Krystyna Kuhn

Schneewittchenfalle

 

 

Krystyna Kuhn
wurde 1960 als siebtes von acht Kindern in Würzburg geboren.
Sie studierte Slawistik, Germanistik und Kunstgeschichte,
unter anderem in Moskau und Krakau. Sie arbeitete als Redakteurin
und Herausgeberin. Seit 1998 ist sie freischaffende Autorin
und schreibt mit Vorliebe Thriller und Krimis. Krystyna Kuhn lebt
mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Nähe von Frankfurt.

Für Nina, Clara
und
natürlich Mascha

 

 

Das gleichnamige Hörbuch
ist bei Arena Audio erschienen.

Veröffentlicht als E-Book 2010
© 2007 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-401-80067-7

www.arena-verlag.de
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Ich, der arme unglückliche Robinson Crusoe,
habe während eines fürchterlichen Sturme
s
auf hoher See Schiffbruch erlitte
n
und wurde an die Küste dieses trostlosen,
unglückseligen Eilandes verschlagen.

Daniel Defoe, Robinson Crusoe

EINS

Stella.«

Jemand ruft mich. So leise wie Vogelgezwitscher.

»Stella. Stella.«

Was ist los? Bin ich im Auto eingeschlafen? Muss ich wohl, denn ich bin noch immer müde. Meine Augenlider scheinen nicht mehr zu funktionieren. Immer wieder klappen sie zu, sodass ich erneut im Dunkel verschwinde, in dem sich der Geruch nach heißem Metall mit der schwülen Luft vermischt. Energisch reiße ich die Augen auf. Aus dem Schwarz der langen Nacht taucht ein Gesicht auf. Nicht mehr als ein Schatten. Nicht mehr als eine Maske. Ein unbekannter Mann beugt sich über mich. Seine Augen sind so groß! Mein Gott, er hat einen Mund wie Dagobert Duck. Was sagt er? Ich kann ihn nicht verstehen. Als ob er unaufhörlich leere Sprechblasen produziert. Etwas stimmt nicht. Ich sehe alles vergrößert. Wie durch eine Lupe. Wirklich seltsam. Dann schrumpft er zusammen auf normale menschliche Größe. Der sieht ja aus wie der Chefarzt in dieser Fernsehserie. »Du bist im Krankenhaus«, sagt er mit diesem falschen Lächeln, wie es auch Dr. Heilmann draufhat, wenn er im Film schlechte Nachrichten überbringt. Was gibt es da zu lächeln, will ich sagen, aber kein Wort kommt über

meine Lippen. Vielmehr bin ich damit beschäftigt, nicht wieder einzuschlafen. Stella, wach bleiben! Also, warum bin ich im Krankenhaus? Wir müssten doch eigentlich bei Pat sein. Sven, Mama und ich. Ich drehe den Kopf zur Seite. Ein großes Fenster rechts, durch das die Sonne fällt. Ein zweites Bett neben meinem. Es ist leer. Über mir schwebt ein Fernseher. Ich kann meine Augen nicht mehr aufhalten.

Wie lange habe ich geschlafen? Welcher Tag ist heute? Mein Vater sitzt neben meinem Bett. Er ist der Letzte, den ich erwartet habe. Wir haben ihn doch erst gestern zum Flughafen gebracht. Das Schiff. Die Nordstern. Sie läuft von Kapstadt aus. Er war auf dem Weg in eine Gegend, in der ein Flug zu einem Krankenhaus so unmöglich ist wie eine U-Bahnfahrt zum Mond. Sein Gesicht ist kreidebleich. Warum schaut er mich so seltsam an? Er reibt sich die Augen. Sind es Tränen oder ist er einfach nur müde? Seine Hand streicht über meinen Kopf! Was ist das denn? Hey, ich bin nicht Sven! Meine Kinderzeit ist vorüber! Falls du es noch nicht mitbekommen hast, Daddy, ich bin vierzehn. Streicheln verboten! Ich versuche mich aufzurichten, aber es geht nicht. Dort unten hängen meine Beine in der Luft. Mir wird klar: Ich bin im falschen Leben, im falschen Film. Also schließe ich meine Augen wieder. Klappe! Zweiter Versuch. Vielleicht gelingt es mir jetzt im richtigen Leben aufzuwachen. Dort, wo ich hingehöre. In unserer Wohnung in Bremen mit Blick auf die Weser, in meinem Zimmer, in meinem Bett, den Kopf tief ins Kissen gewühlt, die Beine hoch bis an die Brust gezogen, wie ich immer schlafe.

