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Harry Lehmann

Die digitale Revolution der Musik

Eine Musikphilosophie

edition neue zeitschrift für musik

hg. von Rolf W. Stoll

Die große Zäsur in der Musikgeschichte Anfang des 20. Jahrhunderts, die man mit der Komposition der ersten atonalen Musikwerke assoziiert, lässt sich dann als Negation dieses klassischen Mediums der Musik beschreiben. Es entstanden Werke, die sich nicht mehr an einem Grundton orientieren konnten, sondern sich frei atonal selbst organisieren mussten. Im Prinzip könnte man auch die von Schönberg erfundene Zwölftontechnik als ein ‹Konzept› ansehen, doch da es sich hier um eine Kompositionsvorschrift handelt, die das musikalische Material organisiert, blieb dieses Reflexionsmoment noch fest an das kompositorische Werk gekoppelt und war entsprechend noch kein Musikkonzept im eigentlichen Sinn. Man könnte diese theoretisch legitimierten Kompositionsvorschriften, die es erst seit der Klassischen Moderne gibt, als Bindestrich-Konzepte bezeichnen und in diesem Sinne von ‹Musik-Konzepten› sprechen. Der Bindestrich stände hier symbolisch für die feste Koppelung von Konzept und Werk, und genau in diesem Sinne hatte auch die Zeitschrift Musik-Konzepte den Konzeptcharakter der Neuen Musik verstanden.152 In den – ohne Bindestrich geschriebenen – ‹Musikkonzepten› hingegen sind Konzept und Werk entkoppelt, was sich in diesem Modell als das Resultat einer immanenten Ausdifferenzierung der Musikkommunikation darstellen lässt. Die Negation des Mediums der Tonalität ist jener Strukturbruch, der in der Musik eine Klassische Moderne – und damit auch das Genre ‹Neue Musik› – konstituiert.

Erst die musikalische Avantgarde setzte das Reflexionsmoment der Musik als Konzept frei, insofern es erstmals keine innermusikalische Funk­tion besitzt, sondern als außermusikalische Idee für sich selbst steht. Unübertroffen ist hier John Cages 4’33’’. Es kommt in diesem Stück nicht nur wie bei Schönbergs Komposition ‹mit zwölf aufeinander bezogenen Tönen› zur Suspendierung des Mediums, sondern auch zur Suspendierung des Werkcharakter der Musik, welcher von Schönberg nie infrage gestellt worden ist. Die Negation von Medium und Werk ist das charakteristische Merkmal, über das sich die historische Avantgarde noch einmal von der klassisch modernen Kunstmusik emanzipiert. Die musikalische Avantgarde ist wesentlich Konzeptmusik, die allerdings nur in den seltensten Fällen rein in Erscheinung tritt. Zumeist verdichtet sie auch das ästhetische Material – wie Ligetis ‹Komposition› für einhundert Metronome – und setzt damit eine ästhetische Erfahrung frei.

Die Kurzgeschichte der ästhetischen Moderne, die sich anhand dieses Modells erzählen lässt, basiert auf der Prämisse, dass die Musik Anfang des 20. Jahrhunderts so autonom geworden war, dass man in diesem sozialen System auch die tradierte Idee von Musik negieren konnte und dass diese Negationen in der Musik selbst auf Resonanz stießen. Die Fähigkeit zur Selbstnegation in der Musik ist sowohl Zeichen als auch Folge ihrer Autonomie. Die Freiheit zu Selbstgesetzgebung innerhalb des autonomen Musiksystems setzt eine Negationslogik frei, die zunächst als Fortschrittslogik verstanden wurde. Die Neue Musik der klassischen Moderne negierte die Tradition, die historische Avantgarde negiert die Schönberg-Moderne, und in beiden Fällen konnte man in einem kleinen Zeitfenster der Geschichte diese beiden aufeinanderfolgenden Negationen als ein lineares Fortschreiten hin zu größerer Abstraktion oder zu einem größeren Traditionsbruch wahrnehmen.

Diese Fortschrittslogik kam sehr schnell an ein Ende. Das Stück 4’33’’ von John Cage, Duchamps Fontaine oder Ad Reinhardts black paintings sind dieser Logik gemäß nicht mehr zu übertreffen; die Avantgarde erreichte mit diesen Arbeiten einen Nullpunkt der Mo­derne, was von der Kunsttheorie als «Ende der Kunst» interpretiert wurde.153 Doch die Möglichkeiten der Negation hatten sich auch an diesem Nullpunkt nicht erschöpft, denn es handelt sich hier um eine Operation, die sich auch auf sich selbst anwenden lässt. Genau dies war die Entdeckung der postmodernen Musik, die sich ihrerseits über eine Negation der Avantgarde definierte, und zwar über eine Negation der Negation des Mediums der Tonalität. Diese Wiederaneignung der Klassischen Musik durch eine doppelte Negation hieß nicht, dass man einfach geschichtsvergessen zur Klassischen Musik zurückkehrte, sondern dass das Tabu über die Tonalität außer Kraft gesetzt wurde. Wie man mit den tonalen Techniken konkret umging und sie in die Neue Musik integrierte, war eine Frage des jeweiligen Kompositionskonzepts. Das markanteste postmoderne Musikkonzept ist das Klassik-Zitat, etwa wenn Luciano Berio in seiner Sinfonia von 1968 einen Satz aus Mahlers 2. Symphonie in sein Werk integriert. Bei Alfred Schnittke verdichtet sich das Zitieren zur ‹Polystilistik›. In Deutschland fiel die postmoderne Reaktion auf die Avantgarde weit weniger radikal und charakteristisch aus. Weder das klar wiedererkennbare Zitat noch der klar wiedererkennbare pluralistische Stil markieren eine Distanz zur Tradition, sondern sie stand unter dem Konzept der ‹Neuen Einfachheit›, sprich der einfacheren Verständlichkeit tonal gefärbter Musik für ein breiteres Publikum.

Ganz gleich wie die postmodernen Musikkonzepte ausfielen, sie ga­ran­tierten damals, dass die Wiederaneignung der Tonalität in der Neuen Musik nicht zu einem naiven Rückfall in die Klassische Musik führt. Die Differenz zwischen Medium und Konzept wird im Theoriemodell dadurch angezeigt, dass die beiden Segmente durch einen Spalt voneinander getrennt sind. Das historische Resultat der Negation der Tonalität in der Klassischen Mo­derne und der späteren Negation dieser Negation in der Postmoderne ist die strukturelle Entkopplung von Medium und Konzept in der Musik.

