Ulli Schubert

Fußballschule am Meer. Teufelskick um Mitternacht

Mit Illustrationen von Elisabeth Holzhausen

 

 

 

Band 2

 

 

Mit Illustrationen

von Elisabeth Holzhausen

 

 

 

 

 

 

Im Nachhinein wusste Finn nicht mehr, warum er gedacht hatte, dass es in Norderdünersiel menschenleer wäre. Der riesige Parkplatz zwischen dem kleinen Fischereihafen und der Schiffsanlegebrücke war jedenfalls überfüllt, und auf der Strandstraße unterhalb des Deiches parkten noch weitere Autos. Der Kiosk an der Brücke war dicht bevölkert, und auf der Terrasse des Strandrestaurants war kein einziger Platz mehr frei.

«In zwei Bundesländern sind noch Sommerferien», erklärte Manfred Brenneisen, der Chefbetreuer, Aushilfskoch, Hobbymasseur, Hausmeister, Fahrer – kurz: das «Mädchen für alles» im Fußballinternat –, als er Finns erstauntes Gesicht sah. «Außerdem ist das Wetter schön. Da kommen die Leute aus einem Umkreis von 100 Kilometern zu uns an die Küste. – Sieh mal, da ist sogar ein Auto aus Hamburg!»

Finn betrachtete im Vorbeifahren die dunkle Limousine mit dem Hamburger Kennzeichen und den getönten Scheiben und suchte automatisch die nähere Umgebung nach muskelbepackten Bodyguards ab. Er konnte sich nicht vorstellen, dass in so einem Wagen eine Familie übers Wochenende zum Baden an die Nordsee fuhr. Andererseits hatte er sich vor ein paar Wochen auch nicht vorstellen können, dass er nach den Fußballferien jemals wieder nach Norderdünersiel zurückkehren würde – und jetzt waren es nur noch ein paar Meter bis zum Sportinternat, seinem künftigen Zuhause. Hier würde er alles lernen, was er können und wissen musste, um seinen großen Traum wahr werden zu lassen: Fußballprofi werden!

Insofern war es auch kein Wunder, dass er in diesem Augenblick nicht eine Sekunde an sein früheres Zuhause dachte; nicht an Mats und Marie, die Zwillinge, die sowieso immer nur nervten, nicht an seinen streitsüchtigen, stets alles besser wissenden Vater und auch nicht an seine Mutter, die es zwar gut meinte, ihm meistens aber auch nicht helfen konnte.

Nein, Finn dachte nur nach vorn, und er war gespannt, ob im Sportinternat inzwischen alles fertig geworden war. Am Ende der zweiwöchigen Fußballsommerferien, bei denen er sich in allerletzter Sekunde für das Internat des FC Norderdünen qualifiziert hatte, war gerade einmal der Rohbau des Haupthauses fertig gewesen. Sonst nichts. Das war jetzt etwas mehr als fünf Wochen her.

«Ob wir wohl wieder in Zelten schlafen müssen?», fragte Filip, der offenbar ähnliche Gedanken hatte.

Finn hatte ihn, Dani und die Zwillinge Brit und Josh während der Fußballferien kennengelernt. Die fünf hatten sich an diesem Samstag in Bremen getroffen und waren die letzte Strecke nach Norden gemeinsam gefahren. Jeder von ihnen trug ein blaues T-Shirt mit einem Fußballerspruch auf der Brust und dem Schriftzug «Die Pappnasen» auf dem Rücken. So hatten sie sich während der Ferien genannt.

«Lass dich überraschen», sagte Manni, bevor er wenige Augenblicke später von der Strandstraße auf das Gelände des Fußballinternats abbog.

