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Dr. Bruno Kern, geboren 1958, studierte Theologie und Philosophie in Wien, Fribourg und München; er lebt zurzeit in Mainz und arbeitet als selbstständiger Lektor und Übersetzer. Für den marixverlag hat er unter anderem die Lieder der Hildegard von Bingen neu übersetzt.

Zum Buch

Grabreden sind Reden gegen die Sprachlosigkeit des Todes. Bereits der erste literarische Text der Menschheitsgeschichte, den wir kennen, ist eine Auseinandersetzung mit dem Tod, die heute wie damals berührt. In diesem Band sind berühmte Grabreden vom Altertum bis in die jüngste Zeit gesammelt. Vom Gilgamesch-Epos bis in die Gegenwart spannt sich der Bogen. Martin Luther, Philipp Melanchthon, Abraham Lincoln, Ludwig Börne, Friedrich Engels und Richard von Weizsäcker sind nur einige aus der Reihe der berühmten Redner, die hier – zum Teil das erste Mal im Druck oder in deutscher Übersetzung – zu Wort kommen. Viele der Grabreden sind nicht nur rhetorische Glanzlichter ihrer jeweiligen Zeit, in ihnen verdichten sich auch exemplarisch der Geist und die Mentalität einer Epoche. Der Band bietet so anhand prominenter Beispiele eine kleine Kulturgeschichte des Todes, aber auch einen interessanten Streifzug durch die abendländische Geschichte insgesamt. Den hier dokumentierten Reden wird jeweils eine informative Einführung vorangestellt, die den historischen Kontext erläutert, aufschlussreiche Zusatzinformationen bietet und die vorgestellten Reden unmittelbar lebendig werden lässt.

Einleitung

„Der Tod ist schweigsam. Nur wenn wir gegen ihn anreden, nur wenn wir den Dialog mit den Toten in uns fortsetzen, bleibt etwas, was er uns nicht nehmen kann.“1

Genau in diesem Spannungsverhältnis zwischen unserem ratlosen und erschrockenen Verstummen angesichts des brutalen Faktums des Todes und der Notwendigkeit, selbst diese Situation noch sprachlich bewältigen zu müssen, bewegen sich die in diesem Band dokumentierten Grabreden. Totenreden sind also lebensnotwendig. Der Mensch als das der Sprache fähige Lebewesen besteht die Wirklichkeit, indem er sie benennt. Und da die Dynamik seines Denkens, Wollens und Fühlens über den Horizont des unmittelbar Gegebenen hinausreicht, da er, wie Thomas von Aquin sagt, „quodammodo omnia“, in gewisser Weise alles, ist, sozusagen aufs Ganze geht, sucht er auch da noch nach Sinn, wo jede Empirie ihn scheinbar versagt. Grabreden sind deshalb als ein Ausdruck des Bewältigungsversuches unserer Endlichkeit Teil einer Kulturgeschichte des Todes, wie sie etwa der französische Historiker Philippe Ariès2 zu entwerfen versucht hat. Bereits der erste in diesem Band dokumentierte Text aus dem Gilgamesch-Epos zeigt, dass die existenzielle Beunruhigung aufgrund der Endlichkeit unseres Daseins die Geschichte des Menschen von Anfang an begleitet. Diese Grundkonstante der Menschheitsgeschichte unterliegt jedoch gleichzeitig dem historischen Wandel. Unser konkretes Verhältnis zum Tod wird durch die jeweilige Lebenssituation und historische Ereignisse geprägt: Der Grad der Gefährdetheit des Lebens, die allgemeine Lebenserwartung, die Höhe der Kindersterblichkeit etc. bestimmen die Erfahrung des Todes und den Umgang mit ihm ebenso wie etwa die große Pestepidemie im 14. Jahrhundert, die ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahinraffte, die Kriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts oder die tiefe Verletzung jeglicher Humanität durch industriell durchgeführte Massenvernichtung. Der Tod, der unmittelbar das einzelne Individuum betrifft, ist keine Privatangelegenheit, ganz im Gegenteil: Da er jeden Sinnstiftungsversuch mit einer absoluten Grenze konfrontiert, gefährdet er auch das prekäre Gleichgewicht des sozialen Zusammenlebens. Im Tod steckt ein anarchisches Potenzial. Auch das ist eine Erklärung für den Aufwand an Mythen, Riten, philosophischen und religiösen Systemen, um ihn gleichsam zu zähmen und ihm seinen subversiven Stachel zu ziehen.