Es ist nicht unmittelbar evident, weshalb es in der musikalischen Postmoderne laut Theoriemodell zu keiner Wiederaneignung der Werkkategorie gekommen ist, zumal Berio und Schnittke Symphonien geschrieben haben. Die Werkhaftigkeit eines musikalischen Kunstwerks liegt aber Niklas Luhmann zufolge in seiner «Formenkombination» begründet: «Zum Kunstwerk wird ein Objekt dadurch, dass die Formen, die es intern verwendet, die Möglichkeiten der jeweils anderen Seite einschränken. […] die Qualifizierung als Kunstwerk erhält ein Werk erst dadurch, dass es Einschränkungen zur Erhöhung der Freiheitsgrade für die Disposition über weitere Einschränkungen verwendet.»154 Es ist dieses autopoietische Aneinander-Anschließen von selbtgenerierten musikalischen Erwartungen, das eine ‹zweite› fiktionale Realität generiert, die sich gegenüber der alltäglichen Welt wie eine Monade ab­schließt und aus dem bloßen Klang oder Geräusch ein musikalisches Kunstwerk macht. Insofern ist die Geschlossenheit des Kunstwerks auch ein Maß für seine Werkhaftigkeit. Das Kunstwerk ist per se ein geschlossenes Werk.

Die charakteristischen Kunstwerke der Postmoderne sind hingegen, mit einem Wort von Umberto Eco, «offene Kunstwerke», die er wie folgt charakterisiert: «Ein offenes Kunstwerk stellt sich der Aufgabe, uns ein Bild von der Diskontinuität zu geben: es erzählt sie nicht, sondern ist sie.»155 Die Konzepte der Postmoderne implizieren genau dieses Verbot über die Schließung der Werke und überführen damit die für die Avantgarde konstitutive Negation des Werkcharakters in eine weniger radikale Form. Doch die Negation des Werkcharakters bleibt auch dann in Kraft, wenn man das Zitieren von Musik oder die Polystilistik zur Methode macht. Das postmoderne Kompositionsprinzip besagt: die Teile unvermittelt nebeneinander zu setzen, die Bruchstellen hörbar zu machen, keine Übergänge zu komponieren. Es gibt mit anderen Worten ein klares Konzept, das verhindert, dass sich die Formen zu einem Werkganzen zusammenschließen. Aus dieser Theorieperspektive sind die offenen Kunstwerke eigentlich keine Werke, sie enthalten – wenn auch nicht so radikal wie die Anti-Werke der Avantgarde – eine Form der Selbstnegation.

Orientiert man sich an der Differenz von Offenheit und Geschlossenheit einer Komposition, dann lässt sich in den letzten Jahren auch eine Wiederkehr des musikalischen Kunstwerks in den Selbstverständnishorizont der Neuen Musik beobachten. Es wird nicht nur vermehrt für klassische Großformen komponiert, was zuletzt in dem Streichquartett-Schwerpunkt der Donaueschinger Musiktagen 2010 evident wurde. Entscheidend ist, dass die komponierten Stücke nicht länger einem abstrakten Kompositionskonzept folgen, sondern eine für den Hörer nachvollziehbare Entwicklung vom An­fang zum Ende inszenieren. Die Kompositionen werden ‹narrativ›, ohne da­bei notwendigerweise auf die klassischen Großformen zurückzugreifen.

Das postmoderne Tabu über den Werkcharakter fiel in der Neuen Musik weniger ins Gewicht, weil sie – aufgrund ihrer starken institutionellen Bindung an den klassischen Aufführungsapparat, an die Konzertform und den Musikverlag – selbst im Kontext einer postmodernen Kultur weitgehend der Klassischen Moderne verhaftet geblieben ist. Mit dem Schritt in die Atonalität wurde die Werkform aber nicht preisgegeben, sondern man unternahm besondere Anstrengungen, den Werkcharakter auch ohne die apriorischen Bindungskräfte der Tonalität zu erhalten. Bei Webern führt dies bekanntlich zu Miniaturformen, bei Schönberg zur Erfindung der Zwölftontechnik, der Serialismus wiederum versuchte alle kompositorischen Parameter zu kontrollieren und schuf damit, zumindest mit Blick auf die Partitur, ‹absolute Werke›. Diese feste Koppelung von Werk und Konzept unter der generalisierten Negation des Mediums der Tonalität war die charakteristische Gestalt für den Mainstream der Neuen Musik im 20. Jahrhundert.

Die Geschichte der Neuen Musik war keine Fortschritts-, sondern eine Ausdifferenzierungsgeschichte; sie folgte einer Negationslogik, deren Resultat im Rückblick drei hinzugewonnene Freiheitsgrade sind. Der ‹Fortschritt› besteht in der ‹Lücke› zwischen Medium, Werk und Konzeption. Das heißt für die Verfassung der Neuen Musik heute, dass sowohl das Tabu über das Medium der Tonalität als auch das Tabu über das in sich geschlossene Werk – Tabus, die für die Neue Musik konstitutiv waren – ihre Exklusionskraft verloren haben. Die alten Verbote definieren nicht mehr, welche Musik zur Neuen Musik gehört und welche nicht. Aber man kann ihren Kunstanspruch heute daran messen, inwieweit sie die in ihrer Ausdifferenzierungsgeschichte gewonnenen Freiheitsgrade tatsächlich nutzt, sprich ob sie die Differenzen zwischen Medium und Werk, Werk und Konzept, sowie zwischen Konzept und Medium als Differenzen kommuniziert.

Dass es in der über einhundert Jahren währenden Ausdifferenzierungsgeschichte der Neuen Musik zu einer Entkoppelung von Medium, Werk und Konzept kam, heißt, dass diese Aspekte in ein frei wählbares Verhältnis treten. Für die Musikkonzepte bedeutet dies, dass man sie nicht länger als Hintergrundwissen der Musikkultur voraussetzen kann. Es geht in der Neuen Musik, wenn etwa erweiterte Spieltechniken zum Einsatz kommen, nicht mehr automatisch um eine Reflexion des Mediums der Musik – obwohl auch das nicht auszuschließen ist. Die Relation von Medium und Konzept unterliegt nicht länger der sozialen Determination durch das Neue-Musik-System, in das man durch Sozialisation und Gewöhnung eingeübt wird, sondern das Verhältnis, das ein Komponist zum ‹Material› einnimmt, kann und muss von ihm selbst konzeptionell festgeschrieben werden.