«Wow!», machte Dani, die vorne auf dem Beifahrersitz saß, und auch die anderen waren beeindruckt, denn das Gelände war nicht wiederzuerkennen. Direkt vor den Bungalows der Feriensiedlung, dort, wo in den Ferien die Zelte gestanden hatten, war ein kleiner Fußballplatz mit Kunstrasen angelegt worden. Auf der gegenüberliegenden Seite, wo vor wenigen Wochen noch ein Acker gewesen war, entstand ein großer Sportplatz mit einem Fußballfeld, einer Tartanbahn für Laufübungen und zwei Sprunggruben. Und zwischen den beiden Sportplätzen lag das Haupthaus, das tatsächlich fertig geworden war. Der viergeschossige Bau sah super aus: modern, hell und mit viel Glas.

«Ihr wohnt im ersten Stock», erklärte Manni. «Im zweiten sind die 13- und 14-Jährigen untergebracht, und die Zimmer der Ältesten sind ganz oben unter dem Dach.»

«Wohnen Jungs und Mädchen etwa wieder zusammen?», fragte Brit. Sie hatte eine tiefe, fast rostige Stimme, und nicht wenige, die sie hörten und dazu die kurzen Stoppelhaare und das freche Grinsen sahen, hielten sie für einen Jungen. Jedenfalls beim ersten Mal.

«Auf einer Etage, ja», antwortete Manni. «Aber natürlich in getrennten Zimmern.»

«Und was befindet sich im Erdgeschoss?», wollte Dani wissen.

«Der Speisesaal mit der Küche, Büros, Aufenthaltsräume für die Trainer, die Fernsehräume für die Videoanalyse, Behandlungsräume für die Ärzte, eine kleine Bibliothek, ein Bistro, ein Spielzimmer und ein Internetraum mit zehn PCs», zählte Manni auf. «Im Keller gibt es außerdem einen Fitnessraum, einen Massageraum, ein 8 x 15 Meter großes Schwimmbecken, das Billardzimmer, den Tischtennisraum und die Waschküche. – Hab ich noch was vergessen? Ach ja, im Keller findet ihr auch 20 Fahrräder, die ihr gern ausleihen könnt, und hinter dem Haus ist ein riesiger Pool. Und wer es noch größer braucht, kann jederzeit gern in die Nordsee springen!»

«He, da hat sich jemand aber richtig Mühe gegeben», meinte Finn.

Brit kicherte.

«Ein Fußballerspruch?»

Finn schüttelte den Kopf. Er kannte jede Menge Sprüche von Fußballspielern auswendig, von superfrech bis extrem dumm. Er besaß sogar T-Shirts mit solchen Sprüchen. Brit und die anderen «Pappnasen» waren davon so begeistert gewesen, dass sie sich in den Ferien auch welche bedruckt hatten.

«Nein, das hat mein Mathelehrer immer gesagt, wenn einer von uns überhaupt keine Ahnung hatte», erklärte Finn. «Das soll aber nicht heißen, dass es mir hier nicht gefällt. Im Gegenteil, es sieht echt klasse aus. Nur eines verstehe ich nicht: Was soll der Internetraum? Herr Petersen hat doch versprochen, dass jedes Zimmer einen DSL-Anschluss haben wird.»

«Wenn der Boss etwas verspricht, dann hält er es auch – manchmal jedenfalls», behauptete Manni. «Warum steigt ihr nicht einfach aus und schaut selber nach, ob alles so ist, wie ihr es euch vorstellt?!»

Das ließen sich die sieben Profis von morgen nicht zweimal sagen. Einer nach dem anderen kletterte aus dem VW-Bus und holte sein Gepäck aus dem Anhänger. Josh war der Erste, der seine Sachen zum Eingang geschleppt hatte. Er wollte gerade ins Haus gehen, als die Tür von innen aufgestoßen wurde. Sören Petersen, Wurstfabrikant, Präsident des FC Norderdünen und Förderer des Fußballinternats Norderdünersiel, kam in Begleitung eines Mannes heraus, der etwa Mitte dreißig war und Josh sehr bekannt vorkam. Und nicht nur ihm.

«He, Moment mal, ist das nicht … dieser – Dings?», stotterte Filip.

«Dings ist gut», flüsterte Finn. «Das ist Timo Berger, der Torminator!»