Die Grab- oder Trauerrede als Ansprache direkt am Beisetzungsort oder bei einer religiösen oder säkularen Trauerfeier lässt sich auf eine alte Tradition zurückführen. Sie geht unmittelbar aus der – bereits poetisch gestalteten – Totenklage hervor. Die ersten beiden in diesen Band aufgenommenen Textbeispiele – die Totenklage des Gilgamesch aus dem ältesten literarischen Dokument der Menschheit überhaupt und das Klagelied des David für Saul und Jonatan aus der hebräischen Bibel – sollen diesen Ursprung deutlich machen. Die hier wiedergegebene Leichenrede der Aspasia aus der griechischen Antike beruft sich – ebenso wie die berühmte „Gefallenenrede des Perikles“3 – auf einen schon bestehenden Brauch. Man nimmt an, dass diese Sitte bereits zu Zeiten des Homer (8. Jh. v. Chr.) bestand.4 Am Beispiel der Leichenrede der Aspasia wird deutlich, dass wir es hier mit einem stark typisierten literarischen Genus zu tun haben, der in der antiken Rhetorik fest verankert ist. Es handelt sich beim Enkomion (oder in der lateinischen Spielart: laudatio funebris) um Lobreden für Verstorbene, denen ein festgefügtes Schema zugrunde liegt. Der im Lateinischen auch gebräuchliche Ausdruck consolatio deutet auf den Trost als einen wesentlichen Zweck der Rede hin. Gerade in der lateinischen Antike gilt das Trostspenden als eine der nobelsten Aufgaben des Rhetors. Die gängigen, immer wieder anzutreffenden Topoi nehmen vor allem in späterer Zeit auch häufig die Zerrform des Klischees an. In der späten Kaiserzeit erreicht die Form der rhetorisch durchkomponierten Totenrede einen Höhepunkt. Die christliche Antike knüpft in Form und Inhalt direkt an diese Tradition an. Dies wird in diesem Band anhand der Rede des Ambrosius von Mailand für Kaiser Theodosius exemplarisch gezeigt. Aus dem Mittelalter sind uns insgesamt nur sehr wenige Grabreden überliefert. Neben den „Sermones funebres“ des Johann de St. Germiniano in Lyon (14. Jahrhundert) finden sich nur vereinzelt auch deutsche Beispiele. Mit der Predigterlaubnis für die Bettelorden (13. Jahrhundert) findet die Predigt am Grab wieder stärkere Verbreitung. Doch erst mit der Reformation wird die Leichenrede wieder allgemein. Um diesen Epochenumbruch deutlich zu markieren, habe ich aus der Reformationszeit zwei prominente Reden aufgenommen. In der Folgezeit lässt sich auch – noch vor der eigentlichen Säkularisierung – eine Tendenz zu geistlich verbrämten Lobreden feststellen. Die Beispiele für vom christlichen Kontext völlig losgelöste Grabreden stammen in diesem Band aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Der exemplarische Längsschnitt durch die abendländische Geschichte erlaubt es nicht zuletzt, den Wandel der ästhetischen Kriterien nachzuvollziehen.

Ein Großteil der hier gesammelten Grabreden hat, wie die europäische Geschichte insgesamt, einen christlichen Hintergrund. Kern des Christentums ist die Hoffnung auf eine individuelle, leibliche Auferstehung der Toten: Mit kaum zu übertreffender Präzision formulierte bereits der frühchristliche Schriftsteller Tertullian, dass dieser Glaubensartikel das Wesen des Christentums selbst ausmacht: Fiducia christianorum resurrectio mortuorum; illam credentes, sumus – Der Glaube der Christen ist die Auferstehung der Toten; sofern wir dieses glauben, sind wir [Christen].5 Bereits in der Barockzeit ist allerdings zu beobachten, dass dieser Bezug nicht immer dominierend ist. Die Geschichte des Abendlandes ist ja gleichzeitig auch die Geschichte der Emanzipation von seinen religiösen Wurzeln und eines Säkularisierungsprozesses, den es in anderen kulturellen und religiösen Kontexten in dieser Weise nicht gegeben hat. Im vorliegenden Band zeugen vor allem die Grabreden aus dem 20. Jahrhundert davon. An ihnen ist allerdings auch deutlich abzulesen, dass auch das säkularisierte Bewusstsein nicht ohne mythologische Bezüge auskommt. An die Stelle konkreter Jenseitsvorstellungen treten etwa Beschwörungen eines kollektiven Sinnzusammenhangs, in dem das verstorbene Individuum seine bleibende Bedeutung behält.

