978-3-401-80147-6.tif

Autor

Christoph Marzi
wuchs in Obermendig in der Eifel auf, studierte
an der Universität Mainz Wirtschaftslehre und lebt heute
mit seiner Frau Tamara und seinen drei Töchtern im Saarland.
Im Alter von 15 Jahren begann er zu schreiben.
Der Autor erhielt 2005 für seine Lycidas-Trilogie den
Deutschen Phantastik-Preis für das beste Roman-Debüt.
Seit 2007 schreibt er mit großem Erfolg Romane
für Jugendliche und Kinder.

Titel

Christoph Marzi

Memory

Stadt der Träume

Arenaneu.tif

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012
© 2011 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Frauke Schneider
ISBN 978-3-401-80147-6
www.arena-verlag.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de

Denjenigen, die uns als Traum begleiten

I see thee still! Thou art not dead
Though dust is mingling with thy form
The broken sunbeam hath not shed
The final rainbow on the storm.

- Eine alte Inschrift
auf dem Highgate Cemetery -

Prolog

Die Stunde, in der das Mädchen ohne Namen seine Geschichte verlor, war die letzte des Tages. Die Nacht aber, in deren gläsernem Gewand diese Stunde schlug, schien der Anfang von allem zu sein. Wie Nebel lag Stille über dem, was kaum mehr als Schattenriss und Schemen war. Nur das spärliche Licht einer Straßenlaterne erhellte jenen verlassenen Ort, an dem ein Mädchen zu dieser Uhrzeit eigentlich nichts zu suchen hatte. Still wie eine Puppe mit geschlossenen Augen saß sie auf der Parkbank gleich neben dem hohen Tor aus geschwärztem Eisen. Mondschein, kalt und schneidend wie der letzte Rest einer Erinnerung, ergoss sich jenseits der Wege und Pfade wie Silber über die Grabsteine, kühler Wind wehte die braunen Blätter über den Boden und in die Eingänge der Mausoleen.

Einst pflegten in Momenten wie diesem die Toten zu singen und in den Liedern, an die sie sich erinnerten, ging es natürlich um das Leben, schillernd und beschwingt wie ein Sonnenstrahl, der sich in einem Regentropfen bricht und von niemandem eingefangen werden möchte. Es war also nicht verwunderlich, dass es dem Jungen, der ebenso wenig wie das Mädchen an einen Ort wie diesen zu gehören schien, in den Sinn kam, eine Melodie zu summen.

Plötzlich blieb er stehen und das Summen, das sich wie der zaghafte Anfang von Heart of Gold angehört hatte, verstummte. Wieder war da nur die Nacht, nur Stille.

Und das Mädchen.

»Hallo?« Die Stimme des Jungen war leise und tastete sich vorsichtig an die Gestalt auf der Bank heran.

Man musste zu dieser Stunde vorsichtig sein, das wusste er. Nie konnte man wissen, was einen erwartete, wenn man in der Nacht hierher kam.

Die Welt des Friedhofs war so trügerisch wie das Leben jenseits der Mauer.

Leise fragte er erneut: »Hallo?«

Das Mädchen blieb still und rührte sich nicht.

Die Steinengel, die nicht weinten, bedachten sie mit kalten Blicken, regungslos.

Der mausgraue Junge beobachtete das Mädchen. In der Nacht und hier an diesem Ort war er kaum wahrnehmbar, leise wie ein Gedicht, dessen Sinn nur begreift, wer genau hinhört. Braune Augen, groß wie Monde, musterten die Gestalt auf der Bank.

»Alles okay mit dir?« Zögernd trat er auf sie zu. In seinen dunklen, lockigen Haaren glänzte der Nachtnebel.

»Was tust du hier?« Sie mochte so alt sein wie er selbst, vielleicht ein wenig älter, schätzte er. Jedoch nicht alt genug, um sich zu dieser Stunde an diesem Ort aufzuhalten.

»Schläfst du?«

Wieder keine Antwort, natürlich.

»War ja auch eine bescheuerte Frage«, gestand sich der Junge kopfschüttelnd ein.

Ein weiterer Schritt in ihre Richtung und ein kalter Lufthauch streifte ihn wie ein Flüstern.

Sie saß noch immer still und aufrecht auf der Bank, und als der Junge nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, sah er, dass sie die Augen fest geschlossen hielt. Sie atmete ruhig, Gott sei Dank.

»Du schläfst.« Er schüttelte den Kopf. »Gibt es denn so was?« Seine Stimme war dünn wie Nebel. Der nahe Winter lag schon in der Luft. In den frühen Morgenstunden und in der Nacht ließ der Herbst die kommenden Monate erahnen.

Langsam, argwöhnisch, ging der Junge die letzten Schritte auf das Mädchen zu und blieb vor ihr stehen. Der Lichtschein der Straßenlaterne streifte ihn.

»Es ist kalt hier draußen«, sagte er, doch auch dieses Mal erhielt er keine Antwort.