Augen auf. Kurz blinzeln. Nichts, nichts hat sich verändert. Noch immer lächelt von rechts dieser falsche Dr. Heilmann und von links mein Vater, der eigentlich im Eismeer sein sollte. Wer von beiden sagt: »Ihr hattet einen Unfall. Erinnerst du dich?« Welcher Unfall? Wo ist Mama? Wo ist Sven? Hinter meiner Stirn ist eine Mauer. Eine dunkle Wand. Sie kippt. Durch meinen Körper geht ein Schmerz, der hart und kalt ist wie eine Eisenstange. »Mama und Sven sind tot«, höre ich meinen Vater sagen. Er fängt an zu weinen. Aber meine Augen bleiben trocken. Jemand hat mir Sand hinter die Lider gekippt, in dem die Tränen versickern.

ZWEI

Der Tag ging in die Dämmerung über. Vor dem dunklen Himmel erhob sich der alte Leuchtturm über den Dünen. Die Luft roch nach Meer, Salz und Fisch und die rote Sonne tauchte im Meer unter, als wollte sie ein Vollbad nehmen.

House of the Rising Sun.

Stellas Gitarrenlehrer hatte ihr den alten Song aus der Steinzeit der Musik vorgeklimpert und dabei sehnsüchtig die Augen geschlossen. Wie peinlich! Ein erwachsener Mann. Na ja, jetzt war sie ihn für alle Zeiten los. Wenigstens ein Vorteil, den das neue Leben hatte. Er hatte immer nach Zigaretten gerochen und war absolut dagegen gewesen, absolut dagegen, wie er wiederholt hatte, dass sie eine E-Gitarre bekam. Kurz, er war ein Spielverderber. Ihr Vater bog in eine schmale Zufahrtsstraße ein und nur Minuten später in einen mit Kies bedeckten Hof. Links befand sich ein schlichtes einstöckiges Gebäude, das offenbar erst vor Kurzem neu verputzt worden war. Im Gegensatz zu den anderen Häusern auf der Insel besaß es ein mit grauem Schiefer gedecktes Dach. Dahinter lag ein schmaler Streifen Wiese, auf dem einige alte Obstbäume standen, dann ein Weg und dahinter Felder, die bereits abgeerntet waren. Das ehemalige Pfarrhaus war das einzige in der Gegend, in dem kein Licht brannte. Lediglich zwei Bauernhöfe lagen in seiner Nähe. In der Ferne leuchteten Lampen wie Irrlichter in der Abenddämmerung. Ihr Wagen hielt direkt hinter einem nagelneuen schwarzen Sportcoupé mit getönten Scheiben, die den Blick in sein Inneres verhinderten. »Wow, wem gehört der denn?« »Pat.« »Seit wann besitzt sie so einen Schlitten?« Anstelle einer Antwort hupte ihr Vater mehrmals. Die Kapitänsmütze auf dem Kopf, stieg Stella aus, erleichtert, dass sie endlich angekommen waren. Obwohl seit dem Unfall drei Monate vergangen waren, machte ihr Auto fahren noch immer Angst. Sie hatte dann das Gefühl, in ein großes Dunkel zu fahren. Noch immer war das Letzte, woran sie sich erinnerte, dass sie ins Auto gestiegen war, um mit ihrer Mutter und Sven zu Pat zu fahren, die in der Nähe von Kiel lebte. Nicht weit vom Meer, dessen Geheimnisse größer waren als die des Weltraums, wie ihr Vater immer sagte. Wie viel Zeit fehlte ihr? Stunden? Tage? Ihr Vater stellte sich neben sie: »Hier sind wir also.« »Ziemlich abgelegene Gegend, oder?« »Wir wollten ein neues Leben anfangen.« ER wollte, nicht Stella. ER versuchte wegzulaufen vor der Vergangenheit. ER hatte sich freiwillig auf diese Insel gerettet. ER wollte ein neues Leben beginnen. Wie denn? Indem er das alte einfach wegwarf, als sei es nie gewesen? Doch diese Diskussionen hatten sie zu Genüge geführt, daher bemerkte Stella lediglich: »Es kommt mir ein bisschen kitschig vor.« »Findest du?« Er legte die Hand an die Stirn, als ob die Sonne ihn blendete, und starrte das Haus an, als prüfe er, ob irgendwo KITSCH draufsteht.