Es ist paradox: Gerade da, wo menschliches Fassungsvermögen an seine deutlichste Grenze stößt, entfaltet die sprachliche Gestaltungskraft häufig in besonders eindrucksvoller Weise ihre Fähigkeiten. So sind gerade Grabreden oftmals Höhepunkte der Rhetorik. Dies gilt von den hier ausgewählten Reden in besonderem Maß etwa für Daniel Casper von Lohensteins Abdankung für Hofmann von Hofmannswaldau, für die „Oraisons funèbres“ des französischen Bischofs Jacques-Bénigne Bossuet, der seine Bedeutung ja weniger als Theologe denn vielmehr als Klassiker der französischen Literatur erlangt hat, für Ludwig Börnes Denkrede für Jean Paul oder auch für Karl Kraus’ Rede am Grabe Peter Altenbergs. Aber auch das genaue Gegenteil lässt sich beobachten! Nicht selten nehmen Totenreden, Nekrologe, Predigten und säkulare Gedenkreden Zuflucht ins Klischee, ins hohle Pathos, manchmal auch in gefährliche Demagogie. Auch hierfür finden sich in diesem Band einige Beispiele. Dazu zählen etwa die Beschwörung von fragwürdigen patriotischen Tugenden in der griechischen Antike (in der „Leichenrede der Aspasia“ nicht ohne ironisierende Absicht dargestellt), die „bestellte“ Rede für Ludwig van Beethoven und natürlich Versatzstücke einer bestimmten Form von christlicher Frömmigkeit. Letztere habe ich hier durch die Aufnahme einer „Modellpredigt“ aus einer Handreichung für professionelle Verkündiger des christlichen Glaubens exemplarisch deutlich zu machen versucht. Als „Antidot“ dazu seien die „Leichenreden“ des schweizerischen reformatorischen Dichterpfarrers Kurt Marti wärmstens empfohlen, der gerade aus einer tiefen Gläubigkeit heraus solche Klischees im wahrsten Sinn des Wortes durchkreuzt. Das hört sich dann etwa folgendermaßen an:

dem herrn unserem gott

hat es gar nicht gefallen

dass gustav e. lips

durch einen verkehrsunfall starb

erstens war er zu jung

zweitens seiner frau ein zärtlicher mann

drittens zwei kindern ein lustiger vater

viertens den freunden ein guter freund

fünftens erfüllt von vielen ideen

was soll jetzt ohne ihn werden?

was ist seine frau ohne ihn?

wer spielt mit den kindern?

wer ersetzt einen freund?

wer hat die neuen ideen?

dem herrn unserem gott

hat es ganz und gar nicht gefallen

dass einige von euch dachten

es habe ihm gefallen […]6

Man möge dies als „Gegentext“ neben die in diesem Band wiedergegebene Predigt M.K.F. Gerstners legen. Sein Beharren auf dem „Was Gott tut, das ist wohl getan“ wird damit geradezu als blasphemisch entlarvt. Dabei kann sich Kurt Marti auf die beste biblische Tradition berufen, für die angesichts von Leid und Tod nicht nur die Klage eine angemessene Reaktion ist, sondern auch der anklagende Protest – gegen Gott selbst (vgl. etwa das Buch Ijob). Gerade um die Würde des Leidenden nicht zu verletzen und die Solidarität im Leid zu ermöglichen, darf es nicht religiös überhöht und „ruhiggestellt“ werden. „Protestleute gegen den Tod“ lautet denn auch Martis Definition für die Christen.

Allzu billiger Trost ist allerdings kein Alleinstellungsmerkmal der christlichen Religion. Er begegnet in völlig religionsfernen Totenreden mindestens ebenso deutlich. Das machen in diesem Band nicht zuletzt die hier wiedergegebenen Totenreden von und für prominente SozialistInnen deutlich. Wenn Friedrich Engels am Grab von Karl Marx als Hoffnungsinhalt das Fortleben seines Namens in der Geschichte angibt, dann drängt sich die Frage nach den vielen namenlosen Opfern der Geschichte auf und dann stellt sich gerade für die Vertreter der Utopie einer solidarischen Gesellschaft die Frage nach dem, was Helmut Peukert das „Paradox anamnetischer Solidarität“7 genannt hat: Wie soll diese Solidarität letztlich, ohne sich in einen Selbstwiderspruch zu verstricken, möglich sein, wenn sie die Opfer und die Toten, denen sie sich ja verdankt, ausklammern muss? Und was kann die kompromisslose Praxis für eine Utopie letztlich motivieren, die innerweltlich doch nicht einzulösen ist? Möglicherweise lässt sich der ethische Anspruch, dass der Mörder nicht ewig über sein Opfer triumphieren darf, doch nur, wie Max Horkheimer vermutet, theologisch aufrecht erhalten.

Überzeugender sind da jene Totenreden, die ihre Ratlosigkeit und ihren Schmerz einfach aushalten, auf vorgefertigte Formeln verzichten und keinen anderen Trost gelten lassen als den, dass die verlorene nahestehende Person gelebt hat. In diesem Sinne kann man Karl Kraus’ Rede am Grab Peter Altenbergs lesen.

Dass unser heutiger Anspruch an Authentizität auch das alte Wort De mortuis nil nisi bene in Frage stellt und an dessen Stelle die Ehrlichkeit gegenüber dem Toten treten lässt – auch dafür gibt es Beispiele in diesem Band, etwa Melanchthons Rede für Luther, oder Emersons Totenrede für Henry Thoreau, denen es beiden gelingt, auch kritikwürdige Züge des Verstorbenen angemessen zur Sprache zu bringen.

