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Nr. 2675

 

Der Glanz der Stille

 

Terraner und Sayporaner im gemeinsamen Einsatz – die Ephemere Pforte soll sich öffnen

 

Wim Vandemaan

 

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In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1470 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5057 christlicher Zeitrechnung. Das heimatliche Solsystem ist vor mehr als drei Monaten spurlos von seinem angestammten Platz im Orionarm der Milchstraße verschwunden.

Die Heimat der Menschheit wurde in ein eigenes kleines Universum transferiert, wo die Terraner auf seltsame Nachbarn treffen, die ihnen allem Anschein nach übel wollen. Seither kämpft die solare Menschheit um ihr Überleben.

Von den geheimnisvollen Spenta weiß man am wenigsten: Ihnen liegen Sonnen am Herzen. Ihrer Ansicht nach wird Sol durch den Leichnam der Superintelligenz ARCHETIM verschandelt – deshalb haben sie das Herz des Systems »verhüllt«.

Reginald Bull gelingt ein Bündnis mit einem Teil der Sayporaner, die anfangs als Übeltäter angesehen wurden. Die Ränke gegen Terra gehen aber nur auf eine kleine Gruppe zurück, die das sayporanische Volk beherrscht. Helfen die Terraner, diese zu stürzen, werden die Sayporaner ihrerseits den Terranern beistehen. Um das Bündnis zu besiegeln, reist eine Expedition in die Heimat der Sayporaner. Es erwartet sie DER GLANZ DER STILLE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Shanda Sarmotte – Eine Telepathin sucht nach Gedanken.

Toufec – Ein Mann vertraut seinem Dschinn.

Choursterc – Der greise Sayporaner denkt zweierlei.

Pauthofamy – Ein Mädchen mit einem Panfaktor.

1.

Die Welt der Telepathen

 

Shanda Sarmotte blickte zu dem Schiff, das immer noch hoch über ihnen am wolkenbeladenen Himmel von Druh stand. Die Barkasse trug sie sanft hinauf.

Die Größe der Sternengaleone machte ihr deutlich, wie vergleichsweise klein die Barkasse war, in der sie und Toufec saßen. Eine winzige Schale. Eine Schale voll Leben.

Sie musste an Paichander denken, den Dekan der Akademie für Logistik, und an die Schale voll Leben, in der er existierte. Das Bild des greisen Sayporaners – genügte das Wort greise überhaupt für das Alter, das der Dekan erreicht haben musste? –, dieses beklemmende Bild, hatte sich ihr eingeprägt wie ein dunkles Siegel: Paichander, dessen Leib sichtbar aus mehreren Leibern zusammengestückelt war, Paichander, wie er in dem Uteral hing, die Brust von hinten durchbohrt, als hätte ihn eine eiserne Kralle aufgespießt. Paichander erschien ihr wie ein Sinnbild. Sie wusste nur noch nicht, wofür.

Ein Ausläufer der tief hängenden Wolken verschleierte das Schiff über ihnen. Verpackt wie ein dunkles Geschenk.

Kurz darauf tauchte die Barkasse in die Wolken ein. Für eine Weile verlor Sarmotte jede Orientierung in dem grauen Ungefähren, das sich um die Barkasse ausbreitete.

Plötzlich gab das Gewölk die Sternengaleone wieder frei. Sarmotte fuhr zurück, so nah stand das Schiff jetzt. Bis von einigen Augenblicken war es ihr schwergefallen, die Größe des Schiffes zu schätzen. Die diffuse Gischt des Regens gab keine Anhaltspunkte.

Nun ragte der monumentale Leib des Utrofaren am Bug der Sternengaleone vor ihr auf. Sein Gesicht, größer als die ganze Barkasse, ließ keine Regung erkennen. Bäche von Regenwasser stürzten ihm über die Stirn. Hinter den geschlossenen Lidern glomm ein unstetes violettes Feuer.

