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Titel

Kerstin Gier

Smaragdgrün.
Liebe geht durch alle Zeiten

Arenaneu.tif

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2013
© 2010 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Einbandillustration: Eva Schöffmann-Davidov
ISBN 978-3-401-80118-6

www.arena-verlag.de

Mitreden unter forum.arena-verlag.de

www.smaragdgruenlesen.de

Widmung

Für alle Marzipanherzen-Mädchen dieser Welt
(und ich meine wirklich alle Mädchen. Es fühlt sich nämlich immer gleich an,
egal ob man 14 Jahre alt ist oder 41.)

Hope is the thing with feathers
That perches in the soul
And sings the tune without words
And never stops at all.

Emily Dickinson

Prolog

Belgravia, London, 3. Juli 1912

»Das wird eine hässliche Narbe geben«, sagte der Arzt, ohne den Kopf zu heben.

Paul lächelte schief. »Na, auf jeden Fall besser als die Amputation, die Mrs Überängstlich hier prophezeit hat.«

»Sehr witzig!«, fauchte ihn Lucy an. »Ich bin nicht überängstlich, und duMr Dämlich-Leichtsinnig, mach bloß keine Scherze! Du weißt genau, wie schnell sich solche Wunden infizieren können, und dann kann man froh sein, wenn man in diesen Zeiten überhaupt noch am Leben bleibt: Keine Antibiotika weit und breit und die Ärzte sind alle unwissende Stümper!«

»Na, besten Dank auch«, sagte der Arzt, während er eine bräunliche Paste auf der frisch genähten Wunde verstrich. Es brannte höllisch und Paul konnte nur mit Mühe eine Grimasse unterdrücken. Er hoffte nur, dass er keine Flecken auf Lady Tilneys gute Chaiselongue gemacht hatte.

»Sie können ja nichts dafür.« Paul merkte, dass Lucy sich große Mühe gab, freundlicher zu klingen, sie versuchte sogar ein Lächeln. Ein ziemlich grimmiges Lächeln, aber es war schließlich die Absicht, die zählte. »Ich bin überzeugt, Sie geben Ihr Bestes«, sagte sie.

»Dr. Harrison ist der Beste«, versicherte Lady Tilney.

»Und der Einzige…«, murmelte Paul. Er war plötzlich unglaublich müde. In dem süßlich schmeckenden Trank, den der Arzt ihm eingeflößt hatte, musste sich ein Schlafmittel befunden haben.

»Vor allem der Verschwiegenste«, ergänzte Dr. Harrison. Pauls Arm erhielt einen schneeweißen Verband. »Und ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass man Schnitt- und Stichwunden in achtzig Jahren anders behandelt, als ich es getan habe.«

Lucy holte tief Luft und Paul ahnte schon, was nun folgen würde. Aus ihrer Hochsteckfrisur hatte sich eine Locke gelöst und sie strich sie sich mit kämpferischer Miene hinter das Ohr. »Na ja, grob betrachtet vielleicht nicht, aber wenn Bakterien… also, das sind so einzellige Organismen, die…«

»Jetzt hör schon auf, Luce!«, fiel Paul ihr ins Wort. »Dr. Harrison weiß sehr wohl, was Bakterien sind!« Die Wunde brannte immer noch fürchterlich, gleichzeitig fühlte er sich so erschöpft, dass er nur zu gern die Augen geschlossen hätte und einfach ein bisschen weggedämmert wäre. Aber das hätte Lucy nur noch mehr aufgebracht. Obwohl ihre blauen Augen wütend funkelten, verbargen sich doch nur Sorge und – schlimmer noch – Angst dahinter, das wusste er. Ihr zuliebe durfte er sich weder seine schlechte körperliche Verfassung noch die eigene Verzweiflung anmerken lassen. Also redete er einfach weiter. »Wir befinden uns schließlich nicht im Mittelalter, sondern im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der bahnbrechenden Entwicklungen. Das erste EKG ist bereits Schnee von gestern, seit ein paar Jahren kennt man auch den Erreger der Syphilis und hat eine Behandlung dagegen gefunden.«

»Ach, da hat aber jemand im Mysterien-Unterricht gut aufgepasst.« Jetzt sah Lucy aus, als würde sie jeden Augenblick explodieren. »Schön für dich!«

»Und im letzten Jahr hat diese Marie Curie den Nobelpreis für Chemie erhalten«, steuerte Dr. Harrison bei.

»Und was hat die noch gleich erfunden? Die Atombombe?«

»Manchmal bist du erschreckend ungebildet. Marie Curie hat radio…«

»Ach, halt die Klappe!« Lucy hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrte Paul zornig an. Lady Tilneys tadelnden Blick bemerkte sie gar nicht.