Grabreden, zumal, wenn es sich um „berühmte“ handelt, haben einen öffentlichen Charakter. Ihr Adressat ist in den meisten der hier dokumentierten Fälle nicht nur ein kleiner Kreis von Hinterbliebenen, sondern die „Öffentlichkeit“ in irgendeiner Form. Das bestimmt auch den vom Redner verfolgten Zweck. Der Tod einer prominenten Person kann so zum Anlass werden, eine öffentliche „Sache“ zu vertreten, wie es etwa Abraham Lincoln in seiner Rede für Henry Clay tat. Das ehrende Gedenken des Toten benutzte er vor allem, um in der Sklavenfrage Stellung zu beziehen. Was hier legitim ist, weil es hinreichend von den Intentionen des Verstorbenen selbst gedeckt ist, birgt jedoch auch die Gefahr des Missbrauchs und der Instrumentalisierung in sich. Auch dies ist im vorliegenden Band belegt. Grabreden partizipieren also auch an der jeweiligen Kultur oder Unkultur politischer Rede. Gerade angesichts der allzu bekannten unrühmlichen Beispiele aus jüngster Zeit in dieser Hinsicht habe ich zum Abschluss dieses Bandes Richard von Weizsäckers Totenrede für Willy Brandt gewählt – ein Beispiel verantworteter öffentlicher Rede, die Ehrung eines Verstorbenen, die zugleich dem zur Ehre gereicht, der ihn würdigt.

Es handelt sich hier – mit einer begründeten Ausnahme – um „berühmte“ Grabreden8: berühmt aufgrund der Qualität der Rede selbst, aufgrund ihres besonderen historischen Kontextes, aufgrund der herausragenden Stellung des Verstorbenen, dem die Rede gilt, oder dessen, dem es zufällt, die Totenrede zu halten. Der Band kann also auch als kleiner Streifzug durch die abendländische Geschichte gelesen werden, illustriert anhand von Grabreden, in denen der Geist einer Epoche, einer Tendenz etc. oftmals in besonders dichter Form zum Ausdruck kommt. So manches Schulwissen aus dem Geschichtsunterricht mag durch die Lektüre dieser Reden Farbe und Anschaulichkeit gewinnen.

Das Adjektiv „berühmt“ wird, sofern es sich auf große Persönlichkeiten bezieht, allerdings durch die Sache selbst Lügen gestraft. So weist auch in diesem Band gerade Jacques-Bénigne Bossuet auf die nivellierende Wirkung des Todes hin, vor der alle sozialen Unterschiede verschwinden, und er wagt es, dem Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV. entgegenzuhalten: „Gott allein ist groß, auch Könige müssen sterben!“ Inmitten des Prunks dieser glänzenden Epoche macht er die Stimme des alttestamentlichen Predigers (Kohelet) vernehmbar: Vanitas vanitatum – nichtig und eitel ist alles!

Bruno Kern

1 Schultz, Hans Jürgen, Sprache ist Hoffnung, gehört zu werden, in: ders. (Hg.), Einsamkeit, Stuttgart 1980, 239.

2 Ariès, Philippe, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, München 1981.

3 Dokumentiert in: Kaufhold, Martin, Die großen Reden der Weltgeschichte, Wiesbaden52010, 19 – 29.

4 Vgl. dazu Otto, Gert, Über Totenreden, in: Oesterreich, Peter L./Sloane, Thoas O. (Hg.), Rhetorica movet. Studies in Historical and Modern Rhetoric in Honour of Heinrich F. Plett, Brill 1999, 505 – 507.

5 Mit einer etwas anders lautenden Übersetzung zitiert bei Greshake, Gisbert/Kremer, Jacob, Ressurectio mortuorum. Zum theologischen Verständnis der leiblichen Auferstehung, Darmstadt 1992, 3.

6 Marti, Kurt, Leichenreden, München 2004; das zitierte Gedicht ist auch im Internet zugänglich unter: www.lyrikwelt.de/gedichte/martig1.htm.

7 Vgl. Peukert, Helmut, Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung, Frankfurt a.M. 1976, 308 – 310.

8 Bei etlichen Grabreden waren aufgrund des übermäßigen Umfangs Kürzungen unvermeidlich. Sie wurden jedoch so vorgenommen, dass nicht nur die zentralen Inhalte, sondern auch die Gesamtanlage der Rede deutlich nachvollziehbar bleiben.

Bruno Kern

Die bedeutendsten Grabreden

Für Angelito zum Abschied – und Neubeginn

Bruno Kern

Die bedeutendsten Grabreden

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012

ISBN: 978-3-8438-0059-4

www.marixverlag.de

Inhalt

Einleitung

„Mein Freund, den ich liebe, ist zu Erde geworden“

Gilgameschs Klage um Engidu (2. Jahrtausend v. Chr.)

„… viel wunderbarer als die Liebe von Frauen“

Davids Totenlied für Saul und Jonatan (1. Jahrtausend v. Chr.)

„… dem Gesetz gemäß die Gebliebenen betrauert“

Die Leichenrede der Aspasia (5./4. Jh. v. Chr.)

„Ich habe ihn geliebt …“

Ambrosius’ Trauerrede für Kaiser Theodosius (395 n. Chr.)

