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Die Autorin

Annemarie Schwarzenbach wurde 1908 in Zürich geboren. Studium der Geschichte in Zürich und Paris. Ab 1930 enge Freundschaft mit Erika und Klaus Mann. 1931 Promotion. 1931 bis 1933 als freie Schriftstellerin zeitweise in Berlin. Erstmals Morphiumkonsum. 1933 bis 1934 Vorderasienreisen. 1935 kurze, unglückliche Ehe mit dem französischen Diplomaten Claude Clarac in Persien. 1936 bis 1938 (Foto-)Reportagen im Zusammenhang mit Reisen in die USA, nach Danzig, Moskau, Wien, Prag. Entziehungskuren in der Schweiz. 1939 Reise mit Ella Maillart nach Afghanistan. 1940 Aufenthalt in den USA. 1941 bis 1942 in Belgisch-Kongo. Die Journalistin, Schriftstellerin und Fotoreporterin starb 1942 in Sils.

Lyrische Novelle

1

Diese Stadt ist so klein, man kennt nach einem einzigen Spaziergang jeden Winkel. Auch einen alten, sehr hübschen Hof hinter der Kirche habe ich schon entdeckt und den besten Friseur des Ortes, der in einer gepflasterten Nebenstrasse wohnt. Als ich von seinem Laden aus einige Schritte weiterging, war ich plötzlich am Ausgang, es gab nur noch einige Backsteinvillen, und die Strasse war sandig und sah aus wie ein Feldweg. Dahinter begann gleich der Wald. Ich kehrte um, kam wieder an der Kirche vorbei und kannte mich ganz gut aus. Durch den alten Hof gelangt man in die Hauptstrasse, und jetzt trete ich in das Café »Zum roten Adler«, um hier ein wenig zu schreiben. In meinem Hotelzimmer komme ich immer wieder in Versuchung, mich auf mein Bett zu werfen und die kurzen Stunden des Tages untätig hinzubringen. Es kostet mich grosse Überwindung zu schreiben, denn ich habe Fieber, und mein Kopf dröhnt wie unter Hammerschlägen.

Ich glaube, wenn ich hier einen Menschen kennen würde, wäre ich gleich am Ende meiner Beherrschung. Aber ich spreche kein Wort und gehe so umher, ohne mir über meine Empfindungen klar zu werden.

Das Lokal kommt mir ziemlich merkwürdig vor. Eigentlich ist es eine Konditorei mit Glaskästen, ausgestellten Kuchen und einer Verkäuferin in schwarzem Wollkleid mit weisser Schürze. In der Ecke steht ein hellblauer Kachelofen, und die Sofas sind mit steilen, gepolsterten Rückenlehnen den Wänden entlang aufgestellt. Ein junger Hund läuft kläffend umher, ein ungepflegtes und armseliges Tierchen. Eine grauhaarige Frau versucht ihn zu streicheln, aber er entwischt ihr mit ängstlich gebogenem Rücken. Die Alte geht ihm nach, lockt ihn mit einem Stück Zucker und spricht laut und unentwegt zu ihm.

Ich glaube, sie ist geisteskrank. Niemand im Lokal scheint sie zu beachten.

Jetzt habe ich erst zwei Seiten geschrieben, und schon beginnen die Schmerzen wieder. Es sind Stiche in der rechten Seite, sie hören sofort auf, wenn ich mich hinlege oder wenn ich starken Alkohol trinke. Ich will mich aber nicht niederlegen, ich könnte jetzt so gut schreiben, und es entmutigt mich sehr, in meiner Einsamkeit untätig zu sein.

Die irrsinnige Alte ist weggegangen, ich würde gern sehen, wie sie über die Strasse geht und ob sie auch draussen laut vor sich hinredet wie die grauhaarigen Bettlerinnen in Paris. –

Früher konnte ich Geisteskranke nicht von Betrunkenen unterscheiden, ich beobachtete sie mit einer Art von ehrfürchtigem Grauen. Jetzt habe ich vor Betrunkenen keine Angst mehr. Ich war selber oft betrunken, es ist ein schöner und trauriger Zustand, man wird sich klar über Dinge, die man sich sonst niemals eingestehen würde, über Empfindungen, die man zu verbergen trachtet und die doch nicht das Schlechteste in uns sind. –

Ich fühle mich jetzt ein wenig besser. Ich werde für das, was ich heute schreibe, um die Nachsicht des Lesers bitten müssen. Aber Sibylle sagte mir, dass nichts, auch nicht die bittersten Erlebnisse und die verlorensten Stunden meines Lebens gänzlich unfruchtbar werden dürfen. Darum liegt mir so viel daran, selbst in diesem unfähigen Zustand mich meiner Schwäche zu überlassen und sie später einmal der Kritik zu unterziehen, an der mir einzig gelegen ist: ob es mir gelingen kann, einmal in irgendeinem Sinn von Sibylle ernst genommen zu werden.