«Ex-Torminator», korrigierte Manni. «Sein Vertrag in Hamburg ist Ende der vergangenen Saison ausgelaufen, und jetzt sucht er eine neue Beschäftigung.»

«Timo Berger spielt beim FC Norderdünen?!», fragte Brit irritiert.

«Schön wär’s!» Manni lachte. «Nein, er hat seine Karriere beendet. Aber Timo will weiterhin etwas mit Fußball machen, am liebsten mit Kindern und Jugendlichen. Deshalb beginnt er eventuell ein Praktikum bei uns.»

«Nicht nur eventuell, sondern ganz sicher!», platzte Herr Petersen in das Gespräch. Obwohl Finn die Stimme schon von den Fußballferien her kannte, war er wieder überrascht, wie hoch und leise sie war. Sie passte überhaupt nicht zu dem massigen Körper des Wurstfabrikanten.

«Wir sind uns einig. Das Praktikum beginnt in der kommenden Woche», fuhr der Vereinspräsident fort und rieb sich die Hände. «Und das Beste ist: Wir dürfen mit seinem Namen Werbung für das Fußballinternat machen!»

«Dann ist das also Timo Bergers Wagen auf der Strandstraße?», fragte Finn. «Wieso hat er ihn nicht hier auf dem Parkplatz abgestellt?»

«Er wollte nicht mit dem Internat in Verbindung gebracht werden, solange noch nicht alles unter Dach und Fach war», erklärte Herr Petersen.

«Nee, is’ klar», sagte Filip und kicherte. «Und dann stellt er seinen Wagen fünf Meter vom Internat entfernt auf der Straße ab. Oh Mann, ist der doof! Mich würde echt interessieren, wie viele Sprüche es von ihm auf Finns Lieblingsseite im Internet gibt!»

«Ich finde den gar nicht doof», verteidigte Dani den Ex-Stürmerstar. «Im Gegenteil, das war ein super Fußballer. Eine Zeit lang ist er sogar mein Vorbild gewesen.»

«Das hat damit doch nichts zu tun», entgegnete Brit. «Lothar Matthäus war auch ein toller Fußballer, oder Andi Möller, und die beiden haben jede Menge extrem dummer Sprüche von sich gegeben.»

«Wir können ja mal nachschauen», meinte Finn und beendete damit die Auseinandersetzung.

Während die beiden Erwachsenen davoneilten – Manni, um weitere neue Bewohner des Internats vom Bahnhof abzuholen, und Herr Petersen, um die Presse über die künftige Zusammenarbeit mit dem berühmten Ex-Bundesligaprofi Timo Berger zu informieren –, schleppten die sieben zukünftigen Profis ihr Gepäck in die Eingangshalle, um sich anzumelden. Anders als zu Beginn der Fußballferien war diesmal alles richtig gut organisiert. Am Empfangstresen wurden die sieben von Steffi und Conny begrüßt, zwei jungen Frauen, die schon während der Sommerferien als Betreuerinnen im Fußballcamp gearbeitet hatten. Steffi war für die «Pappnasen» zuständig gewesen und hatte unter anderem die T-Shirts mit ihnen bedruckt. Sie hatten sich gut verstanden, entsprechend groß war die Wiedersehensfreude.

Conny überreichte jedem eine Trainingstasche des FC Norderdünen, in der unter anderem die Hausordnung und ein Lageplan des Internatsgeländes steckten, sowohl auf Papier als auch auf DVD.

«In jedem Zimmer gibt es einen Fernseher mit DVD-Rekorder», erklärte sie auf Lucas Frage, wo er sich die DVD ansehen könnte. «Außerdem hat jeder von euch einen eigenen Schreibtisch, und dazu gehört auch ein Laptop mit DVD-Laufwerk

«Mit Internetzugang?», fragte Finn.

«Jedes Zimmer verfügt über einen ISDN-Anschluss für Telefon und DSL-Internet», beruhigte Steffi ihn. «Noch Fragen? Ansonsten schlage ich vor, dass ihr euch jetzt erst einmal eure Zimmer anschaut.»