»Es sieht aus wie ein englisches Herrenhaus in einem dieser Filme, die Oma immer schaut, wenn sie bügelt.« »Pat hat sich viel Mühe gegeben. Es ist ein Glück, dass sie das Haus gefunden hat.« »Aber verlange nicht von mir, dass ich reiten lerne.« Ihr Vater sah sie verständnislos an, wie so oft. Er nahm seine Brille ab, als ob er so einen besseren Durchblick bekäme: »Wie kommst du denn darauf?« »Leute, die in solchen Häusern wohnen, reiten immer. Sie tragen schwarze Stiefel, alberne ausgebeulte Hosen und in den dramatischen Szenen fallen sie vom Pferd, ausgerechnet wenn sie schwanger sind.« Endlich verstand er und grinste. »Ich habe mir nie viel aus Pferden gemacht.« »Nein, du würdest dich lieber von einem Wal verschlucken lassen.« »Stimmt, ich wollte schon immer wissen, wie es in seinem Inneren aussieht.« Er schwieg kurz. »Komm, das Gepäck kann ich später holen. Schauen wir uns das Haus an. Pat hat es eingerichtet. Außerdem hat sie eine Überraschung für dich.« Pat, die eigentlich Patricia Anders hieß, war eine alte Freundin ihrer Mutter. Gewesen. Sie war eine Freundin gewesen. Doch wer war diese Frau in dem schmalen weißen Rock und den hohen Schuhen, die jetzt in der Haustür erschien und winkte?

Mama?

Nein. Natürlich nicht. Aber war das Pat? Wirklich Pat? Stella hatte sie ganz anders in Erinnerung. Hatte sie nicht immer verwaschene Jeans und Männerhemden getragen, blonde kurze Haare gehabt und war ziemlich dick gewesen? Jetzt trug sie die Haare schulterlang und hatte sie dunkel gefärbt. Noch ein Erwachsener, der sich offenbar vorgenommen hatte, sein Leben zu verändern und die Vergangenheit hinter sich zu lassen, dachte Stella. »Pat bleibt noch ein bis zwei Tage«, hörte sie ihren Vater sagen, »bis du dich in der Schule eingelebt hast. Ich muss morgen nach Bremen ins Institut. Wenn ich zurückkomme, fangen wir an mit unserem Leben zu zweit.« Stella spürte einen Stich in ihrem Herzen. Kaum angekommen, ließ er sie bereits allein. Typisch. So war er eben. Ein Reisender, ein Seefahrer. Offenbar hatte er nicht die Absicht, sich zu ändern. Was konnte das für ein Leben zu zweit werden, wenn einer ein Nestflüchter war? Als ihr Vater die Enttäuschung in ihrem Gesicht erkannte, erklärte er hastig: »Ich habe noch einiges im Institut zu erledigen. Pat ist ja da.« Ja, Pat war da und lächelte ihr aufmunternd zu, als ob sie ihr sagen wollte: »Ich weiß, es ist schwer. Auch ich habe eine Freundin verloren, aber ich werde dir helfen, hier auf der Insel neu anzufangen.« Sie musste nach vorne schauen, ihr Leben wieder in die Hand nehmen, neuen Kurs einschlagen. Der Ansicht war auch ihre Oma. Deswegen hatte sie ihr die Kapitänsmütze ihres Großvaters geschenkt. Sie ging die Treppe hoch und auf Pat zu, die sie in die Arme nahm. Für einen Moment verharrten sie so. Stellas Herz schlug laut, als sie über Pats Schulter durch die Eingangstür in den Hausflur sah. Ein Gefühl sagte ihr, sie sollte umdrehen. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Doch Pat hielt sie fest, wischte sich kurz über die Augen und sagte dann betont munter: »Das Haus ist wirklich ein Glücksfall. Es hätte deiner Mutter gefallen. Sie wollte immer auf der Insel leben.« Wieder dieser Stich im Herzen. Hätte. Ein Wort, das sie in Zukunft begleiten würde.

