image image

Über dieses Buch

An meinem fünfzehnten Geburtstag wurde ich aus dem Paradies vertrieben. Ich ging nicht allein. Meine Mutter kam mit. Besser gesagt ging meine Mutter und ich folgte ihr. Ich wäre auch geblieben, doch Klaus wollte das nicht.

Seit der Geliebte seiner Mutter sie rausgeschmissen hat, ist Michael Polischka eindeutig im falschen Film. Statt Villa im Berliner Nobelviertel Zehlendorf heißt es jetzt Bruchbude in Neukölln. Und auf der neuen Schule stellen ihn Erroll und seine Rotjacken gleich vor die Wahl: Kohle oder Terror. Da scheint ein Einbruch in Klaus' Villa eine geniale Idee. Richtig gut wird das Ganze aber erst wieder, als Michael den Dealer Hamal kennen lernt. Den Drogenkurier spielen für Hamals Schutz? Kein Problem. Oder?

Ich habe die Hoffnung, dass alle, die etwas von mir gelesen haben, auch dieses Buch in die Hand nehmen.

Zoran Drvenkar

Vorwort

von Zoran Drvenkar

Wie schreibt man das Vorwort zu einem Roman, den der beste Freund geschrieben hat, während man ein Stockwerk unter ihm saß und sich fragte: Was macht der Typ da oben nur?

Man fängt am besten einfach an und schaut, was herauskommt. Genau das werde ich machen, denn genauso habe ich es gemacht, als ich auf Gregors neuen Roman gewartet habe. Ich saß an meiner eigenen Arbeit und wartete. Und es wurde ein langes Warten.

Zwei Jahre zogen seit Gregors letztem Roman ins Land und nichts wirklich Ernstes entstand in der Zwischenzeit. Gregor hing durch, Gregor hatte Panik vor dem Schreiben, Gregor war verzweifelt. Dann kam ihm die Idee zu einem neuen Buch und der vorliegende Roman entstand innerhalb sehr kurzer Zeit. Hatte Gregor Panik, das Buch zu schreiben, so bekam ich im Gegenzug die Panik, es zu lesen. Das Warten war so lang gewesen, die Erwartungen so hoch.

Schließlich lag das Manuskript vor mir auf dem Tisch und ich strich drum herum wie ein nervöser Kater. Ich wollte, dass das Buch gut ist, ich wollte nicht, dass Gregor das Handtuch schmiss und am Schreiben verzweifelte. Nach einem Tag Drumherumstreichen setzte ich mich ran und war schon nach wenigen Seiten so was von erleichtert, dass ich zu Gregor hochgehen musste um ihm zu sagen, dass es lief.

- Es läuft, sagte ich.

- Wirklich?, sagte er.

- Wirklich, sagte ich und ging weiterlesen.

Und wie es lief. Ich verschwand in einer Geschichte, die mir in ihrer Unnahbarkeit richtig nahe kam. Ich begegnete einem Hauptcharakter, der sich als Ich-Erzähler mit seinen eigenen Gefühlen so sehr zurückhielt, dass ich die Einsamkeit und Angst regelrecht fühlen konnte.

Damals hatte ich keine Ahnung, wohin das Buch gehen sollte, denn Gregor hatte das Ende noch nicht geschrieben. Die Kraft verließ ihn kurz vor dem Finale und er wollte im Voraus wissen, was ich von dem bisherigen Manuskript hielt.

Ich fraß das Buch innerhalb von wenigen Stunden und stürmte wieder hoch.

- Wo ist das Ende?, fragte ich.

Gregor tippte sich an den Kopf, hob die Schultern, machte mir einen Kaffee.

- Mach keinen Quatsch, sagte ich, Setz dich hin und schreib das Ende.

