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Roland Walter

König Roland

Im Rollstuhl durchs Universum

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Dieses Buch als E-Book: ISBN 978-3-86256-712-6

Inhalt

Der fröhliche König

Wer bin ich?

Das Licht der Welt erblicken

Glückliche Kindheit

Onkel Peters. Und einige Tiere

Endlich Schulkind

Andreas – das darf sich nicht wiederholen!

Ein Fieber schädigt mein Gehör

Märchen oder Wirklichkeit?

Erste Mobilität

Die Überfälle

Wechsel des Schulinternates

Die Unterschiede der Schulinternate

Unfall mit Schutzengel

Der Elektrorollstuhl

Kirche oder SED?

Nach der Schule

Erinnerung und Dankbarkeit

Raus hier?

Im Horrorlager

Erste Verantwortung

Mein persönlicher Fünfjahresplan

Ein langer Weg

Neue Technik entdecken

Meine Zeit beim CVJM

Schwerhörigkeit

Leben ohne Medikamente

Endlich eine Beziehung zu Gott

Der unersetzliche Wieslaw

Die Sprechbehinderung

Ungewöhnliche Begegnung

Ein Lied für Roland

Lampenfieber

So kann es nicht mehr weitergehen

Steine auf dem Weg

Der Schritt nach vorne

Neue Wege mit alten Erfahrungen

Die Entfaltung meines Lebens

Der Kampf geht weiter

Das Leben mit Assistenz

Der Weg zur neuen Gemeinde

Meine Erfahrungen mit Assistenz

Träume gehen in Erfüllung

Vom Training bis zur Bühne

Ich bin zufrieden

Wer bin ich?

Der fröhliche König

Danke, du hast mich angenommen

Anhang

Weitere Informationen & Links

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Da ist er – der König der Lebensfreude!

Ein glücklicher und intelligenter König plaudert aus seinem Leben. Roland ist von Geburt an schwerbehindert und ständig auf fremde Hilfe angewiesen. Trotzdem behauptet er von sich, er sei ein König. Ein König der Lebensfreude.

In diesem Buch erzählt König Roland von seinem Leben und davon, wie er es trotz mancher Schicksalsschläge immer wieder schafft, Menschen mit seiner Lebensfreude anzustecken.

Der fröhliche König

Pünktlich schaltet sich die Stereoanlage ein und Musik erklingt. Jetzt ist es dreiviertel acht, weiß der König Roland und versucht, seine Augen zu öffnen. Noch halb im Schlaf erblickt er das Tageslicht und freut sich über die Sonnenstrahlen, die sein Zimmer erleuchten.

Nun ist er richtig wach. Sein Blick wandert durch den Raum und bleibt beim Kalender stehen. »Jeder Tag ist ein Geschenk von dir«, steht auf dem Blatt. Der König Roland dankt Gott für den neuen Tag und lauscht wieder der Musik.

Etwa eine halbe Stunde später ruft er seinen Assistenten. Seine Behinderung nennt der Volksmund »Spastiker«. Roland kann alle Gliedmaßen bewegen, aber unkontrolliert. Und er kann sich jeweils nur auf eine Bewegung konzentrieren. So muss ihn der Assistent waschen, anziehen und ihm das Frühstück reichen. Das Obst muss püriert werden, weil Rolands Zunge gelähmt ist. Deshalb kann er die Speise nicht zu den Backenzähnen schieben. König Roland zerdrückt mit der Zunge alles unter dem Gaumen.

»Bitte noch mal Tee«, sagt der König. Der Assistent hat die undeutliche Aussprache mal wieder nicht verstanden. Es ist normal, dass er oft ein paar Mal nachfragen muss. Das stört den König nicht. Er bleibt weiter fröhlich.

Nach dem Frühstück rollt der Assistent den König an den Schreibtisch und schaltet den Computer ein. Zum Glück kann Roland trotz seiner schweren Behinderung mithilfe geeigneter Zubehörteile eine Computeranlage bedienen. Jetzt ist der Computer betriebsbereit und die Arbeit kann beginnen.

Ja, ich möchte meine Freude in aller Welt ausbreiten, denkt der König.

Aber wie kann er trotz seiner schweren Behinderung die Freude weitergeben? Und woher nimmt er diese Lebensfreude? Wie lebt dieser König?

Na, dann schauen wir doch mal in sein Leben hinein …

Wer bin ich?

Hallo, ich bin Roland – darf ich mich vorstellen?

Die Menschen nennen mich behindert,

und sie haben recht, das bin ich auch.

Gott nennt mich seine gute Schöpfung,

und er hat recht, das bin ich auch.

Die Menschen nennen mein Leben kostspielig,

und sie haben recht, das ist es auch.

Gott sagt, mein Leben ist wertvoll,

und er hat recht, das ist es auch.

Die Menschen nennen mich unproduktiv,

und sie haben recht, das bin ich auch.