Stella machte sich los und Pat schob sie energisch ein Stück vor. »Komm, ich zeige dir alles.« »Wie viele Zimmer hat es?«, fragte Stella und trat in den Flur. »Zehn.« »So viele?« »Gefällt es dir nicht?« »Klar«, antwortete Stella. »Echt toll. Bloß dass wir nur zu zweit sind.« »Du wirst dich schon einleben. Freust du dich auf die Schule?« Pat hatte keine Kinder, sonst wüsste sie, dass eine neue Schule vergleichbar war mit einem Haifischbecken. Stella konnte sich die Blicke richtig vorstellen. Wenn die anderen erfuhren, was ihr passiert war, würden sie mit Sicherheit tuscheln. Andererseits, keine Panik. Sie fand schnell Freunde. Vermutlich auch in einem Haifischbecken. Schließlich war sie in ihrer alten Schule beliebt gewesen. Hatte zu den Auserwählten gehört. Zu denen, die den Ton angaben. Sie hatte so viele Briefe im Krankenhaus von Freunden und Klassenkameraden erhalten, dass sie nicht alle beantworten konnte. Auch Caro hatte die ersten Wochen jeden Tag geschrieben. Allerdings war seit zwei Monaten kein einziger Brief mehr gekommen. Vermutlich war sie noch immer verliebt. In diesen Michael. Dem Foto nach ein ideales Double für David Beckham. »Ehrlich gesagt, ein bisschen Panik habe ich schon«, sagte Stella, zog den Haargummi aus dem Pferdeschwanz und schüttelte ihre Haare glatt. »Ach was, Panik. So ein großes Mädchen wie du.« Pat strich Stella liebevoll eine Strähne aus der Stirn »Ich bin sicher, du wirst hier schnell neue Freunde finden.« Stella schwieg. Tatsache war, sie war hier auf der Insel eine Fremde. Wie Robinson Crusoe war sie, nachdem sie Schiffbruch erlitten hatte, auf der Insel angeschwemmt worden, und hatte wie dieser die Absicht, sie so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Der Geburtsort ihres Vaters war Bremen. Wie der von Robinson Crusoes Vater. Beide stammten aus einer Familie von Abenteurern und Seefahrern. Stellas Großvater war Kapitän gewesen. Ihr eigener Vater unternahm immer wieder Expeditionen mit der Nordstern, einem deutschen Forschungsschiff. »Deine Mutter hätte gewollt, dass du tapfer bist«, erklärte Pat, »dass wir alle tapfer sind.« Hätte. Hätte. Hätte. Ihre Mutter hatte sie verlassen. Sie hatte sie einfach auf der Erde im Stich gelassen und hatte nur Sven mit sich genommen. Stella griff nach der Kapitänsmütze ihres Großvaters und drehte sie nach hinten. »Na ja«, erklärte sie, »die neue Schule ist bestimmt . . .«, ihr fiel so schnell kein Wort ein, »…ultracool.« Ihr Vater nickte erleichtert. Mein Gott, war der leicht zu täuschen. Er hatte keine Ahnung, dass ein Wort wie »ultracool« im wirklichen Leben nicht mehr bedeutete als nett. Pat ging voraus, den lang gezogenen Flur entlang, der am anderen Ende vor einer braunen Tür endete. Links hing ein großer Spiegel in einem vergoldeten Rahmen. Pat hielt kurz inne und warf einen prüfenden Blick hinein, bevor sie auf ihren hohen Schuhen weiterging. Die Absätze klackten laut auf dem alten Steinboden, der das Haus kalt machte und klamm. Alles war fremd. Nicht nur der Boden oder dieser riesige Spiegel, auch die Bilder und die alte Truhe mit den aufwendigen Schnitzereien. Ein alter Pastor hatte hier gewohnt. Na super! Das Haus war heilig. »Was möchtest du zuerst anschauen?« Pat drehte sich zu ihr um. »Mein Zimmer.«