Er reichte mir den Kaffee und sah mich an und ich wusste, ich hatte genau das Falsche gesagt. Gregor blockierte wie eine perfekt laufende Maschine, der man eine Hand voll Sand ins Getriebe kippt. Anfangs dachte ich ernsthaft, meine Aufforderung, an dem Buch weiterzuschreiben, hätte zu dieser Blockade geführt. Erst viel später kapierte ich, dass Gregor nicht wusste, wie er sich auf das Ende einlassen sollte. Denn was bis dahin vorlag, war knallhart. Wie sollte er das beenden? Was für eine Lösung gab es für eine Geschichte wie diese?

Hätte Gregor damals gewusst, dass er nur vier Seiten von dem richtigen Ende entfernt war, hätte er es vielleicht leichter gehabt. Vier Seiten sind eigentlich ein Klacks. Wenn man sie aber nicht hat, sind sie eigentlich auch das Ende der Welt.

Dann machte Gregor den dummen Fehler, das Buch einem Verlag zu zeigen ohne das Ende geschrieben zu haben. Der Verlag las, der Verlag war begeistert, aber er hatte ein Problem. Es war nicht das fehlende Ende. Das Problem waren die Seiten davor. Der Verlag sagte, Ja, sie würden das Buch liebend gerne machen, wenn das Finale harmloser wäre.

Daraufhin schrieb Gregor zwei harmlose Fassungen und beide waren sehr peinlich. Sie waren warme Aufgüsse und Verharmlosungen. Gregor war zu Recht verzweifelt. Er wusste nicht, ob er sich billig verkaufen sollte. Er wusste nicht, was richtig oder falsch war. Er hatte keine Ahnung, was zu tun war.

Auftritt des anstrengenden Zorans, der anfing Gregor zu bearbeiten.

Ich wollte nicht, dass er das Finale anders schrieb, weil ich fand, dass es genau das Finale war, das die Geschichte verlangte. Jede Story hat ihr Eigenleben, nimmt man ihr dieses Eigenleben, wird sie zu einem luftleeren Ballon. Ich wollte, dass Gregor dazu stand, was er sich aus Bauch und Herzen herausgeschrieben hatte, denn es machte Sinn, es war der Weg des Charakters, der ihn zu diesem Finale führte, und deswegen ging nichts anderes.

Da Gregor es gerne allen recht machen will, saß er in der Zwickmühle. Er schlief darüber, er trank zu viel Kaffee und redete über seinen Frust. Irgendwann zog er sich völlig zurück und kam dann zu einer Entscheidung. Er schrieb das Finale nicht um, der Verlag lehnte den Roman ab und Gregor beendete die Geschichte auf seine Art und Weise.

Als er auf einer Lesung probeweise aus Knallhart vorlas, gab es bei einigen Schülern heftige Reaktionen. Sie fühlten sich vor den Kopf gestoßen, sie fanden, das gehe so nicht, das Buch dürfe so nicht enden. Ich denke, das darf es, denn es gibt auch die andere Seite. Es gibt Jugendliche, die schon in ähnliche Situationen geraten sind wie der Hauptcharakter – damit meine ich nicht Drogen, Schlägereien und Diebstähle, damit meine ich Angstzustände und das Gefühl, dass die Welt einem ihre Samthandschuhe um den Hals legt und langsam zudrückt. Diese Jugendlichen zu verstehen, darum geht es Gregor in diesem Buch. Darum hat er über Ausweglosigkeit und Furcht geschrieben, darum hat er zugelassen, dass seinem Hauptcharakter wehgetan wird. Und das ist nie ein Spaß. Ein Schriftsteller fügt sich damit selber Schmerzen zu. Ich weiß, wovon ich rede. Deswegen finde ich es sehr mutig, welchen Weg Gregor mit diesem Buch gegangen ist. Und es ist auch sehr mutig, ihm dabei zu folgen. Wie es der Ueberreuter-Verlag ohne zu zögern getan hat, indem er das Buch veröffentlichte; wie ihr es jetzt tun werdet, indem ihr euch auf die Geschichte einlasst.

Berlin, 19. August 2003

Teil eins

1

An meinem fünfzehnten Geburtstag wurde ich aus dem Paradies vertrieben. Ich ging nicht allein. Meine Mutter kam mit. Besser gesagt ging meine Mutter und ich folgte ihr. Ich wäre auch geblieben, doch Klaus wollte das nicht.