„… die Obrigkeit, die er geordnet und eingesetzt“

Martin Luthers „Predigt über der Leich“ des Kurfürsten Friedrichs III. (1525)

„… die reine Lehre des Evangeliums“

Melanchthons „Oratio“ bei der Bestattung Luthers (1546)

„Vanitas vanitatum – eitel und nichtig ist alles!“

Jacques-Bénigne de Bossuets „Oraison funèbre“ für Henriette-Anne von England (1670)

„Der große Pan ist tot!“

Daniel Casper von Lohensteins Abdankung auf Christian Hofmann von Hofmannswaldau (1679)

„Dem gekreuzigten Christo nachfolgen“

Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs Abdankung für Henrietta Catharina von Friesen (1726)

„Was Gott tut, das ist wohl getan!“

An dem Grabe einer früh gestorbenen Gattin und Mutter von Michael Karl Friedrich Gerstner (1813)

„Ein Künstler war er, aber auch ein Mensch“

Rede am Grab Beethovens von Franz Grillparzer (1827)

„… unser Herz ist sein Grab“

Ludwig Börnes Denkrede für Jean Paul (1827)

„… das Leben an seinen Wurzeln erschüttert“

Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers Rede an Nathanaels Grab (1829)

„Liebe zu Freiheit und Recht“

Abraham Lincolns Totenrede für Henry Clay (1852)

„Nie gab es einen echteren Amerikaner“

Ralph Waldo Emersons Totenrede für Henry Thoreau (1862)

„Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortleben …“

Die Grabrede Friedrich Engels’ für Karl Marx (1883)

„Ein Bettler ging von uns, wie sind wir arm!“

Karl Kraus’ Rede am Grabe Peter Altenbergs (1919)

„Hier ist heute die Welt!“

Paul Levis Totenrede für Rosa Luxemburg (1919)

„… ein Versöhner der Deutschen mit sich selbst“

Rede Richard von Weizsäckers für Willy Brandt (1992)

Quellen und Literaturhinweise

„Mein Freund, den ich liebe, ist zu Erde geworden“

Gilgameschs Klage um Engidu

(2. Jahrtausend v. Chr.)

Einführung

Wir stehen hier vor dem ältesten uns bekannten schriftlich überlieferten Mythos der Menschheitsgeschichte und damit an der Schwelle zum Schriftgebrauch, der die Vorgeschichte von der Geschichte trennt. Während bis in die Jungsteinzeit die Erfahrungswelt, das Denken und Empfinden der Menschen, auch ihre Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Daseins, nur indirekt, über archäologische Befunde, Grabbeigaben, die Ornamentik usw., erschlossen werden konnte, haben wir es ab jetzt mit sprachlichen Äußerungen der Menschen selbst zu tun, die es uns erlauben, mit ihnen in ein „Gespräch“ einzutreten. Die Ursprünge dieses Mythos reichen möglicherweise ins 3. vorchristliche Jahrtausend, in die damalige sumerische Stadtkultur, zurück. Die ersten Textfragmente finden sich auf Tontafeln in sumerischer Keilschrift. Die am besten erhaltene und deshalb heute als „kanonisch“ geltende Fassung aber ist die sog, „jungbabylonische“, zwölf Tontafeln mit Keilschrift in jungbabylonischer Sprache, die in Ninive aufgefunden wurden. Sie enthält auch den ursprünglich eigenständigen Sintflutmythos, der später im Buch Genesis des Alten Testaments wieder auftaucht. Im Zweistromland erfuhr das Gilgamesch-Epos eine lebhafte Überlieferungsgeschichte in unterschiedlichen Sprachen. Viele Lücken im Text können mithilfe späterer Überlieferungen einigermaßen sicher rekonstruiert werden. Der Hauptprotagonist des Mythos ist der sagenhafte König von Uruk, Gilgamesch, zu einem Drittel Mensch und zu zwei Dritteln Gott. Ihm wird von den Göttern der Steppenmensch Engidu zur Seite gestellt. Sie werden unzertrennliche Freunde und bestehen etliche Abenteuer zusammen. Doch Engidu stirbt. Die Endgültigkeit der Trennung vom geliebten Freund löst nicht nur unstillbaren Schmerz bei Gilgamesch aus, sondern das bangende Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit. So macht er sich auf, um das ewige Leben zu suchen.

