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© Verlag KOMPLETT-MEDIA GmbH

2012, München / Grünwald

www.der-wissens-verlag.de

ISBN 978-3-8312-0392-5

Design Cover: Heike Collip, Pfronten

Satz: Schulz Bild & Text, Mainz

eBook-Herstellung und Auslieferung:
HEROLD Auslieferung Service GmbH
www.herold-va.de

Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.

Klaus Kamphausen

ENDE GUT ALLES GUT

Das Lebensende als letzte Herausforderung

Inhalt

Versuch einer verständlichen Sprache

Das treffende Wort

Tote Zahlen

Vergangene Zahlen

Das antike Ägypten

Das antike Griechenland und Rom

Pythagoras

Sokrates

Platon

Aristoteles

Hegesias

Epikur

Zenon von Kition

Lucius Annaeus Seneca

Von der Scham zur Schuld

Christliche Verdammung

Im Licht von Renaissance und Aufklärung

John Donne

Michel de Montaigne

Montesquieu

Voltaire

Jean-Jacques Rousseau

David Hume

Thomas Hobbes und John Locke

Baruch de Spinoza

Denis Diderot

Immanuel Kant

Johann Gottlieb Fichte

Giacomo Casanova

Arthur Schopenhauer

Ludwig Feuerbach

Friedrich Nietzsche

Anne Louise Germaine de Staël-Holstein

Von der Aufklärung zur Verklärung

Versuche der Erklärung

Medizin

Soziologie

Psychologie

Suizidforschung

Esoterik

Lexika

Der Mythos des Sisyphos

Philosophen und Denker des 20. Jahrhunderts

Albert Camus

Jean-Paul Sartre

Karl Jaspers

Karl Löwith

Wilhelm Kamlah

Jean Améry

Gerd Hirschauer

Ernst Tugendhat

Jürgen Mittelstraß

Die (Un)kultur der Selbsttötung in anderen Kulturen

Römer und Germanen

Maya

Die Alten von Keos

Die Zuruaha

Inuit

Sati

Seppuku, Harakiri, Kamikaze

Die Lehre von Gott und anderen Göttern

Theologie heute

Christentum

Judentum

Islam

Buddhismus

Hinduismus

Versuche zu verstehen und zu verhindern

Das Dilemma der Suizidologie

Fehl-Geschlagen

Schuld Scham Stigma

Sterben lernen

Hospizbewegung und Palliativmedizin

Spiritual Care

Sterben wollen! Sterben helfen?

Und nach dem Tod …

Das Leben ist (k)eine Alternative

Schluss machen

Anhang 1

Unterscheidung der verschiedenen Arten der Selbsttötung nach dem Bundesamt für Statistik

Anhang 2

Selbsttötungen weltweit pro 100.000 Einwohner nach Staaten unterschieden

Anhang 3

Liste der bekannten Personen, die ihr Leben durch Selbsttötung beendet haben

Anhang 4

Versuch der Selbsttötung von Kaiser Napoléon Bonaparte nach einem Augenzeugenbericht

Anhang 5

Internetadressen, Adressen und Telefonnummern zum Thema Suizidprävention und Krisenintervention, für Beratung und Erste Hilfe

Quellenangaben

Literatur

Danke

Versuch einer verständlichen Sprache

… und doch ist von allen, den Geist eingrenzenden Schranken die unerträglichste die, die uns verhindert, andere zu verstehen.

Anne Louise Germaine de Staël-Holstein

Viele Menschen, die sich das Leben nehmen wollen, stecken in einer Unverständlichkeit. Was heißt das?

Sie können oder wollen sich anderen Menschen nicht mitteilen.

Oder:

Sie werden von anderen Menschen nicht verstanden.

Nicht gehört.

Überhört.

Oder:

Sie fühlen sich unverstanden.

Oder:

Sie verstehen andere Menschen nicht.

Oder:

Sie verstehen die Welt nicht mehr.

Oder:

Sie verstehen sich selbst nicht.

Oder:

Tiefer Schmerz, Trauer oder Depression blockieren eine Verständlichkeit.

Manchmal sind es die Inhalte oder Umstände, die unverständlich bleiben. Weil sie zu vielschichtig und kompliziert sind oder so erscheinen. Meist ist es jedoch die Sprache selbst, die eine Verständigung von vornherein unmöglich macht.

Die Sprache des Philosophen – in seinem Bemühen, sich so genau wie möglich zu artikulieren – ist gespickt mit „Fremd-Worten“ aus dem Lateinischen und Griechischen.

Das Gleiche gilt für die Formulierungen der Mediziner und Psychologen, der Historiker, Theologen und Literaten.

Das „Fremd-Wort“, oft auch mit der Alibi-Bezeichnung „Fachbegriff“ tituliert, trägt schon in seinem Namen den Keim der Unverständlichkeit. Jedes Fremdwort, das ich in meiner Sprache benutze, entfremdet meine Sprache mehr. Es macht mich außerhalb einer Elite, die mit der Bedeutung dieser Fremdworte vertraut ist, unverständlich.

Es ist schon erstaunlich, wie sich eine bestimmte intellektuelle Elite in Deutschland über die gar so grässlichen Anglizismen in der deutschen Sprache empört. Gleichzeitig bedienen sich diese Empörten einer Sprache voller Lehn- und Fremdworte aus dem Griechischen und Lateinischen, gelegentlich auch des Französischen. Damit wiederum bleibt die Elite auch in ihrer Empörung bei vielen unverstanden und ungehört.

Eliten haben ohnehin einen Hang sich abzugrenzen und damit andere automatisch auszugrenzen. Egal ob Macht- oder Bildungselite.

Das Wort „Elite“ stammt übrigens vom Lateinischen „electus“ und bedeutet so viel wie „auserlesen“.

Dieses Buch will nicht elitär sein, es will weder aus- noch abgrenzen.

Es will durch eine verständliche Sprache und eine breite, tabulose, wertfreie Behandlung des Themas der Unverständlichkeit entgegentreten.

Trotz aller Versuche und Vorsätze verständlich zu sein, dieses Buch ist keine leichte Lektüre, weil es ein Buch über das Leben ist.

Das treffende Wort

Selbstmord.

Freitod.

Suizid.

Selbsttötung.

Das in der Umgangssprache immer noch geläufigste und meistgebrauchte Wort ist „Selbstmord“. Während im Mittelalter noch von „Selbst-Entleibung“ gesprochen wurde, taucht der Begriff „Selbstmord“ das erste Mal zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf. Die erste schriftliche Aufzeichnung des Wortes „Selbstmord“ ist 1643 bei dem Theologen Johann Conrad Dannhauer belegt. Vermutlich geht das Wort auf Martin Luthers Formulierung aus dem Jahr 1527 zurück: „sein selbs mörder“ (seiner selbst Mörder).