Von fern hatte die Galionsfigur humanoid gewirkt. Im direkten Gegenüber verlor sich diese Ähnlichkeit. Der Körper wirkte steinern, ein grob behauener Felsen.

Die Barke schwenkte nach links. Der bauchige Rumpf der Sternengaleone glitt an ihnen vorbei wie der Leib eines urzeitlichen Meeresgiganten.

 

*

 

Die Hangartore öffneten sich. Die Barkasse flog ein und setzte ohne jede Erschütterung auf. Das bislang transparente Kanzeldach verfärbte sich erst milchig weiß, dann wurde es undurchsichtig.

»Wir sind da«, sagte Toufec. Er stand auf und klopfte unternehmungslustig gegen das Gefäß, das er über dem SERUN an einem Gürtel trug.

Da drin haust Pazuzu, dachte Sarmotte. Ein gewerbsmäßiger Karawanenräuber aus der terranischen Vorzeit und sein Nano-Gespenst. Welches Spiel spielen die beiden eigentlich?

Im nächsten Moment stand sie neben ihm, ein paar Fingerbreit größer als er. Toufec schob eine Strähne blauschwarzen Haars unter den Turban. Er gab ihren Blick gelassen, fast belustigt zurück.

Und welches Spiel spiele ich?

Das Schott glitt auf.

Auf dem Hangarboden lag ein Geschöpf, sternartig, mit fünf Tentakeln oder Armen. In einer wellenartigen Bewegung richtete sich der lebende Stern auf. Zwei seiner Tentakel dienten als Beine, zwei nun seitlich gelegene Extremitäten glitten durch die Luft wie die Arme einer Tänzerin. Der letzte Arm pendelte hoch oben im Leeren.

Das Lebewesen war riesenhaft, von Tentakelspitze zu Tentakelspitze acht, wenn nicht neun Meter groß.

Shanda Sarmotte überlegte für einen Moment, ob der Fagesy mit dieser Position die humanoide Körperform parodieren wollte. Sie glitt kurz in seinen Geist hinüber.

Die Art, wie der Fagesy den Raum wahrnahm, war verwirrend. Sie ließ sich nicht darauf ein. Ihr genügte, die Abneigung des Gegenübers zu spüren, seinen Widerwillen gegen die beiden lateralen Kreaturen, die vor ihm standen. Unter ihm.

Der Widerwille war körperlich, instinktiv. Es gab keine militärische Feindschaft. Der Fagesy nahm sie nicht als Diebe ALLDARS wahr. Er wusste nichts von dem Konflikt seines Volkes mit den Terranern. Er dachte weder an den Brückenplaneten noch an das Solsystem.

Er und die anderen Fagesy an Bord hielten sich offenbar bereits seit Generationen auf der Galeone auf.

»Ich bringe die beiden Gäste zu Choursterc«, sagte der Fagesy. Er floss zu Boden und glitt auf die Hangartür zu.

»Ruda«, murmelte Toufec in Sarmottes Richtung. »Was für ein herzlicher Empfang.«

 

*

 

Der Korridor, durch den der Fagesy sie führte, wies eine lichte Höhe von annähernd fünf Metern auf. Der Fagesy rutschte und schlängelte, zog und drückte sich so rasch durch den Gang, dass die beiden Terraner kaum Schritt halten konnten.

Einige Minuten später hielt der Fagesy an. Er presste sich gegen die Wand. Am Ende des Korridors öffnete sich eine Tür. Wortlos gingen sie an dem Fagesy vorbei und betraten einen kleinen Saal von ovalem Zuschnitt.

In der Mitte des Raums befand sich ein Teich – eine türkis schimmernde Ellipse, aus deren beiden Brennpunkten dünne Fontänen sprudelten und leise plätschernd ins Becken zurückfielen.

Die sayporanische Besessenheit von Wasser, dachte Sarmotte.