»Du gehörst zu deiner Mutter«, hat er gesagt.

»Aber Klaus, du warst für mich wie ein Vater.«

Ich wollte ihm wenigstens eine Träne zeigen, doch meine Augen blieben trocken. Ich mochte Klaus nicht besonders. Wir hatten die letzten fünf Jahre bei ihm gelebt. Meine Mutter als seine Geliebte und ich als der Sohn der Geliebten. Das Haus war riesig. Eine Villa mit tollem Garten, direkt an der Havel. Zehlendorf, Wannsee, teuerste Gegend. Ich hatte drei Zimmer, mit eigenem Bad und die Putzfrau räumte für mich auf. Fünf Computer waren zu einem Netzwerk verbunden. Hier konnte ich meinen Freunden die virtuellen Köpfe wegballern. Das taten wir nächtelang. Langweilig wurde das nie, denn Klaus kaufte alle Spiele, die auf den Markt kamen. Im DVD-Wechsler waren immer die neuesten Filme und ich hatte einen Videoprojektor, der das Bild an jede beliebige Wand warf. Zwei mal drei Meter, fast wie im Kino. Wie im Himmel. Wie im Paradies. Nur war es kein Apfel, der uns all das verlieren ließ. Vielmehr waren es Sahnetorten, Bratensoßen und Berge von Pralinen, die uns den Rauswurf bescherten.

»Wieso müssen wir gehen?«, fragte ich meine Mutter, denn ich wollte hören, ob sie es zugibt.

Ich stand in der Tür ihres Schlafzimmers, sie saß auf dem Bett.

»So ist das halt«, sagte sie, »das Leben ist kein Wunschkonzert.«

»Aber wieso habt ihr euch gestritten?«

»Wir haben uns nicht gestritten. Wir haben uns einfach auseinander gelebt.«

Sie ließ die Schultern hängen und zerknüllte mit der rechten Hand die Bettdecke. Sie guckte dabei auf ihre Füße. Sie konnte mich nicht ansehen.

»Kein Wunder in diesem riesigen Haus«, setzte sie nach und ich sah, wie ihr Mund zu zittern begann. Ich hasste es, wenn sie heulte, deshalb drehte ich mich weg und ging.

Die Wahrheit würde ich von ihr sowieso nicht erfahren. Das brauchte ich auch nicht, denn die Wahrheit hatte ich in den letzten Monaten oft genug gehört. Natürlich hatten sie sich gestritten. Ich hatte sie dabei belauscht. Zehnmal und mehr. Dabei hätte einmal gereicht. Sie hatten immer dasselbe Thema. Meine Mutter hatte über die Jahre zehn Kilo zugenommen. Das war alles. Sie war ihm schlicht zu fett geworden. Klar klingt das übertrieben, aber sehen wir es doch realistisch: Ein Typ, der sich Klopapier mit Wasserzeichen anfertigen lässt, hat es nun mal nicht nötig, eine Frau auszuhalten, die sich nicht beherrschen kann.

Er gab ihr drei Monate Zeit, um die Kilos wieder abzunehmen. Das hat ihr nicht gefallen. Aus Trotz hat sie deshalb noch etwas zugenommen. Sie dachte, er würde sie lieben. Sie hatte sich getäuscht.

2

Den Umzug müssen wir selber machen. Meine Mutter hat einen kleinen Laster gemietet, groß genug für unsere paar Kisten. Als ich meine Sachen packe, wird mir das erste Mal bewusst, dass ich fünf Jahre lang nur Gast in diesem Haus war. Meine Klamotten, ein paar Bücher, der Gameboy und meine Schulsachen sind alles, was ich mitnehmen kann. Der Rest gehört zur Einrichtung und die will Klaus behalten.

Und jetzt ist es so weit, der Moment des Abschieds ist gekommen. Meine Mutter schiebt gerade den letzten Karton auf die Ladefläche und Klaus kommt aus dem Haus und stellt sich neben mich. Er hat uns nicht geholfen, er hat in seiner Bibliothek gesessen und gelesen.