Aber schon der Kirchenvater Aurelius Augustinus nennt in seinem Werk „De civitate Dei“, „Vom Gottesstaat“, im 4. Jahrhundert den Selbstmord („morte voluntaria“) einen Mord.

Ein Mord ist ein Kapitalverbrechen. Meist eine Tat aus Heimtücke oder niedriger Gesinnung. Der Gebrauch des Wortes „Selbstmord“ rückt den Menschen, der sich das Leben genommen hat, automatisch in die Nähe des Verbrechers. Er hat etwas Verbotenes getan. Er hat ein Verbrechen begangen. An sich. An anderen. Er hat sich selbst und andere mit dieser Tat bestraft. Das Wort „Selbstmord“ bringt so eine extrem negative Bewertung und Verurteilung mit sich, selbst wenn diese von dem Menschen, der das Wort benutzt, nicht beabsichtigt ist.

Der zweite Grund, den Begriff „Selbstmord“ abzulehnen, ist einfach vom Verständnis der Sprache zu erklären. Zu einem Mord gehören immer mindestens zwei Personen: der Mörder, also der Täter, und sein Opfer. Wenn sich aber ein Mensch umbringt, ist nur eine Person beteiligt. Diese ist zugleich Täter und Opfer. Diese eine Person fasst den Entschluss, sie führt den Tod durch eigene Hand oder Handlung herbei und erleidet ihn.

Das Wort „Freitod“ geht auf Friedrich Nietzsches Werk „Also sprach Zarathustra“ (1884) zurück. In der „Rede vom freien Tode“ heißt es:

„Viele sterben zu spät, und einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: ,stirb zur rechten Zeit!‘ (…)

Wichtig nehmen Alle das Sterben: aber noch ist der Tod kein Fest. Noch erlernten die Menschen nicht, wie man die schönsten Feste weiht.

Den vollbringenden Tod zeige ich euch, der den Lebenden ein Stachel und ein Gelöbnis wird.

Seinen Tod stirbt der Vollbringende, siegreich, umringt von Hoffenden und Gelobenden.

Also sollte man sterben lernen; und es sollte kein Fest geben, wo ein solcher Sterbender nicht der Lebenden Schwüre weihte! (…)

Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will. Und wann werde ich wollen? – Wer ein Ziel hat und einen Erben, der will den Tod zur rechten Zeit für Ziel und Erben.“ 1

Der Gebrauch des Wortes „Freitod“ beinhaltet eine freie Entscheidung des Handelnden. Ob diese Freiheit bei verzweifelten, depressiven, schwer kranken Menschen wirklich gegeben ist, bleibt bis heute Streitpunkt. Durch die Vermeidung des Wortes „Freitod“ soll dieser Diskussion nicht vorweggegriffen werden.

Das Wort „Suizid“ vom Lateinischen „sui caedere“, „sich töten“, ist ein neutraler, meist von der Wissenschaft und der Medizin genutzter Begriff. Er ist klinisch, kühl, ohne Anklang an Leben oder Tod, ohne Ahnung für diese einmalige und gewaltige Tat.

„Selbsttötung“ ist die mehr oder weniger eingedeutschte Version des Begriffs „Suizid“. Mit dem Wort „Selbsttötung“ lässt sich (nach Meinung des Autors) das Thema möglichst vorurteilsfrei, wertfrei, objektiv und neutral beschreiben. Es beinhaltet das „Selbst“ und die „Tötung“. Zum eindeutigen Verständnis sei hinzugefügt: Wenn von „Selbsttötung“ die Rede ist, dann ist sie natürlich im Sinne einer nicht von einer dritten Person erzwungenen Selbsttötung gemeint.

Verbale Konstruktionen sind oft noch treffender als die oben angeführten Substantive. Sie transportieren das aktive Handeln der Person deutlicher und unmittelbarer.

Zwei Ausnahmen sind jedoch die Formulierungen „Hand an sich legen“ und „sich das Leben nehmen“. Beide Redewendungen sind extrem verharmlosend. Wie oft legt jeder Mensch am Tag Hand an sich, wenn er sich die Hände wäscht, wenn er sich kratzt, wenn er sich die Nase putzt, wenn er sich durch die Haare fährt. Hand an sich legen ist eine alltägliche, harmlose, oft nützliche Tätigkeit. Das Gleiche gilt für das Verb „nehmen“. Ich nehme mir einen Kaffee, einen Apfel, eine Zeitung …

„Ich bringe mich um!“ ist dagegen eine Aussage, die jeden auf der Stelle erbeben, erschrecken, erzittern lässt. Die niemanden unberührt lässt. Die vier Worte treffen wie ein schwerer Schlag. Sie tragen die Energie, die Gewalt, das Zerstörerische, das Unumkehrbare, das Endgültige, das Einmalige, das Folgenreiche, aber auch die Verzweiflung, die Ausweglosigkeit, die Unverständlichkeit, das Menschliche und das Unmenschliche der Selbsttötung.

Vielleicht auch die Erlösung?

Tote Zahlen

Im Lauf des 19. Jahrhunderts begannen sich die Naturwissenschaften, vor allem die Medizin, mit dem Tabuthema Selbsttötung zu befassen. Im Zuge dieser Entwicklung wurden die ersten, repräsentativen Statistiken in den Staaten Mitteleuropas vorgelegt.

Die aktuellste veröffentlichte „Todesursachenstatistik“ des Statistischen Bundesamts Deutschland zeigt, dass 2009 durch „vorsätzliche Selbstbeschädigung“ – so das offizielle Amtsdeutsch – 9.616 Menschen in Deutschland verstorben sind. Das sind 11,7 Selbsttötungen auf 100.000 Einwohner.

Im Jahr 2009 sind in der Bundesrepublik laut Statistik insgesamt 854.544 Menschen verstorben, das heißt etwa 1,1 Prozent der Todesfälle wurden durch Selbsttötung herbeigeführt.

Im selben Jahr starben 4.330 Menschen bei Verkehrsunfällen, mehr als doppelt so viele (9.616) durch Selbsttötung.

Die Zahl der Männer, die sich das Leben genommen haben, ist dabei mehr als dreimal so hoch wie die Zahl der Frauen: 7.228 Männer stehen 2.388 Frauen gegenüber.

Die Zahl der Selbsttötungsversuche liegt etwa zehn- bis 15-mal so hoch wie die Zahl der Selbsttötungen. Diese Werte beruhen auf Schätzungen, weil die Dunkelziffer, also die Zahl der Selbsttötungsversuche, die nie als solche registriert wurden, extrem hoch ist. Selbsttötungsversuche, von denen außer dem Betroffenen keiner weiß. Bei jungen Frauen ist die Häufigkeit von Selbsttötungsversuchen am größten, bei älteren Männern am niedrigsten.