Beim Teich lag, in einem Möbel, das an einen terranischen, mit Tuch bespannten Liegestuhl erinnerte, ein alter Sayporaner. Er hob müde den Blick.

Am Kopfteil der Liege schwenkte ein stabförmiges Geschöpf, das auf einem ganzen Bündel von Beinen stand, seinen Kranz dürrer, knochiger Arme wie Tang, der sich in der Dünung wiegte. Den Kopfteil bildete ein diskusförmiges Organ, das schräg nach vorn geneigt war und in dessen Mitte ein einzelnes, blassblaues, ansonsten erschreckend menschenähnliches Auge zu sehen war – als würde uns das Auge eines Menschen auf einem Tablett serviert, durchfuhr es Sarmotte.

»Choursterc, wie ich vermute?«, fragte Toufec.

Über das alte, perlmuttartige Gesicht glitt ein fast entschuldigendes Lächeln. Der Abglanz eines Regenbogens glitt über die Haut.

»Das ist richtig«, sagte der Sayporaner. »Aber nicht die ganze Wahrheit. Mein Name ist mitunter auch Benat Achiary.«

 

*

 

Shanda Sarmotte griff telepathisch zu. Der Name klang nicht nur terranisch, er war es, und der Geist, der ihn gedacht hatte, war es auch.

Im Schädel des Sayporaners befand sich allem Anschein nach ein terranisches Gehirn. Die Gedanken des Terraners und die des Sayporaners waren auf eine Art miteinander verflochten, die Sarmotte nie zuvor erlebt hatte. Ihr war, als hätte man zwei völlig verschiedene mentale Landschaften ineinandergeblendet – die eine ein weitläufiger, uferloser Garten voller sonderbarer Standbilder, stiller Weiher und wispernder Brunnen, die andere karg, schroff, felsig und schmerzverzerrt, ein Ort, an dem Geysire zu Hause sind. Sie konnte sich nicht fokussieren. Wie eine Kernspaltung des Geistes.

Sie schirmte sich vorsichtshalber ab.

»Ich gehöre zu denen, die über das Transitparkett gegangen sind«, erläuterte der Sayporaner mit einer unpassend munteren, geradezu jugendlichen Stimme. »Ich war krank und habe Aufnahme gefunden in die Gesamtheit von Choursterc.«

Toufec warf Sarmotte einen irritierten Blick zu. Sie nickte ihm knapp zu, dann stellte sie sich und ihren Begleiter vor.

»Paichander schickt euch«, sagte Choursterc. Seine Stimme hatte sich um eine Nuance verändert. Sie klang brüchiger, müder. »Um mich zu beaufsichtigen.«

Sarmotte blickte kurz zu Toufec. Sein Gesicht blieb unbewegt.

Sarmotte sagte: »Wir haben gemeinsame Interessen – du, der Dekan und wir. Vielleicht können wir die gegenseitigen Verdächtigungen für eine Weile zurückstellen.«

»Ihr habt uns an Bord gelassen«, sagte Toufec. Sarmotte wusste nicht, ob die Bemerkung ein Vorwurf war oder eine Entschuldigung.

»Ich gebe zu, ich war ein wenig neugierig«, sagte Choursterc, wieder mit seiner wacheren, festeren Stimme – mit seiner Achiary-Stimme, dachte Sarmotte.

Ein tonloses Lachen erschütterte Choursterc. Das stabförmige Wesen gab ein Brummen von sich, das erschrocken oder warnend klang.

»Aes Qimae liebt es, sich um mich zu sorgen«, erklärte Choursterc.

Sarmotte tauchte kurz in die Gedankenwelt des Stabwesens. Sie hatte erwartet, medizinisch ausgerichtete Überlegungen zu lesen. Aber Aes Qimae artikulierte seine Gedanken nicht, sie bebten nur wie eine Membran. Sie waren ganz und gar auf den Sayporaner gerichtet und hatten etwas Bemutterndes, zugleich aber Geduldig-Lauerndes – wie ein Jäger.