Gott sagt, ich bin ein Brückenbauer

zwischen Behinderten und Nichtbehinderten,

und er hat recht, das bin ich auch.

Die Menschen nennen mein Aussehen abstoßend,

und sie haben recht, das ist es auch.

Gott sagt, mein Lachen ist schön,

und er hat recht, das ist es auch.

Das klingt wie lauter Gegensätze, aber für mich passen die Zeilen zusammen. Meine Behinderung gehört zu mir wie zum Beispiel meine blonden Haare. Das heißt, meine Behinderung ist für mich eine Eigenschaft meines Körpers wie alle anderen Merkmale auch.

Der Gesetzgeber nennt eine Behinderung »Einschränkung der Bewegungsmöglichkeiten«. Das stimmt nur aus biologischer Sicht. Denn dank der modernen Technik kann inzwischen selbst der Schwerstbehinderte produktiv tätig sein und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Das Problem ist nur, dass die Technik heute zum größten Teil noch unbezahlbar ist. Daraus resultiert, dass ein Behinderter nicht behindert ist, sondern von der Gesellschaft zum Behinderten gemacht wird. Dieses Problem könnte auch mit anderen als finanziellen Mitteln gelindert und behoben werden, indem man zur Integration zwischen so genannten Behinderten und Nichtbehinderten motiviert und die Voraussetzungen dafür verbessert. Zugegeben, es ist oft blöd, ständig auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Aber wenn ich davon ausgehe, dass ich mit meiner Körpereigenschaft »behindert« andere zur Dankbarkeit anrege – weil sie merken, es ist nichts selbstverständlich auf dieser Welt –, dann kann ich mit meiner Behinderung leben, auch wenn dies manchmal schwer fällt. Dann ist die Behinderung für mich sogar ein Segen Gottes.

Könnte es sein, dass in Wahrheit derjenige behindert ist, der nicht mit Menschen mit der Körpereigenschaft »behindert« umgehen kann?

Unter diesem Aspekt möchte ich aus meinem Leben plaudern, ein paar Streiflichter auf verschiedene Facetten werfen. Vielleicht kann ich ja dabei Sie, liebe Leser, ermutigen, etwas mehr aus Ihrem Leben zu machen, ganz egal, ob man Sie nun »behindert« nennt oder nicht?

Das Licht der Welt erblicken

Tja, auf die Welt kommen – das bedeutete: Meine lieben Eltern, meine Schwester Regina und einige andere Menschen; sie erwarteten mich bereits an jenem 23. Oktober 1963. Aber ich wollte noch ein paar Stunden im Bauch meiner Mutter verweilen. Am Nachmittag beschäftigte sich meine Mutter in ihrem Garten. Da rief die Nachbarin über den Zaun: »Wann kommt er denn?«

»Eigentlich müsste es bald losgehen.«

Doch erst nach Mitternacht setzte ich mich in Bewegung.

Aber ich lag im Bauch meiner Mutter verkehrt herum. Darum wurde ich bei der Geburt in der Gebärmutter gedreht. Dabei kam es zum Sauerstoffmangel. Dadurch sind einige Zellen abgestorben. Das ist die Ursache meiner spastischen Lähmung.

Nach meiner Geburt legte man mich ein paar Wochen in den Brutkasten. Dort war es schön warm. Wahrscheinlich ist das ein Grund, warum ich heute noch Hitze besonders gerne mag.

Die ersten vier Tage hatte ich keinen Namen. Meine Mutter schwebte in Lebensgefahr. Ihr wurde nicht mal gesagt, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen entbunden hatte. Als mein Vater zu Besuch kam, hörte er, wie eine Schwester zur anderen sagte: »Was denn, lebt der immer noch?« Das Personal hatte mich schon abgeschrieben. Denkste, nicht mit mir! Ich wollte leben – und bekam nach vier Tagen endlich meinen Namen.

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Meine Familie, 1963

Meine Eltern wunderten sich schon bald, warum ich mich nicht so entwickelte wie andere Kinder. Sie fuhren mit mir vom einen Arzt zum anderen. Die Antwort war immer wieder: »Keine Sorge, das ist ein Spätentwickler.«

Doch schließlich offenbarte ein Arzt die wahre Diagnose: »Spastische Tetraplegie mit Athetosen, gekoppelt mit einer schweren Sprachstörung.«

Damit war ich abgestempelt für ein ganzes Leben. Ich trage den Stempel »spastisch gelähmt«. Und ich will Sie und mich, liebe Leser, fragen: Ist das nun gut oder nicht?

Auch weitere Fragen werden uns in diesem Buch begegnen: Hätte man durch einen Kaiserschnitt bei meiner Mutter meine Behinderung verhindern können? Sollte man die Ärzte für den Fehler verklagen? Hat das Leben mit einer Behinderung überhaupt einen Sinn? Wo war Gott bei meiner Geburt? Hat er in jener Nacht geschlafen?