In wissenschaftlichen und medizinischen Abhandlungen wird bei den Arten der Selbsttötung nach „harten“ und „weichen“ Methoden unterschieden.

Zu den weichen Methoden zählen zum Beispiel die Einnahme von Tabletten oder Drogen sowie Vergiftungen. Zu den harten Methoden zählen Erhängen, Erschießen, Ertränken, Sturz aus der Höhe, Sturz vor einen sich bewegenden Gegenstand und tiefe Stiche und Schnitte. Die harten Methoden führen darüber hinaus zu sichtbaren äußeren Veränderungen des Körpers.

In der Statistik werden die Arten der vorsätzlichen Selbstbeschädigung noch detaillierter typisiert, unterschieden und beschrieben. Die hier aufgeführten Kategorien X60 bis X84 sind die Oberkategorien, die in einzelnen Statistiken noch einmal in mehrere Punkte unterteilt werden.

Von X60 bis X69 werden die diversen Methoden der Selbsttötung durch „vorsätzliche Selbstvergiftung“ unterschieden. Von X70 bis X84 werden die verschiedenen Arten der Selbsttötung durch „vorsätzliche Selbstbeschädigung“ aufgeführt, dazu zählen unter anderem: Erhängen, Ertränken, Erschießen, Verbrennen, sich vor Fahrzeuge werfen oder wahlweise in die Tiefe stürzen.

Im Anhang 1 (S. 284) finden sie die detaillierte Auflistung, wie sie im Bundesamt für Statistik geführt wird.

Die Typisierung X70, die vorsätzliche Selbstbeschädigung durch Erhängen, Strangulierung oder Ersticken, ist in Deutschland in allen Altersgruppen die mit Abstand meistgewählte Methode, sich das Leben zu nehmen.

Nach Altersgruppen unterteilt zeigt die Statistik für 2009 folgendes Bild:

5 bis 10 Jahre 1
10 bis 15 Jahre 20
15 bis 20 Jahre 194
20 bis 25 Jahre 372
25 bis 30 Jahre 394
30 bis 35 Jahre 394
35 bis 40 Jahre 513
40 bis 45 Jahre 861
45 bis 50 Jahre 1054
50 bis 55 Jahre 999
55 bis 60 Jahre 828
60 bis 65 Jahre 610
65 bis 70 Jahre 859
70 bis 75 Jahre 780
75 bis 80 Jahre 616
80 bis 85 Jahre 554
85 bis 90 Jahre 423
90 und älter 144

In der Todesursachenstatistik 2009 werden auch die Zahlen der vorsätzlichen Selbstbeschädigungen nach Bundesländern unterschieden aufgeführt:

Bundesland

Selbsttötungen gesamt

pro 100.000 Einwohner

Sachsen-Anhalt

360

15,2

Sachsen

624

14,9

Thüringen

327

14,5

Bayern

1749

14,0

Baden-Württemberg

1404

13,1

Bremen

84

12,7

Hessen

769

12,7

Hamburg

219

12,3

Saarland

125

12,2

Schleswig-Holstein

344

12,1

Mecklenburg-Vorpommern

185

11,2

Rheinland-Pfalz

430

10,7

Brandenburg

266

10,6

Niedersachsen

778

9,8

Nordrhein-Westfalen

1.666

9,3

Berlin

286

8,3

Die höchste Zahl an Selbsttötungen verzeichnete in diesem Zeitraum das Land Bayern. Die höchste Selbsttötungsrate weist das Land Sachsen-Anhalt auf. Berlin hat mit 8,3 Selbsttötungen auf 100.000 Einwohner die niedrigste Rate. Im Vergleich dazu lag das frühere Westberlin vor dem Fall der Mauer mit weitem Abstand auf Platz 1 der Bundesländerstatistik.

Für die letzten 30 Jahre folgt die Zahl der Selbsttötungen in Deutschland einem deutlich fallenden Trend:

1980 lag sie bei 18.451 (24,6 je 100.000 Einwohner)

1990 lag sie bei 13.924 (17,4 je 100.000 Einwohner)

2000 lag sie bei 11.065 (13,0 je 100.000 Einwohner)

2009 liegt sie bei 9.616 (11,7 je 100.000 Einwohner)

Die sogenannte dunkle Jahreszeit von Oktober bis März weist im Gegensatz zur allgemein verbreiteten Annahme keine höheren Zahlen an Selbsttötungen auf als die Sommermonate April bis September. In einer Statistik aus dem Jahr 2006 zeigen die Monate Mai und Juli die höchsten Zahlen an Selbsttötungen.

Eine steigende Tendenz zeigt das durchschnittliche Sterbealter bei vorsätzlichen Selbstbeschädigungen. Seit 1980 stieg es bei Männern um etwa fünf Jahre auf 54,7 Jahre, bei Frauen um zwei Jahre auf 59,0 Jahre (Statistik 2006).

Mediziner und Pharmazeuten weisen eine deutlich höhere Rate an Selbsttötungen auf als die Allgemeinbevölkerung. Bei den Ärzten liegt die Rate mehr als dreimal so hoch wie bei den Männern, bei den Ärztinnen ist die Rate mehr als fünfmal so hoch wie der Durchschnittswert der Frauen (2006).

Diese überraschende Tatsache ließe sich auf den berufsbedingten Stress der Mediziner und die fast tägliche Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod erklären. Eine andere Begründung wäre in der Tatsache zu finden, dass Ärzte und Pharmazeuten im Gegensatz zu restlichen Bevölkerung über das Expertenwissen zur Selbsttötung verfügen.

Von den deutschen Zahlen zu den internationalen: Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben jährlich weltweit etwa eine Million Menschen durch Selbsttötung. Zehn- bis 20-mal so hoch ist die geschätzte Zahl der gescheiterten Versuche.

Das entspricht circa 14,5 Todesfällen je 100.000 Menschen.

Oder: Alle 40 Sekunden nimmt sich auf dieser Erde ein Mensch das Leben!

Die weltweite nach einzelnen Staaten unterschiedene Statistik der WHO finden Sie im Anhang 2. Ein Blick auf diese Tabelle zeigt:

Angeführt wird diese Statistik von Weißrussland (35,1/2003)2 und Südkorea (31,0/2009). Auf Rang 4 folgt bereits Russland mit 30,1 Selbsttötungen pro 100.000 Einwohner, auf Platz 10 liegt Japan mit 23,7 Selbsttötungen auf 100.000 Einwohner.

