Umschlag

Lena Avanzini lebt als Musikerin und Autorin in der Nähe von Innsbruck. Sie liest und schreibt gern spannende Geschichten. »Tod in Innsbruck« ist ihr erster Kriminalroman.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Heribert Stragholz
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-152-7
Originalausgabe

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All meinen wunderbaren Klavierlehrern gewidmet,
die mit Sergej Sofronsky nichts gemeinsam haben

Oh Mensch! Gieb Acht!

Was spricht die tiefe Mitternacht?

»Ich schlief, ich schlief –,

Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –

Die Welt ist tief,

Und tiefer als der Tag gedacht.

Tief ist ihr Weh –,

Lust – tiefer noch als Herzeleid:

Weh spricht: Vergeh!

Doch alle Lust will Ewigkeit –,

– will tiefe, tiefe Ewigkeit!«

Friedrich Nietzsche,
»Also sprach Zarathustra«

PROLOG

Innsbruck, Mai 2010

Wie das Maul eines Ungeheuers gähnt die Kellertreppe, jede Stufe ein Zahn, und am Ende lauert schwarz der Schlund, der mich verschlingen wird. Obwohl meine Füße mit jedem Schritt schwerer werden, treibt mich das Klappern von Mutters Absätzen nach unten.

Noch fünf Stufen, die Feuchtigkeit leckt an meinen Fersen. Noch vier, es riecht nach schrumpeligen Äpfeln.

Noch drei, und alle Härchen an meinen Armen sträuben sich. Die Steinstufen wölben sich meinen nackten Zehen entgegen, als wollten sie mir ein Bein stellen.

Über die vorletzte Stufe stolpere ich; knalle mit der Schulter gegen die Holztür, in die der Moder grüngraue Flecke gebissen hat.

Mutter hat mich fast eingeholt. Sie schlägt mit dem Leintuch nach mir. Rasch drücke ich die rostige Klinke hinunter. Die Tür öffnet sich quietschend. Ich taumle in den dunklen Flur und tippe auf den Lichtschalter. Eine Glühbirne flackert auf. Sie baumelt nackt an einem Kabel wie eine vertrocknete Frucht und taucht den Korridor in trübes Gelb.

Mutters Hiebe treiben mich in die Waschküche. Hier hat Vater das Fenster mit Brettern vernagelt, um den Raum in eine Dunkelkammer zu verwandeln. Irgendwann ist er ausgezogen, die Bretter sind geblieben. Auch in der Waschküche gibt es eine Lampe, doch Mutter schraubt die Glühbirne heraus.

»Was wäre das für eine Strafe, mit Licht?«

Mein Weinen lässt ihre Stimme noch eisiger klingen. »Im Dunkeln denkt es sich besser. Also überleg dir, ob es angebracht ist, mit sechs Jahren noch ins Bett zu pissen.« Das Leintuch mit dem Fleck, dem Zeichen meiner Schande, lässt sie auf den Boden klatschen.

Schon fällt die Tür hinter ihr ins Schloss. Mit metallischem Rasseln dreht sich der Schlüssel. Dunkelheit umhüllt mich wie eine Decke aus schwarzem Filz, legt sich um meinen Hals, bis ich kaum noch Luft bekomme. Ich beginne zu zählen.

Eins. Auf allen vieren krieche ich über den Steinboden, taste mich zur Wand.

Vier. Klümpchen wie von Erde zerbröseln unter meinen Händen und verströmen einen scharfen Geruch.

Rattendreck.

Sieben. Ich kauere mich mit dem Rücken gegen die Mauer, krümme meine Zehen und frage mich, wie lange es dauern wird, bis die Ratten mich anknabbern. Ob sie sich bereits angeschlichen haben?

Fünfzehn. Endlich hebt sich die Filzdecke von meinen Augen. Ich erkenne einen hellen Rand oberhalb des Fensters und einen unter der Tür. Das Schwarz weicht einem Grau, vor dem sich dunkle Schemen abzeichnen. Rechts von mir sehe ich die Umrisse des alten Schranks, der früher in Vaters Zimmer gestanden hat. Daneben kauert die Waschmaschine. Der Schatten auf halber Höhe ist das Waschbecken.

Plötzlich ein Luftzug. Eine Haarsträhne fällt mir ins Gesicht. Aus dem Augenwinkel nehme ich ein Huschen wahr. Die Ratten fliehen, fliehen vor ihnen.

Die Kellerwesen sind da. Sie holen die faulen Kinder; die unfolgsamen; die Bettnässer.

Wie auf einen geheimen Wink setzen ihre Stimmen ein. Sie raunen, flüstern, kichern und stöhnen. Sie fließen die Wand entlang. Im Waschbecken ballen sie sich zusammen und tropfen aus dem Hahn.

»Sbotsch!«

Je angestrengter ich hinhöre, umso lauter und schneller tropfen sie.

»Sbotsch! Sbotsch!«

Ich drücke meinen Rücken gegen die Kellerwand.

»Sbotsch! Sbatsch! Sbjatsch!«

Das ist kein Tropfen, sondern ein Schmatzen. Ein Schmatzen von einem gierigen Mund, der sich an mir festsaugen und mich ausschlürfen wird wie ein rohes Ei.

Das Schmatzen stammt aus dem Maul der Schattenkröte.

Sie hockt im Waschbecken und späht herüber; lauert auf eine falsche Bewegung von mir.

Doch ich bewege mich nicht. Auf keinen Fall darf ich mich bewegen. Obwohl mein Körper vor Kälte und vor Angst zittert, befehle ich ihm, zu erstarren. Ich spüre, wie mein Rücken in die Kellerwand hineinwächst, wie ich mit der Wand verschmelze, ein Teil von ihr werde; ein Stück kalter, toter Stein. Sogar der Kloß, den die Angst mir in den Hals geschoben hat, versteinert.

Dr. Czerny lässt die Blätter sinken und nimmt seine Brille ab. »Gut. Sehr gut. Sie haben Ihren Albtraum auf Papier gebannt. Wie haben Sie sich dabei gefühlt? Ist es Ihnen schwergefallen?« Er nickt mir zu, väterlich, als wäre ich immer noch das Kind aus meinen Aufzeichnungen.

Ich antworte nicht. Mein Blick gleitet über seinen Kopf hinweg zum Fenster, das einen Ausschnitt der Nordkette preisgibt.

Über Nacht hat es in den Bergen geschneit. Die Brandjochspitze ist bis zu den Flanken in Weiß getaucht, ein Weiß, das einen harten Kontrast zum wolkenlosen Blau des Frühlingshimmels bildet. Auch die Felsnadel der Frau Hitt hat eine weiße Haube bekommen. Sie gleicht nicht mehr der hartherzigen Riesin aus der Sage, sondern eher dem Zwerg Nase.

»Natürlich ist es das«, antwortet Dr. Czerny sich selbst. »Aber es ist notwendig. Ich bin überzeugt davon, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem wiederkehrenden Traum und Ihrer Nyktophobie gibt.«

Mehrfach streicht er über seinen grauen Spitzbart. Dann setzt er die Brille auf, hinter der die Augen unwirklich groß und verschwommen erscheinen. »Ihre Aufgabe bis zu unserer nächsten Sitzung wird eine Phantasiereise sein. Begeben Sie sich im Geiste wieder in den Keller Ihres Albtraums.« Er pausiert, hebt den Zeigefinger und lässt ihn in der Luft kreisen. »Doch diesmal nehmen Sie einen Helfer mit, einen mächtigen Verbündeten, der Sie beschützt. Ich denke da an einen Schutzengel. Oder an eine Art Superman, wenn Ihnen die Vorstellung eines Engels zu altmodisch erscheint.« Er erhebt sich und reicht mir die Hand zum Abschied. »Schreiben Sie auf, wer Ihr Helfer ist und wie Sie sich in seiner Gegenwart fühlen.«

Ich wende mich zur Tür.