»Dann komm. Es ist oben.« Pat ging vor ihr die Treppe hoch. Die alten Holzstufen knarrten unter ihren Schritten. An den weiß gestrichenen Wänden hingen Aquarellbilder von der Insel. Ganz oben der Leuchtturm, dessen Signallampe einem Schiff auf dem sturmgepeitschten Meer den Weg wies. Ihr Zimmer lag rechts. Eine Art Puppenstube mit schrägen Wänden, Dachbalken und blau-weißer Blümchentapete. Ein unbekannter abgenutzter Teddybär saß auf der gestreiften Bettwäsche mit Spitzenbesatz. Laura Ashley ließ grüßen. »Komm her, bei schönem Wetter kannst du das Meer sehen!« Pat stand an dem runden Fenster, das in der Giebelwand wie das Bullauge eines Schiffes saß. Stella trat neben sie. Unten grenzte ein weißer, hoher Zaun das Grundstück von einem schmalen, ungepflegten Feldweg ab. Ein alter Walnussbaum wuchs fast in das Zimmer hinein. »Toll«, erwiderte Stella höflich. Pat meinte es schließlich gut, aber sie wusste genau: Wie Robinson Crusoe würde sie die Tage zählen, indem sie Striche in den alten Holzbalken ritzte, der aus der weißen Decke ragte. Bis sie irgendwann von der Insel befreit wurde. Dann fiel ihr Blick auf ihre Gitarre. Nein, es war nicht ihr altes Instrument, es war...sie konnte es kaum glauben, es war eine E-Gitarre. Sie stand unter der Dachschräge. Sie stieß einen Begeisterungsschrei aus. »Wo habt ihr die denn her?« »Im Internet gekauft«, antwortete Pat stolz und strich mit ihren rot lackierten Fingern über den braunen Lack des Musikinstrumentes. »Ich finde es so praktisch. Du kannst sie leise stellen und störst niemanden, wenn du übst.« Stella antwortete nicht. Eine E-Gitarre war nicht dazu da, um Stille zu verbreiten. Es ging vielmehr um den vollen Sound des Lebens. Sie hatte geglaubt, in der Stille auf der Insel automatisch gehörlos zu werden, doch jetzt konnte sie dieses Haus aufschrecken. Falls der letzte Pfarrer noch als Geist auf dem Dachboden lebte, würde er spätestens ausziehen, wenn sie zu üben begann. »Gefällt sie dir?« Ihr Vater schaute sie fragend an. Stella nickte. Okay, sie hatte sich zwar eine weiße gewünscht, aber was soll’s. »Danke«, sagte sie. Er hob verlegen die Hände. »Danke nicht mir, das war allein Pats Idee.« »Danke«, wandte sie sich an Pat, die ihren Vater zufrieden anlächelte. Stella nahm die Gitarre in die Hand und setzte sich auf ihr neues Bett. Gewohnheitsmäßig begann sie die ersten Akkorde anzuschlagen. Sie wollte das Lied für das Schulkonzert spielen, das an ihrer alten Schule im September hatte stattfinden sollen und das nun ohne sie ablaufen würde. Doch die Griffe fielen ihr nicht mehr ein. Ihr Kopf war leer. Da war es wieder, das große Loch, in das ihre Gedanken fielen und verschwanden wie ein Albtraum, an den man sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnert, weil man ihn einfach nur vergessen will. »Ich kann mich an nichts erinnern«, flüsterte sie. Alle schwiegen. Die Stille hing im Raum. Sie breitete sich aus wie eine schwarze Flüssigkeit. Als hätte Stella ein Gefäß umgestoßen, aus dem jetzt die Trauer floss.

Retrograde Amnesie.

Die Ärzte hatten es ihr ausführlich erklärt.

Gedächtnisverlust für den Zeitraum vor Eintreten des Unfalls. Im Gedächtnis gespeicherte Bilder oder Zusammenhänge können nicht in das Bewusstsein geholt werden.

Das klang wie ein Computerfehler in ihrem Gehirn. Irgendein Virus auf der Festplatte, der ganze Tage in den Zwischenspeicher kopierte. Sie musste einfach Geduld haben, so Dr. Heilmann, der eigentlich Mayer hieß. Irgendwann tauchten sie wieder auf, die Erinnerungen. Wie Inseln im Ozean der Gedanken. Pat hob energisch Stellas Koffer aufs Bett, öffnete ihn und begann auszupacken. Offenbar wollte sie ihr damit zu verstehen geben, es sei besser, etwas zu tun, als zu grübeln. In ihrer Hand hielt sie nun das blaue Notizbuch, das Dr. Mayer Stella zum Abschied geschenkt hatte. »Dein Logbuch«, hatte er erklärt, »wenn du aufbrichst zu der Reise zurück. Und wenn sie auftauchen, die Gedächtnisinseln, kannst du sie hier festhalten.« Er hatte eindeutig eine poetische Ader, der gute Herr Mayer, und viel mit ihrem alten Gitarrenlehrer gemeinsam.