»Deine Vorträge kannst du dir im Augenblick sonst wohin schieben! Du! Hättest! Tot! Sein! Können! Kannst du mir bitte verraten, wie ich diese Katastrophe ohne dich abwenden sollte?« An dieser Stelle brach ihre Stimme. »Oder wie ich ohne dich weiterleben könnte?«

»Es tut mir leid, Prinzessin.« Sie hatte ja gar keine Ahnung, wie leid es ihm tat.

»Pah«, machte Lucy. »Du brauchst gar nicht diesen zerknirschten Hundeblick aufzusetzen.«

»Wie überflüssig, sich damit zu beschäftigen, was hätte sein können, Kind«, sagte Lady Tilney kopfschüttelnd, während sie Dr. Harrison half, seine Utensilien wieder in der Arzttasche zu verstauen. »Es ist doch alles gut gegangen. Paul hatte Glück im Unglück.«

»Nur weil es noch schlimmer hätte enden können, heißt es nicht, dass alles gut gegangen ist!«, rief Lucy. »Nichts ist gut gegangen, gar nichts!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen und Paul brach bei diesem Anblick beinahe das Herz. »Wir sind jetzt seit drei Monaten hier und haben nichts von dem erreicht, was wir geplant hatten, im Gegenteil: Wir haben alles nur noch schlimmer gemacht! Endlich hatten wir diese verdammten Papiere in den Händen und da gibt Paul sie einfach weg!«

»Das war vielleicht ein bisschen voreilig.« Er ließ den Kopf auf das Kissen sinken. »Aber in diesem Augenblick hatte ich einfach das Gefühl, das Richtige zu tun.« Und zwar deshalb, weil er sich in ebendiesem Augenblick dem Tod verdammt nahe gefühlt hatte. Viel hätte nicht mehr gefehlt und Lord Alastairs Degenklinge hätte ihm den Rest gegeben. Das allerdings durfte er Lucy auf keinen Fall sagen. »Wenn wir Gideon auf unserer Seite hätten, gäbe es noch eine Chance. Sobald er die Papiere gelesen hat, wird er begreifen, worum es uns geht.« Hoffentlich.

»Aber wir wissen selber nicht genau, was in den Papieren steht! Vielleicht ist es verschlüsselt oder… ach, und du weißt ja nicht mal, was du Gideon da überhaupt gegeben hast«, sagte Lucy. »Lord Alastair könnte dir alles Mögliche untergejubelt haben: alte Rechnungen, Liebesbriefe, leere Blätter…«

Dieser Gedanke war Paul auch längst gekommen, aber was geschehen war, war nun einmal geschehen. »Manchmal muss man ein bisschen Vertrauen in die Dinge haben«, murmelte er und wünschte, diese Aussage würde auf ihn zutreffen. Noch mehr als der Gedanke, Gideon möglicherweise wertlose Papiere überreicht zu haben, folterte ihn die Vorstellung, der Junge könne mit den Unterlagen direkt zum Grafen von Saint Germain gegangen sein. Das würde bedeuten, er hätte ihren einzigen Trumpf aus der Hand gegeben. Aber Gideon hatte gesagt, dass er Gwendolyn liebte, und die Art und Weise, wie er es gesagt hatte, war irgendwie… überzeugend gewesen.

»Er hat es mir versprochen«, wollte Paul sagen, aber es kam nur als unhörbares Flüstern heraus. Außerdem wäre es ohnehin eine Lüge gewesen. Er hatte Gideons Antwort gar nicht mehr mitbekommen.

»Es war eine dumme Idee, mit der florentinischen Allianz zusammenarbeiten zu wollen«, hörte er Lucy sagen. Seine Augen waren ihm zugefallen. Was immer Dr. Harrison ihm verabreicht hatte, es wirkte rasend schnell.

»Ja, ich weiß, ich weiß«, fuhr Lucy fort. »Es war meine dumme Idee. Wir hätten die Sache selber in die Hand nehmen müssen.«

»Ihr seid aber nun mal keine Mörder, Kind«, sagte Lady Tilney.

»Macht es moralisch einen Unterschied, ob man jemanden selber ermordet oder nur den Auftrag dazu erteilt?« Lucy seufzte schwer, und obwohl Lady Tilney ihr energisch widersprach (»Mädchen, nun sag nicht so etwas! Ihr habt doch keinen Mordauftrag erteilt, ihr habt lediglich ein paar Informationen weitergegeben!«), klang sie plötzlich untröstlich: »Wir haben wirklich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann, Paul. In drei Monaten haben wir nur jede Menge Zeit und Lady Margrets Geld verschwendet und darüber hinaus viel zu viele Menschen mit in die Sache hineingezogen.«

»Es ist Lord Tilneys Geld«, korrigierte sie Lady Tilney. »Du würdest staunen, wenn du wüsstest, wofür er sein Geld sonst so alles verschwendet. Pferderennen und Tänzerinnen sind da noch das Harmloseste – das bisschen, das ich für unsere Sache abzweige, bemerkt er gar nicht. Und wenn doch, dann dürfte er Gentleman genug sein, kein Wort darüber zu verlieren.«