Vergleicht man auf dieser Tabelle die sonnigen Länder des südlichen Europas mit den Staaten Skandinaviens, dann scheint die Sonne des Südens eindeutig positiv auf das Lebensgefühl einzuwirken:

Finnland (20,1/2005), Dänemark (13,6/2001), Schweden (13,2/ 2004) und Norwegen (11,5/2005) haben alle höhere Selbsttötungsraten als Portugal (11,0/2003), Spanien (7,8/2005), Italien (7,1/ 2002) oder Griechenland, das mit 3,5 Selbsttötungen pro 100.000 Einwohnern das europäische Schlusslicht bildet.

Ob das jedoch der Sonne, dem vorherrschenden Katholizismus, der geringeren Niederschlagsmenge, dem längeren Tageslicht oder dem Blau des Mittelmeeres zuzuschreiben ist, bleibt pure Spekulation.

Oder warum liegt die Selbstmordrate in Neuseeland (13,2/2004), einem grünen Paradies am Ende der Welt, um mehr als das Dreifache höher als in einem Land wie Mexiko (4,1/2005), das seit Jahren von sozialen und politischen Spannungen gezeichnet ist.

Eines der ärmsten Länder Europas, Albanien (4,0/2003), hat eine Selbsttötungsrate, die um mehr als das Vierfache niedriger ist als im reichen Frankreich (17,6/2005). Wo würde Gott wohl lieber leben?

Die Statistiken über Selbsttötungen ließen sich hier noch über viele Seiten zu einem fast unendlichen Zahlenwerk fortsetzen.

Am Ende lassen sich nur Vergleiche ablesen: Dass zum Beispiel in islamischen, hinduistischen und buddhistischen Staaten die Rate der Selbsttötungen niedriger ist als in den christlichen Ländern Europas. Es gibt Unterschiede zwischen Männern und Frauen, zwischen den einzelnen Altersgruppen, zwischen Jahreszeiten und Berufsgruppen, selbst zwischen einzelnen Wochentagen.

Aber je mehr Zahlen sich sammeln, desto mehr tritt das Schicksal des einzelnen Menschen in den Hintergrund.

Statistiken zeigen auf, wer sich umbringt, wie, wann und wo.

Aber selbst Hunderttausende Zahlen in zahllosen Tabellen und Graphen aufgereiht, ausgewertet und verglichen werden keine einzige Antwort auf die Frage geben können:

Warum?

Vergangene Zahlen

Das antike Ägypten

Wenn die Zahlen der Statistik zu der Frage nach dem Warum schweigen, was verraten die Zahlen der Zeitgeschichte?

Das Thema Selbsttötung durchzieht die Menschheitsgeschichte wie ein roter Faden. Ein Kardiogramm mit Ausschlägen nach oben und unten, je nach Zeit- und Kulturepoche.

Philosophen und Theologen, Juristen und Mediziner, Psychologen, Soziologen und Ethnologen haben aus ihrer Zeit und ihrer Perspektive die Selbsttötung diskutiert und beurteilt.

Sie haben die Selbsttötung bewertet, haben zu ihr aufgerufen, haben sie verteufelt, haben sie gepriesen, versucht zu verhindern, versucht zu erklären, zu richten.

Schriftsteller und Künstler haben sie immer wieder zum Thema gemacht: besungen, modelliert, gemalt, geschrieben, gedichtet.

Lang wie die Liste dieser Kommentatoren ist die der prominenten, bekannten, berühmten Täter-Opfer:3 von Kleopatra bis Hannelore Kohl, von Hannibal bis Hemingway.

Unabhängig von einer Bewertung ist die Selbsttötung offensichtlich und unbestreitbar Teil der menschlichen Natur und Kultur. Über alle Grenzen und alle Zeiten hinweg.

Der älteste überlieferte Text über die Selbsttötung stammt aus dem antiken Ägypten. Niedergeschrieben ist er auf einem Papyrus aus der Zeit um 1900 v.Chr. Der deutsche Ägyptologe Karl Richard Lepsius erwarb den Papyrus 1843 in Ägypten und veröffentlichte den Text 1859. Es ist das „Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele“. Die Seele wurde im alten Ägypten als der „Ba“ bezeichnet.

Der Mann, der des Lebens müde und verzweifelt ist, versucht seinen Ba, seine Seele, von seinem Vorhaben der Selbsttötung zu überzeugen. In mehreren Reden und Liedern beschreibt er seine Abscheu, seinen Ekel vor dem Leben, seine Sehnsucht nach dem Tod. Eines der Lieder lautet:

„Der Tod steht heute vor mir,

(wie) wenn ein Kranker gesund wird,

wie das Hinaustreten ins Freie nach dem Eingesperrtsein.

Der Tod steht heute vor mir

wie der Duft von Myrrhen,

wie das Sitzen unter einem Segel an einem windigen Tag.

Der Tod steht heute vor mir

wie der Duft von Lotusblumen,

wie das Sitzen am Ufer der Trunkenheit.

Der Tod steht heute vor mir

wie das Abziehen des Regens (oder: wie ein betretener Weg),

wie wenn ein Mann von einem Feldzug heimkehrt.

Der Tod steht heute vor mir,

wie wenn sich der Himmel enthüllt,

wie wenn ein Mensch die Lösung eines Rätsels findet.

Der Tod steht heute vor mir,

wie ein Mann sich danach sehnt, sein Heim wiederzusehen,

nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verbracht hat.“4

In mehreren Reden antwortet der Ba auf das Jammern und Wehklagen des Mannes und fordert ihn auf, das Leben wieder anzunehmen und zu genießen:

„Lasse das Wehklagen auf sich beruhen, dieser du, der zu mir gehört, mein Bruder. Lege auf das Feuerbecken und schließe Dich dem Lebenskampf – wie Du geschildert hast – an. Sei mir hier zugetan und stelle für dich den Westen5 zurück. Wünsche erst dann in den Westen zu gelangen, wenn sich Deine Glieder dem Boden zuneigen. Nach Deinem Ermatten werde ich mich niederlassen und wir werden eine Wohnstatt zusammen machen.“ 6

Selbst wenn dieser Text eine Dichtung war, zeigt er, dass auch im alten Ägypten die Selbsttötung ein Thema war, das weit über das Individuelle hinausging.

Eine moralische oder andere Art der Wertung der Selbsttötung lässt sich aus dem Text um 1.900 v.Chr. jedoch nicht herauslesen.

Fast 2.000 Jahre später, im Jahr 30 v.Chr., stirbt die letzte Pharaonin Ägyptens. Sie war eine der mächtigsten und schönsten Frauen der Weltgeschichte. Sie wurde als Göttin verehrt, als Hure beschimpft. Sie war Mutter von vier Kindern und Femme fatale. Geliebt und gehasst von den mächtigsten Männern ihrer Zeit. Gaius Julius Caesar und Marcus Antonius hatte sie verführt und für sich gewonnen. Octavian, der spätere Kaiser August, verfolgte sie als Feindin Roms und Rivalin seiner Macht. In Alexandria setzte er sie als Gefangene fest. Am Ende sah sie keinen anderen Ausweg, als sich selbst umzubringen. Sie lässt sich von einer Giftschlange beißen: Der Mythos „Kleopatra“ war geboren.