»Tja, das war’s dann wohl«, sagt er und guckt dabei meine Mutter an.

»Ich werde dich vermissen«, sage ich und versuche seinen Blick aufzufangen. Ich habe noch eine leichte Hoffnung, dass ich ab und zu auf Besuch in das Haus kommen könnte. Doch Klaus guckt mich an, als würden wir uns nicht kennen. Überrascht. Skeptisch. Dann legt er mir eine Hand auf die Schulter. Es ist nicht, als wollte er mich umarmen, eher als wollte er mich auf Abstand halten. Die andere Hand streckt er mir zum Abschied entgegen.

»Ich denke, es ist besser, wenn du mich ab jetzt wieder Doktor Peters nennst, meinst du nicht auch?«

Er ist tatsächlich das Arschloch, für das ich ihn immer gehalten habe. Ich zögere einen Moment, doch dann sehe ich, dass er etwas in der ausgestreckten Hand verborgen hält. Der kurze Händedruck beschert mir zwanzig Euro. Ich habe auf einen Hunderter gesetzt. Typisch für den alten Geizkragen.

»Alles Gute«, sagt Doktor Peters und lächelt falsch.

Er ruft meiner Mutter etwas zu, doch sie ignoriert ihn und verschließt die Plane. Als sie auf den Fahrersitz klettert, dreht sie sich zu uns um.

»Kommst du?«, fragt sie, als ob ich eine Wahl hätte.

Ich laufe zur Beifahrerseite des Lasters und steige ein ohne zurückzuschauen.

3

Unsere neue Wohnung. Ein Loch. Kleiner als die drei Zimmer, die ich vorher hatte. Alte Tapeten und verzogene Dielen. Wir streichen die Wände weiß, doch nach ein paar Tagen kommen überall gelbe Flecken durch. Möbel haben wir noch keine. Jeder von uns hat ein Zimmer und eine Matratze, die auf dem Boden liegt. Die Küche dient als Wohnzimmer. Hier gibt es einen Tisch und zwei Stühle.

Wir wohnen jetzt in der Flughafenstraße in Neukölln. Der Hermannplatz ist gleich um die Ecke. Dort gibt es einen Karstadt. Das Kaufhaus ist das einzig Vertraute an dieser Gegend. Ansonsten ist mir alles fremd. Nichts ist wie in Zehlendorf. Die Häuser sind größer und hässlicher, die Straßen breiter und doch erscheint mir alles enger. Kaum Platz zum Atmen. Es gibt Secondhandläden, Pfandleiher, Eckkneipen und in jedem dritten Haus ist eine Dönerbude. In ganz Zehlendorf gibt es vielleicht fünf Dönerläden und ein Döner kostet drei Euro. Hier gibt es in jeder Straße fünfundzwanzig und den Döner gibt es für einsfünfzig. Alles ist anders, doch der größte Unterschied sind die Leute.

In Zehlendorf und besonders in den besseren Gegenden wie Wannsee und Schlachtensee haben die Leute Geld. Das sieht man ihnen an. Hier in Neukölln haben die Leute kein Geld oder man sieht es ihnen nicht an. Die ersten Tage komme ich mir vor wie in einem Zoo. Auf jedem Schritt sehe ich Leute, von denen ich dachte, dass es sie nur noch in Filmen gibt. Penner, Punks, langhaarige Rocker, Nutten, Besoffene, die im Türeingang liegen, Bettler, die nach Geld und Zigaretten fragen, Frauen mit Kopftüchern und alte verknitterte Opas mit Gebetsketten zwischen den gichtigen Fingern. Es gibt auffällig viele Ausländer. Ich habe nichts gegen Ausländer. Niemand hat in Zehlendorf etwas gegen Ausländer. Warum auch, es gibt dort kaum welche. Hier sieht das anders aus und ehrlich gesagt muss ich mich daran erst gewöhnen. In seiner Geburtsstadt als Einheimischer zur Minderheit zu gehören ist einfach ein merkwürdiges Gefühl. Es ist, als wäre ich verreist. Dreitausend Kilometer weit weg von zu Hause. Ohne Rückfahrticket in der Tasche.