»Wir verwandeln Ihren schlimmsten Albtraum in ein wunderbares Märchen. Dann werden Sie die Angst vor der Dunkelheit abstreifen wie ein lästiges Insekt.« Begeisterung schwingt in seiner Stimme, Begeisterung über seine eigene Genialität.

Die Tür fällt hinter mir ins Schloss.

Ich lache auf.

Wie ein lästiges Insekt. Dieser alte Scharlatan. Was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass mein Albtraum kein Traum ist, sondern eine Erinnerung?

EINS

München, Juni 2010

Sein Gesicht glänzte schweißnass. Grinsend schlenderte der Glatzkopf auf Vera zu. Er war nicht viel größer als sie, aber dreimal so breit. Schultern wie Schwarzeneggers Sohn. Der Stoff des T-Shirts spannte sich über seinem Bizeps.

Das Muskelspiel beachtete Vera nicht. Ihre Augen fixierten seine Hand. Die Hand, die das Messer hielt.

Vera hob die Arme, als versuchte sie, den Angreifer hinter einen unsichtbaren Zaun zu bannen.

Unbeirrt rückte er vor. Zwei Schritte.

Sie wich zurück. Zwei Schritte.

Sie wollte schlucken, aber ihre Zunge klebte wie eine verdorrte Raupe am Gaumen. Alles, was ihr Körper an Feuchtigkeit zu bieten hatte, sammelte sich auf der Stirn. Ein Schweißtropfen löste sich, kullerte über die Schläfe und kitzelte sie am Ohr.

Das Grinsen des Glatzkopfs wurde breiter, gab den Blick auf eine Zahnlücke frei. Spielerisch drehte er die Waffe in seiner Hand.

Dann ging alles blitzschnell.

Er sprang vor. Das Messer schoss auf Vera zu.

Ihr Unterarm prallte auf den des Angreifers.

Vera drückte dagegen; mit der Kraft ihrer aufgestauten Wut versuchte sie, seinen Messerarm wegzuschieben.

Natürlich war er stärker. Wie ein Stück Schaumgummi bog er ihren Ellbogen zur Seite.

Das Messer fand freie Bahn.

Er zog es über ihre Kehle, als pflügte er durch Butter.

»Scheiße!« Vera stampfte auf. Wut leckte über ihre Wangen und ließ die Ohrläppchen pulsieren.

Im Spiegel sah sie den dicken roten Strich, der ihren Hals zierte. Es war der fünfte.

»Baby, du bist tot! Schaut nicht gut aus, ich hab dir schon wieder die Kehle durchgeschnitten. Kann es sein, dass du zu langsam bist?«, spottete der Glatzkopf.

Sie hob die Brauen. »Das muss an deinem Wahnsinnscharme liegen. Der lähmt mich.«

Endlich blätterte sein Dauergrinsen ab.

Seit einer halben Stunde trainierte Vera die Abwehr eines Messerangriffs mit Korbinian. Der Anblick seiner feixenden Visage bescherte ihr eine juckende Kopfhaut. Doch es wollte ihr nicht gelingen, ihn zu entwaffnen. Entweder sie reagierte zu spät oder rutschte an seinen schweißnassen Unterarmen ab. Wieder und wieder hatte er es geschafft, ihr mit der Messerattrappe, einem roten Filzstift, einen Strich zu verpassen.

Sifu Jochen legte seine schmale Hand auf Veras Schulter. »So geht das nicht. Nicht mit Kraft. Ein Muskelpaket wie ihn kannst du nicht wegdrücken. Er ist stärker als du, also gib nach.« Der Wing-Tsun-Trainer zwinkerte. Unzählige Fältchen entsprangen aus seinen Augenwinkeln und furchten die wettergegerbte Haut bis zu den Schläfen. »Dann leih dir seine Kraft aus und verwende sie gegen ihn.«

Vera schluckte.

»Und schau nicht auf das Messer, schau in seine Augen.«

Der Sifu strich sich eine grau melierte Locke hinters Ohr. »Los, Korbi, greif Vera noch einmal an.«

Korbinian zückte den roten Filzstift und stellte sich in Position. Er lächelte siegessicher.

Angestrengt starrte Vera in seine wasserhellen Augen. Als sie sah, dass sich die Pupillen zusammenzogen, schoss ihre Linke vor. Sie blockte Korbinians Arm ab, während sie ihren Oberkörper zur Seite drehte, um seinem Vorwärtsdrall auszuweichen.

Er verlor das Gleichgewicht und taumelte an Vera vorbei ins Leere. Wie von einer unsichtbaren Feder gespannt streckte sich ihre Rechte durch. Die Handfläche schlug gegen sein Schulterblatt.

Der Glatzkopf fiel vornüber und landete auf seinen Knien. Er stöhnte auf. Der Filzstift entglitt ihm und rollte klappernd über den Parkettboden.

»Prima! Genau so, dann kann dir keiner was.« Sifu Jochen reckte den Daumen hoch. »Das war beinahe prüfungsreif.«

Hinter ihrem Lächeln fletschte Vera die Zähne. Eines nahm sie sich vor: Sollte tatsächlich jemand mit einem Messer auf sie losgehen, mit einem richtigen Messer, dann würde sie rennen. So schnell und so weit weg wie möglich.

Die Nachmittagssonne fiel durch die Ritzen der Rollläden, und winzige Staubpartikel tanzten in ihren Strahlen.

Sifu Jochen klatschte in die Hände. »Genug vom Zweikampf! Am Ende unserer Trainingseinheit üben wir alle noch die Formen. Stellt euch auf!«

In drei Reihen gruppierten sich die Kampfkunstschüler vor der Spiegelwand, die Anfänger vorn, die Fortgeschrittenen hinten. Jeder für sich wiederholten sie eine Abfolge von stereotypen Armbewegungen und Schrittkombinationen. Es sah wie eine bizarre Pantomime aus. Obwohl etwa zwanzig Menschen angestrengt trainierten, hörte man nichts als das leise Schleifen der Ledersohlen über den Parkettboden, ein Geräusch, das Vera liebte.

Aller Augen waren auf den Spiegel gerichtet, der gnadenlos jede Fehlhaltung aufzeigte. Die Gesichter sahen angespannt aus. Nur der chinesische Großmeister lächelte hohlwangig und gelassen aus seinem Bilderrahmen, als würde ihn die Verbissenheit seiner westlichen Schüler amüsieren.

Sifu Jochen ging durch die Reihen, korrigierte hier eine Handhaltung, dort einen Schritt.

Vera mochte das Meditative dieser Bewegungsmuster, seit sie mit Wing Tsun begonnen hatte. Damals war sie sechzehn gewesen. Ein schlaksiger, unsportlicher Teenager mit schlechter Haltung. Durch die chinesische Kampfkunst hatte sie ein gesundes Selbstbewusstsein und ein gutes Gefühl für ihren Körper entwickelt, aber auch das Bedürfnis, ihn zu kontrollieren.