Stella. So leise wie Vogelgezwitscher. Stella. Stella.

Stella nahm Pat das Buch aus der Hand. »Ich mache das schon.« Bloß nicht heulen, Kapitän, dachte sie. Da spürte sie etwas Weiches an ihrer Wange. Es bewegte sich. Ihre Hand griff danach. Ein klägliches Maunzen. Erst leise, dann immer lauter. Sie schaute zur Seite, und als sie sah, was ihr Vater in den Händen trug, freute sie sich zum zweiten Mal an diesem Tag. Tränen traten ihr in die Augen. Eine Katze. Eine kleine schwarze Katze mit einem weißen Fleck ums rechte Auge. Als ob sie ein Monokel trug und unheimlich klug war. Mein Gott, seit Jahren hatte sie sich eine gewünscht. Erst war die Stadtwohnung zu klein gewesen, dann die Schwangerschaft ihrer Mutter und natürlich Sven. Die Katze versuchte sich aus den ungeschickten Händen ihres Vaters zu befreien.

Sie miaute erbärmlich, den verzweifelten Blick auf Stella gerichtet. »Vielleicht«, meinte Stella an ihren Vater gewandt, »verstehst du ja etwas von Bakterien im Packeis, aber lass bitte die Katze in Ruhe.« Sie nahm ihm das schwarze Fellknäuel ab und hob es in die Luft. »Freitag«, stellte sie schließlich zufrieden fest. »Genau! Das ist gut! Das gefällt mir!« Den verständnislosen Blick ihres Vaters ignorierte sie. Zärtlich strich Stella der Katze mit der Hand über das schwarze Fell, aus dem ihr das weiß umrandete Auge entgegenblinzelte. Sie legte den Kopf zur Seite, schaute das Tier noch einmal prüfend an und nickte schließlich: »Freitag. Sie soll Freitag heißen.«

DREI

Wie immer derselbe Traum. Keine wirkliche Erinnerung, sondern Bilder, die ihre Fantasie nach Lust und Laune in der Nacht zusammengepuzzelt hatte. Stella saß auf dem Rücksitz des kleinen Wagens ihrer Mutter. Sie raste durch einen Wald. Es gab keinen Weg, nur Bäume. Es war geradezu unmöglich durchzukommen. Jede Minute, jede Sekunde würden sie gegen einen der Stämme knallen mit einer Geschwindigkeit, die das Auto in der Mitte spalten würde. Und das Schlimmste! Sie war angeschallt, aber der Gurt wand sich um ihre Kehle, zog sich fester und fester. Dabei musste sie doch nach vorne. Sie musste das Auto aus dem Dickicht lenken. Niemand außer ihr konnte das tun. Und dann die Erkenntnis: Die beiden Plätze vor ihr waren leer und das Lenkrad fehlte. Regen drang durch das Autoblech. Sie spürte ihn auf ihrem Gesicht und schlug die Augen auf. Wo war sie? Was war das für ein Zimmer? Stellas Herz schlug heftig. Sie war schweißgebadet, als sie sich aufrichtete. Ach ja, auf der Insel gestrandet. Puh, was für ein scheußlicher Traum! Geradezu abartig widerwärtig. Einfach Horror! Stella war Freitag dankbar, dass er sie abgeleckt und aus dem Schlaf gerissen hatte. Auch wenn der Wecker erst sechs Uhr früh zeigte. Durch das Bullauge sah Stella dichten Nebel. Er lag über der Insel, als sei diese noch nicht richtig wach. Genau wie sie selbst.