Neben ihrem Leben, das von den einen verteufelt, von den anderen verherrlicht wird, ist ihr Tod bis heute ungeklärt.

„Nach Plutarch und Cassius Dio soll die ägyptische Königin dem römischen Machthaber erfolgreich ihren angeblichen Lebenswillen vorgetäuscht und so eine weniger strenge Bewachung erreicht haben, die ihr die Ausführung ihres Selbstmordes ermöglichte. Sie nahm ein Bad und aß danach ein köstliches Mahl. Inzwischen brachte ein Bauer einen Korb, zeigte den Wachen, dass sein Inhalt nur aus Feigen bestand, und durfte ihn hineintragen. Nach dem Essen schickte Kleopatra einen dringenden Brief zu Octavian, schloss sich mit ihren vertrauten Zofen Iras und Charmion ein und beging mit ihnen Selbstmord. Als Octavian in ihrem Brief den Wunsch las, sie neben Antonius zu bestatten, wusste er Bescheid und schickte schnell Boten, die aber Kleopatra schon tot in königlichem Gewand auf einem goldenen Bett liegend fanden, während ihre beiden Zofen im Sterben lagen. Auch Psylli genannte Schlangenbeschwörer, die ihr das Gift aussaugen sollten, konnten sie nicht mehr erwecken.“ 7

Nicht nur die Autoren der Antike (Plutarch, Cassius Dio), auch die Historiker von heute verweisen zumindest die Selbsttötung der letzten Königin vom Nil durch einen Schlangenbiss ins Reich der Legenden. Warum Kleopatra ihr Leben bis zum letzten Atemzug in dieser Art inszenierte, lässt sich aus der Perspektive der damaligen Zeit so erklären:

„Augustus zeigte bei seinem Triumphzug in Rom im Jahr 29 v.Chr. ein Bild Kleopatras, das sie mit zwei Schlangen darstellte. Damit erkannte er die in der Antike vorherrschende Version – Tod durch den Biss einer Schlange („aspis“) – offiziell an. Der Terminus „aspis“ bezieht sich auf die ägyptische Uräusschlange. Sie hatte symbolischen Charakter als Zeichen pharaonischer Herrschaft: Sie bedrohte die Feinde des Königs und stellte den Herrscher gleichzeitig unter den Schutz des Sonnengottes Re, dem sie ein heiliges Tier war. Dementsprechend trug die ägyptische Königskrone das Bild eines Doppeluräus. Der Biss einer solchen Schlange hätte nach ägyptischer Vorstellung nicht dem Erlangen von Unsterblichkeit gedient – denn die Ptolemäer8 galten schon zu Lebzeiten als Götter –, sondern er wäre für Kleopatra ein würdiger Tod gewesen.“9

Wie unwahrscheinlich diese Art der Selbsttötung ist, machen folgende Argumente schnell deutlich:

„Gegen einen Schlangenbiss spricht allerdings, dass man kein solches Reptil in Kleopatras Gemach fand, dass es schwierig ist, drei Menschen (Kleopatra und ihre beiden Zofen) durch eine Schlange beißen zu lassen, sowie dass ein Kobrabiss durchaus nicht schmerzlos ist und erst nach Stunden oder Tagen zum Tod führen kann. Am wahrscheinlichsten erscheint, dass Kleopatra Gift einnahm oder es sich injizierte, dass aber ihre engsten Vertrauten, darunter wohl ihr Arzt Olympos, auf ihren Wunsch die Schlangenbissversion verbreiteten, weil diese von religiösen Ägyptern als würdevollster und Legenden Vorschub leistender Tod ihrer Königin gesehen würde.“ 10

Welche Motive haben Kleopatra bei ihrer letzten Tat geleitet?

Ihr Geliebter Marcus Antonius hatte sich wenige Tage zuvor mit dem eigenen Schwert umgebracht. War ihr Herz gebrochen?

Wollte sie der Schande entgehen, als Gefangene im Triumphzug durch Rom geführt zu werden?

Hatte sie den Kampf um die Macht verloren?

Eine Niederlage im Kampf um die Macht sollte in den kommenden 2.000 Jahren für viele Krieger, Herrscher und Despoten immer wieder Grund genug sein, sich selbst umzubringen.

Das Leben und der Tod der letzten Pharaonin Ägyptens fasziniert bis heute Historiker genauso wie Schriftsteller, Maler, Musiker und Regisseure. Kleopatra hat es geschafft, nicht nur für ihre Zeitgenossen, sondern bis in die Gegenwart hinein als Mythos weiterzuexistieren. Durch ihren selbstbestimmten Tod wurde sie am Ende unsterblich.

Das Thema der „Unsterblichkeit“, die verschiedenen Bedeutungsinhalte und sehr unterschiedlichen, konträren Verständnisarten werden an anderer Stelle dieses Buches ausgeführt werden.

Der römische Geschichtsschreiber Cassius Dio schließt seine Geschichte über Kleopatra mit den Worten: „Sie gewann die beiden größten Römer ihrer Zeit für sich und wegen des dritten nahm sie sich das Leben.“ 11

Das antike Griechenland und Rom

Das antike Griechenland ist die Wiege der abendländischen Kultur. Im Schatten der Akropolis wurde der Samen des modernen Denkens gesät. Die Philosophen und Denker der hellenistischen Welt zeichneten die Koordinaten für Körper, Geist, Seele und Kosmos, die bis heute unser Weltbild bestimmen. Im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen über Leben, Tod und die Welt, an dem Punkt, an dem alle Koordinaten zusammenlaufen, steht der Mensch.

• Pythagoras

Pythagoras von Samos (570 v.Chr.–510 v.Chr.), einer der Begründer der griechischen Mathematik und Philosophie, war von einer Seelenwanderung und der Unsterblichkeit der Seele überzeugt. Seine Anhänger sprachen sich deutlich gegen die Selbsttötung aus. Ihrem Glauben nach war die menschliche Seele wegen einer Ursünde im Körper gefangen, um dort Sühne zu tun. Durch seinen selbst gewählten Tod entziehe sich der Mensch dieser von den Göttern auferlegten Buße und begehe so eine Gotteslästerung.

Dass Pythagoras sein Leben dann doch durch eigene Hand beendet haben soll, weil seine Glaubensgemeinde angegriffen worden war, ist unter Historikern bis heute umstritten.

• Sokrates

Der griechische Philosoph Sokrates (469 v.Chr.–399 v.Chr.) war einer der bedeutenden Denker des Abendlandes. Er gilt als der Begründer einer autonomen philosophischen Ethik. Eine der großen Fragen seiner Erkenntnislehre war: Wie führen das „Gute“ und die „Tugend“ zur Glückseligkeit?