4

Meine neue Lehrerin bringt mich am ersten Tag in die Klasse.

»Seid doch mal ruhig. Ruhe bitte. Einen Moment wenigstens.«

Wir stehen schon seit einigen Minuten vor der Tafel, ohne dass uns meine neuen Mitschüler Beachtung schenken. Schon dass Frau Radtke nur um einen Moment der Ruhe bittet, gibt mir einen Eindruck, wie der Unterricht ablaufen wird. Die Hälfte der Schüler sitzt auf den Tischen, die andere Hälfte zeigt uns den Rücken. Ich bekomme eine Papierkugel an den Kopf und versuche keine Miene zu verziehen.

»JETZT REICHT’S ABER!«

Frau Radtke klingt plötzlich ernst und sauer. Das wirkt. Tatsächlich setzen sich alle auf ihre Plätze und nach einiger Zeit wird es ruhig.

»Das ist Michael Polischka«, stellt sie mich vor.

»Geh doch nach Hause«, ruft irgendjemand.

»Würd ich gern«, sage ich und ernte ein paar Lacher.

Ich bekomme einen Platz in der ersten Reihe, obwohl ich lieber in der letzten gesessen hätte. Der Unterricht ist nicht besonders anspruchsvoll. Wir sind in der 9. Klasse einer Realschule und ein Drittel der Schüler kann nur mit Mühe lesen. In den nächsten Tagen erfahre ich, dass die meisten in Mathe schon bei der Bruchrechnung scheitern. Das Niveau wird dem Durchschnitt angepasst. Die Hauptschulen in Neukölln müssen die Katastrophe sein.

In der großen Pause stelle ich mich in eine Ecke, den Rücken zur Wand. Die Schüler scheinen hier wilder zu sein als in meiner alten Schule. Gefährlicher.

Ein schlaksiger Typ sieht mich an und kommt dann auf mich zu. Er hat einen Zwerg im Schlepptau. Beide grinsen und bauen sich vor mir auf. Wahrscheinlich gehen sie in meine Klasse. Sicher bin ich mir da nicht.

»Hi. Ich bin Christian, aber alle nennen mich Crille«, sagt der Schlaksige und zeigt auf den Zwerg: »Und das hier ist Matze.«

Crilles Stimme überschlägt sich. Es klingt grausam. Der Stimmbruch hat ihn voll erwischt. Zwerg Matze hebt kurz die Hand, sagt aber nichts, wahrscheinlich ist er stumm.

»Ich bin Polischka«, sage ich und die beiden nicken, denn das wissen sie.

Wir schauen uns in der Gegend um. Wir haben uns nichts zu sagen.

»Guck mal hier«, sagt Crille plötzlich und zeigt mir eine Patrone.

»Ist die echt?«, frage ich, denn ich kenne scharfe Munition nur aus Computerspielen.

Crille verdreht die Augen.

»Klar ist die echt.«

Matze nickt mit sich selbst um die Wette.

»Wo kommt die denn her?«, frage ich.

»Vom Alten. Der ist Fernfahrer.«

»Fernfahrer?«

»LKWs, der fährt LKWs«, sagt Crille und macht mit den Armen Lenkbewegungen, als würde er in einem Vierzigtonner sitzen.

»Ich weiß schon, was ’n Fernfahrer ist, aber warum hat der scharfe Munition?«

»Der fährt oft nach Russland rein«, sagt Crille und macht ein Gesicht, als würde das alles erklären.

»Na und? Was hat das damit zu tun?«

»Na, der wilde Osten, Mann. Da werden jede Minute ganze Lastzüge gekidnappt. Die Fahrer müssen sich verteidigen, sonst werden sie abgeknallt.«

Crille strahlt, er ist sichtlich stolz, dass sein Vater so einen gefährlichen Beruf hat. Ich verziehe den Mund, als wäre ich beeindruckt. Wir schauen wieder in die Gegend, wir haben uns nichts zu sagen.