»Und ich persönlich fände es sehr schade, wenn man mich nicht in diese Sache mit hineingezogen hätte«, versicherte Dr. Harrison und schmunzelte. »Ich hatte gerade angefangen, mein Leben ein bisschen langweilig zu finden. Schließlich hat man nicht alle Tage mit Zeitreisenden zu tun, die aus der Zukunft kommen und alles besser wissen. Und unter uns: Der Führungsstil der Herren de Villiers und Pinkerton-Smythe zwingt einen ja geradezu zur geheimen Rebellion.«

»Allerdings«, sagte Lady Tilney. »Dieser selbstgefällige Jonathan hat seiner Frau gedroht, sie im Haus einzuschließen, sollte sie weiter mit den Suffragetten sympathisieren.« Sie ahmte eine mürrische Männerstimme nach: »Was kommt als Nächstes? Das Wahlrecht für Hunde?«

»Tja, deswegen haben Sie ihm ja auch mit einer Ohrfeige gedroht«, sagte Dr. Harrison. »Das war übrigens endlich mal eine Teeparty, auf der ich mich nicht gelangweilt habe.«

»Aber so war es doch gar nicht. Ich habe lediglich gesagt, dass ich nicht für das garantieren könne, was meine rechte Hand als Nächstes tue, wenn er weiterhin derartig unqualifizierte Äußerungen von sich gebe.«

»Wenn er weiterhin derartigen Schwachsinn von sich geben würde, war der genaue Wortlaut«, korrigierte Dr. Harrison sie. »Ich weiß das so genau, weil es mich ungeheuer beeindruckt hat.«

Lady Tilney lachte und reichte dem Arzt ihren Arm. »Ich bringe Sie zur Tür, Dr. Harrison.«

Paul versuchte, die Augen zu öffnen und sich aufzurichten, um dem Arzt zu danken. Es gelang ihm weder das eine noch das andere. »Mfsch…nke«, nuschelte er mit letzter Kraft.

»Was zur Hölle war in dem Zeug drin, das Sie ihm gegeben haben?«, rief Lucy Dr. Harrison hinterher.

Er drehte sich in der Tür um. »Nur ein paar Tropfen Morphiumtinktur. Ganz harmlos!«

Lucys empörten Aufschrei hörte Paul nicht mehr.

Aus den Annalen der Wächter
30. März 1916
Parole des Tages: »Potius sero quam numquam.« (Livius)

Da London unseren Geheimdienstquellen zufolge in den nächsten Tagen wieder Luftangriffe deutscher Marinegeschwader zu erwarten hat, haben wir beschlossen, ab sofort nach Sicherheitsprotokoll Stufe eins zu verfahren. Der Chronograf wird auf unbestimmte Zeit im Dokumentenraum platziert und Lady Tilney, mein Bruder Jonathan und ich werden gemeinsam von dort elapsieren, um die dafür täglich aufzuwendende Zeit auf drei Stunden zu beschränken. Reisen ins
19. Jahrhundert dürften in diesem Raum keine Probleme bereiten; zu nächtlicher Zeit hat sich dort selten jemand aufgehalten und in den Annalen ist nie die Rede von einem Besuch aus der Zukunft, weshalb davon auszugehen ist, dass unsere Anwesenheit
niemals bemerkt wurde.
Wie zu erwarten war, sträubte sich Lady Tilney dagegen, von ihren üblichen Gewohnheiten abzuweichen, und konnte nach eigenen Aussagen »keinerlei Logik in unserer Argumentation finden«, aber zu guter Letzt musste sie sich der Entscheidung unseres Großmeisters beugen. Kriegszeiten erfordern nun einmal
besondere Maßnahmen.
Das Elapsieren heute Nachmittag ins Jahr 1851 verlief dann überraschend friedlich, vielleicht, weil meine fürsorgliche Gattin uns ihren unvergleichlichen Teekuchen mitgegeben hatte und wir Themen wie das Wahlrecht für Frauen in Erinnerung an hitzige Debatten bei anderen Gelegenheiten mieden. Lady Tilney bedauerte zwar, dass wir nicht zur Weltausstellung in den Hyde Park gehen konnten, aber da wir ihr Bedauern diesbezüglich durchaus teilten, artete das Gespräch nicht in Streit aus. Mit dem Vorschlag allerdings, uns die Zeit ab morgen mit Pokern zu vertreiben, zeigte sie sich dann doch wieder von ihrer exzentrischen Seite.

Das Wetter heute: leichter Nieselregen bei frühlingshaften 16 Grad Celsius.

Bericht: Timothy de Villiers, Innerer Kreis