Ebenso kontingent gestaltet sich heute das Verhältnis zwischen Konzept und Werk. Auch hier gibt es keine allgemeine Idee, mit denen die Stücke präpariert sind. Man kann heute nicht länger darauf vertrauen, dass die erweiterten Spieltechniken automatisch im Dienst einer befreiten Wahrnehmung stehen und eine gesellschaftlich emanzipative Wirkung entfalten. Die Position lässt sich natürlich vertreten, aber dann muss man sie in dem Musikkonzept des jeweiligen Stückes auch explizit machen und kann nicht länger blind darauf setzen, dass dies die geteilte Hörperspektive eines Expertenpublikums ist.

Das hier vorgestellte Theoriemodell der immanenten Ausdifferenzierung der autonomen Kunstmusik beschreibt zum einen die Neue Musik, wie sie historisch geworden ist, und es besitzt zum anderen eine normative Implikation. Zunächst einmal lässt sich in dem Modell der Unterschied zwischen Konzeptmusik und konzeptioneller Musik benennen. Reine Konzeptmusik fokussiert die ‹Komposition› auf das Reflexionsmoment der Musik, in der konzeptionellen Musik hingegen ist das Reflexionsmoment freigesetzt und konfiguriert aktiv Medium und Werk. Diese Freisetzung des Reflexionsmoments ist eine evolutionäre Errungenschaft der Neuen Musik, eine geschichtlich erschlossene Möglichkeit des Kunstsystems, die sich fortan nicht von selbst realisiert. Es ist immer damit zu rechnen, dass das jeweilige Musikkonzept als eine soziale Selbstverständlichkeit gehandhabt wird und Medium, Werk und Konzept naiv miteinander verkoppelt werden, so wie dies in der vormodernen Musik die Fall war. Man gewinnt damit eine Begründung für die obenstehende normative Aussage Spahlingers: «Jedes Stück neuer Musik (das den Namen verdient) hat konzeptuelle Anteile».156 Dass die Neue Musik sich ihren ‹Namen verdient›, hieße, dass sie im je konkreten Werk ihre immanente Ausdifferenzierung aushält; dass die Neue Musik ‹konzeptionelle Anteile hat›, würde bedeuten, dass ihre Musikkonzepte freigesetzt sind.

Dieser Begriff der Neuen Musik schließt sowohl die avantgardistische reine Konzeptmusik als auch das postmoderne ‹offene Werk› als Sonderfälle ein, da es auch hier zu einem reflektierten und keinem naiven Gebrauch der Musikkonzepte kommt. Allerdings gewinnen solche Stücke ihre Bedeutung nicht mehr wie einst aus einer materialästhetischen, sondern aus einer ge­haltsästhetischen Orientierung. Neue Musik hingegen, die im Geiste der Klassischen Moderne geschrieben wird und sich durch eine Abgrenzung zur Ästhetik der Klassik, über erweiterte Spieltechniken und über nicht-klassische Kompositionstechniken definiert, fällt hinter diesem Kunstanspruch von Musik zurück. Sie besitzt keine «konzeptionellen Anteile», sondern sie be­handelt ein Musikkonzept als eine unstrittige Prämisse. In der Regel geht man davon aus, dass Neue Musik das Medium der Musik ‹reflektiere› und subversive Klangforschung sei. Letztendlich ist diese ‹klassisch moderne› Neuen Musik, die heute immer noch den Mainstream der Neuen Musik bildet, in einer invertierten Idee absoluter Musik verankert, bei der das Reflexionsmoment nicht freigesetzt, sondern vorausgesetzt wird.

Die Konzepte der Neuen Musik können extrem unterschiedlich ausfallen. Es kann sich um Aneignungsstrategien der musikalischen Tradition handeln, man kann an literarischen Vorlagen entlang komponieren, es werden Ideen aus den Naturwissenschaften wie die Heisenberg’sche Unschärferelation oder Theoreme der Chaostheorie als kompositorische Modelle verwendet, man orientiert sich an Vorbildern aus der Architektur oder versucht, sich im Medium der Musik religiöse Ideen anzueignen. Andere beschäftigen sich mit fremden Kulturen, nehmen Stellung zu politischen Ereignissen, greifen mythologische oder geschichtliche Stoffe auf oder thematisieren ausgiebig das eigene Erleben. Dass solche Fremdreferenzen letztendlich mehr oder weniger explizit in die Komposition zeitgenössischer Musik eingehen, ist schwer zu bestreiten; fraglich ist, welcher Status ihnen zukommt.

Solange die Neue Musik über einen gemeinsam geteilten Verständigungshorizont verfügte, konnte man die Musikkonzepte als Hilfskonstruktionen behandeln, die sich benutzen – und vergessen lassen. Dieses ironisch ignorante Verhältnis zu den eigenen Konzepten ist nur plausibel, solange das Reflexionsmoment der Neuen Musik als Reflexion ihres Materials verstanden wird. Sobald sich dieser geschichtlich und institutionell bedingte Konsens auflöst, zeigt sich auch in der Neuen Musik, dass Musikkonzepte keine behelfsmäßigen Konstrukte, sondern ein konstitutives Moment der musikalischen Kunstwerke sind.

Es gehört zum Erbe der historischen Avantgarde, dass Musikkonzepte wesentlich zur Neuen Musik gehören. Dass diese Einsicht sich in ihrem Begriff und in ihrer Selbstbeschreibung kaum durchsetzen konnte und ihr bis heute ein weitgehend unbehelligtes Fortleben als ästhetische Kunst erlaubt, lag an ihren extrem anspruchsvollen Produktionsbedingungen. Ihre enge Verquickung mit dem klassischen Repertoire im Konzertbetrieb befördert zusätzlich diesen Widerstand gegen das Konzept. An diesem Punkt, wo eher historische als prinzipielle Widerstände einer anderen Praxis und Selbstwahrnehmung entgegenstehen, dürfte die digitale Revolution wie ein Katalysator wirken. Sie beschleunigt jenen immanenten Ausdifferenzierungsprozess der Neuen Musik, der vor gut einhundert Jahren angesprungen ist und durch ihr altes Instrumentarium technologisch ausgebremst wurde.