Chourstercs Kopf sackte zur Seite. Er schien in die Ferne zu lauschen. Sarmotte zog sich aus Qimaes Gedanken zurück.

Der Sayporaner sagte: »Fahrgut Sternenzoll hat mir eben mitgeteilt, dass er gestartet ist. Wir verlassen in diesen Augenblicken die Atmosphäre von Druh.«

»Wie lange werden wir unterwegs sein?«, fragte Toufec.

Mit seiner brüchigen Stimme antwortete Choursterc: »Wir sollten das Zyor-System in einigen Tagen erreicht haben. Der bislang nicht extrahierbare Korpus befindet sich auf einem Planeten der Sonne Zyor, auf Zyor Zopai.«

Toufec und Sarmotte nickten synchron.

»Sarmotte«, sagte die Achiary-Stimme. »Ich erinnere mich. Du bist eine Telepathin.«

»Ja.«

»Und über welche Gaben verfügst du?«, wandte sich der Sayporaner an Toufec.

Toufec fuhr sich durch den Bart. »Ich kann überleben.«

 

*

 

Als sich die Tür zum Saal öffnete, traten zwei Gestalten ein, wie Sarmotte sie bereits von Druh kannte: Junker und Zofe.

Sarmotte war sich allerdings sofort sicher, dass es nicht die beiden Personen waren, die sie auf Druh kennengelernt hatten.

Während die Zofe auf ihren O-Beinen gravitätisch in den Saal schritt, schwebte der Junker auf einem Prallfeld, das zwischen dem Boden und seinen unbewegten Füßen eine Handbreit Raum ließ.

Wie jeder Junker trug auch er anstelle des Kopfes einen transparenten Zylinder, in dem ein grünes Gewölk wallte, das hin und wieder wie von fernen Blitzen matt erleuchtet wurde.

Seine Arme lagen der weit über zwei Meter großen Gestalt an der Seite, als hätte sie jemand dort angeschmiedet.

»Ich heiße Binc«, sagte die Zofe. »Das ist Junker Oburs.«

Ihr Mund blieb unbewegt, während sie sprach. Stattdessen vibrierte das hellgrün schimmernde Netz, das in der Öffnung ihrer Stirn gespannt war. Auf den haarfeinen Netzfäden saßen und glitzerten winzigste Tropfen, ohne den Halt zu verlieren.

Mit dem gezackten Loch in der Stirn erinnerte die Zofe an eine kaputte Puppe, die jemand notdürftig geflickt hatte. Binc reichte Sarmotte kaum bis zur Hüfte, war dicklich und schaute mit konzentriertem Blick ins Nichts. Ihr Gesicht hätte ebenso gut eine Maske wie aufgemalt sein können.

Sie trug eine nachtschwarze Rüstung, steingraue Stulpenstiefel.

Binc sagte, an Sarmotte gewandt: »Wir geleiten euch jetzt in euer Quartier.«

Sarmotte und Toufec wurden in die Mitte genommen. Sarmotte versuchte, in die Gedanken der beiden vorzustoßen. Aber sie erhielt keine echte Verbindung. Immerhin gewann Sarmotte den Eindruck, dass die beiden eine Art Bewusstsein hatten, allerdings ein in die Tiefe versunkenes, unerreichbares Bewusstsein.

Als Kind hatte sie hin und wieder versucht, einen Stein zu fixieren, der im Teich ihres Gartens eine Armlänge unterhalb der glitzernden Wasseroberfläche lag. Aber das unstete Muster der Lichtreflexe auf den Wellen hatte den Stein in eine Menge bewegter Silhouetten aufgelöst, bis sie nicht mehr sicher war, ob dort überhaupt etwas auf dem Grund des Sees lag. Wütend hatte sie in eine der Wellen getreten, war ausgerutscht und hingeschlagen: die Hose nass, die Schuhe.