Nach dem Klingeln gehen wir zurück in das Gebäude. Vor den Toiletten rempelt mich ein glatzköpfiger Riese an. Er ist mindestens zwei Jahre älter als ich und sieht aus wie ein Aufklärungsplakat gegen Rechtsradikalismus. Ich stolper zwei Schritte nach links und trete einem Türken mit gegelten Haaren auf den Fuß. Er trägt die gleiche Jacke wie der Riese, dazu einen dünnen Oberlippenbart.

»’Tschuldigung«, sage ich.

Der Riese lacht und der Türke sagt:

»Ey, du Wichser. Das sind neue Schuhe.«

Er klingt wie Eddie Murphy.

»’Tschuldigung«, sage ich noch einmal und will ihm erklären, dass es nicht meine Schuld war, aber Crille zieht mich weg.

»Geh denen lieber aus dem Weg«, flüstert er mir ins Ohr.

Vor unserem Klassenzimmer verabschiedet sich Zwerg Matze und läuft den Gang runter, als wäre es kurz vor zwölf in einem Western.

»Ich dachte, er wär auch in unserer Klasse«, sage ich.

»Nee, Matze ist meine Atze«, sagt Crille und lacht, »der ist ein Jahr jünger.«

»Deine Atze?«

Ich gucke ihn an wie ein Vollidiot. Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht. Crille scheint meinen Blick falsch zu deuten, denn er sagt wie zur Erklärung:

»Wir haben verschiedene Mütter, darum sehen wir uns nicht so ähnlich. Sind aber beide tot. War ’ne harte Sache. Jetzt leben wir alleine mit dem Alten.«

»Tut mir Leid«, sage ich etwas unsicher. Ist doch kaum zu glauben, ich kenne den Typ seit zwanzig Minuten und er haut mir gleich seine Lebensgeschichte auf den Tisch.

»Ist schon komisch«, sagt Crille und schaut auf seine Füße runter.

»Was ist daran komisch?«, frage ich.

Crille grinst mich an.

»Na, da hat der Alte den gefährlichsten Job der Welt ohne je verletzt zu werden und seine Frauen sterben wie die Fliegen, ist doch komisch, oder nicht?«

Er lacht und wir gehen in die Klasse.

5

Der Weg nach Hause dauert eigentlich nur zehn Minuten, aber ich brauche fünfzehn, weil ich einen Umweg gehe. Der Riese und der gegelte Türke halten eine Parkbank besetzt, an der ich eigentlich vorbeimüsste. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass sie auf mich warten. Die beiden sind nicht alleine, mindestens zehn oder zwölf Jungs hängen mit ihnen herum. Alle tragen die gleichen Jacken. Sie sehen aus wie eine New Yorker Gang aus den fünfziger Jahren. Ich bin eindeutig im falschen Film gelandet.

Drei Tage lang gehe ich auf dem Umweg nach Hause, Crille und Matze begleiten mich. Wir trennen uns immer vor ihrer Tür, ich gehe nie mit zu ihnen hoch. Am vierten Tag bin ich alleine, denn die beiden sind nicht zur Schule gekommen. Zwei Tage später sind sie immer noch nicht da. Obwohl die Gang heute nirgendwo zu sehen ist, nehme ich meinen üblichen Umweg. Ich bin nur noch zwei Ecken von der Flughafenstraße entfernt, als ich von hinten gepackt und in einen Hauseingang gezerrt werde. Ich stolpere, falle aber nicht. Die Hände, die mich halten, sind beeindruckend stark. Viel zu stark für meinen Geschmack. Ich schreie nicht, obwohl mir die Angst den Schweiß aus allen Poren drückt. Ich wehre mich nicht. Ich bin gelähmt.