Im Alter von 70 Jahren wird Sokrates wegen Missachtung der griechischen Götter und angeblich verderblichen Einfluss auf die Jugend angeklagt:

„Sokrates frevelt und treibt Torheit, indem er unterirdische und himmlische Dinge untersucht und Unrecht zu Recht macht und dies auch andere lehrt.“ 12

Die Ideen des Sokrates waren den Mächtigen ein Dorn im Auge. Der Philosoph verteidigte sich selbst vor einer Jury aus 501 Geschworenen: „Laßt uns aber auch so erwägen, wieviel Ursache wir haben zu hoffen, es sei etwas Gutes. Denn eins von beiden ist das Totsein: entweder so viel als nichts sein noch irgend eine Empfindung von irgend etwas haben, wenn man tot ist; oder, wie auch gesagt wird, es ist eine Versetzung und Umzug der Seele von hinnen an einen andern Ort. Und es ist nun gar keine Empfindung, sondern wie ein Schlaf, in welchem der Schlafende auch nicht einmal einen Traum hat, so wäre der Tod ein wunderbarer Gewinn. (…)

Ist aber der Tod wiederum wie eine Auswanderung von hinnen an einen andern Ort, und ist das wahr, was gesagt wird, daß dort alle Verstorbenen sind – was für ein größeres Gut könnte es wohl geben als dieses, ihr Richter? Denn wenn einer, in der Unterwelt angelangt, nun dieser sich so nennenden Richter entledigt dort die wahren Richter antrifft, von denen auch gesagt wird, daß sie dort Recht sprechen, den Minos und Rhadamanthys und Aiakos und Triptolemos, und welche Halbgötter sonst gerecht gewesen sind in ihrem Leben – wäre das wohl eine schlechte Umwanderung? Oder auch mit dem Orpheus umzugehen und mit Musaios und Hesiodos und Homeros – wie teuer möchtet ihr das wohl erkaufen? Ich wenigstens will gern oftmals sterben, wenn dies wahr ist.“ 13

Unbeugsam in seiner Haltung, zog er sich die Ablehnung und den Zorn den Geschworenen zu und wurde zum Tod verurteilt.

Er hatte mehrfach die Gelegenheit zur Flucht. Aber er hatte das gegen ihn ausgesprochene Todesurteil als gültiges Fehlurteil mit großer Gelassenheit hingenommen. Bis zu dem Moment, wo er den Schierlingsbecher trank, diskutierte er mit seinen im Gefängnis anwesenden Freunden und Schülern philosophische Fragen.

Auch die Frage nach dem Recht auf Selbsttötung wurde besprochen. In Platons „Phaidon“ heißt es dazu: „Nur Gewalt wird er sich doch nicht selbst antun; denn dies, sagen sie, sei nicht recht.

Und als er dies sagte, ließ er seine Beine von dem Bett wieder herunter auf die Erde, und so sitzend sprach er das übrige.

Kebes fragte ihn nun: Wie meinst du das, o Sokrates, daß es nicht recht sei, sich selbst Leides zu tun, daß aber doch der Philosoph dem Sterbenden zu folgen wünsche?

Wie, Kebes? Habt ihr über diese Dinge nichts gehört, du und Simmias, als ihr mit dem Philolaos zusammenwaret?

Nichts Genaues wenigstens, Sokrates.

Auch ich kann freilich nur vom Hörensagen davon reden; was ich aber gehört, bin ich gar nicht abgeneigt, euch zu sagen. Auch ziemt es sich ja wohl am besten, daß der, welcher im Begriff ist, dorthin zu wandern, nachsinne und sich Bilder mache über die Wanderung dorthin, wie man sie sich wohl zu denken habe. Was könnte einer auch wohl noch weiter tun in der Zeit bis zum Untergang der Sonne?

Weshalb also sagen sie, es sei nicht recht, sich selbst zu töten, o Sokrates? Denn ich habe dies auch schon, wonach du eben fragtest, vom Philolaos gehört, als er sich bei uns aufhielt, und auch schon von andern, daß man dies nicht tun dürfe. Genaues aber habe ich von keinem jemals etwas darüber gehört.

So mußt du dich noch weiter bemühen, sagte er, du kannst es ja wohl noch hören. Vielleicht aber kommt es dir auch wunderbar vor, daß dies allein unter allen Dingen schlechthin so sein soll, und auf keine Weise, wie doch sonst überall, nur bisweilen und nur für einige Menschen: nämlich es sei besser zu sterben als zu leben. Und denen nun besser wäre zu sterben, wird dir wunderbar vorkommen, daß es diesen Menschen nicht erlaubt sein solle, sich selbst wohlzutun, sondern daß sie einen andern Wohltäter erwarten sollen.

Da sagte Kebes etwas lächelnd und in seiner Mundart: Das mag Gott wissen.

Es kann freilich so scheinen, unvernünftig zu sein, sprach Sokrates, aber es hat doch auch wieder einigen Grund. Denn was darüber in den Geheimlehren gesagt wird, daß wir Menschen wie in einer Feste sind und man sich aus dieser nicht selbst losmachen und davongehen dürfe, das erscheint mir doch als eine gewichtige Rede und gar nicht leicht zu durchschauen. Wie denn auch dieses, o Kebes, mir ganz richtig gesprochen scheint, daß die Götter unsere Hüter und wir Menschen eine von den Herden der Götter sind. Oder dünkt es dich nicht so?

Allerdings wohl, sagte Kebes.

Also auch du würdest gewiß, wenn ein Stück aus deiner Herde sich selbst tötete, ohne daß du angedeutet hättest, daß du wolltest, es solle sterben, diesem zürnen und, wenn du noch eine Strafe wüßtest, es bestrafen?

Ganz gewiß, sagte er.

Auf diese Weise nun wäre es also wohl nicht unvernünftig, daß man nicht eher sich selbst töten dürfe, bis der Gott irgend eine Notwendigkeit dazu verfügt hat, wie die jetzt uns gewordene?