Wasser konnte hassenswert sein.

Unterwegs begegneten ihnen hin und wieder Fagesy. Sarmotte nahm keine Verbindung zu ihrer Gedankenwelt auf. In der letzten Stunde hatte sie sich auf derart viel Fremdes eingelassen, dass sie erst zu sich selbst zurückfinden musste.

Sarmotte wusste aus vielen Gesprächen, dass die meisten Menschen Telepathen beneideten. Viele glaubten, dass verschiedene Sprachen nur oberflächliche Erscheinungen waren und ein Telepath durch diese Schicht hindurch und in den mentalen Kern eines Bewusstseins eindringen konnte: dorthin, wo alles Denken gleich war, die immer gleichen Antriebe, das gemeinsame Erbe alles Lebendigen.

Sie irrten.

Je tiefer man in das Innere stieg, desto eigentümlicher wurde das andere, desto fremder.

Sarmotte und Toufec erhielten getrennte Räume. Der Raum, in den Sarmotte geführt wurde, war eine kahle Zelle, ausgerüstet mit einer ovalen Kuhle, die mit einer weichen, schaumstoffartigen Masse gefüllt war. Neben der Vertiefung stand ein irdener Krug voller Wasser. In der Ecke befand sich ein Gefäß, ein Eimer vielleicht, mit einem ausgestülpten Rand versehen – anscheinend der Abort.

Sie tastete mental kurz in den gegenüberliegenden Raum, in dem Toufec untergebracht war, aber Toufec hielt seine Gedanken verhüllt. Es ärgerte und erleichterte sie zugleich.

Sie legte den SERUN und einige Kleidungsstücke ab und legte sich in die Kuhle. Das Lager war weich, angenehm. Der schaumige Stoff verströmte einen Duft, der schmeckte, als sei ein unsichtbares Meer herbeigeweht.

Sie schlief übergangslos ein.

 

*

 

Nicht ganz zwei Stunden später erwachte sie gut erholt. Sie massierte kurz die Schenkel und rollte sich aus der Kuhle. Neben dem Eimer lag ein zwei Finger breiter Riegel auf dem Boden. Er war leicht und roch nach Milch und Banane, durchaus appetitlich.

Aber sie hatte keinen Hunger. Sie war durstig. Das Wasser im Krug war immer noch kalt. Sie trank sich satt, dann kleidete sie sich an.

Toufecs Gemach lag wenige Schritte über den Korridor. Sie klopfte. Es dauerte einen Moment, dann wurde geöffnet. Toufec band sich eben den Turban.

»Was tun wir mit diesem angebrochenen Abend?«, fragte sie.

Er blicke kurz auf sein Multikom. »Es ist 14 Uhr.«

»Oh. Dann ist der Abend ja noch sehr lang und vielversprechend.«

»Vorschläge?«

Sie zuckte die Achsel. »Ich dachte, wir spionieren das Schiff aus.«

Toufec überlegte kurz. »Das ist eine hervorragende Idee.«

 

*

 

Erstaunlich viele leere Korridore, hoch und schmal, unzugänglich für die Fagesy. Fremdartige Aromen wie von Holz und Honig. Ein Saal, in dem Haufen von armlangen, feisten Würmern in Netzen unter der Decke hingen, ineinander verbissen, zähflüssige Blutstropfen, die auf den Boden platschten, langsamer, dunkelgrüner Regen.

»Fagesy-Futter«, vermutete Sarmotte, nachdem sie keine Spur von Bewusstsein in den Kreaturen hatte lesen können.

Toufec bückte sich, tupfte eine Fingerspitze ins Wurmblut und schnupperte daran. »Riecht nach Kupfer«, teilte er ihr mit.

Sie gingen weiter.

Auf einem der breiteren Gänge kam ihnen eine Gruppe Fagesy entgegen. Sarmotte und Toufec drückten sich an die Wand; die Fagesy wichen ihrerseits aus.