Glückliche Kindheit

Ich war wohl schon immer eine verrückte Nudel. Ich konnte nicht laufen, darum rutschte ich auf dem Rücken durch die Wohnung und versteckte mich unter Sofas, hinter Schränken und anderen Möbelstücken. Dann lachte ich mich halb tot, wenn man mich suchte. Durch das Rutschen hatte ich am Hinterkopf keine Haare.

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Meine erste Laufhilfe, Marke Eigenbau, 1966

Ich wollte immer laufen, mich anders als nur auf dem Rücken fortbewegen. So baute mir mein Vater um einen Pappeimer herum einen Holzkasten mit Rädern. In den Pappeimer wurde ich reingestellt und konnte nun mithilfe der Konstruktion meines Vaters besser spielen. Doch am meisten Spaß machte das Rollen. Anlauf nehmen, schnell die Beine hochziehen und das Ding rollen lassen, huhu!

Diese Konstruktion zeigt beispielhaft, dass meine Eltern alles getan haben, um meine Entwicklung zu fördern. Sie hielten mich nicht im Haus versteckt, sondern integrierten mich vollständig in ihr Leben und das gesellschaftliche Miteinander – trotz mancher Rückschläge.

Nicht gelungen ist beispielsweise der Versuch meiner Eltern, mich im Kindergarten anzumelden. Meine Mutter bot sich sogar an, mitzukommen und bei mir zu bleiben, damit die Erzieherinnen keine »Umstände« mit mir haben sollten. Aber es führte kein Weg an der Ablehnung vorbei.

Selbst in der Verwandtschaft wurde ich nicht integriert. Meine Eltern erhielten häufig Einladungen mit dem Zusatz »ohne Roland«. Doch meine Eltern blieben immer standhaft und antworteten: »Entweder mit Roland, oder wir kommen nicht.«

In diesem Satz zeigte sich einerseits eine unendlich große Liebe zu mir, und andererseits ein fester Standpunkt meiner Eltern, was das Leben mit Menschen mit Behinderung betrifft. Ich möchte mit diesem Hinweis darauf aufmerksam machen, welcher Druck oft auch auf den Angehörigen eines Behinderten lastet. Das dürfen wir niemals unterschätzen. Um so mehr sollten wir Eltern mit behinderten Kindern motivieren, ihr Kind »normal« zu behandeln und es in allen Bereichen zu fördern.

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Immer gut gehalten, 1967

Wenn ich heute behinderte Menschen sehe, die von ihren Eltern versteckt gehalten und nicht gefördert wurden, erfüllt es mich mit großer Dankbarkeit, dass ich all meine Fähigkeiten austesten konnte und dadurch heute viele Menschen mit meinen vielfältigen Gaben erfreuen kann.

Doch kommen wir erst noch mal zurück zum rollenden Pappeimer im Holzkasten. Mein Vater hat immer versucht, mit wenigen Mitteln viel zu bewegen. Eigentlich war es nur Abfall: ein alter Pappeimer, ein paar Bretter, die man als Tischler sowieso übrig hat, vier Räder, Kleinteile … und fertig war das Ding, das mir mehr Bewegungsfreiheit und sehr viel Spaß schenkte. Das Prinzip meines Vaters, mit wenig Aufwand viel zu bewegen, gilt für mich auch heute noch. Aber leider hat unsere Wegwerfgesellschaft solche Prinzipien immer mehr verdrängt.

Der Pappeimer mit Holzkasten drum herum reichte für mich Energiebündel bald nicht mehr aus. Mein Vater baute mir noch eine größere Kiste als Sandkasten, in dem ich auch in der Mitte gestanden und gespielt habe. Aber auch damit gab ich mich nicht zufrieden. Ich wollte immer kilometerweit laufen. Mein Bewegungsdrang war gewaltig. So mussten sich alle abwechseln und mit mir an einer Hand laufen, laufen und laufen.

Meine Mutter konnte wegen mir keiner normalen Arbeit nachgehen. Doch das Geld war knapp. Damit sie nachmittags bei unserer Hausärztin für ein paar Mark putzen gehen konnte, hatte mich meine Schwester Regina nach der Schule am Hals.

Sie wusste sich zu helfen.

Regina wollte auf den Fußballplatz. Ich nicht.

Meine Schwester rief über die Straße: »Hallo Basti! Mein Bruder will nicht zum Fußball. Du interessierst dich doch auch nicht dafür. Willst du Roland übernehmen?«

»Klar, mach ich.«

Basti band den Sportwagen an sein Fahrrad und ab ging die Post über Berg und Tal. Was für ein Vergnügen!

Am Abend übergab mich Basti wieder Regina. Sie warnte mich: »Wenn du das Mutti erzählst, nehme ich dich nie wieder mit.«

Also hielt ich meine Klappe.

Onkel Peters. Und einige Tiere