»Was glaubst du, kleiner Wichser? Glaubst du, du kannst uns aus dem Weg gehen?«

Es ist der türkische Eddie Murphy mit dem dünnen Oberlippenbart und den schmierigen Haaren. Der Riese hält mich von hinten fest. Um uns herum drängen sich die anderen Jacken und machen Ganovengesichter. Außer dem Riesen scheinen noch drei oder vier Deutsche dabei zu sein, der Rest sind Türken.

Eddie Murphy lässt ein Messer aufschnappen. Es hat eine schmale Klinge und sieht unangenehm scharf aus.

»Du bist ein dummes Arschloch. Du kannst nicht vor uns weglaufen. Wir kriegen dich immer. Wann wir wollen und wo wir wollen. Ist das klar?«

Er legt mir die Klinge auf die Wange und sieht mich fragend an. Ich komme mir vor wie im Kino, aber was er meint, ist klarer als klar. Ich nicke ängstlich. Er lächelt zufrieden und sagt:

»Ich hab gehört, du kommst aus Zehlendorf. Reiche Arschlochgegend.«

»Wir sind nicht reich«, sage ich und höre mich dabei weinerlich an.

Sie lachen und machen Bemerkungen über meine Klamotten. Und natürlich haben sie Recht. Es muss wie ein Witz klingen, dass ich kein Geld habe. Ich trage sogar Designersocken. Dafür hat Klaus gesorgt. Es wäre ihm peinlich gewesen, wenn ich mit No-Name-Kleidung aus seinem Haus gekommen wäre.

»Gib mir dein Handy«, sagt Eddie Murphy. »Wenn du ein billiges Handy hast, glaub ich dir.«

Die anderen Jacken nicken, das ist ihnen Beweis genug.

»Ich hab gar kein Handy«, sage ich und wieder lachen alle.

Eddie Murphy gibt dem Riesen ein Zeichen und der reißt mir die Jacke samt Rucksack von den Schultern. Sie schütten meine Schulsachen auf den Boden und durchwühlen meine Jacke. Einer steckt meinen Taschenrechner ein, ansonsten finden sie nichts von Wert. In Zehlendorf hatte ich natürlich ein Handy, aber das musste ich Klaus zurückgeben. Eddie Murphy guckt mich an, als hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt. Er packt mich an den Haaren und steckt mir die Messerspitze in mein linkes Nasenloch.

»Du willst uns verarschen, hä? Du hast gewusst, dass wir dich kriegen. Du blöder Wichser.«

Er sticht mir in die Innenseite der Nase. Ich weiß nicht, wie tief, aber der Schmerz ist unerträglich. Er zieht sich hoch bis zu meinem Auge, das sofort zu tränen anfängt. Wenn er so weitermacht, wird er jeden Moment mein Gehirn erreichen. Ich schreie und versuche den Kopf wegzuziehen, doch Eddie Murphy hält mich an den Haaren.

»Morgen bringst du dein Handy mit, klar?«

Ich stoße ein Jaulen aus.

»Außerdem zahlst du fünfzig Euro Strafe, weil du uns verarschen wolltest.«

Wieder ein Jaulen von mir.

»Das Handy und die Kohle bringst du mir, ohne dass ich nachfragen muss. Wenn ich dich suchen muss, kommen wir zu dir nach Hause und ficken deine Mutter. Ist das klar?«

Er sticht noch einmal zu, dann zieht er das Messer aus meiner Nase. Jemand tritt mir in die Kniekehlen, ich schreie und falle rückwärts zu Boden. Auf meinen Lippen schmecke ich das Blut, das mir aus der Nase läuft.

Eddie Murphy zeigt auf meine Füße.

»Zieh deine Schuhe aus. Du schuldest mir noch ein Paar.«

Ich fühle mich absolut machtlos. Schwach und klein mit dem Willen einer Marionette. Ich ziehe meine Schuhe aus und gebe sie ihm. Er steckt sie in meinen Rucksack und wirft ihn sich über die Schulter. Eine Sekunde später sind alle verschwunden und ich liege alleine im Hausflur. Meine Jacke haben sie auch mitgenommen. Erleichterung und Angst wechseln sich ab. Ich setze mich auf, lehne mich an eine Wand und heule los.