Vom Nussbaum war lediglich ein Schatten zu erkennen. Graue Finger, die sich nach ihr ausstreckten. Positiv denken, dachte sie, immer positiv denken. Sie wollen dich begrüßen. Ein Baum ist ein Freund. Das stand in jedem Kinderbuch. »Na«, sagte sie zu der Katze, die vor dem Bett saß und sie aufmerksam beobachtete, »wirst du mich jetzt jeden Morgen wecken?« Ihre Frage verstand Freitag als Aufforderung, erneut aufs Bett zu springen. »Lass sie nur nicht ins Bett, sonst gewöhnt sie sich daran«, hatte Pat sie am Vorabend gewarnt. Doch Stella hatte gar nicht hingehört. Warum auch? Freitag sollte sich schließlich daran gewöhnen. Es war schön, nicht alleine zu sein in der Nacht, wenn die Träume kamen. Freitag begann zu schnurren, als ihre Hand seinen Nacken kraulte. »Die Katze ist kein Kater, du musst ihr einen weiblichen Namen geben«, hatte Pat gesagt. Namen waren wie die Augenfarbe. Nicht zu ändern. »Ich muss aufstehen«, gähnte Stella »aber du kannst liegen bleiben. Weißt du, wie gut du es hast?« Freitag antwortete nicht, sondern krümmte den Rücken, um sich in der Bettdecke eine Mulde zurechtzutreten. Vorsichtig zog Stella die Beine an, schob die Decke ein Stück zurück und stand auf. »Du musst nicht in die Schule gehen.« Freitag erstarrte für einen Moment. »Das ist nicht fair. Du hast es wirklich gut. Sag, kannst du mir nicht auch beibringen, Mäuse zu fangen? Ich könnte Nacht für Nacht mit dir auf Streifzug gehen. Würde dir das gefallen?« Freitag fuhr sich ein paar Mal rasch mit den Pfoten durchs Gesicht und legte sich tatsächlich zum Schlafen. »Das ist nicht nett von dir, es dir gemütlich zu machen, während ich ins Haifischbecken muss. Wenn du jetzt schläfst, dann tausche ich dich gegen einen Hund. Der wäre dankbar. Dankbar«, wiederholte Stella und schlüpfte in die Hausschuhe, »mich an meinem ersten Tag zu begleiten. Es wäre ihm eine Ehre. Aber du? Dich kümmert es einen Scheiß, wie es mir geht, oder?« Freitag hob den Kopf und lauschte. »Wirst du an mich denken heute Vormittag?« Stella legte ihren Kopf auf den Katzenkörper und roch die Wärme und das bedingungslose Vertrauen in das Leben. Sie war eine durchschnittliche Schülerin. Vielleicht sogar etwas besser und bisher gerne zur Schule gegangen. Warum fürchtete sie sich jetzt? Vielleicht war es wirklich so, wie Pat gestern voller Zuversicht gesagt hatte. Sie würde sich schnell eingewöhnen und neue Freunde finden. Auch ihr Vater hatte zugestimmt: »In deinem Alter ist man neugierig und der Ort, wo diese Neugierde befriedigt werden kann, ist die Schule.« »Das glaubst du ja wohl selbst nicht«, hatte Stella widersprochen, »ich weiß zufällig, dass du ein ganz miserabler Schüler warst.« »Woher hast du das denn?« Mama hat es mir erzählt, hatte ihr schon auf der Zunge gele-gen...Sie hatte es nicht ausgesprochen, sondern gesagt: »Ich weiß es von Oma.« »Die eigene Mutter fällt mir in den Rücken«, hatte er Pat erklärt, die das Weinglas an den Lippen herzlich in sein Lachen eingestimmt hatte. Stella aber hatte ein komisches Gefühl gehabt, weil sie plötzlich gewusst hatte, dass sie »Mutter« nicht einfach aus dem Wortschatz löschen konnte, nur weil die eigene tot war. Sie zog die älteste Jeans über, die sie besaß. Dazu ein dunkelblaues T-Shirt. Die Haare zu einem Pferdeschwanz binden. Nur nicht auffallen. Das stand in ihrem Logbuch auf der ersten Seite. »Ich finde, du solltest dich nicht so hängen lassen«, erklärte sie Freitag, der aufsprang, als hätte er verstanden, sich streckte, vom Bett hüpfte und um ihre Beine strich. In diesem Moment wusste Stella sicher, dass sie Freitag nie eintauschen würde. Gegen keinen Hund der Welt und gegen niemanden sonst. »Ich weiß ja, du willst dein Frühstück. Es geht dir nicht wirklich um mich, aber ich verzeihe dir.«

