gehörte.

Die alte Frau, die eine seltsame Papierverkleidung trug, hatte sich ihm kurz und knapp als Nuria Niebla vorgestellt und dann, ihrem Namen Ehre machend, für Nebel gesorgt.

»Wo gehen wir hin?«, fragte Jordi, als er Atem geschöpft hatte. Die Schwaden, die sie während ihrer Flucht vor neugierigen Blicken und vermutlich Schlimmerem bewahrt hatten, lichteten sich so schnell, wie sie gekommen waren.

»Es gibt eine Magierin, die in der Alfama lebt«, erklärte ihm Nuria Niebla. Sie sah viel mehr nach einer harmlosen alten Bäuerin aus als nach einer mächtigen Hexe, aber Jordi wusste, wie sehr der Schein trügen konnte. »Ihr Name ist Fado Mariza. Sie führt einen Laden für dieses und jenes, gleich hier in der Gegend. Nun ja, sie hat es früher getan und ich hoffe, das ist immer noch so.« Nuria beobachtete den Lichterjungen eindringlich. »Ihr werde ich dich anvertrauen. Sie wird sich deiner annehmen.«

»Anvertrauen? Aber warum?« Jordi blickte verständnislos auf Nuria. »Warum darf ich nicht mit Ihnen kommen? Ihr sucht sie doch auch, Catalina meine ich.«

Sie schüttelte nur den Kopf. »Das ist meine Aufgabe allein, mutiger Jordi, nicht deine.«

»Aber ich . . .«

Sie gebot ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. Nichts an ihr duldete Widerspruch.

Etwas zog grollend über den Himmel. Etwas, das riesig war. So groß und so weit, dass Jordi sich gar nicht vorzustellen wagte, welche Macht es besaß. Die Nacht war heute voller seltsamer Dinge, die nicht einmal Barcelona heimgesucht hatten.

»Wir müssen fort von hier!«

Jordi nickte. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, was die Fäden der Meduza in Barcelona angerichtet hatten. Nicht zu vergessen Valencia und all die anderen Orte, die bislang der Finsternis zum Opfer gefallen waren.

»Sie werden über die ganze Stadt kommen«, sagte er und Furcht klang in seiner Stimme. »Wir müssen Catalina schleunigst finden und dann von hier verschwinden.«

»Ich«, betonte Nuria energisch, »werde sie suchen. Allein!«

Jordi schüttelte verstockt den Kopf und blieb stehen. »Ich werde Ihnen helfen«, beharrte er. »Ich muss sie einfach finden.«

Die alte Frau bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. »Ich weiß, Junge, ja, ich weiß.« Sie nickte grimmig, aber entschlossen, betrachtete ihn lange. »Meine alten Augen sehen noch gut.« Seufzend setzte sie sich wieder in Bewegung. »Ich kann dich trotzdem nicht mitnehmen.« Ihre Stimme knarzte leise wie warmes Holz. »Ich muss allein auf die Suche gehen, deswegen bin ich hier. Das ist die Bestimmung.«

Jordi schnaubte. Bestimmung! Was verstand die alte Frau schon von Bestimmung? Das, was er tief in seinem Herz spürte, war viel mehr, war etwas, das ihn immer antreiben würde. So lange, bis er Catalina wiedergefunden hatte.

Gerade wollte er erneut einen Versuch machen, Nuria zu überzeugen, als die Nacht ganz plötzlich voller schwarzer Federn war, die wie kleine leblose Leiber vom Boden aufgewirbelt wurden und hinauf in die Wolkengebilde schwebten.

Nuria Niebla blieb stehen, mitten auf einem weiten Platz verharrte sie, als sei sie vollkommen erstarrt, und blickte mit Tränen in den Augen zum Himmel empor. Kreidebleich wurde das faltige Gesicht, das vormals noch so beherrscht gewirkt hatte, und die Nebelhexe stöhnte laut auf.

»Das ist Malfuria«, keuchte die alte Frau, und als sie das sagte, sah sie noch älter aus, als sie es ohnehin sein musste.

Jordi hatte diesen Namen bereits schon einmal gehört. Die junge Zigeunerin, in deren Begleitung Catalina gewesen war, hatte ihn genannt.

Ein pechschwarzer Wirbelsturm, der wohl eines der vielen seltsamen Fluggeräte gewesen war, die man überall in der Stadt antraf, war über dem Castelo de Sao Jorge in einer Wolke aus Rabenfedern explodiert und kurz darauf war die Luft erfüllt gewesen vom Kreischen vieler Raben und Katzen.

Jetzt wurden erneut Rabenfedern aufgewirbelt.

»Was hat das zu bedeuten?«

Nuria Niebla sah den Jungen an, als wäre wirklich soeben die Welt untergegangen, und sagte ganz leise: »Alles, junger Jordi, alles.« Und die alten Augen konnten den Blick gar nicht von dem lösen, was sie da sahen. »Manches, das tot ist«, flüsterte sie mit brüchiger Stimme, »sollte auch tot bleiben. Das ist der Lauf der Dinge.«

Jordi trat einen Schritt auf sie zu und berührte vorsichtig ihren Arm. »Geht es Ihnen gut?«