Er betrachtete sie eingehend. Sie sah aus wie ein normales Mädchen. Oder besser gesagt, sie sah aus wie ein hübsches normales Mädchen. Ein hübsches normales Mädchen, schlafend auf der Parkbank beim großen Tor. Zu dieser Uhrzeit. Sie trug eine lange Jacke mit Pelzkragen, dazu einen geringelten langen Schal. Jeans, schwarze Stiefel.

Der Junge dachte nach. Das Tor, das auf die Swains Lane hinausführte, war schon seit Stunden geschlossen. Der Friedhof war nur bis fünf Uhr nachmittags für Besucher geöffnet.

Durch das Tor konnte sie also nicht gekommen sein, unmöglich. Und sie wohnte auch nicht in einem der Gräber in der Gegend; nein, danach sah sie nicht aus. Auch hatte er sie hier noch nie gesehen. War sie vielleicht ein Gast? Jemand, der zur Party eingeladen worden war? Nein, davon hätten sie ihm erzählt. Gaskell hätte sie erwähnt, ganz sicher.

Wer aber war sie dann? Wer, in aller Welt, kam in einer kühlen Herbstnacht zu dieser nachtschlafenden Stunde hierher und warum?

»Hallo?«, versuchte er es von Neuem.

Sie rührte sich nicht. Ihr Gesicht war mit winzigen Sommersprossen besprenkelt. Ihr schulterlanges, glattes Haar schimmerte rot wie flammender Mohn im Morgenlicht.

»Du musst aufwachen, sonst erfrierst du noch.«

Nein, sie war bestimmt nicht von hier. Ihre Klamotten waren zu neu, als dass sie von hier sein konnte. Vielleicht gehörte sie zu den Neugierigen, die manchmal nachts auf den Friedhof kamen, weil sie in den Schatten Geheimnisse zu entdecken hofften. Nein, auch danach sah sie nicht aus.

Vielleicht sollte ich Hilfe holen?, fragte sich der Junge und dachte an Gaskell und die illustre Schar, die drüben beim Admiral feierte. Oder besser doch nicht. Er wollte sie nicht erschrecken. Und Gaskell und die anderen könnten sich, nun ja, ein wenig überrumpelt fühlen, käme er mit dem Mädchen daher.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er und dachte an die Gefahren, vor denen seine neuen Freunde ihn oft gewarnt hatten. Seltsamen Wesen, die sich an diesem Ort in gläserner Nacht herumtrieben. »Ich habe auch keine Angst.« Eine Lüge laut auszusprechen, konnte, wie er wusste, wahre Wunder wirken.

Gaskells Geschichten kamen ihm in den Sinn, ausgerechnet jetzt. »Du bist nur du«, fragte er sie, »niemand sonst, nicht wahr?«

Wieder gab sie keine Antwort, schlief einfach weiter.

Okay, dann eben nicht.

»Nur du, nur ein Mädchen, sonst nichts.« Er sprach die Worte aus wie ein Mantra, das einen vor bösen Überraschungen bewahren konnte, wenn man nur fest genug daran glaubte.

Das Mädchen, den Kopf ein wenig schief gelegt, schlief einfach weiter. Sie sah friedlich aus.

Der Junge streckte wagemutig und wie traumwandlerisch die Hand nach ihr aus. Er musste es tun, denn nur so konnte er es herausfinden. Er berührte mit dem Finger ihre Wange und sah, wie ihre warme Haut sogleich seinen Finger benetzte. Ihm war, als tauchte er den Finger in eine Nebelwand hinein, und er zog die Hand ruckartig zurück.

Immerhin wusste er jetzt, was sie war.

Erschrocken flüsterte er: »Aber wie kommt es, dass du gar nicht kalt bist?« Sie war wie Gaskell und doch ganz anders. Nein, das Mädchen hier war anders. Sie war warm wie jemand, dessen Herz noch schlägt.

Aber das eine passte nicht zum anderen. Wer oder was mochte sie wohl sein?

Erneut streckte der mausgraue Junge die Hand aus, um sie noch einmal zu berühren.

Doch kurz bevor seine Finger abermals in ihre Haut eintauchten, öffnete sie die Augen. Sie waren haselnussbraun, das konnte er im Schein der Straßenlaterne sehen, voller Furcht, tief wie die Nacht und ebenso schön. Ein Blinzeln, erschrocken und schnell, dann ein Schrei, laut, verwundert und wütend gleichermaßen.

Noch während der Junge gebannt ihre schönen Augen betrachtete, sprang sie auf, glitt an ihm vorbei und trat, leicht humpelnd, in das Schattenland jenseits der Straßenlaterne.

»Hey!«, war alles, was er hervorbrachte.

Dann verkündigte der Glockenschlag im Verein mit dem rasend pochenden Herzen des Jungen Schlag Mitternacht und auf dem alten Friedhof war gerade eine neue Geschichte geboren worden.