Im Mittelpunkt dieses Mythos steht also die existenzielle Erfahrung des Menschen, die Frage nach seinem eigenen Dasein und dessen Grenzen. Dass ein Jahrtausende alter Mythos nicht nur das distanzierte Interesse des Historikers weckt, sondern auch heute noch in der Lage ist, existenziell anzusprechen und zu berühren, bezeugt der Schriftsteller Elias Canetti in seiner Lebensbeschreibung: „Gilgameschs Klage über den Tod seines Freundes Enkidu traf mich ins Herz … Die Wirkung eines Mythus habe ich auf diese Weise in mir erfahren: als etwas, das ich im halben Jahrhundert, das seither verflossen ist, auf viele Arten bedacht und in mir hin und her gewendet, aber nicht einmal ernsthaft bezweifelt habe … Es geht nicht darum, wie ein Papagei zu wiederholen, dass alle Menschen bis heute gestorben sind, es geht nur darum, zu entscheiden, ob man den Tod willig hinnimmt oder sich gegen ihn empört. Ein Recht auf Glanz, Reichtum, Elend und Verzweiflung aller Erfahrung habe ich mir durch die Empörung gegen den Tod erworben. In diesem endlosen Aufstand habe ich gelebt. Und wenn der Schmerz um meine Nächsten, die ich im Laufe der Zeit verlor, nicht geringer war als der des Gilgamesch um seinen Freund Enkidu, so habe ich doch eines, ein einziges vor dem Löwenmenschen voraus: dass es mir um das Leben jedes Menschen und nicht nur um das meiner Nächsten geht.“ (Canetti, 59 – 61)

Die Klage

Da versammelt Gilgamesch seine Edlen und spricht:

„Hört mich, ihr Ältesten, schaut auf mich!

Wegen Engidus, meines Freundes, weine ich.

Wie ein Klageweib schreie ich bitterlich.

Die Axt an meiner Seite,

Die Lanze in meiner Hand,

Das Schwert an meinem Gürtel, meiner Augen Freude,

Mein Festgewand, das meine Kraftfülle bedeckt,

Was soll es mir?

Ein böser Geist hat sich erhoben und mich ins Unglück gestürzt“ …

[Und Gilgamesch kehrt an das Lager des Freundes zurück und spricht:]

„Du Panther der Steppe,

Der alles vermochte, so dass wir den Berg erstiegen,

Den Himmelsstier packten und schlugen,

Chumbaba niederwarfen,

Der im Zedernwald wohnte:

Was ist das nur für ein Schlaf,

Der dich gepackt hat?

Du siehst finster aus und hörst meine Stimme nicht!“

Doch der erhebt seine Augen nicht mehr:

Er berührte sein Herz, doch es schlägt nicht mehr!

Da deckte er den Freund zu wie eine Braut.

Einem Löwen gleich erhob Gilgamesch die Stimme.

Einer Löwin gleich brüllte er auf.

Er wendet sich dem Freunde zu,

Er rauft seine Haare und streut sie hin …

Sobald ein Schimmer vom Morgen erglänzte, erhob Gilgamesch neue Klage:

„Auf wohlbereitetem Ruhebett ließ ich dich ruhen,

Ich ließ dich eine ruhige Wohnstatt bewohnen …

Fürsten der Erde ließ ich deine Füße küssen.

Nun will ich die Leute des umfriedeten Uruk um

dich weinen und um dich jammern lassen,

Die zahlreichen Leute will ich dir dienen lassen,

Und ich selbst will um dich Trauerkleider anlegen,

Will mich in Löwenfelle kleiden und über die Steppe eilen“ …

Gilgamesch weint bitterlich um seinen Freund Engidu und eilt über die Steppe:

„Werde nicht auch ich wie Engidu sterben?

Wehklage ist in mein Herz gezogen.

Ich habe Furcht vor dem Tod bekommen,

Deshalb eile ich über die Steppe.

Zu Utnapischtim, des Ubara Tutu Sohn, nehme ich eilends den Weg.

[…]

Gilgamesch sagt zu ihm, zu Utnapischtim:

„Wie sollen nicht meine Wangen abgezehrt,

Mein Antlitz gesenkt,

Mein Herz betrübt und aufgerieben meine Gestalt sein?

Wie sollte nicht Weh in meinem Herzen sein?

Wie sollte ich nicht einem Wandrer ferner Wege gleichen?

Wie sollte mein Antlitz nicht von Kummer und Leid verstört sein?

Wie sollte ich nicht von weit her über die Steppe eilen?

Mein Freund, der Panther der Steppe,

Engidu, mein lieber Freund, der alles vermochte,

Dass wir den Berg erstiegen,

Den Himmelsstier packten und schlugen,

Chumbaba niederwarfen, der im Zedernwald hauste,

Und in Bergesschluchten Löwen erlegten,

Mein Freund, der mit mir alle Mühsal durchwanderte,

Engidu, mein Freund, der mit mir Löwen tötete,

Der mit mir alle Mühsal durchwanderte,

Ihn hat das Schicksal der Menschen erreicht.

Sechs Tage und Nächte habe ich um ihn geweint,

Bis zum siebenten Tag ließ ich ihn nicht begraben.

Da fürchtete ich mich […]

Und Furcht vor dem Tode ergriff mich.

Deshalb eile ich über die Steppe.

Das Schicksal meines Freundes lastet auf mir:

Deshalb eile ich einen weiten Weg über die Steppe.

[…]

Wie soll ich es verschweigen?

Wie soll ich es hinausschreien?

Mein Freund, den ich liebe, ist zu Erde geworden.