Im Prinzip handelt es sich bei der Idee einer «gehaltsästhetischen Wende» und bei der These von der «Freisetzung der Musikkonzepte» um ein und dieselbe Zeitdiagnose, die aus zwei unterschiedlichen Theorieperspektiven ge­troffen wird. Damit stellt sich die Frage, ob sich die Begriffe des Konzepts› und des ‹Gehalts› trennscharf unterscheiden lassen. Generell lässt sich sagen: Der ästhetische Gehalt eines Kunstwerks geht in seiner ästhetischen Erfahrung nicht auf. Doch auch das Musikkonzept ist nicht der Gehalt einer Komposition, sondern es liefert den Spielraum, in dem eine ästhetische Erfahrung ihren Gehalt entfaltet. Im Gegensatz zu aller Gebrauchsästhetik ist der Gehalt der Kunstmusik in einem Konzept verankert, das sich nicht von selbst versteht. Die Populärmusik arbeitet exzessiv mit Weltbezügen, aber deren ‹Konzepte› (wenn man sie überhaupt so nennen will) sind lebensweltlich evident oder über die Sozialisation in einer Szenekultur vermittelt; sie beruhen auf keinem diskursiven Hintergrundwissen, das sprachlich, bildlich oder performativ erschlossen sein will.

Wie gesagt, gilt für alle avancierte Kunst, dass man ihre Formentscheidungen nur beobachten kann, wenn man ihre konzeptuellen Rahmenbedingungen kennt. Mit einem Konzept markiert der Komponist sein Interesse an einem Gehalt, den er nur im Medium der Musik zu artikulieren vermag. Entsprechend gibt es auch zwei Möglichkeiten des Scheiterns: die Komposition wird zum ästhetischen Abbild des Konzepts oder sie hat gar nichts mehr mit diesem zu tun. Im ein wie im anderen Fall kollabiert das Spannungsfeld zwischen Begriff und Erfahrung, in dem sich der Gehalt eines Kunstwerks artikuliert.

Das Musikkonzept markiert einen Punkt von gesteigertem Weltinte­resse. Die Wahl eines Konzepts bedeutet für den Komponisten, dass er sich für genau dieses Thema und kein anderes interessiert. Der Halbsatz «Ich interessiere mich für …» besitzt bei Künstlern den Status einer Abschlussformel, die weiteres Nachfragen verbietet. Zum Ausdruck kommt damit zum einen, dass der Komponist hier sein eigenes Welt- und Selbstverhältnis klären, ergründen oder artikulieren möchte, und dass er zum anderen davon ausgeht, dass die in sein Werk involvierten Erfahrungsschemata auch den Zuhörer zur Klärung seiner Weltwahrnehmung provozieren.

Dieser soziale Geltungsanspruch der Neuen Musik wird systematisch unterlaufen, wenn sie nur ästhetisch wahrgenommen wird. Erst im Spannungsfeld von intellektuellem Konzept und ästhetischer Erfahrung finden jene Sinnsynthesen statt, die einen ästhetischen Gehalt generieren. Die Frage, ob der musikalische Gehalt der Werke nur von privatem Interesse ist oder im Horizont der Sinngeschichte von Kunst und Gesellschaft spannend wird, wäre eine Frage an die Musikkritik. Sie schließt probeweise und exemplarisch den Spalt zwischen ästhetischer Erfahrung und künstlerischem Konzept mit einer welthaltigen Interpretation. Die Musikkritik wäre keine nachgelagerte Vermittlungsinstanz, sondern als eine Form der komplementären Kreativität ein konstitutives Moment der Neuen Musik selbst. Ihre Aufgabe lässt sich nicht darauf eingrenzen, die Sinnsynthesen eines musikalischen Kunstwerks in Sprache zu übersetzen, sondern sie stellt – aus einer Gegenperspektive zum Komponisten – diese Sinnsynthesen erst her.

Musikkonzepte sind selbstgespannte Koordinatensysteme zum Komponieren. Sie umgrenzen das Feld, wo das Weltverhältnis des Künstlers Spannungen ausgesetzt ist und für ihn interessant wird. Die Kritik folgt der Eigenlogik des konkreten Werks aus der Perspektive des jeweils vorgegebenen Konzepts und versucht die entsprechenden Erfahrungsschemata ‹nacherfahrbar› zu machen. Bei dieser Auseinandersetzung mit dem Werk werden sowohl die Schemata als auch die Konzepte extrapoliert, man folgt ihren Sinnverweisen in alle Bereiche des kulturellen Wissens. Die experimentellen Interpretationen der Musikkritik besitzen entsprechend einen Geltungsanspruch, der sich nur partiell mit dem subjektiven Weltverständnis des Komponisten zur Deckung bringen lässt, was erklärt, weshalb Komponisten, wie Künstler überhaupt, nicht unbedingt die besten Interpreten ihre Werke sind.

Relationale Musik

Die Idee der absoluten Musik zerfällt in einer digitalen Musikkultur. Die simple Schlussfolgerung hieraus ist, dass sich die avancierte Kunstmusik in Zukunft mehr und mehr als relationale Musik verstehen wird. Der Begriff der relationalen Musik ist zunächst einmal der ‹formale Gegenbegriff› zur Idee der absoluten Musik. Die Strategie, die außerästhetischen ‹Relationen› der Kunst in die Definition ihres Begriffs einzuschließen, wurde bereits in den bildenden Künsten diskutiert. Der Kurator Nicolas Bourriaud entwickelte mit seiner «Relationalen Ästhetik»157 die wohl einzige, aber auch einfluss­reichste normative Kunsttheorie der letzten zwanzig Jahre. Wenn an dieser Stelle jetzt von relationaler Musik die Rede ist, dann hat dies mit Bourriauds Konzeption nur abstrakt etwas zu tun, da er seine Relationale Ästhetik auf den Extremfall eines spezifischen Avantgarde-Genres enggeführt hat. Bourriauds Idee ist, dass die Kunst performative Situationen schafft, in denen sich unmittelbar neue ‹zwischenmenschliche Relationen› zwischen den Kunstakteuren und ihren Zuschauern ausbilden können. Im Unterschied dazu verstehen wir die «Relationen» in einem weiten Sinne als Bezüge der Musik zu etwas, was im klassischen Sinne keine Musik ist: zu Bildern, Handlungen und Worten.