Der Frühstückstisch war reichlich gedeckt. Pat hatte sich Mühe gegeben. Sogar Blumen hatte sie im Garten geschnitten. »Gut geschlafen?« »Hm«, murmelte Stella. »Hast du geträumt?« Pat beobachtete sie besorgt. »Nein.« Dennoch verfolgte Pat sie weiter mit diesem kummervoll prüfenden Blick, als würde sie ihr nicht glauben. Hatte sie nachts wie in der Zeit nach dem Unfall laut geschrien und Pat, deren Zimmer genau gegenüberlag, hatte sie gehört? Sie beschloss, Pats Blick zu ignorieren, und sah zu, wie diese das Brot dick mit Butter bestrich. »Was möchtest du, Schatz, Marmelade oder Käse?« Offenbar wusste sie nicht, dass Stella morgens keinen Bissen zu sich nahm, nur Tee trank. »Hab keinen Hunger.« »Du musst frühstücken.« Das Messer fuhr in die Marmelade. Stella wollte nicht diskutieren. Nicht morgens um sieben. »Ist Johannes schon weg?« Seit dem Unfall brachte sie das Wort Papa nicht mehr über ihre Lippen, sondern nannte ihren Vater immer beim Vornamen. »Er musste früh los, um die erste Fähre zu erwischen. Er hat heute einen wichtigen Termin im Institut.«

»Ja, ja, alles, was er tut, ist wahnsinnig wichtig. Ich verstehe nicht, wie das Vorkommen von Plankton interessanter sein kann als mein erster Schultag.« »Er räumt heute seinen Schreibtisch im Institut. Es fällt ihm sicher nicht leicht. Er gibt das alles auf, damit er sich um dich kümmern kann. Seine wissenschaftliche Karriere, die Reisen mit der Nordstern. Weißt du, was das bedeutet, an so einem Projekt mitzuarbeiten? Mit diesem Forschungsschiff zur Antarktischen Halbinsel unterwegs zu sein?« »Was hat er denn aufgegeben?«, protestierte Stella. »Packeis, Plankton, Bakterien. Echt spannend.« Pat schwieg einen Moment und sagte dann: »Du musst das verstehen, Stella, auch für ihn ist es nicht einfach. Schließlich arbeitet er seit fast zwanzig Jahren für das Institut. Dieser Job war sein Traum. Und du bist ja schließlich nicht allein, oder?« Sie bemühte sich um einen aufmunternden Ton. »Ich bin ja auch noch da. Ich bringe dich zur Schule.« »Ich kann doch auch mit dem Fahrrad fahren!« Nach dem Traum war Stella nicht nach Autofahren zumute. Außerdem war es verdammt peinlich, in ihrem Alter zur Schule gebracht zu werden. Als wäre sie ein Baby. Mama hätte das verstanden.

Mama. Hätte.

»Ich hasse Auto fahren!« Pat schaute sie lange an. »Du musst vergessen«, sagte sie schließlich. »Vergessen.« »Mit dem Vergessen«, antwortete Stella trotzig, »habe ich ja, wie wir wissen, kein Problem, sondern damit, mich zu erinnern.« Sie konnte nicht verhindern, dass sie laut wurde, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. »Da ist nun mal Nirwana in meinem Kopf. Alle erzählen, dass meine Mutter mit hundert Sachen in einen Baum gerast ist. Auf offener Strecke. Aber ich kann es nicht glauben«, sie schlug sich mit der Hand an die Stirn, »weil hier nichts ist, verstehst du? Vielleicht träume ich nur. Was, wenn diese ganze Scheiße einfach nur ein verdammter Albtraum ist? Was, wenn ihr mich alle anlügt?« Pat erstarrte. Schließlich schluckte sie schwer, wandte sich ab und Stella hatte das Gefühl, dass sie ihr etwas verschwieg. Warum? Vor was wollte Pat sie schützen?

VIER

Pat hielt vor dem Pausenhof der Inselschule, die direkt neben der Kirche und dem Dorfkrug lag, der Dorfschenke, deren reetgedecktes Dach bis auf die Straße reichte. Auf dem Hof herrsch