Normalerweise gelang es ihr, abzuschalten und sich ganz auf die automatisierten Bewegungsabläufe einzulassen. Nur heute war sie unkonzentriert. Ihre Gedanken kreisten um das Physiologiepraktikum und den alten Pfeifer, dieses Arschgesicht. Er hatte es tatsächlich geschafft, eine ihrer Kolleginnen mit gemeinen Fragen und sexistischen Bemerkungen derart in die Enge zu treiben, dass sie in Tränen ausgebrochen war. Daraufhin lachte er die Studentin aus. »Als Sie unlängst mit Ihrem Freund geknutscht haben, waren Sie nicht so zimperlich«, sagte er und starrte in den Ausschnitt der üppigen Blondine.

»Nur kein Neid, Herr Professor«, rief Vera dazwischen. Der ganze Hörsaal hatte gelacht. Pfeifer hatte sie mit einem säuerlichen Lächeln gemustert, als müsste er sich ihr Gesicht einprägen. Für die nächste Prüfung. Und die war schon in zwei Wochen.

Danach hatte sie ihren Ärger durch den Kauf von aberwitzig teuren, quietschgrünen High Heels beschwichtigen müssen. Jetzt besaß sie einen Feind und ein Paar Schuhe mehr. Und sie war endgültig pleite.

Sifu Jochens Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »So, Leute, Schluss für heute.«

Vera genoss das Prickeln des Wasserstrahls auf der Haut. Sie schrubbte ihren Hals mit Seife und einer Bürste, bis die roten Striche verblassten. Ganz ließen sie sich nicht entfernen.

Als sie fertig angezogen war und auf ihren neuen Schuhen ein wenig schwankend das Trainingslokal verließ, waren die anderen längst gegangen.

Im Korridor wartete der Sifu auf sie. Er wedelte mit einem Zahlschein. »Du hast deinen Monatsbeitrag noch nicht bezahlt.«

Vera erschrak. »Oh Mist, das habe ich diesmal total vergessen.«

»Diesmal?« Er lachte. »Du vergisst es fast immer. Mit einer Einzugsermächtigung würde das nicht passieren.«

»Stimmt. Aber im Moment würde die nichts nützen. Mein Konto ist überzogen, und ich …«

Sifu Jochen runzelte die Stirn. »Vera, ich bin nicht nur dein Wing-Tsun-Trainer, sondern auch ein guter Freund. Und ein geduldiger Mensch. Aber du solltest das nicht überstrapazieren.«

»Es tut mir leid. Ich war leichtfertig und habe …«

Sein Blick wanderte nach unten und blieb an ihren Füßen haften. »Du hast dir schon wieder Schuhe gekauft. Bald stellst du Imelda Marcos in den Schatten.« Er grinste. Einen Lidschlag später wurde er wieder ernst. »Bei Geld hört die Freundschaft auf.«

»Schon klar. Ich werde den Betrag überweisen. Bitte gib mir noch drei Wochen.«

Das Handy vibrierte in ihrer Hosentasche. Sie zog es heraus.

Mutter. Immer im falschen Moment.

Ungeduldig drückte sie den Anruf weg und steckte das Handy wieder ein.

»Kannst du nicht wenigstens einen Teil zahlen?«

»Nein. Es war Blödsinn, Schuhe zu kaufen. Das sehe ich ein. Aber bitte sei jetzt nicht kleinlich. Du wirst nicht verhungern, wenn ich erst in drei Wochen bezahle.«

»Es geht ums Prinzip, weißt du? Gleiches Recht für alle. Wenn ich drei Wochen warten muss, muss ich dir Verzugszinsen und eine Mahngebühr berechnen.«

»Was? Das ist ja nicht dein Ernst!« Wut kochte in ihr hoch. »Das ist Wucher!« Sie schnaubte. Niemals hätte sie Jochen für so geldgierig gehalten. »Es gibt genau zwei Möglichkeiten. Entweder unsere Freundschaft ist dir eine Gnadenfrist von drei Wochen wert, zinsfrei, oder ich kündige!«

»Unsere Freundschaft oder deine Mitgliedschaft im Wing-Tsun-Verband?«

»Beides«, zischte sie. »Und zwar fristlos.«

Jochen bog den Kopf zurück. Er lachte, bis seine Augen tränten. »Entschuldige, Vera, aber du bist einfach herrlich, wenn du wütend bist. Natürlich kannst du in drei Wochen zahlen.« Er zwinkerte. »Ich hab doch nur Spaß gemacht. Hast du wirklich geglaubt, dass ich dir Zinsen …?«

»Schöner Spaß.« Vera biss sich auf die Lippen. Dann musste sie selbst lachen.

Jochen zerknüllte den Zahlschein und warf ihn in hohem Bogen in den Papierkorb.

»Danke.« Wieder ging ihr Handy los. Wieder war Mutter die Anruferin.

Jetzt nicht. Vera drückte auf den roten Knopf.

»Übrigens … Es gibt tolle Neuigkeiten. Halt dich fest.«

Sie hob die Brauen. »In Sachen Band? Hast du einen Gig klargemacht?«

»Und was für einen.« Jochens Augen strahlten. Mehr als seinen Beruf als Kampfkunsttrainer liebte er den Jazz. Vor etlichen Jahren hatte er »The Old Papas’ Jazzquintet« gegründet. Jochen war der Bassist der Truppe und ihr Manager. Obwohl die alten Herren alle die fünfzig überschritten hatten und nur zwei von ihnen Berufsmusiker waren, hatten sie ein professionelles Niveau und überregionale Bekanntheit erreicht. »Den Gig der Gigs«, sagte Jochen und verschränkte die Arme.

»Wow, ich freue mich für euch. Wo spielt ihr denn?«

»Was heißt ihr? Ich hoffe, du bist mit von der Partie.« Er grinste Vera an. Seit sie ihn auf seiner Geburtstagsparty mit einigen Jazzstandards überrascht hatte, engagierte er sie immer wieder für Auftritte mit seinen »Papas«. Bisher hatte es sich allerdings um schlecht bezahlte Gigs in kleinen Jazzcafés gehandelt.

»Jetzt mach’s nicht so spannend. Um welchen Schuppen geht es diesmal?«

»Kein Schuppen. Eine Alm. Die Steinalm in Saalfelden.«

Vera schnappte nach Luft. »Saalfelden? Du meinst jetzt aber nicht das …« Der Gedanke war so kühn, dass sie ihn nicht aussprechen konnte.

»Doch.« Jochens Blick wurde feierlich. »Das Saalfeldener Jazzfestival ruft.«

Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Das ist wieder einer deiner Witze.«

»Keinesfalls. Ich hoffe, du hast am 28. August noch nichts anderes vor. Es gibt gute Kohle. Da ist bestimmt das eine oder andere Paar Schuhe drin. Und ein Monatsbeitrag für Wing Tsun.« Er zwinkerte.

»Mensch! Das ist ja der Hammer! Wie hast du das geschafft?« Sie umarmte Jochen, der sie bei den Schultern packte und im Kreis herumwirbelte. Vera hatte Mühe, auf ihren High Heels das Gleichgewicht zu halten.

»Wir springen ein. Eine österreichische Band musste wegen einer Terminkollision absagen. Bist du dabei?«

»Glaubst du, ich lasse mir Saalfelden entgehen? Ich bin doch nicht bescheuert!« In diesem Augenblick vibrierte ihr Handy zum dritten Mal. Mutter.