Die Neue Musik ist durch die digitale Revolution einem doppelten Veränderungsdruck ausgesetzt. Auf der Ebenen der Beschreibung wird die Leitidee der absoluten Musik unterminiert, die bislang eine konzeptuelle Ausrichtung und eine gehaltsästhetische Orientierung der Kunstmusik blockierte. Auf der Ebene der Operationen hingegen kommen jene künstlerischen Strategien zur vollen Entfaltung, die den Computer als universale Schnittstelle zwischen Klang, Bild und Sprache benutzen. Das evolutionäre Potenzial für die Kunstmusik liegt weniger in der Chance, neue hybride Multimediaprojekte kreieren zu können, als darin, dass sich an dieser Schnittstelle variable Reflexionskontexte generieren lassen. Hinzu kommt, dass in einer pluralen postmodernen Gesellschaft man immer weniger einen gemeinsam geteilten kulturellen Kontext voraussetzen kann und mit radikal disparaten Identitäten rechnen muss. Sobald es zu einer Entinstitutionalisierung und damit auch zu einer gesellschaftlichen Öffnung des Neue-Musik-Systems kommt, wird man auch hier das Zerbrechen des bislang weitgehend intakten Selbstverständlichkeitskontextes kompensieren müssen. Und das heißt, mit den Worten von Boris Groys gesagt, «dass heute die Spannungen, die in der Kunst nach wie vor er­zeugt werden können, erst dann möglich werden, wenn man einen Kontext selbst vorgibt, in welchem etwas als ‹neu› auftritt.»158

Künstlerische Konzepte liegen nur sehr selten in rein abstrakten Beschreibungen vor. In der Regel werden sie vom Kunstwerk selbst in eine wahrnehmbare Form gebracht. Entscheidend ist der zusätzliche Informationskontext, ganz gleich, ob dieser nun optisch, akustisch oder verbal vermittelt wird. Entsprechend lassen sich drei Konzeptualisierungsstrategien unterscheiden: die Visualisierung, die Theatralisierung und die Semantisierung der Neuen Musik.

Unter diesen Strategien ist es sicherlich die Visualisierung, die heute am nachhaltigsten die Vermittlung von Musikkonzepten verändert. Sie er­streckt sich bei weitem nicht nur auf aktuelle Kompositionen, sondern auch auf Stücke aus dem Repertoire. So inszenierte Daniel Kötter das Musikdrama von Arnold Schönberg Die Glückliche Hand (1913) als eine konzertante Aufführung mit Videoinstallation. Der zwölfstimmige Chor aus Schönbergs Stück verwandelt sich bei Kötter in eine Gruppe von zwölf ‹Kulturarbeitern›, die als Kuratoren, Akademie- und Theaterdirektoren, Festivalleiter, Musikwissenschaftler, Kunstkritiker und Philosophen über ihre Arbeit in den Kunstszenen berichten, das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft analysieren und Schönbergs Oper interpretieren. Das hieraus entstandene Stück, das den Namen Arbeit und Freizeit – Die Glückliche Hand (2011) trägt, ist zweiteilig. Im ersten Teil «Arbeit» führen die zwölf Protagonisten auf den von der Bühne hängenden Videoleinwänden ihr fiktives Gespräch. Im zweiten Teil «Freizeit» werden sie live als Zuhörer der konzertanten Aufführung von Schönbergs Musikdrama gefilmt und schweben, als beobachtete Beobachter, über dem Symphonieorchester. Die Porträts verbinden die beiden Teile nicht bloß formal miteinander, sondern diese Videocollage liefert zugleich den konzeptionellen Rahmen, durch den Schönbergs Oper nach einhundert Jahren erklingt.

Noch vor wenigen Jahren wäre eine solche Zwölfkanal-Videoinstallation aufgrund ihres ökonomisch technologischen Aufwands nicht zu realisieren gewesen. Insofern steht die Verbreitung der Videoleinwände in der Neuen Musik gerade erst am Anfang und wird in Zukunft sicherlich zu den wichtigsten Konzeptionalisierungsstrategien gehören. Den größten Einfluss dürfte die Videotechnik aber nicht bei der Visualisierung der Performance, sondern bei ihrer Dokumentation spielen. Auch für die Neue Musik gilt in Zukunft: Was nicht im Netz existiert, existiert nicht. Die Ökonomie der digitalen Demokratisierung führt dazu, dass wir in einer Überflussgesellschaft von Hochkulturkunst leben werden. Dies zeigt sich in der Kunstmusik seit langem schon daran, dass es kaum zu Wiederaufführungen von einmal uraufgeführten Werken kommt. Das heißt aber auch, dass die Institutionen damit ihre ursprüngliche Macht verlieren, einen Kanon zu definieren. Es spricht alles dafür, dass sich die Kanonbildung in der Neuen Musik zunehmend ins Internet verlagert und sich am öffentlichen Interesse einer globalen Szene und Zuhörerschaft orientiert. (Entsprechend finden sich alle hier erwähnten Beispiele auch als Videodokumentationen im Netz.)