2

Am schmerzlichsten ist es mir, dass ich weggefahren bin, ohne von meinem Freund Magnus Abschied genommen zu haben. Er ist krank, jetzt liegt er schon seit drei Wochen, und ich habe ihn sehr vernachlässigt. Ich sah ihn vor einigen Tagen, da ging es ihm ziemlich schlecht. Er lag im Hinterraum seines Ateliers, der Arzt war gerade bei ihm und schüttelte mir die Hand. Er untersuchte ihn schweigend, betrachtete die Fieberkurve und gab dem kleinen Portierssohn Anweisungen. Der Portierssohn ist ein blasser und magerer Bursche von etwa achtzehn Jahren, er kocht für Magnus und hat jetzt schon die ganze Pflege übernommen. Wenn Besuch kommt, führt er ihn selbst in das Atelier und verschwindet dann in der Küche. Dort bleibt er, bis Magnus ihn ruft. Er ist ihm sehr ergeben … Der Arzt gab ihm ein Rezept und schickte ihn in die Apotheke. »Ein braver Junge«, sagte er zu mir. Und Magnus lächelte, und meine Zugehörigkeit wurde einfach übersehen. Der Arzt ging fort, und ich wartete, bis der Junge aus der Apotheke zurück war.

»Hast du noch Geld?« fragte ich Magnus.

»Haben wir noch Geld?« fragte Magnus den Jungen. Der antwortete: »Du hast mir gestern zehn Mark gegeben, damit reichen wir vorläufig.«

Sie sagten sich du.

Ich ging dann weg, und ein paar Tage später schickte mir Magnus eine Einladung zum englischen Botschafter, die er für mich bekommen hatte, und schrieb mir einen Brief dazu. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.

3

Früher hatte ich immer das Bedürfnis, mich allen Menschen zu erklären, um mit allen im Einverständnis leben zu können. Und ich hasste doch alle Geschwätzigkeit. Ich weiss aber nicht, ob ich sie hasste, weil ich ihr immer wieder verfiel, oder weil ich einsah, wie vergeblich alle Versuche sind, sich selbst den besten Freunden verständlich zu machen.

Ich sage »früher« und meine damit die Zeit, die drei Monate zurückliegt. Ich habe mich immer gegen alle äusseren Periodisierungen gewehrt, weil ich aufgedrängte Disziplin verabscheute. Jetzt muss ich mich an Freiwilligkeit gewöhnen, und es ist, als sei ich in einer einzigen Nacht erwachsen geworden. In dieser Nacht hätte ich Sibylle im Walltheater sehen können, ich hatte ja die Wahl. Aber ich bin dann weggefahren. Und vor dieser Nacht hätte ich es hier keinen Tag ausgehalten. Ich wusste nichts vom Alleinsein. Ich halte es sogar aus, von meinen Freunden missverstanden zu werden. Es war tatsächlich bisher mein einziger Wunsch, mich ihres Wohlwollens zu versichern, und ich verschwendete dafür meine ganze Liebenswürdigkeit. Und noch viel mehr.

Damit bin ich jetzt zu Ende. Wer weiss, was daraus entsteht.

4

Es ist schade um die Menschen, sagt Strindberg. Vor einigen Monaten sass ich mit einem Dichter zusammen in einem Berliner Kaffeehaus, wir redeten begeistert und begeisterten uns immer mehr an unserem gegenseitigen Einverständnis. Er war viele Jahre älter als ich, ich hätte beinahe sein Sohn sein können. Er beugte sich über den kleinen Tisch und hielt meine Hände fest, er schleuderte mir seine Ekstase, seinen Optimismus, seine rauschähnliche Freude wie Flammen entgegen. »Sie sind die Jugend«, sagte er, »die einzige Jugend, der ich die Zukunft und den Sieg über uns nicht missgönne –«

Seine Worte ernüchterten mich ein wenig. Er schien es augenblicklich zu empfinden, er liess meine Hände los, sah mir eindringlich ins Gesicht und sagte:

»Wissen Sie denn, wie liebenswert und wie gefährdet Sie sind? Sie sind auf einmal so blass, sagen Sie, was ich für Sie tun kann.«

Man sagt mir oft, dass ich gefährdet sei. Vielleicht liegt es an meiner zu grossen Jugend –

Damals lachte ich darüber. »Ich liebe die Gefahr«, sagte ich, und ich fühlte, dass mir die Freude aus den Augen leuchtete.