Dieses freilich, sagte Kebes, scheint ganz billig. Was du jedoch vorher sagtest, daß jeder Philosoph gern werde sterben wollen, dieses, o Sokrates, kommt dann ungereimt heraus; wenn doch, was wir eben sagten, sich richtig so verhält, daß Gott es ist, der uns hütet, und daß wir zu seiner Herde gehören. Denn daß nicht die Vernünftigsten gerade am unwilligsten aus dieser Pflege sich entfernen sollten, wo diejenigen für sie sorgen, welche die besten Versorger sind für alles, was ist, die Götter, das ist gar nicht zu denken. Denn sie können ja nicht glauben, daß sie sich selbst besser hüten werden, wenn sie frei geworden sind; sondern nur ein unvernünftiger Mensch könnte das vielleicht glauben, daß es gut wäre, von seinem Herrn zu fliehen, und könnte nicht bedenken, daß man ja von dem Guten nicht fliehen muß, sondern sich soviel als möglich daran halten, und daß er also unvernünftigerweise fliehen würde; der Vernünftige aber würde immer streben, bei dem zu sein, der besser wäre als er. Und so käme ja wohl, o Sokrates, das Gegenteil von dem heraus, was eben gesagt ward: den Vernünftigen nämlich ziemte es, ungern zu sterben, und nur den Unvernünftigen gern.“ 14

Dieser kurze Ausschnitt aus Platons „Phaidon“ zeigt, dass Sokrates bereit ist, für seine Ideen zu sterben. Aber er spricht sich hier, so wie später auch Platon (428 v.Chr.–348 v.Chr.) oder Aristoteles (384 v.Chr.–328 v.Chr.), klar gegen die Selbsttötung aus.

Bleibt die Frage, hat Sokrates sich selbst getötet, als er den Schierlingsbecher nahm? War es ein Freitod oder eine erzwungene Selbsthinrichtung?

„Ich verstehe, sagte Sokrates. Beten aber darf man doch zu den Göttern und muß es, daß die Wanderung von hier dorthin glücklich sein möge, worum denn auch ich hiermit bete, und so möge es geschehen!

Und wie er dies gesagt, setzte er an, und ganz frisch und unverdrossen trank er aus. Und von uns waren die meisten bis dahin ziemlich imstande gewesen, sich zu halten, daß sie nicht weinten; als wir aber sahen, daß er trank und getrunken hatte, nicht mehr.“ 15

• Platon

Das eigentliche Wesen des Menschen ist seine Seele. Diese ist nicht in unserer physischen Welt, sondern in einer transzendenten Ideenwelt beheimatet. Diese zeit- und raumlose Welt ist die ursprüngliche Wirklichkeit, von der die physische Welt abhängt. Die Existenz des Menschen ist also keine eigenständige, unabhängige, sondern eine Projektion der Ideenwelt, die in der physischen Welt nur zur materiellen Erscheinung kommt. Die Urbilder der Ideenwelt verleihen den Abbildern der physischen Welt Gestalt.

Aus dieser komplexen Weltsicht heraus sagt Platon, dass der Mensch in der Macht der Götter steht und deswegen nur mit Erlaubnis oder auf Befehl der Götter das Leben verlassen dürfe. Wer sich gar aus Schlaffheit und unmännlicher Feigheit umbringe, solle an unbebauten, namelosen Plätzen ruhmlos bestattet werden.

• Aristoteles

Noch deutlicher spricht sich Aristoteles gegen die Selbsttötung aus. Er sieht den Selbstmord durch das Gesetz der Polis16 verboten: „Recht in einem Sinne ist, was vom Gesetze in Bezug auf jede einzelne Tugend geboten ist. Nun gebietet das Gesetz aber zum Beispiel nicht, sich selbst zu tödten; was es aber nicht zu tödten gebietet, das zu tödten verbietet es.“ 17

Er spricht auch über die entsprechende Bestrafung, den Verlust von Ansehen und Ehre: „Er leidet ja freiwillig, und niemand leidet freiwillig Unrecht. Darum straft ihn auch die Obrigkeit und haftet dem Selbstmörder, als einem Menschen, der sich am gemeinen Wesen versündigt hat, eine Makel an.“ 18

Der „Selbstmörder“, so Aristoteles, verletzt durch seine Tat seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft. Somit sei es verantwortungslos, sich selbst zu töten. Und die Gesellschaft habe das Recht, mit schärfsten Strafen zu reagieren.

An anderer Stelle wertet Aristoteles den Selbstmord als Anzeichen von Weichlichkeit. Dann, wenn der Selbstmörder durch seine Tat den Übeln des Lebens fliehen will. Er rät „dem Feigling“ dazu, sich der Tugend der Tapferkeit zuzuwenden, anstatt sein Wohl im Tod zu suchen.

Nach Aristoteles kann es keine guten Gründe geben, sich das Leben zu nehmen.

• Hegesias

Eine ganz andere Sicht vertrat der griechische Philosoph Hegesias von Kyrene. Er lebte und wirkte um 300 v.Chr. in Alexandria.

Die Metropole am Mittelmeer, die Alexander der Große etwa 30 Jahre vorher gegründet hatte, wuchs zu dieser Zeit nicht nur zum wirtschaftlichen und politischen, sondern auch zum geistigen Zentrum der hellenistischen Welt.

Hegesias war als Denker aus der Schule der Kyrenaiker19 ein Hedonist. „Hedonismus“, vom Griechischen „hedone“, bedeutet Freude,Vergnügen, Lust.

Der Leitgedanke der Hedonisten in der Antike war, dass einzig die Maximierung von Lust und Freude – körperlicher wie auch seelischer – und die Vermeidung von Schmerz und Leid als höchstes zu erreichendes Ideal anzusehen sind – als eigentlicher Sinn des Lebens.

Hegesias entwickelte seine Gedanken vom Hedonismus zu einem seltsam radikalen Pessimismus. Das Leben, so argumentierte er, halte in den meisten Fällen mehr Schmerz als Lust bereit. Da die Lust also unerreichbar ist, gilt es zumindest, Schmerz und Leid zu vermeiden. Der Tod birgt diese totale und einzig wirkliche Befreiung vom Leid. Im Tod gibt es weder Lust noch Schmerz. Daher ist er besser als das Leben. Der Weise kann also in letzter Konsequenz nur zu dem Schluss kommen, sich selbst zu töten.

Seine Werke und Schriften, in denen er diese Philosophie darlegte, sind nicht erhalten geblieben. Aber seine Reden müssen so vortrefflich und für die Massen verführerisch gewesen sein, dass die Menschen sich scharenweise das Leben nahmen.

Mit seinen Reden gegen das Leben verdiente er sich schnell den Beinamen „Peisithanatos“, der „Zum-Tode-Ratende“.

Die Frage bleibt:

Warum ist er seinem eigenen Rat nicht gefolgt?

Warum hat er selbst nicht diesen letzten Schritt des Weisen getan?

König Ptolemaios I. Lagu machte dem Spuk ein Ende und untersagte dem „Zum-Tode-Ratenden“, weiterhin in öffentlicher Rede den Selbstmord zu propagieren.

Die Motive des Herrschers waren wahrscheinlich weniger moralischer oder ethischer Natur. Vielmehr fürchtete er eine Destabilisierung des Staatswesens. Arbeiter und Sklaven, die sich selbst in den Tod stürzten, waren schließlich für keinen mehr von Nutzen. Der volkswirtschaftliche Schaden war immens.