Die in den letzten Jahren entstehende Möglichkeit und Notwendigkeit, die eigenen Werke und Aufführungen im Internet zu dokumentieren, erweckt auch in der Neuen Musik – mit einer zeitlichen Verzögerung zur Popmusik von knapp dreißig Jahren – das Genre des ‹Musikvideos› zum Leben. Diese Entwicklung verändert nicht nur die Art und Weise der Dokumentation, sondern die Dokumentationsform wirkt auch auf die Aufführungspraxis zurück. Ein Beispiel hierfür wäre Leah Muirs Stück HardBeat (2009) für Sopran, Altflöte, Bassflöte und Cello, in dem die Komponistin die EKGs von vier herzkranken Patienten und einem gesunden Mann als musikalisches Ausgangsmaterial und die entsprechenden medizinischen Diagnosen als Textfragmente verwendet. Die Videodokumentation zeigt nun nicht nur die Aufführung mit Sängerin, Dirigent und den drei Instrumentalisten, sondern auch die Elektrokardiogramme, Abbildung von menschlichen Herzen und den gesungenen Text. Die Komposition und ihre Live-Aufführung entsprechen weitgehend den ästhetischen Konventionen der Neuen Musik: Es wird mit Sprache gearbeitet, aber sie tritt in der Performance in den Hintergrund und wird eher als musikalisches Material, denn als Informationsträger wahrgenommen. Die Idee, die Graphen der EKGs in Noten zu transformieren, sowie der ganze Assoziationsspielraum, der sich mit der Idee eröffnet, Musik über kranke, aus dem Rhythmus geratene Herzen zu schreiben, bleibt eine Hintergrundinformation, die man im besten Fall in einem Programmheft nachlesen kann. Im Vergleich zur Konzertaufführung macht die Videodokumentation das Konzept von HardBeat erfahrbar: Man liest die musikalisch verfremdete Sprache auf dem Bildschirm mit; man sieht, wie sich das EKG in die Notenschrift verwandelt; und die Bilder von der Live-Dokumentation erscheinen zwischendurch in einem grell überblendetem weißen Licht, welche den Konzertsaal für einen Moment in einen Operationssaal verwandeln. Die Dokumentation von HardBeat setzt das Reflexionsmoment dieses Stückes erst frei. Diese Differenzerfahrung von ‹Original› und ‹Dokument›, wie sie mit der Verbreitung des Musikvideos in der Neuen Musik immer häufiger auftritt, beschleunigt ihrerseits die Integration der Videoleinwand auf der Konzertbühne. Man macht die paradoxe Erfahrung, dass ein Stück, das unter dem kulturellen Paradigma der absoluten Musik aufgeführt und als relationale Musik dokumentiert wurde, seinen Gehalt in der Reproduktion viel leichter entfalten kann und damit weit besser den Ansprüchen einer zeitgenössischen Kunstmusik genügt als das asketische Original.

Eine Vorahnung davon, wie stark die visuelle Repräsentation im Begriff steht, die Wahrnehmung, die Verbreitung und das Verständnis von Neuer Musik zu verändern, liefert Hafenbecken I (2006) von Daniel Ott, Regie Enrico Stolzenburg. Das Stück wurde nicht für den Konzertsaal, sondern für eine Aufführung im Gelände des Basler Rheinhafens Kleinhüningen geschrieben. Es handelt sich um ein typisches Avantgardestück, eine Landschaftskomposition, die sich im Anschluss an einen erweiterten Kunstbegriff im öffentlichen Raum realisiert. Der Ort wurde auf der einen Seite auf seine akustischen Qualitäten hin durchforscht und dementsprechend wurden auch die Musiker auf Verladekränen, Silotürmen, an Brückenunterführungen, an der Uferpromenade, auf Boten und Eisenbahnwaggons positioniert. Auf der anderen Seite erforschen auch die Zuhörer auf ihrer Wanderung durch das Hafengelände die Industrieanlage, die von den Musikern ‹besetzt› worden ist. Normalerweise scheint keine Aufführungsform weniger dokumentations­tauglich zu sein als eine solche mehrere Stunden dauernde und sich in einem frei begehbaren Gelände abspielende Musikperformance. Schaut man sich aber die DVD-Dokumentation der basel sinfonietta an, dann geht gerade von ihr eine überraschend starke ästhetische Wirkung aus. Hinter dem brillanten Film steht nicht etwa ein Filmteam, wie man vermuten könnte, sondern ein einziger Kameramann mit einer Mittelklasse-Videokamera, der das Geschehen ohne große Vorkehrungen mitgeschnitten hat. Die Faszinationskraft kommt hier durch die Kameraführung und die anschließende digitale Bildbearbeitung zustande. Zwar sind die Sujets des Hafenbeckens an sich bereits eindrucksvolle Fotomotive – wie etwa der im höchsten Gebäudeturm spielende Trompeter, der in einem Schlauchboot auf dem Wasser treibende Akkordeonspieler, die in einem offen Eisenbahnwaggon vorbeirollende Jazzkapelle oder die auf einem riesigen Verladebrückenkran spielende Instrumentalgruppe –, doch die Wirkung des Films ist zur Wirkung der Live-Performance grundverschieden. Anstelle des herumschweifend meditativen Hörens und Schauens vor Ort entwickelt der Filmschnitt, der immer schon den besten Blickwinkel ausgewählt hat, eine Sogwirkung, die den Bildschirmhörer in den Bann zieht. Man kann sich durchaus die Frage stellen, ob durch die Dokumentation das Musikkonzept von Hafenbecken I geschärft zur Darstellung kommt oder sich in dieser Darstellungsform verändert.

Auf jeden Fall muss man damit rechnen, dass durch die Visualisierung der Neuen Musik viele Stücken nicht durch ihre Live-Aufführung, sondern aufgrund ihrer Dokumentation zu Ruhm und Bekanntheit gelangen und dass damit auch eine Entwicklung in Gang gesetzt bzw. nachgeholt wird, wie sie bislang nur in der bildenden Kunst zu beobachten war: Dass man nämlich Kunstwerke hinsichtlich ihrer Reproduktionsästhetik optimiert. Wolfgang Ullrich hat in seinem Buch Raffinierte Kunst (2009) diesen Zusammenhang zwischen Original und Kopie in einer Reihe von bemerkenswerten kunstgeschichtlichen Analysen herausgearbeitet. Ullrich zeigt, dass Gemälde vorab so komponiert wurden, dass sie als Grafik gut zur Geltung kommen.159 Heute hingegen würde man großen Wert darauf legen, dass Kunstwerke in der fotografischen Abbildung bestechen: «Fotogenes und Telegenes bieten zu können, stellt sogar eine notwendige Voraussetzung dafür dar, im Kunstbetrieb eine Rolle zu spielen. Viele Künstler haben ihren Stil daher darauf eingestellt, gut reproduzierbar zu sein: Kunst ist ein Hort der Fotogenität geworden.»160