Engidu, mein Freund, den ich liebe,

ist zu Erde geworden!

Werde nicht auch ich,

Wie er, mich niederlegen müssen

Und nicht wieder aufstehen in alle Ewigkeit?

„… viel wunderbarer als die Liebe von Frauen“

Davids Totenlied für Saul und Jonatan (2 Sam 1, 17 – 27)

(1. Jahrtausend v. Chr.)

Einführung

Das Alte Testament kennt nur zwei „echte“ Totenlieder; neben dem hier wiedergegebenen ist dies die Totenklage König Davids auf Abners Tod (2 Sam 3,33ff). Doch im übertragenen Sinn, für das Schicksal einer politischen Größe, wurde diese literarische Gattung von der prophetischen Tradition aufgegriffen. (vgl. Am 4,2; Jes 14,4 – 21; Ez 27; 28, 11 – 19; 32,2 – 16). Unmittelbar voran geht diesem Lied die Schilderung des Todes König Sauls und seiner Söhne im Kampf gegen die Philister – in zwei miteinander nicht zu vereinbarenden Versionen! Nach 1 Sam 31 stürzt sich Saul selbst in sein Schwert, nach 2 Sam 1 versetzt ihm ein Amalekiter den Gnadenstoß, der dann die Botschaft mitsamt Sauls Stirnreif dem David überbringt. Nachdem David den Überbringer der Nachricht töten ließ, stimmt er die Totenklage über den König und dessen Sohn Jonatan an. Wie so oft in der Bibel werden unterschiedliche Überlieferungen nicht harmonisiert, sondern in ihrer Widersprüchlichkeit einfach nebeneinander stehen gelassen. Das gilt bereits für die unterschiedlichen, nicht miteinander zu vereinbarenden Schöpfungserzählungen!

Es ist nicht leicht, die Entstehungszeit des Textes zu bestimmen. Er steht im Kontext des sogenannten deuteronomistischen Geschichtswerkes. Martin Noth war der Erste, der feststellte, dass das fünfte Buch Mose (Deuteronomium) mit den darauffolgenden sechs biblischen „Geschichts“-Büchern (Josue, Richter, 1/2 Samuel, 1/2 Könige) eine literarische Einheit bildet. Ältere Überlieferungsstücke, eigenständige Textsammlungen etc. erfuhren eine Endredaktion durch eine Gruppe von Schriftgelehrten, für die das Deuteronomium und die von ihm geforderte Alleinverehrung Jahwes theologisch zentral waren. Sie deuteten die wechselvolle Geschichte als Konsequenz der Treue zu Jahwe oder des Abfalls von ihm. Diese theologische Interpretation bildet nun den Rahmen der einzelnen Erzählstücke. Innerhalb einer etwa fünfhundert Jahre währenden Redaktionsgeschichte hat sich also die Endgestalt jener biblischen Bücher entwickelt, deren älteste Texte in die frühmonarchische Zeit (Beginn des 1. vorchristlichen Jahrtausends) zurückreichen mögen.

Den historischen Kontext der Erzählung bilden einerseits die Bedrohung durch die Philister (die Bezeichnung „Palästina“ geht auf sie zurück) und andererseits die Auseinandersetzung um die Errichtung einer Monarchie. Zu Beginn des 12. Jahrhunderts v. Chr. waren die Philister im Zuge einer größeren Völkerwanderung in der Region an die Mittelmeerküste abgedrängt worden. Ein weiteres Vordringen nach Süden verhinderte das ägyptische Pharaonenreich. Die Philister waren dem entstehenden Israel weit überlegen und stellten eine ernsthafte Bedrohung für es dar. Umgekehrt waren die erstarkenden Stämme Israels wohl für die Philister ein willkommener Puffer gegen Norden.

Die beiden Samuelbücher reflektieren zum großen Teil Israels Transformationsprozess von einem Stammesbund zu einer von einem König zentral regierten Nation. Während für zahlreiche Völker des alten Orients die Monarchie eine selbstverständliche Gegebenheit war, bedeutete sie für die israelischen Stämme einen radikalen Bruch der Sozialstruktur, auf deren Grundlage sich der Jahweglaube entwickelt hatte. Die Einführung der Monarchie war deshalb heftig umstritten, und beide Tendenzen haben in den deuteronomistischen Geschichtsbüchern deutliche Spuren hinterlassen. So ist etwa die einzige im Alten Testament enthaltene Fabel (die „Jotamfabel“ im Buch der Richter, 9. Kapitel) der scharfen Polemik gegen die Monarchie gewidmet – es ist wohl ein einzigartiges herrschaftskritisches Dokument des Altertums. Andererseits enden viele Schilderungen von Gräueltaten, Gewalt, Rechtsbeugung und Korruption mit dem tendenziösen Kommentar, dass es damals noch keinen König in Israel gegeben habe. Ausschlaggebend dafür, dass sich die Monarchie letztlich durchsetzen konnte, waren neben der äußeren militärischen Bedrohung sicher auch innergesellschaftliche Gründe.