»Jetzt muss ich gehen«, sagte ich, es war Mitternacht, ich verliess ihn in Eile, fast ohne Abschied zu nehmen. Unter der Tür kam mir das Unschickliche meines Verhaltens zum Bewusstsein, ich eilte zurück, presste seine Hände und sagte: »Verzeihen Sie, ich warte seit zwei Tagen auf eine grosse Gefahr …«

»Gehen Sie«, sagte er lächelnd, »bestehen Sie sie …«

Ich habe sie aber nicht bestanden.

5

Ich bin den ganzen Nachmittag im Wald gewesen. Zuerst lief ich gegen den Wind über ein grosses Feld, es war anstrengend, ich fror, und der Waldrand war wie ein Obdach. Nirgends war ein Mensch, ich blieb einmal stehen und sah mich um, und die herbstliche Verlassenheit der Landschaft dämpfte meine Traurigkeit. Der Himmel war grau, von dunkleren Wolken durchjagt, Regenschauer gingen strichweise auf die Erde nieder. Und die Erde nahm sie gelassen auf.

Ich ging weiter, und die schweren Erdschollen hemmten mich. Aber dann war ich im Wald, Laub raschelte, nackte Sträucher streiften mich, ich bog sie auseinander, der Wind hatte sich plötzlich gelegt.

Dicht vor mir sprang lautlos ein Tier empor, es war ein grosser graubrauner Hase, er schnellte geschmeidig über die Wurzeln, duckte sich zusammen und verschwand dann pfeilschnell im Waldinnern. Ich sah sein Nest, rund ausgelegt unter den Sträuchern, bückte mich und legte die Hände auf die Stelle, wo sein pelzumhüllter Körper gelegen war. Eine Spur von tierischer Wärme war zurückgeblieben, die ich mit unbekannter Erschütterung empfand. Ich neigte mein Gesicht und schmiegte es an diese Stelle, und es war ein winziges Atmen und beinahe wie eine menschliche Brust.

Ich komme von den Feldern zurück. Die Erde klebt an meinen Schuhen, darum gehe ich langsam, wie ein Bauer. Manchmal vergesse ich, warum ich hier bin, auf der Flucht sozusagen, und bilde mir ein, schon lange hier gelebt zu haben. Aber wenn ich ein wirklicher Bauer wäre, wüsste ich, was auf diesen Feldern gesät, wieviel geerntet wird und welcher Boden der fruchtbarste ist. Das weiss ich alles nicht. Ich denke manchmal, dass den Bauern ihr Wissen vom Himmel kommt, weil sie fromm und von den Gewalten des Himmels abhängig sind. Ich gehe wie ein Fremder über die Felder und bin nur geduldet. Jetzt hasse ich mich plötzlich, weil ich ohne Verpflichtung bin. Hier, auf dem Lande, verstehe ich Gides »Immoraliste« und bin ihm verwandt, mit gleicher Sünde beladen, einer feindlichen, imaginären und fruchtlosen Freiheit ausgeliefert.

– Die Leute wissen ja nicht, was Sünde ist. –

Ja, nun schäme ich mich vieler Dinge und würde gern Gott um Verzeihung bitten. Wenn ich nur fromm wäre.

6

In Marseille kannte ich ein Mädchen, man nannte sie Angelface. Eigentlich kannte ich sie kaum, denn ich sah sie nur in der Nacht, ein einziges Mal, und da stand sie in ihrem Zimmer und dachte, dass wir Einbrecher sein müssten, Manuel und ich. Sie schlief zu ebener Erde in einem hässlichen Haus. Das Dorf war zwei Bahnstationen von Marseille entfernt, ihre Mutter wohnte da, und wenn das Mädchen genug hatte von der Stadt, von den Kneipen und von den Matrosen, ging sie zu ihr zurück und lebte still wie ein wohlerzogenes Mädchen. Deshalb nannte man sie wohl Angelface.

Aber wir sagten dazu: »Oder die Hafendirne von Marseille.«

Manuel und ich waren in einem Fordwagen unterwegs. Wir fuhren dem Meer entlang, es war mitten in der Nacht, und wir wollten nach Marseille zurück. Ich war hungrig, deshalb hielten wir vor dem Haus, wo Angelface wohnte, und weckten sie.

Manuel kniete auf der Erde und hatte die Arme gegen die Mauer gestützt.

»Angelface!« rief er.