Angesichts der digitalen Revolution, durch die alles, was in der realen Welt passiert, noch einmal in der virtuellen Welt reproduziert wird, liegt es nahe, den Begriff der Fotogenität weiter zu fassen. Reproduktionsmedien wie das Foto, der Film, die Schallplatte, die CD verhalten sich genauso wenig wie der Kupferstich oder die Radierung ästhetisch neutral zum Original, das sie reproduzieren. Vielmehr kreieren sie einen medienspezifischen Eigenwert, unter dem die reproduzierten Originale eine ästhetische Neubewertung erfahren und in eine andere Rangordnung gestellt werden. ‹Fotogenität› ist in diesem Sinne der medienspezifische Eigenwert der Fotografie. «‹Fotogen› ist, was ein (gutes) Foto erst entstehen lässt, also ein Sujet, das ein markantes Bild erlaubt. ‹Fotogen› ist aber ebenso, was erst durch ein Foto in seinem Charakter zu Erscheinung kommt.»161 Die erst durch das Medium geschaffene ästhetische Differenz ist, dass es mehr oder weniger fotogene Sujets wie Gesichter oder Landschaften gibt. Auch die CD kreiert im Vergleich zum Live-Konzert neue ästhetische Qualitätsmaßstäbe und stellt neue ästhetische Rangfolgen her; man könnte hier von besonders CD-tauglicher oder, etwas allgemeiner formuliert, von besonders phonogener Musik sprechen. Die mit der digitalen Revolution entstehende virtuelle Welt ist allerdings ein universales Reproduktionsmedium, in dem jedes Bild, jedes Lied und jeder Text ästhetisch anders in Erscheinung tritt als in ihren bisherigen Reproduktionsformen bzw. als Original. Den medienspezifisch ästhetischen Eigenwert eines Kunstwerks in der virtuellen Welt des World Wide Web könnte man insofern seine Virtugenität nennen. Hafenbecken I ist genau in diesem Sinne ein äußerst virtugenes Werk.

Jede Visualisierung ist zwar eine Relationierung von Musik, doch dies besagt nicht, dass sich damit automatisch ein Weltbezug manifestiert. Vielmehr kann die Visualisierung auch ein Mittel sein, mit dem sich die Musik auf sich selbst bezieht. Ein Beispiel hierfür wäre Simon Steen-Andersons Stück Run Time Error (2009). Man sieht den Komponisten mit einem ‹Schlagstock› und einem Mikrofon durch einen Gebäudekomplex hasten: Mit der einen Hand werden alle möglichen Geräusche und Klänge erzeugt, mit der anderen werden sie aus Nahdistanz aufgenommen. Auf den ersten Blick handelt es sich hier um Musique concrète: Gläser, Kisten, Treppengeländer und Leitersprossen werden zum Klingen gebracht; die Schritte und der Atem wird regis­triert, das Knacken von Leuchtstoffröhren oder das Rotieren eines Ventilators werden als Klangquellen verwendet. Letztendlich geht es hier aber nicht um eine Klangrecherche, sprich um das Entdecken von außermusikalischen Klängen, sondern um ein Komponieren mit dem so erzeugten akustisch-visuellen Material. Der Zuschauer und Zuhörer sitzt vor einer Zwei-Kanal Videoinstallation, wo man einen zeitlich versetzten, doppelten ‹Run› sieht, d. h. es kommt zu einer Überlagerung und Schichtung der konkreten Klänge. Zudem werden mit Joystick die zwei Ton- und Bildspuren live beschleunigt, verzögert, geloopt, vorwärts und rückwärts abgespielt, wodurch unter anderem auch die ‹Tonhöhe› herauf- bzw. heruntergeregelt wird. Die digitale Bearbeitung erzeugt die «Fehler» in Run Time Error: Eine Cola-Dose scheppert eine Treppen hinunter und springt sie im nächsten Moment die Stufen wieder hinauf. Anders als bei der Avantgarde, wo die außermusikalischen Klänge für einen erweiterten Musikbegriff standen, werden sie hier im Laufschritt erzeugt und im Video dokumentiert. Die Visualisierung etabliert also keinen Welt-, sondern einen Kunstbezug – Musique concrète wird als historisches Genre zitiert. Im Prinzip dient auch hier die Visualisierung der Vermittlung eines Konzepts, nur dass dieses Konzept musikimmanent bleibt. Run Time Error ist nicht nur ein packendes Stück, sondern es ist auch in einer intelligenten Weise ambivalent. Einerseits wird in dem Stück eine Avantgarde-Atmo­sphäre der 1960er Jahre geschaffen: Man bewegt sich durch ein Labyrinth von verlassenen Räumen, es herrscht der Eindruck von Unordnung und Chaos, der Komponist trägt helles Hemd, dunkle Hose und Krawatte bei der Performance, das Video ist schwarz-weiß gefilmt. Andererseits wird dieser inszenierte Raum durchhastet, als ob man auf der Flucht vor dieser Aura und diesem historischen Bild avancierter Musik ist.

Das infolge der Digitalisierung jederzeit an jedem Ort herstellbare Videomaterial, welches sich über das Internet zum Nullkostentarif verbreiten lässt, verändert am nachhaltigsten die Idee und vor allem das ‹Bild› der Neuen Musik. Wenn hier von ‹Visualisierung› die Rede ist, dann ist damit immer das visuelle Image auf einem Bildschirm gemeint und wird von jenen Theatralisierungsstrategien unterschieden, bei denen es um eine bildschirmlose, unmittelbar sichtbare Kontextualisierung von Musik auf einer Bühne geht. Da mit der virtuellen Verdoppelung der Welt die Videodokumentation in den Künsten aber immer wichtiger wird, führt dies zugleich zu einer Aufwertung und Verstärkung theatralischer Inszenierungen in der Musik. Nichtsdestotrotz handelt es sich hier um zwei grundsätzlich verschieden Konzeptualisierungsstrategien, weil das Video mit seinen Möglichkeiten von Schnitttechnik, Bildbearbeitung und Spezialeffekten eine ganz andere Ästhetik der Sichtbarkeit als das Theater entfaltet.