Auch die Gestalt des David selbst bleibt höchst ambivalent. Seine spätere Idealisierung zum Modell des Monarchen schlechthin war kein Hindernis dafür, dass Überlieferungen erhalten blieben, die diesem Bild diametral widersprechen. Rückschlüsse auf komplizierte Machtstrukturen können oft nur aus kurzen Bemerkungen im überlieferten Text selbst gezogen werden. Das gilt eben auch für die direkte Nachfolge Sauls. Es darf darüber spekuliert werden, ob Davids Totenklage nicht auch die Funktion hatte, seinen Rechtsanspruch auf die Nachfolge zu unterstreichen. Eine kurze Bemerkung zu Beginn des 3. Kapitels im selben Buch deutet auf einen langen Kampf mit Sauls Dynastie hin. Und auch seine Rolle bei Sauls Tod selbst darf hinterfragt werden: Im 16. Kapitel, das die Flucht Davids aus Jerusalem vor der Rebellion seines Sohnes Abschalom schildert, wird David von Schimi aus der Sippe des Hauses Saul verflucht, mit Steinen beworfen, der „Blutschuld am Haus Sauls“ beschuldigt und des Mordes bezichtigt. Vor diesem Hintergrund darf die Aufrichtigkeit der Totenklage Davids und ihres starken Pathos des Verlustes und der liebenden Zuneigung bezweifelt werden.

Zu ergänzen bleibt noch, dass zu jener Zeit der Jahweglaube keine Jenseitshoffnung kannte. Eine irgendwie geartete Hoffnung auf ein individuelles Weiterleben nach dem Tod wird in anderen alttestamentlichen Texten (etwa den Psalmen) sogar ausdrücklich negiert. Erst nach dem babylonischen Exil bilden sich Vorstellungen einer leiblichen Auferstehung und eines Endgerichts heraus, wie sie in jüngeren alttestamentlichen Büchern (besonders deutlich in den beiden Makkabäerbüchern) dokumentiert sind. Und nicht alle Strömungen des Judentums haben diesen Auferstehungsglauben rezipiert.

Zu ergänzen bleibt ferner, dass das hier zitierte Lied seine relative Bekanntheit dem Vers 26, der Klage um Jonatan, verdankt. Dass David dessen Liebe mehr galt als Frauenliebe, kann wohl kaum anders als im Sinne einer homoerotischen Beziehung gedeutet werden.

Die literarische Gattung des Leichenliedes zeichnet sich durch ein bestimmtes metrisches Versmaß aus (Qinavers), das natürlich nur im hebräischen Original nachzuvollziehen ist. Ein anderes typisches Merkmal hebräischer Lyrik bleibt aber auch in der Übersetzung erkennbar: der sog. „Parallelismus membrorum“, das heißt die Wiederholung eines Gedankens in zwei aufeinanderfolgenden, etwa gleich langen Satzgliedern mittels einer variierenden Formulierung. Dieses poetische Stilmittel hebräischer Dichtkunst mag vielen aus den Psalmen vertraut sein.

Das Lied

2 Sam 1,17 – 27

Und David sang dieses Klagelied für Saul und dessen Sohn Jonatan; er sagte, man möge es den Söhnen Judas als Bogenlied beibringen; es steht im „Buch des Aufrechten“.

Erschlagen liegt dein Stolz auf deinen Hügeln, Israel.

Ach, gefallen sind die Helden.

Macht davon keine Meldung in Gat,

verkündet dies nicht auf den Straßen Aschkelons,

damit die Töchter der Philister sich nicht freuen,

damit der Unbeschnittenen Töchter nicht frohlocken.

Oh ihr Berge Gilboas, weder Tau noch Regen mögen auf euch fallen,

ihr trügerischen Gefilde.

Denn dort wurde der Helden Schild befleckt,

Sauls Schild, als wäre er nicht der Gesalbte.

Der Bogen Jonatans kehrte nie zurück ohne das Blut von Getöteten,

ohne das Mark von Helden.

Auch Sauls Schwert kam nie zurück ohne Erfolg.

Saul und Jonatan, geliebt und teuer, weder im Leben noch im Tod sind sie getrennt.

Schneller waren sie als der Adler, stärker als der Löwe.

Ihr Töchter Israels, weinen müsst ihr um Saul,

denn er hat euch gekleidet mit prächtigem Purpur und mit goldenem Schmuck eure Gewänder verziert.

Ach, gefallen sind die Helden mitten im Kampf.

Erschlagen liegt Jonatan auf deinen Hügeln.

Wie weh ist mir ums Herz um dich, mein Bruder Jonatan. Sehr lieb warst du mir.

Deine Liebe war für mich viel wunderbarer als die Liebe von Frauen.

Ach, gefallen sind die Helden,

verloren sind die Waffen des Kampfes.

„… dem Gesetz gemäß die Gebliebenen betrauert“

Die Leichenrede der Aspasia

(5./4. Jh. v. Chr.)

Einführung