Über den Tod von Hegesias von Kyrene, über die Art und Weise, wie er aus dem Leben schied, ist nichts bekannt.

• Epikur

„Lebt wohl und erinnert euch an meine Lehren.“

Nach diesen letzten Worten an seine Schüler nahm der Philosoph Epikur (341 v.Chr.–270 v.Chr.) noch ein warmes Bad und trank dann den Kelch mit dem Gift.

Epikur lebte vor den Toren Athens in einem kleinen Haus mit Garten. Seine Schüler, die er hier unterrichtete, hießen im Volksmund „die Philosophen aus dem Garten“. Am Eingang zu Epikurs Garten war eine Inschrift angebracht:

„Freund, das ist ein guter Ort. Hier wird nichts mehr verehrt als das Glück.“

Das oberste Ziel von Epikurs Ethiklehre war das Erreichen und die Verstetigung des Glücks durch den Genuss jedes einzelnen Tages, jeden Augenblicks.

Ein bedeutender Unterschied zu den Hedonisten ist, dass die Lustmaximierung nach Epikur mit einer weisen Bedürfnisregulierung zu erreichen war. Eines der berühmtesten Zitate von Epikur in diesem Zusammenhang lautet:

„Nichts ist für den genug, dem das Genügende zu wenig ist.“ 20

Ein lustvolles Leben ist gleichzeitig ein Leben voller Einsicht. Aber ein einsichtiges Leben lässt sich gleichzeitig nur durch ein lustvolles Leben erreichen.

Um dieses Ideal, die vollendete Seelenruhe, die Ataraxie21, zu Lebzeiten zu erreichen, galt es, alle Gefährdungen des Seelenfriedens zu meiden oder zu überwinden. Als die drei Hauptgefahren sah Epikur die Begierde, den Schmerz und die Furcht. Bei der Furcht unterschied er vor allem die Furcht vor den Göttern und die Furcht vor dem Tod.

In seinen Briefen an Menoikeus heißt es dazu:

„Gewöhne dich daran zu glauben, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat. Denn alles, was gut, und alles, was schlecht ist, ist Sache der Wahrnehmung. Der Verlust der Wahrnehmung aber ist der Tod. Daher macht die richtige Erkenntnis, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat, die Vergänglichkeit des Lebens zu einer Quelle der Lust, indem sie uns keine unbegrenzte Zeit in Aussicht stellt, sondern das Verlangen nach Unsterblichkeit aufhebt. (…) Das schauerlichste aller Übel, der Tod, hat also keine Bedeutung für uns; denn solange wir da sind, ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht da.“ 22

Epikur vertrat eine absolute Diesseitigkeit. Nach seiner Lehre löst sich mit dem Tod auch die Seele auf. Ebenso wie gegen die Furcht vor dem Tod sprach er sich deutlich gegen eine Gottesfürchtigkeit aus. Das Schicksal, das Leben gehört dem Menschen allein. Der Mensch lebt nicht für einen Gott, nicht für einen Staat, nicht für eine Kultur, sondern einzig und allein, um sein einmaliges Leben mit Glück zu erfüllen.

Trotz dieser obrigkeitsfeindlichen Lehren wurde Epikur nicht wie Sokrates von den Mächtigen seiner Zeit verfolgt, sondern nur verhöhnt und verachtet.

Epikur und Sokrates. Beide begehen Selbsttötung, beide in bester Stimmung, im Kreis ihrer Freunde. Sokrates war zum Tod verurteilt, Epikur litt an einer schweren Krankheit.

Aber Sokrates wie Epikur gestanden dem Menschen die Selbsttötung nur unter bestimmten Umständen und in bestimmten Situationen zu. Ähnlich war auch die Sicht der Stoiker.

• Zenon von Kition

Zenon von Kition (333 v.Chr.–264 v.Chr.) gilt als Begründer der Stoa. Er lebte und lehrte zur gleichen Zeit wie Epikur.

Seine Lehre, die Stoa, ist benannt nach einer alten Säulenhalle, die im antiken Athen auf der Agora (Markt) unterhalb der Akropolis stand. Hier versammelte Zenon sein Schüler um sich.

Seine Lehre sah den Mensch als Teil einer vom „göttlichen Logos“, von der „göttlichen Urkraft und Vernunft“ durchwebten und bestimmten Natur.

Sein Geist und sein Verstand geben dem Mensch die Möglichkeit, an diesem göttlichen Logos teilzuhaben und die „eudaimonia“, das seelische Glück, zu erreichen.

Dafür notwendige Voraussetzung ist, ein tugendhaftes, vernünftiges Leben zu führen, sich nicht von Begierden verleiten zu lassen. Den Schicksalsschlägen des Lebens solle man mit „stoischer Gelassenheit“ begegnen.

Ein Ideal in diesem Zusammenhang war das Erreichen der „Apatheia“, der „Abwesenheit von Affekten“. Durch die Kontrolle von Schmerz und Lust, durch die emotionale Selbstbeherrschung (Kontrolle der Affekte), werde der Stoiker die Apatheia und damit die Weisheit erlangen. Apatheia ist keinesfalls mit dem heutigen Begriff und Verständnis von Apathie gleichzusetzen.

Die Stoa lehrte aber auch, dass ein Mensch, der unheilbar krank oder schwer verletzt ist, kein vernunftmäßiges Leben mehr führen könne. Dann gebiete es der Logos, das Leben freiwillig zu beenden.

Zenon von Kition ging mit bestem Beispiel voran. Laut Überlieferung soll er sich selbst stranguliert haben, nachdem er gestürzt war und sich ein Bein gebrochen hatte.

• Lucius Annaeus Seneca

Die altstoische Schule des antiken Griechenlands hatte noch 300 Jahre später im kaiserlichen Rom zahlreiche Anhänger, die die philosophischen Gedanken der Stoa weiterentwickelten.

Einer der großen Meister der jüngeren Stoa war der Philosoph, Dramatiker und Staatsmann Lucius Annaeus Seneca (1 n.Chr.–65 n.Chr.). Schon zu seinen Lebzeiten war er ein Superstar, einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit. Bekannt ist er bis heute auch als Lehrer und Erzieher von Kaiser Nero. Ein Wirken, das wohl nicht von Erfolg gekrönt war. Der Tyrann Nero bezichtigte seinen alten Lehrer, an einem gescheiterten Mordkomplott gegen ihn beteiligt gewesen zu sein, und befahl ihm, sich selbst zu töten. Mit stoischer Gelassenheit und ohne zu zögern kam Seneca dem Befehl nach.

Seine Sicht auf das Leben und die Selbsttötung beschreibt er sehr deutlich und ausführlich in seinem 70. Brief an seinen Freund Lucilius.

„Über den freiwilligen Tod