Merkwürdig. Sie ist doch sonst nicht so aufdringlich.

Diesmal nahm Vera den Anruf an.

»Mama?«

Es knackte. Jemand keuchte.

»Hallo?«

Keine Antwort, nur ein Knistern.

»Was soll das?«, fragte sie lauter als beabsichtigt. »Melde dich endlich!«

Als Vera ein Schluchzen vernahm, blätterte die Gereiztheit von ihr ab wie eine spröde Lackschicht. Ihr Herz begann zu rasen. Etwas war passiert. Etwas Schlimmes.

»Mama, bitte! Was ist los?«

Das Schluchzen brach ab. Mutters Stimme klang, als käme sie vom anderen Ende der Welt. »Isabel ist tot.«

* * *

Innsbruck

Das Motorengeräusch lullte Vera ein. Sie saß zusammengesunken auf dem Beifahrersitz, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Isa. Tot. Die beiden Worte rotierten in ihrem Hirn.

Herzstillstand, hatte Mutter gesagt. Isa sei in der Innsbrucker Klinik an einem Herzstillstand gestorben. Unmöglich. Ihre kleine Schwester war immer kerngesund gewesen. Es musste sich um einen Irrtum handeln. Vielleicht hatte Mutter den Anruf aus der Klinik falsch verstanden? Und Isa hatte nur einen harmlosen Unfall erlitten, eine Gehirnerschütterung vielleicht? Vera klammerte sich an diesen Hoffnungsfunken und schalt sich gleichzeitig wegen der Absurdität dieses Gedankens. Was gab es an einer Todesmeldung falsch zu verstehen?

Jochen saß still da, beide Hände am Lenkrad und die Augen stur auf die Fahrbahn gerichtet. Seine besorgten Seitenblicke spürte Vera mehr, als dass sie sie sah.

»Danke, dass du mich hinbringst.« Und sie hatte vor Kurzem an seiner Freundschaft gezweifelt!

»Das ist doch selbstverständlich. Nicht der Rede wert. Ich wollte ohnehin bald nach Innsbruck fahren, alte Bekannte besuchen, mal wieder ins ›Treibhaus‹ gehen. Oder ins ›Blue Note‹ …« Er drehte ihr den Kopf zu. »Es tut mir so leid, Vera.« Sein Blick wurde glasig. Dann wandte er sich abrupt ab und starrte auf die Fahrbahn. Die Tachonadel kroch auf zweihundert Stundenkilometer. Während der restlichen Fahrt schwieg Jochen.

Vera rechnete es ihm hoch an, dass er ihr kein Gespräch aufzwang und nicht nach tröstenden Floskeln suchte, die nur falsch geklungen hätten.

Sie durfte sich nichts vormachen. Isa war tot, Irrtum ausgeschlossen. Vera horchte in sich hinein. Sie fühlte nichts. Nichts außer Leere und einer unbestimmten Übelkeit, die sich als pelziger Belag auf ihrer Zunge breitmachte.

Sie musste sich zusammennehmen. Funktionieren. Herausfinden, was wirklich geschehen war.

»Wo sind wir eigentlich?«, fragte sie und setzte sich auf.

»Vor Kurzem an Hall vorbeigefahren. Dauert nicht mehr lange.«

Vera sah durch die Windschutzscheibe. Die Nordkette leuchtete im warmen Spätnachmittagslicht.

Was für ein majestätischer Anblick, hatte sie gedacht, als sie zum ersten Mal nach Innsbruck gefahren war, um Isa zu besuchen. Damals war sie vor Ehrfurcht erstarrt. Heute wirkte der schroffe Gebirgszug kitschig. Ein letzter Schneerest in der Seegrube leuchtete rosa wie gefärbter Zuckerguss. Die passende Kulisse für ein drittklassiges Stück der Bauernbühne. Vera war froh, als sich eine hohe Lärmschutzwand vor die Postkartenidylle schob.

Sie verließen die Autobahn bei Innsbruck-West und reihten sich kurz darauf in den zähflüssigen Siebzehn-Uhr-Verkehr ein. Meter für Meter quälte sich der Toyota den Innrain entlang.

Dann bog Jochen in die Anichstraße ein und blieb auf einem Taxistandplatz stehen. Ein Hupkonzert war die Folge.

»Du hast mir sehr geholfen. Danke.«

»Ruf an, wenn du was brauchst.«

Sie stieg aus und atmete tief durch.

»Landeskrankenhaus Innsbruck Universitätskliniken«, las sie über der Einfahrt, die von einer Schranke versperrt wurde. Links davon erhob sich ein moderner Bau.

»MEDIZIN«, stand in grünen Großbuchstaben auf der Plexiglasfront, überlagert vom blutroten Schriftzug »HEILKUNST«. Das I und das L wurden von der Schiebetür geschluckt, als sie sich öffnete und einen jungen Mann im Rollstuhl ausspuckte.

Die Frau in der Portierloge schob das Kreuzworträtsel zur Seite und hackte auf die Tastatur ein. »Tut mir leid. Eine Isabel Meyring habe ich nicht im Computer«, sagte sie.

»Sie ist …«, Vera schluckte, »… heute gestorben.« Es kam ihr wie Verrat vor, dieses endgültige Wort auszusprechen.

Die Augen der Portiersfrau verdunkelten sich um einen Hauch. Sie telefonierte. Vera verstand kein Wort, obwohl sie bayerischen Dialekt gewohnt war. Aber die Bayern sprachen breit und weich. Tirolerisch klang dagegen, als würde man während des Sprechens mit der Handkante auf den Kehlkopf schlagen.

»Sie müssen in die Chirurgie«, sagte die Frau. »Das ist der dunkle Turm mit dem Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach.« Sie beugte sich wieder über die Rätselzeitschrift. »Die Verstorbene liegt auf 02.«

Das Zimmer war klein. Nackte Wände mit nichts als einem Kruzifix. Ein Bett, das unwahrscheinlich groß aussah, im Verhältnis zu dem schmächtigen Körper, den es beherbergte. Ein Tisch mit einer brennenden Kerze. Und dieser medizinische Geruch, der Heilung versprach, aber einen bitteren Nachgeschmack hinterließ, nach Siechtum, Tod.

»Setzen Sie sich, Frau Meyring, nehmen Sie sich Zeit. Die meisten Menschen finden Trost hier«, raunte die Krankenschwester ihr zu. Sie schob Vera einen Stuhl hin und legte ihr die Hand auf die Schulter. Eine kräftige, gerötete Hand. Dann ging sie hinaus, ließ Vera allein in dieser Abstellkammer, die Verabschiedungszimmer hieß.

Stille stand wie ein Vorwurf im Raum.

Vera trat näher an das Bett heran. Der Tod hatte seine wächserne Maske über Isas Antlitz gestülpt und ihre Haut mit einem Gelbstich belegt, der die Schar der Sommersprossen überdeckte, als hätte es sie nie gegeben. Auch die rote Lockenmähne hatte er gebändigt, was bisher niemandem gelungen war. Der brennende Busch war zu Asche geworden, schlaff und leblos lagen die Strähnen auf dem Kissen.

Warum? Warum ausgerechnet Isa? Sie war doch erst sechzehn!