»Machst du ein wenig Small Talk mit den Seesternen?«, fragte Toufec.

Sarmotte nickte. Sie las ein paar Gedanken im Vorübergehen. Es ging um Bordangelegenheiten, anfällige Reparaturen, um die Koordination der neuen Raumverteilung – Banalitäten eines Alltags.

Unverhofft stand Binc vor ihnen. »Ihr seid unterwegs?«, fragte die Zofe.

»Wir gehen ein wenig spazieren«, sagte Sarmotte. »Und sehen uns das Schiff an.« Sie stippte kurz nach Bincs Gedanken, aber da war nur wieder dieses Etwas, das sich in seiner mentalen Tiefe ihrem Zugriff entzog.

»Wo ist Junker Oburs?«, fragte Sarmotte.

»Er geht seiner Wege«, sagte Binc. »Welches Ziel habt ihr?«

Sarmotte überlegte. Sie verlangte nicht gerade nach einem neuen Gespräch mit Choursterc oder Benat Achiary. Ihr war bewusst, dass sie den Sayporaner mit dem menschlichen Hirn – oder Hirnanteil – demnächst würde lesen müssen.

Aber nicht jetzt.

»Kehren wir um«, sagte sie.

2.

Ein Hauch von Historie

 

Einige Tage verstrichen in quälender Eintönigkeit. Der Flug erwies sich als sehr viel riskanter, als selbst der Utrofar gedacht hatte. Sarmotte und Toufec streiften durch das Schiff, mal zu zweit, mal jeder für sich.

Am 9. Dezember tauchte Binc auf. Ihre Botschaft: Choursterc wünschte sie zu sprechen.

Sarmotte dachte kurz daran, die Einladung zu ignorieren – und sei es auch nur, um zu testen, wie der Sayporaner, wie die Zofe oder das Schiff insgesamt auf so eine Weigerung reagieren würden.

»Wir sind sehr beschäftigt«, wandte Toufec ein.

»Im Fall eurer Unabkömmlichkeit«, sagte die Zofe, und das Sprechnetz auf ihrer Stirn vibrierte nicht stärker als sonst, »hat Choursterc mir aufgetragen, euch zu bitten: Wir wollen einander nicht zum Geheimnis machen.«

Er will einen Vertrauensbeweis von uns, dachte Sarmotte. Oder er will uns einen Vertrauensbeweis liefern.

»Da wir gerade von Geheimnissen plaudern«, sagte Toufec gedehnt. »Verrat uns, was es mit dir und dem Junker auf sich hat. Was seid ihr?«

Die Zofe stand unbewegt. In ihrem starren Gesicht zeichnete sich keine Regung ab. Sarmotte konnte der Versuchung nicht widerstehen und tauchte ein. Verlassenheit war, was sie fühlte. Scherben der Erinnerung am Grund einer großen Leere: der Verlust von Koordinaten. Eines ganzen Koordinatensystems. Eine unendlich verlassene, gestaltlose Fläche, unter deren Oberfläche ... die Mauer der Prophetien, an der ... das schon nicht mehr erwartete Schiff, das im letzten Licht der ... die beiden Humanoiden, die über die Ebene ... ihre weiße Haut, auf der ein irisierendes Farbenspiel ... die letzten Bataillone der Junker ... die Kokons der Dienstbarkeit.

Wider Erwarten begann Binc zu sprechen: »Sind wir viel, dann sind wir wenig, denn wir sind uns selbst nicht ähnlich, nicht genug.«

»Sie sagt ein Gedicht auf«, wunderte sich Toufec. Er ging vor der Zofe in die Hocke: »Was willst du uns damit mitteilen? Stellst du uns ein Rätsel?«

»Es ist bereits alles enträtselt«, sagte Binc. Dann verfiel sie in Schweigen. Ihr Stirnnetz vibrierte nicht mehr.