Niemand antwortete. Dann kam sie durch das Zimmer, man sah nichts als einen weissen Schatten, der auf das Fenster zuglitt. Und dann presste sie ihr weisses Gesicht gegen das dichte Drahtnetz, das das Fenster gegen Moskitos schützte. Ich konnte ihre Züge nicht unterscheiden, aber die Knie wankten mir.

»Ich bin es«, sagte Manuel.

»Wer ist bei dir?« fragte Angelface.

»Mein Freund«, sagte Manuel.

»Wie alt ist er?« fragte Angelface.

»Zwanzig Jahre alt«, sagte Manuel. »Und wir möchten etwas essen.«

»Ich kann euch nicht hereinlassen«, sagte Angelface. »Meine Mutter wacht so leicht auf. Aber ich werde ein paar Brote für euch streichen.«

Ich ging zum Wagen zurück und wartete auf Manuel. Dann brachte er die Brote, und wir fuhren weiter.

»Liebst du denn Angelface?« fragte mich Manuel. Und dann sagte er kalt: »Es ist nicht sehr originell, sie zu lieben.«

Das war vor einem halben Jahr.

Manuel und ich schreiben uns nie. Aber durch einen Freund liess er mir sagen, dass Angelface sich erschossen habe.

Und jetzt denke ich, dass es nicht sehr originell sei, Sibylle zu lieben. Ich denke, dass ihr niemand widerstehen kann. –

7

Ich arbeitete sehr regelmässig, bevor ich Sibylle kannte. Ich stand um sieben Uhr auf, und wenn ich kein Kolleg zu hören hatte, ging ich um halb neun Uhr in die grosse Bibliothek. Am Morgen waren viele Plätze leer, ich bekam meine Bücher sehr rasch und begann zu lesen. Der Lesesaal ist halbrund und düster erleuchtet, und die Pulte sind im Halbkreis wie um den Platz eines Redners geordnet. Ich hatte immer die Vorstellung, dass dort, im Mittelpunkt des Saales, ein Redner stehen müsste, ein gewaltiger Mann, auf den wir unsere Augen unwillkürlich richten würden, und dass es uns eine Beruhigung sein würde, ihn dort zu wissen.

Mein Platz befand sich auf der linken Seite, nahe den Fenstern, die von schweren Vorhängen verhüllt waren. Nur an hellen Nachmittagen wurden die Vorhänge zurückgezogen, dann drang ein wenig Sonne in den Saal und glitt zögernd und farblos über den Boden. Ich konnte nicht hinaussehen, aber der Lärm der Strasse drang herauf und verlockte mich. Ich stellte mir vor, dass unten die Wagen hin und her fuhren und sich überholten, dass die Leute in die Restaurants eilten, Zeitungen lasen und sich behaglich fühlten, und ich packte meine Bücher zusammen und ging weg.

Niemand kümmerte sich darum. Jeder war hier für sich und schenkte dem anderen keine Beachtung.

Ich ging dann in ein Restaurant und bestellte etwas zu essen. Und fast immer war ich sehr hungrig.

8

Aber damit war es bald vorbei. Und dann verbrachte ich den ganzen Tag in einer beinahe unerträglichen Ungeduld.

Erst wenn der Abend begann, tröstete ich mich, die Lichter flammten auf, und jetzt erwachte Sibylle.

Ihren Namen zu denken, erfüllte mich mit entzückter Bedrängnis. Ich verliess die Bibliothek, ging nach Hause, nahm ein Bad und zog mich um. Gewöhnlich ging ich zu Freunden zum Abendessen. Ich beteiligte mich an ihren Gesprächen, es waren gebildete und freundliche Menschen, und die Abende vergingen rasch und angeregt. Ich verbarg meine Ungeduld, aber immer wenn ich auf meine Uhr sah, war es erst neun Uhr. Meistens unterhielt ich mich mit der Hausfrau, ich hatte sie sehr gern. Sie kannte meine Mutter.

Aber eines Abends war plötzlich alles ganz anders. Wir sprachen, glaube ich, über das Deutsche Reich des Mittelalters, über die Symbolkraft eines Namens, dem doch so wenig Realität zu Gebote gestanden habe. Da hörte ich plötzlich meine Stimme wie die eines Fremden, Glut überfiel mich, absichtslos flüsterte ich Sibylles Namen, sah die unendliche Blassheit ihres Antlitzes hinter dem Saalfenster auftauchen, lief an das Fenster und riss den Vorhang zurück.

Man betrachtete mich erstaunt. Was war geschehen?