Veras Blick streifte das hölzerne Kreuz an der Wand. Sie fragte sich, wie Menschen an einen Gott glauben konnten, der offenbar keinerlei Interesse für seine Schöpfung aufbrachte. Der es zuließ, dass Kriegsverbrecher und Diktatoren in hohem Alter sanft entschliefen, während Kinder verhungerten, von Plastiksprengstoff zerrissen wurden oder an Aids und Krebs krepierten. Als sie klein war, hatte sie sich Gott wie einen schlohweißen Dirigenten vorgestellt, der weise und umsichtig das Zusammenspiel der Menschheit leitete. Bis sie erkannt hatte, dass er bisweilen mit seinem Stab auf ahnungslose Musiker dieses unfreiwilligen Orchesters zeigte: Gustav Müller – Lungenkrebs. Isabel Meyring – Herzstillstand.

Von so einem Gott wollte Vera nichts wissen. Die einzige Entschuldigung, die es für ihn gab, war seine Nichtexistenz.

Energisch straffte sie ihren Rücken.

Sie glaubte weder an göttliche Fügung noch an schicksalhafte Vorbestimmung. Menschen trafen Entscheidungen, Menschen machten Fehler. Und wenn eine vollkommen gesunde junge Frau plötzlich starb, musste jemand einen Fehler gemacht haben.

Sie legte ihre Hand an Isas kühle Wange. »Ich werde den Schuldigen finden, das verspreche ich dir.«

Ruckartig wandte sie sich ab und stürzte hinaus.

Die Krankenschwester, die im Korridor auf sie gewartet hatte, zuckte zusammen. Dann drückte sie Vera wortlos einen Plastikbeutel in die Hand. Er enthielt Isas Badeanzug, ein Paar Flipflops, ein Handtuch, einen Schließfachschlüssel.

Ist das wirklich alles? Ein feuchter Händedruck und ihre Sachen in Plastik verschweißt?

»Wer hat meine Schwester reanimiert? Wer ist verantwortlich?«, fragte Vera mit einem Zischen in der Stimme.

Die Krankenschwester wich einen Schritt zurück. »Dr. Eberharter, glaube ich. Er ist stellvertretender Leiter der traumatologischen Intensivstation. Ein sehr guter Anästhesist und ab und zu als Notarzt im Einsatz.«

»Wo finde ich ihn?«

»Fahren Sie mit dem Patientenaufzug in den zweiten Stock und fragen Sie eine der Schwestern nach ihm.«

Vera klemmte den Plastikbeutel unter den Arm und machte sich auf den Weg. Ihr Zorn musste ein Ventil finden, in die Gehörgänge eines Verantwortlichen abgelassen werden, ehe sie platzte. Sie brauchte Antworten. Und sie würde keine Ruhe geben, bis sie alle Auskünfte erhalten hatte.

* * *

»Wie bitte?« Das Klappern von Absätzen hatte Robert abgelenkt, und so war ihm Pauls Frage entgangen. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass jemand den Korridor betreten hatte und sich einer Schwester zuwandte, die auf Paul und ihn zeigte. Dann rollte die dunkle Gestalt heran wie eine Flutwelle. Ihrem schnörkellosen Gang zufolge hätte Robert sie für einen Mann gehalten. Doch die Schuhe – giftgrüne High Heels – überzeugten ihn vom Gegenteil. Es war eine Frau, hochgewachsen, mit zerzausten Haaren, als wäre sie gegen den Wind gerannt.

Paul wedelte mit einem Reiseprospekt vor seiner Nase. Ein Sandstrand, Palmen, knallblaues Meer, sonnengebräunte Badende. »Was du von Teneriffa hältst, habe ich ge…« Er schrak hoch, als die Frau direkt vor ihm stehen blieb. Der Prospekt fiel zu Boden.

Sie bückte sich, hob ihn auf und behielt ihn in ihren Händen. Hände, die eher nach kräftigem Zupacken aussahen als nach Häkeln oder Harfenspiel.

Abschätzend musterte sie Paul, ehe sie die eisblauen Augen auf Robert heftete.

Sein Herz setzte einen Schlag aus, als sie zu sprechen begann. Einmal, weil sie sich als Vera Meyring vorstellte und ihm klar wurde, dass sie die Schwester des verstorbenen Mädchens sein musste, von dem Paul ihm erzählt hatte. Hauptsächlich aber wegen ihrer Stimme, die tief war wie ein lichtloser Schacht und rau, als wären ihre Stimmbänder aus Glasscherben zusammengeklebt.

Robert hob abwehrend die Hände. »Sie verwechseln mich. Mein Name ist Dr. Nemetz. Wenn Sie mit Dr. Eberharter sprechen wollen, wenden Sie sich bitte an den Herrn neben mir.« Er nahm ihr sachte die Reisebroschüre aus der Hand und steckte sie seinem Freund zu. Paul erblasste, als Vera Meyrings Blick zu ihm schwenkte. Dann schien er sich zu fassen und führte sie zum Ausgang.

Robert spürte Erleichterung, dass nicht er das Ziel ihres sprühenden Zorns war, aber auch einen Stich Enttäuschung, ein Gefühl, das er nicht einordnen konnte.

Während sie sich entfernte, vernahm er noch einmal ihre Stimme. Was sie sagte, verstand er nicht. Er wusste nur, dass es nach Blues und Gänsehaut klang. Und nach Gefahr im Verzug.

* * *

Ihre Hände waren eiskalt. Sie ballte sie zu Fäusten und grub die Fingernägel in die Handflächen.

»Was haben Sie mit meiner Schwester gemacht?«, fragte Vera zum zweiten Mal und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme bebte.

Dr. Eberharter starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, als käme sie von einem fremden Planeten. Er schwieg, Vera kam es wie eine Ewigkeit vor.

»Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen, Frau Meyring«, sagte er endlich mit ruhiger, beinahe tonloser Stimme. Dann führte er Vera in das kleine Lokal im Erdgeschoss. »Café-Pizzeria Chirurgie«. Er forderte sie auf, an einem Tisch in einer ruhigen Ecke Platz zu nehmen. Zögernd setzte sie sich. Sie wollte nichts trinken, aber der Doktor winkte dem Kellner und bestellte zwei Tassen Cappuccino.

»Was ist passiert?«, fragte Vera. »Isabel war kerngesund.«

»Ihre Schwester hatte einen Herzstillstand. Vorübergehend konnten wir sie zurückholen, doch letztendlich haben wir sie verloren. Es tut mir sehr leid.« Dr. Eberharter schlug die Augen nieder.

Vera ertappte sich dabei, seine überlangen Wimpern attraktiv zu finden, und ärgerte sich über den Gedanken. »Wie lange haben Sie meine Schwester reanimiert? Welche Maßnahmen haben Sie gesetzt?« Ihre Stimme durchschnitt die Luft, die zwischen ihnen stand.

»Sind Sie Medizinstudentin?«

»Ich glaube, Sie haben Mist gebaut, Herr Doktor. Und ich werde Sie dafür verklagen.«

Der Kellner, der die Cappuccini brachte, zuckte zusammen, als hätten Veras harsche Worte ihm gegolten.