Im Unterschied zur Visualisierung gehört die Theatralisierung schon immer zum Repertoire der Neuen Musik. Das zeitgenössische Musiktheater war in den letzten Jahren sogar ihre heimliche Königsdisziplin. Dies lässt sich einerseits darauf zurückzuführen, dass man hier ein Publikum erreicht, das nicht schon von Berufs wegen zur eigenen Szene gehört. Zum anderen kann man sich unter dem Schutz des Genres in einer Weise mit ‹der Welt› auseinandersetzen, wie dies unter der tradierten Idee der absoluten Musik eigentlich unzulässig ist. Insofern stellte das Musiktheater den Komponisten auch Sinnressourcen für die eigene Arbeit bereit, die sich nach der spürbaren Erschöpfung des Materialfortschritts von Generation zu Generation verknappen. Dass das Musiktheater die besten Tantiemen verspricht, ist … zumindest kein philosophisch relevanter Gesichtspunkt.

Das Musiktheater ist die Enklave der Neuen Musik, in der man schon immer nach Gehalten gesucht hat. Doch wie schon bei der Visualisierung so besitzt auch die Theatralisierung nicht automatisch die Funktion, die Musik in einen Weltbezug zu stellen. Gerade in der Avantgarde diente sie als eine Strategie, den Begriff der Musik zu erweitern und etwas an der Musik selbst deutlich zu machen. Das einschlägige Beispiel hierfür ist das «Instrumentaltheater» von Mauricio Kagel, der davon ausging, dass die Musik aufgrund ihrer mechanischen Reproduzierbarkeit durch Rundfunk und Schallplatte auf eine rein akustische Dimension reduziert worden sei. Noch im 19. Jahrhundert hätten die Menschen die Musik mit ihren Augen erfahren. Entsprechend möchte Kagel dem Publikum die Freude an der Musik mit allen Sinnen zurückgeben, und deshalb sei seine Musik auch ein direkter, überhöhter Protest gegen die mechanische Reproduktion von Musik.162 Mit den heutigen Visualisierungsmöglichkeiten von Musik wird das ganze Argument hinfällig oder müsste zumindest stark nachgebessert werden.

Nur dem ersten Anschein nach handelt es sich bei Kagels Werken um relationale Musik, die sich nicht auf das reine Hören beschränkt. In seinem Schlagzeugtrio für Holzinstrumente Dressur (1977) spricht Kagel explizit davon, dass dieses ausgewiesene Instrumentaltheater-Stück die «absolute Musik» repräsentieren würde.163 Die szenischen Handlungen der Musiker wurden selbst als musikalische Vorgänge konzipiert und sollten entsprechend auch so ausgeführt werden. Kagels Intention nach führt das Stück die Musiker als ‹Dressurpferde› vor, und auch hier hat man es entsprechend mit einer Selbstreflexion der Musik im Medium der Theatralisierung zu tun. Heutzutage wäre es sicherlich ein produktiver Ansatz Kagels Dressur gehaltsästhetisch zu interpretieren, doch genau genommen liest man das Stück dann gegen den Strich.

Die dritte Relationierungsstrategie der Musik ist die Semantisierung. Im Extremfall kann bereits der Titel eines Stücks als Konzept funktionieren, etwa bei Ligetis Atmosphères oder bei Stockhausens Punkte. Allerdings wird diese Treffsicherheit nur dadurch erreicht, dass diese historischen Stücke einst in einem materialästhetischen Kunstkontext stehen, wo es nicht im wörtlichen Sinne um ‹Atmosphären› und ‹Punkte›, sondern um neue Kompositionstechniken geht, die sich metaphorisch so beschreiben lassen. Insofern fungieren hier die Titel als Musik-Konzepte mit einem im besten Fall akzidentiellen, aber nicht intendierten Weltbezug.

Auch die Vertonung von Literatur und Dichtung führt in den Stücken der Neuen Musik zumeist nur zu einer poetischen Verdoppelung der ästhetischen Unbestimmtheit und hat mit einer konzeptionellen Rahmensetzung nicht viel zu tun. In der Regel wird hier auf einen bildungsbürgerlichen Selbstverständlichkeitskontext rekurriert – sei es nun Homer oder Shakespeare, Hölderlin oder Beckett –, obwohl dieser längst nicht mehr selbstverständlich ist. Vor allem aber ist die Gegenwärtigkeit solcher Literatur ein Problem, das sich nicht einfach durch ein Verweben dieser Texte mit dem Klangteppich der Neuen Musik beheben lässt.

Schließlich gibt es in der Avantgarde einen Umgang mit Sprache, wo diese nicht länger ‹vertont›, sondern selbst als ein musikalisches Medium verwendet wird. Im Fokus steht – wie etwa bei den Maulwerkern – die menschliche Stimme mit ihren Lauterzeugungsprozessen durch Zunge, Zähne, Lippen, Rachen. Das Stimmmaterial wird untersucht, aber nicht als Bedeutungsträger benutzt. Es geht um die Bedingungen der Möglichkeit von Gesang, aber nicht um die Artikulation eines Sinngehalts im Singen. Genau genommen ist aber auch diese Musikpraxis nicht sinnfrei, sondern wird von einer Negativitätsästhetik getragen, welche die Absenz von sprachlichem Sinn selbst wieder mit Bedeutung auflädt. Wie bei Lachenmann die alten Musikinstrumente auf ihre elementaren Tonerzeugungsvorgänge untersucht werden, analysiert Dieter Schnebel die menschliche Stimme als ‹Sprechinstrument› – und in beiden Fällen war diese Musikpraxis durch eine invertierte Idee absoluter Musik legitimiert. Das Nicht-Musizieren und das Nicht-Singen stand in einer einzigen universalisierten Relation zur Welt, die als kommunikativer Widerstand durch Kommunikationsverweigerung konzipiert war und in einem historischen Moment auch so in der Gesellschaft wahrgenommen wurde. Die kulturellen Voraussetzungen für eine solche Rezeptionshaltung sind in den westlichen Gesellschaften längst nicht mehr gegeben und konnten in der Neuen-Musik-Szene nur aufgrund ihrer besonderen Institutionsform bis zum heutigen Zeitpunkt überleben.

Will man gegenwärtig an das Selbstverständnis der Avantgarde an­knüpfen, dann scheint hierfür weder die klassische Vertonung von Texten noch die musikalische Fragmentierung der Sprache aussichtsreich zu sein. Was aber möglich ist, ist die Sprache in der Neuen Musik als Konzeptualisierungsstrategie einzusetzen. So dreht sich der Dirigent im Responsorium I-X