Sarmotte berührte Toufec leicht an der Schulter, ließ die Hand liegen, bis er Anstalten machte aufzustehen. »Vielleicht hat sie uns alles gesagt, was sie sagen kann.«

Toufec nickte und fuhr sich mit den Fingern durch den Bart.

Die Zofe wandte sich ab und schritt den beiden in ihrem leicht schaukelnden Gang voran.

 

*

 

Die Lehne von Chourstercs Liegestuhl war hochgestellt; hinter dem Sayporaner schwebte Oburs, gesichtslos und tonlos wie eh und je.

Der Weiher lag da wie ein geschliffener Türkis. Die beiden schlanken Fontänen tanzten. Neu war allerdings der Tisch; darauf standen drei tönerne Wasserkrüge, eine Schale voll Obst und ein Tablett mit fingerlangen, flachen Riegeln.

Neben dem Tisch zwei freie Stühle.

Sarmotte und Toufec setzten sich.

Choursterc warf Sarmotte einen Blick zu, dann studierte er unverhohlen Toufec. »Du beunruhigst mich«, gestand er mit seiner brüchigen Stimme. »Mich, das Schiff, Binc und Oburs. Warum ist das so?«

Toufec und Sarmotte verständigten sich mit einem kurzen Blick. »Pazuzu!«, befahl Toufec dann.

Aus der Flasche, die er am Gürtel trug, löste sich ein hauchdünner Schwaden, der allmählich Substanz gewann. An seinem Ende blies er sich auf und nahm dort nach und nach die Umrisse eines Menschen an – jedenfalls eines menschlichen Oberkörpers mit menschlichem Schädel; der Unterleib blieb eine Andeutung und mit dem Schwaden verhaftet.

Das Gesicht der Erscheinung wirkte unnachgiebig wie Granit, dabei blieb es durchsichtig. In den Augenhöhlen schienen zwei Opale zu liegen, ohne Pupille, ohne Augenweiß.

Choursterc lachte, aber es war hörbar ein Benat-Achiary-Lachen: »Das ist in der Tat witzig. Was genau ist er? Doch wohl kein Mitbringsel aus Tausendundeiner Nacht, oder?«

»Klär sie auf!«, gebot Toufec der Erscheinung.

Pazuzu sagte: »Ich bin ein Nanogentenschwarm.« Während er sprach, bewegten sich seine Lippen, aber sie taten es asynchron.

Sarmotte sah das nicht zum ersten Mal. Sie wunderte sich, warum ein technisch derart vollkommenes Phänomen sich diese Nachlässigkeit gestattete.

»Du bist kein terranisches Produkt«, vermutete Choursterc.

»Richtig«, sagte Pazuzu.

»Wer hat dich dem Terraner zur Verfügung gestellt?«

»Aures.«

Sarmotte tauchte in Chourstercs Geist. Sie wollte wissen, ob der Name der Stadt ein Echo in dem Sayporaner auslöste. Tatsächlich spürte sie einen schwachen Nachhall, der aber gestaltlos blieb und unidentifizierbar.

Choursterc wandte sich Sarmotte zu. »Du bist eine Telepathin.«

»Ich bin Telepathin«, sagte sie. Und ein wenig mehr als das. »Du hast vorgeschlagen: Wir wollen einander nicht zum Geheimnis machen. Also Vertrauen gegen Vertrauen: Wer seid ihr – die Sayporaner?«

Choursterc nahm einen der Riegel und bot Sarmotte und Toufec an, sich ebenfalls zu bedienen. Toufec griff zu, biss ab und schenkte Sarmotte ein appetitanregendes Lächeln.

Sarmotte trank stattdessen aus dem Tonkrug.

Toufec nickte Pazuzu zu. Der Nano-Dschinn zog sich zurück in die Flasche. Choursterc wartete, bis der Rest der Nanogenten verschwunden war.

Sie