Nichts, Sibylles Gesicht. Und was wussten sie davon, grenzenlose Fremdheit riss uns plötzlich auseinander, fremde Menschen sahen mich an, überall brach der Boden zwischen uns ein, das Licht trübte sich, ihre Gespräche gelangten nicht mehr an mein Ohr, jetzt entschwanden sie selbst, und ich konnte nichts dagegen tun …

Ich erinnerte mich, im Bayreuther Festspielhaus häufig eine besondere Art des Szenenwechsels gesehen zu haben:

Während die Musik weiterspielte, blieb der Vorhang geöffnet, aber dicht hinter der Rampe stiegen Dämpfe auf, von buntem Licht durchleuchtet, sie verdichteten sich, flossen in weisslichen Strömen ineinander und bildeten immer undurchdringlichere Wände, hinter denen die Szene unmerklich versank. Dann wurde es still, die Nebel verteilten sich, die Bühne tauchte wieder auf, eine neue Landschaft lag da, von jungem Licht mild überglänzt.

Ich wurde etwas gefragt und antwortete, aber ich weiss nicht, ob ich vernünftig antwortete.

Ich stand auf und ging vereinsamt auf die Hausfrau zu, die mir lächelnd die Hand gab.

Auf der Strasse atmete ich auf. Ich war einer Gefahr entronnen. Niemand hatte meine Flucht bemerkt.

So war es: Ich war ihnen entglitten, der Abgrund hatte sich vor mir aufgetan, unwiderstehlich angezogen hatte ich die Arme ausgebreitet und war hinabgestürzt.

Ein Junge schlich an mir vorüber, hielt den Kopf geduckt und schickte mir einen misstrauisch auffordernden Blick zu.

»Sie lassen Ihren Wagen stehen?« fragte er. »Soll ich aufpassen?«

Ich nickte.

»Du kennst wohl meinen Wagen schon?« sagte ich.

Dann sah ich auf meine Uhr.

»Elf Uhr«, sagte der Junge. »Elf Uhr«, sagte ich glücklich. Und eilte zum Wagen zurück. Als ich die Schlüssel aus der Tasche zog und mir den Weg zum Walltheater überlegte, musste ich plötzlich Atem holen und mich mit der Hand auf das Verdeck stützen. Der Junge beobachtete mich streng.

Ich schrie ihn an: »Steig ein« – und schloss die Tür auf.

Dann packte ich den Jungen um die Schulter, presste ihn heftig an mich und schaltete gleichzeitig mit der linken Hand den Motor ein.

Er schwieg hartnäckig und starrte mich in wortloser Ergebenheit an.

9

Denke ich sehr viel an Sibylle?

Ich würde sagen, dass ich es nicht weiss, ich denke nicht nach, aber ich habe sie noch keine Minute vergessen. Es ist, als hätte ich nie ohne sie gelebt. Nichts verbindet uns, aber ich bin von ihrer Gegenwart durchdrungen, ich erinnerte mich manchmal an den Geruch ihrer Haut oder an ihre Atemzüge, und es ist, als hielte ich sie noch beim Tanzen im Arm oder als sitze sie neben mir und ich brauche nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Aber was sollte uns denn verbinden: diese langen Abende, diese langen Nächte, dieser Abschied vor ihrer Tür im grauenden Morgen, diese endlosen Einsamkeiten – –

10

Es ist noch nicht spät, aber die Dunkelheit ist wie ein Vorhang über das Land gesunken. Wenn ich an die Stadt denke, ist es mir, als habe ich dort ohne Ahnung von der Welt gelebt, ich weiss nicht, wie ich die Enge, die grausame Gleichförmigkeit der Wände, die bange Verschlossenheit der Häuser und die Öde der Strassen ertragen habe. Ich habe geschlafen, und kein Traum hat mich getröstet, und wenn ich aufwachte, war ich müde. Dann sass ich am Schreibtisch, und es wurde schon wieder dunkel, und die Scheinwerfer der Wagen glitten vor meinem Fenster auf und nieder. – Nachts wurde es immer sehr spät. Manchmal begann die Dämmerung, während ich nach Hause fuhr. Zuerst war es dunkel, und die Scheinwerfer warfen sich leuchtend auf den schwärzlichen Asphalt. Dann verblassten sie langsam, die Strasse wurde hell und ihr Glanz ermattete. Der Himmel zwischen den Bäumen des Tiergartens war grau durchwogt, Wolken, sackförmige Gebilde, Schleier und Keile schoben sich in das weichende Schwarz, die Stämme erschienen silbrig, zwischen den Ästen tanzten die Wellen der Dämmerung.

Ich sehnte mich nach dem Anblick der Sonne, die jetzt irgendwo glanzvoll emporstieg. Aber in der Stadt sah man sie nicht. Ein wenig Rot war am Himmel, dort war Osten. Alles blieb still.