»Ich verstehe, dass Sie außer sich sind. Wütend. Es ist eine Wut, die einen hilflos macht. Ich würde an Ihrer Stelle genauso reagieren.«

»Erklären Sie mir nicht meine Reaktion. Erklären Sie mir, was geschehen ist.«

»Ihre Schwester war heute Morgen im Amraser Schwimmbad.«

»Da ist sie jeden Mittwoch hingegangen, weil sie später Schule hatte. Sie war eine ausgezeichnete Schwimmerin.«

»Der Bademeister hat beobachtet, dass sie fast eine Stunde lang ohne Unterbrechung ihre Bahnen geschwommen ist. Dann bekam sie plötzlich Probleme und ging unter. Zum Glück hat er es gesehen und sie sofort herausgezogen. Er hat einen Notruf abgesetzt. Während er auf unser Eintreffen wartete, führte er Beatmung und Herzmassage durch.« Die aufs Feinste manikürten Hände des Arztes waren in ständiger Bewegung. »Wir, das heißt zwei Rettungssanitäter und ich, sind zwölf Minuten nach dem Notruf eingetroffen und haben die Wiederbelebung fortgesetzt. Ich konnte zum Übernahmezeitpunkt keinerlei Herzaktivität feststellen. Nach zehnminütiger kardiopulmonaler Reanimation haben wir den Defibrillator eingesetzt und schließlich einen stabilen Herzrhythmus erreicht. Wir haben Ihre Schwester auf die Intensivstation gebracht.« Dr. Eberharter senkte die Stimme. »Doch dann hat sich ihr Zustand leider rapide verschlechtert, und der Kreislauf ist zusammengebrochen. Meine Kollegen und ich haben alles versucht. Über eine Stunde lang haben wir um Ihre Schwester gekämpft und das Menschenmögliche getan.«

»Das glaube ich nicht.«

»Sie können jederzeit das Notarztprotokoll und die ärztlichen Aufzeichnungen aus der Intensivstation einsehen.«

»Ihnen muss ein Fehler unterlaufen sein.« Vera hatte so laut gesprochen, dass einige andere Gäste sich zu ihr umdrehten und sie anstarrten.

»Einen Fehler gab es, aber nicht auf unserer Seite.« Dr. Eberharter fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Ihre Schwester hatte vermutlich einen Herzfehler. Genaueres wird die Obduktion klären.«

»Einen Herzfehler? Aber …«

»Ich vermute, sie litt an einer Mitralstenose. Das ist eine …«

»Eine Verengung im Bereich der Mitralklappe?«, riet Vera.

»Richtig. In seltenen Fällen angeboren, weit häufiger eine Spätfolge eines rheumatischen Fiebers. Wissen Sie, ob Ihre Schwester als Kind so eine Erkrankung durchgemacht hat?«

»Möglich, ja. Ich erinnere mich, dass sie als Dreijährige einmal sehr krank war.«

»Das könnte hinkommen. Die Latenzzeit beträgt zehn bis zwanzig Jahre.«

»Aber sie hat nie über Herzprobleme geklagt.«

»In Fällen geringfügiger Mitralstenosen haben die Patienten oft lebenslang keinerlei Beschwerden.« Der Doktor suchte Veras Blick und sah sie forschend an. Oder war es vorwurfsvoll? »In Kombination mit exzessiver sportlicher Betätigung und Mangelernährung kann jedoch auch ein geringfügiger Klappenfehler zum Tod führen.«

Vera sprang auf. Ihre Kaffeetasse fiel zu Boden und zerbarst in tausend Scherben. Die braune Brühe spritzte auf die Hose des Arztes, auf seine Schuhe. Er tat, als bemerkte er es nicht.

»Mangelernährung? Was wollen Sie damit sagen?«

»Auf den ersten Blick hätte ich bei ihrer Schwester eine beginnende Anorexie diagnostiziert, ohne ihr Gewicht und den BMI zu kennen.«

Hitze flutete Veras Gesicht. »Isa hat abgenommen, ja. Aber sie war nicht magersüchtig!« Vera verdrängte das Bild des schmächtigen Körpers im Verabschiedungszimmer. »Das wäre mir doch …«

»Aufgefallen? Sie hat es wohl unter drei Pulloverschichten verborgen, wie so viele ihrer Leidensgenossinnen. Im Badeanzug war es überdeutlich.« Er räusperte sich. »Und an ihrem Essverhalten hätten Sie es bemerken müssen.«

Es war, als hätte er ein Messer in Veras Magengrube gestoßen. Eine Welle von Übelkeit spülte über sie hinweg. Sie wankte auf den Ausgang zu, riss die Tür auf, stolperte ins Freie. In ihrem Kopf hallte das Echo seiner Worte: »… bemerken müssen … hätten Sie es bemerken müssen … hätten Sie …«

Vera lief los, hinaus aus dem Klinikareal, ohne Ziel, nur weg. Natürlich war ihr aufgefallen, dass Isa abgenommen hatte. Sie hatte ihr noch dazu gratuliert!

Als sie Isa das letzte Mal sah – war das tatsächlich schon vier Monate her? – wirkte sie stiller als sonst. Ernster. Sie wurde eben erwachsen. Auch ihren Babyspeck hatte sie eingebüßt. Vera, die seit eh und je dünn war, ohne zu hungern, hatte sich nichts dabei gedacht.

Mit Riesenschritten ging sie auf dem Radweg innabwärts. Das Klingeln und die Flüche der Radfahrer beachtete sie nicht. Sie hatte immer noch die Worte des Arztes im Ohr: »… hätten Sie es bemerken müssen … hätten Sie …«

Bald brannten ihre Fußsohlen. Sie zog die High Heels aus und rannte barfuß weiter.

Vor drei Wochen hatte sie zuletzt mit Isa telefoniert. Sie war ihr einsilbig vorgekommen.

»Ist alles okay bei dir?«, hatte Vera gefragt.

»Alles im grünen Bereich«, war die Antwort gewesen. Und sie hatte sich allzu gern damit zufriedengegeben.

Ich habe mich zu wenig gekümmert.

Zwischen Hofburg und Kongresshaus gelangte sie zum Rennweg. Vor dem Landestheater parkte ein Fiaker. Das Pferd, ein Apfelschimmel, sah klapprig aus, und ein beunruhigendes Zittern lief über seine Flanken.

»Stadtrundfahrt gefällig?«, fragte der Alte auf dem Kutschbock und lüftete seinen Trachtenhut.

Vera schüttelte den Kopf. Der Gestank nach Pferdepisse ließ sie schneller gehen. Kurz darauf fand sie sich im Hofgarten wieder.

Isa war gern hierhergekommen, sofern Schule, Hausaufgaben und das stundenlange Klavierüben ihr Zeit dazu gelassen hatten.

Die alten Bäume, die die Wege säumten, sahen in der Dämmerung wie hünenhafte Wächter aus einer anderen Welt aus.

Vera setzte sich auf eine Bank zu Füßen einer mächtigen Platane. Die weißfleckige Rinde löste sich in schimmernden Plättchen ab. Sie bog den Kopf zurück, bis sie in die Krone des Baumes sehen konnte. Unter dem dichten Blätterdach fühlte sie sich geborgen. Das Gedankenkarussell kam langsam zum Stillstand. Nur das Schuldgefühl blieb und schnürte ihr die Brust zusammen.

Sie hätte öfter nach Innsbruck fahren müssen. Aber ihre eigenen Probleme, das Studium, der Sport und das Singen waren ihr wichtiger gewesen.

Ich habe Isa im Stich gelassen.

Sie umklammerte den Rand der Bank und presste ihre Fingernägel ins Holz. Sie musste mit Isas Freundinnen sprechen. Vor allem mit Bernie, ihrer Mitbewohnerin im Schülerheim. Vielleicht wusste sie, warum Isa gehungert hatte.

Irgendetwas steckt dahinter, und ich finde es heraus.

Für einen Moment schloss Vera die Lider, sog den Duft nach frisch gemähtem Gras und Rinde ein. Und das schwere Parfum eines blühenden Strauches, den sie nicht kannte. Als sie die Augen wieder aufschlug, jagten dunkle Schemen im Zickzack zwischen den Baumkronen hindurch. Fledermäuse.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass allmählich die Nacht hereinbrach und sie sich noch nicht um einen Schlafplatz gekümmert hatte. Sie rief Jochen an. Er nannte ihr die Adresse seiner Freunde, die im Stadtteil St. Nikolaus eine Altbauwohnung besaßen, und beschrieb ihr den Weg dorthin.

Als Vera aufstand, wurde ihr schwindlig. Sie hatte seit dem Morgen nichts gegessen. Knurrend forderte ihr Magen sein Recht. Auf tote Schwestern nahm er keine Rücksicht.

Am Ausgang des Hofgartens, hinter dem Glashaus, entdeckte sie einen Würstelstand. Sie kaufte sich ein Paar Wiener, die hier Frankfurter hießen. Nach dem ersten Bissen wurde ihr schlecht, weil sie Isas wächsernes Gesicht nicht aus dem Kopf bekam. Sie warf den Pappteller mit den Resten in den Müll. Im Weggehen sah sie, wie sich ein Obdachloser über den Abfalleimer beugte, das angebissene Würstel herausfischte und es sich in den Mund schob.

* * *

Als Vera am nächsten Morgen in der Pradler Straße aus dem Bus stieg, war es kurz nach sieben. Die Nacht hatte sie auf dem Sofa von Jochens Freunden verbracht, geschlafen hatte sie kaum.

Zum Eduard-Wallnöfer-Heim waren es nur ein paar Schritte. Stallgeruch zog in ihre Nase.

Schon erstaunlich, dass es in einem Viertel, das sich mitten in der Stadt befindet, gleich zwei Bauernhöfe gibt. Innsbruck ist eben ein Kuhdorf.

Gerade diese Nähe zur Natur hatte Isa gemocht. Fast zwei Jahre hatte sie hier gewohnt und sich wohlgefühlt – soviel Vera wusste. Zumindest beschwerte sie sich nie, weder über die anderen Heimbewohner noch über die Erzieher, die die Studierzeiten überwachten. Nur auf das Klavier im Musikraum, einen verstimmten Klimperkasten, bei dem die halben Tasten stecken blieben, hatte sie geschimpft und war deshalb zum Üben in die Musikakademie ausgewichen.

Die goldene Aureole des heiligen Franziskus, der die Fassade des Heims zierte, um dort auf ewig den Fischen zu predigen, glänzte in der Morgensonne.

Als Vera eintrat, schlug ihr Kaffeegeruch, vermischt mit Schülermief, entgegen. Eine Traube von Halbwüchsigen drängte lärmend aus dem Speisesaal.

Der Heimleiter, ein schnauzbärtiger Mann um die fünfzig, wusste bereits von Isas Tod. Bestimmt hatte Mutter ihn verständigt.

»Mein Beileid«, murmelte er und wischte sich mit dem Handrücken etwas Eigelb vom Bart. »Jessas Maria, das arme Madl.«

Dass Isa abgenommen hatte, war ihm nicht entgangen. An Magersucht hatte auch er nicht gedacht. »Wie kommt’s nur, dass die jungen Dirndln so auf eine schlanke Figur versessen sind? Schuld sind die Models, diese blutleeren, klapprigen Dinger.«

Isa hat sich nie für Models interessiert, immer nur für Musik, dachte Vera, behielt es aber für sich. Stattdessen bat sie den Heimleiter, ihr Isas Zimmer zu zeigen.

Bernadette saß am Schreibtisch, den Kopf in die Hände gestützt, und starrte in ein Buch.

»Hallo, Bernie.« Vera hatte Isas Mitbewohnerin vor einem Jahr kennengelernt. Sie war seither kaum gewachsen, nur ein bisschen in die Breite. Die pausbäckigen Wangen wirkten bleich.

»Vera …«, stammelte sie, »ist es wahr?«

»Ja. Gestern ist sie gestorben.«

Bernie schniefte.

Veras Blick fiel auf das Bett ihrer Schwester. Auf dem Kissen thronte Fritzi, Isas Lieblingsplüschtier, ein flauschiger Esel mit langen Schlackerbeinen.

»Wusstest du, dass sie magersüchtig war?«, fragte Vera nach einer Weile.

»Magersüchtig?« Das Mädchen nahm den Haarreif ab und schüttelte die dunkle Mähne. »Sie hat in letzter Zeit total wenig gegessen, das schon. Ich hab versucht, es ihr auszureden, aber sie wollte nichts davon wissen.«

»Weißt du, warum sie gehungert hat?«

Bernie sah Vera mit großen Augen an. »Na, weil sie nicht mehr moppelig aussehen wollte.« Sie sah an sich herunter. »Sie wollte keine fette Kuh werden wie ich«, murmelte sie. »Ich hab sie bewundert, weil sie es geschafft hat.«

»Aber sie sah doch schon lange nicht mehr moppelig aus. Warum hat sie nicht aufgehört?«

»Keine Ahnung.«

»Ich dachte, ihr wart Freundinnen. Isa hat zwei Jahre mit dir zusammengewohnt, ist in deine Klasse gegangen, hat sich dem Klavier verschrieben. Wie du.«

»Schon.« Bernie kratzte sich am Kinn und erwischte einen Pickel, der zu bluten begann.

»Bestimmt habt ihr irgendwann darüber gesprochen.«

»Nicht so richtig.«

Vera suchte Bernies Blick, aber sie wich aus. »Es wäre sehr wichtig für mich. Das verstehst du doch, oder?«

»Sie hat mal gesagt, sie hört erst mit dem Abnehmen auf, wenn ihre doofen Kamelhöcker verschwunden sind.« Sie deutete auf ihre Brüste. »Dabei war da kaum was, bei Isa.«

Vera erstarrte. Was bedeutete das? Dass Isa sich geweigert hatte, eine Frau zu werden?

»Hatte sie eigentlich einen Freund?«, fragte Vera so beiläufig wie möglich. »War sie verliebt?«

Röte zog über die Wangen des Mädchens. »Weiß nicht. Mir hat sie es nicht erzählt, ehrlich nicht.« Sie drehte ihren Kopf weg und starrte aus dem Fenster.

Wut kroch in Vera hoch. Sie musste sich zusammennehmen, um die Kleine nicht zu schütteln. Du lügst. Du verschweigst was.

»Ich muss jetzt zur Schule.« Bernie stand auf, steckte das Buch und die Stifte in den Rucksack und ging zur Tür. »Vielleicht kann Sarah dir weiterhelfen. Sie war viel mit Isa zusammen.«

»Warte!«

Bernie hielt inne, die Türklinke in der Hand.

»Ich werde Isas Sachen mitnehmen. Möchtest du etwas haben? Als Andenken?«

Das Mädchen überlegte. Dann leuchteten ihre Augen plötzlich auf. Sie schielte zu dem Esel auf Isas Bett. »Fritzi vielleicht?«

Vera wunderte sich. Sie hatte mit sechzehn alles Mögliche im Kopf gehabt, Ausgehen, Abtanzen, Jungs, den ersten Joint. Bestimmt keine Plüschtiere. »Okay.«

»Danke, Vera. Mach’s gut.« Bernie öffnete die Tür.

»Warte!«

Mit gehobenen Brauen sah sie Vera an.

»Du bist keine fette Kuh, hörst du? Versprich mir, dass du niemals so eine Diät machst wie meine Schwester.«

Bernie nickte.

Als sie gegangen war, legte Vera Isas Kleider zusammen und packte sie in einen Koffer. Die Schulsachen, Bücher und anderen Habseligkeiten füllten einen zweiten.

Sarah, die Geigerin. Ich muss mit ihr reden. Und hoffen, dass sie gesprächiger ist als Bernie.

ZWEI

Hamburg-Ohlsdorf

Am Tag der Beerdigung drückte der Himmel bleigrau auf die alten Linden des Ohlsdorfer Friedhofs. Windböen zerrten an den Schleifen der Kränze, und von einem Nachbargrab verströmten verrottende Begonien ihr süßliches Parfum, das Vera an den Geruch im Seziersaal erinnerte. Die Hanfseile ächzten, als Isabels Sarg in die Grube gelassen wurde.

Als ob er zentnerschwer wäre. Dabei ist nur ein Häufchen Haut und Knochen darin.

Die Obduktion hatte Dr. Eberharters Vermutungen bestätigt. Ein Herzfehler, an sich harmlos. Aber in Kombination mit Isas geschwächter Konstitution und der übermäßigen Anstrengung hatte er zum Tod geführt. Schon einen Tag nach Isas Tod wurde ihr Leichnam freigegeben. Ein Hamburger Bestattungsinstitut schickte einen Leichenwagen nach Innsbruck. Der Fahrer holte Isa in der Pathologie ab und überführte sie nach Hamburg. Vera hatte er gleich mitgenommen.

Nun stützte sie ihre Mutter, die gebeugt ging, als wäre sie innerhalb der letzten Tage um Jahre gealtert. Mutter bückte sich. Sie warf eine Schaufel voll Erde auf den Sarg. Der Aufprall der Erdklumpen auf dem Fichtenholz klang endgültig und unwiderruflich wie ein Hammerschlag.

Der Reihe nach defilierten die Trauergäste zum Grab, nahmen die Schaufel und taten es Mutter nach. Das dumpfe Prasseln schlug den Nachfolgenden den Takt.

Vater stand abseits. Er nahm die Kondolenzbekundungen entgegen. Seine Hand kroch automatisch vor, fiel in die Hand des Gegenübers und ließ sich schütteln. Seine Lippen murmelten Dank, doch die Augen starrten ins Leere. Während der Schmerz Mutter wie Falten ins Gesicht geschrieben war, trug Vater ihn in seinem Innersten verschlossen. Für Vater würde es am schwersten werden.

Den Schluss des Trauerzugs bildeten vier von Isas ehemaligen Hamburger Mitschülerinnen. Jede ließ eine weiße Rose ins Grab fallen. Isa hatte weiße Rosen geliebt.

Bei ihrem ersten öffentlichen Klavierabend hatte sie ein cremefarbenes Kleid mit Puffärmeln und aufgenähten Seidenrosen getragen. Damals war sie vierzehn und übte bereits fünf Stunden täglich Klavier, neben der Schule. Ihr Herz schlug für Chopin und Rachmaninow, ihre Pupillen waren Notenköpfe. Das Konzert wurde ein Riesenerfolg, Kritiker sprachen vom »Triumphzug eines Wunderkinds«. Danach weigerte sich die Klavierlehrerin, Isa weiter zu unterrichten. Sie könne ihr nichts mehr beibringen. Ein derartiges Talent müsse unbedingt bei einem großen Klavierpädagogen studieren, am besten beim allergrößten, Professor Sergej Sofronsky, der in Innsbruck die Elite der Nachwuchspianisten ausbilde. Isa platzte fast vor Begeisterung, obwohl es bedeutete, dass sie die Schule wechseln und Familie und Freunde in Hamburg zurücklassen musste. Nur Vater hatte Bedenken geäußert.

»Bestimmt gibt es in Hamburg auch einen guten Lehrer für Isabel. Sie ist doch noch ein Kind. Wie kann sie ganz allein in dieser fremden Stadt wohnen, neunhundert Kilometer von uns entfernt? Sie wird Heimweh haben und verloren sein und …«

Vera wurde von Horntönen aus ihren Gedanken gerissen. Ein Freund ihrer Eltern hatte sich vor das offene Grab gestellt und blies eine Choralmelodie, die ursprünglich traurig sein sollte. Da der Hornist jeden Ton haarscharf zu tief ansetzte, klang es wie eine Parodie. Vera musste sich das Lachen verbeißen. Als Vaters Blick den ihren kreuzte, nur für einen kurzen Moment, ehe er wieder ins Leere glitt, fühlte sie sich schuldig.

Sie hätte auf ihn hören sollen, damals. Aber sie hatte seine Einwände beiseitegewischt und sich in den Kopf gesetzt, Isa bei der Verwirklichung ihres Traumes zu helfen.

»Ich studiere auch in Innsbruck, dann ist Isa nicht allein«, schlug sie vor. Und Mutter, die Dritte im Bunde, argumentierte mit der großen Chance, die Isa nicht entgehen durfte. Natürlich gelang es ihnen spielend, Vater zu überstimmen. Allerdings zerschlug sich Veras Plan. Sie verpatzte den Eignungstest, der Voraussetzung war, um in Innsbruck zum Medizinstudium zugelassen zu werden. Ein Schutz der Österreicher vor dem Ansturm der Deutschen. Dafür erlaubte ihr der ausgezeichnete Notendurchschnitt beim Abitur, sich an der Ludwig-Maximilians-Universität in München zu immatrikulieren. Vera versprach, an den Wochenenden für Isa da zu sein. Doch die kleine Schwester hatte sich rasch eingelebt, und Vera war selten nach Innsbruck gefahren. Viel zu selten.

Die Wolkendecke riss auf, ein verirrter Sonnenstrahl durchbrach das geballte Grau und ließ das Waldhorn aufleuchten. Der Bläser, als wäre er darüber erschrocken, verfehlte den Schlusston der Choralmelodie, der als jämmerlicher Gickser in der Luft verzitterte.

Nach dem Begräbnis hatten die Eltern sich hingelegt. Auf Zehenspitzen schlich Vera in Isas Zimmer, um ihr Tagebuch zu suchen. Sie hatte es ihrer Schwester zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt, ein schmales Büchlein, in smaragdgrünes Wildleder gebunden. Bestimmt hatte Isa ihre Nöte und Sorgen darin festgehalten. Vielleicht auch den wahren Grund für ihre Magersucht?

Sie öffnete die beiden Koffer, die sie aus Innsbruck mitgebracht hatte, kippte Isas Sachen auf den Fußboden und durchwühlte sie.

Nichts. Auch im Rucksack, den Isa als Schultasche benutzt hatte, war kein Tagebuch zu finden. Hatte Vera es im Heim liegen lassen?

Ich muss nochmals mit Bernie sprechen. Und mit Sarah. Vielleicht weiß eine von ihnen, wo das Tagebuch geblieben ist.

Als Vera das Chaos, das sie veranstaltet hatte, wieder aufräumen wollte, fiel ihr ein Buch aus der Hand. »Momo« von Michael Ende. Ein Blatt Papier flatterte heraus.