Damit überreichte sie die jeweiligen Schlüssel. Wer in welchem Zimmer wohnt, war bereits im Vorwege festgelegt worden. Im Gegensatz zu Brit und Dani sowie Josh und Filip, die gern zusammenwohnen wollten, hatte Finn die entscheidende Stelle im Fragebogen leer gelassen. Er hoffte, auf diese Weise um einen Mitbewohner herumzukommen und ein Zimmer ganz für sich allein zu haben.

Doch die Hoffnung erfüllte sich nicht, das sah Finn auf den ersten Blick, als er die Tür zu seinem neuen Zuhause öffnete. Das Zimmer war groß und hell und sehr geschickt eingerichtet. Durch verschiedenfarbige Wände und zwei Raumteiler wirkte es nicht wie ein Doppelzimmer, sondern wie zwei Einzelzimmer in einem Raum. Jeder hatte seinen Bereich für sich – theoretisch jedenfalls. Praktisch hatte Finns Mitbewohner seine Koffer einfach nur ausgeschüttet und den Inhalt überall im Raum verteilt. Und was für Sachen! Snoopy-Socken, Strumpfhosen, Ringelpullis, die so kurz waren, dass sie Finn noch nicht einmal bis zum Bauchnabel reichen würden, pinkfarbene Schuhe und – als Krönung – ein Michael-Ballack-Poster, verziert mit einem Kussmund! Und das waren nur die Dinge, die Finn auf den ersten Blick entdecken konnte. Sein neuer Mitbewohner schien ein bisschen merkwürdig zu sein!

«Hi, ich bin Charly! Ich hoffe, dich stört so ein bisschen Unordnung nicht?», rief eine fröhliche Mädchenstimme von der Tür.

Eine Mädchenstimme?!

Finn fuhr herum.

«Oh, ein Junge!» Charly legte den Kopf schief und dachte nach. «He, bist du nicht Finn?»

«Du kennst meinen Namen?»

«Klar, du bist doch der mit dem lustigen T-Shirt!» Das Mädchen deutete auf Finns Brust, wo einer der besten Lothar-Matthäus-Sprüche aller Zeiten prangte: «Gewollt hab ich schon gemocht, aber gedurft ham sie mich nicht gelassen!»

Finn lächelte still vor sich hin. Seine Fußballersprüche kamen hier besser an als zu Hause.

«Also – wenn du mögen willst, ich lass dich schon dürfen», sagte das Mädchen.

«Hä?», machte Finn.

Charly kicherte.

«Hier wohnen», sagte sie. «Ich hätte nichts dagegen, mit dir das Zimmer zu teilen.»

«Aber ich!», entfuhr es Finn.

«Wieso? Gefalle ich dir nicht?»

«Äh – wie … was?», stotterte Finn.

Charly lächelte und stellte sich in Positur. Sie ließ ihre Haare fliegen und schaute ihn mit einem betörenden Blick an.

Er verfehlte seine Wirkung nicht. «Ja, okay, du siehst nicht übel aus!», gab Finn verlegen zu.

«Na also – geht doch!» Charly strahlte.

Finn presste die Lippen zusammen. Das Kompliment war ihm peinlich, obwohl es stimmte, was er gesagt hatte. Charly war sogar noch hübscher als Dani! Trotzdem konnte er den Satz natürlich nicht so stehen lassen. «Jedenfalls für ein Mädchen», versuchte er deshalb das Kompliment etwas abzuschwächen. Doch das ging voll nach hinten los.

«Ach, findest du sonst Jungs hübscher?», fragte Charly nämlich.

«Wie? – Nein!», rief Finn entsetzt. Er hatte das ungute Gefühl, dass ihm die Unterhaltung langsam, aber sicher komplett aus den Händen glitt.

«Ich schon», sagte Charly. «Ich mag Jungs.»

«Normal», meinte Finn. «Du bist ja auch ein Mädchen.»

«Genau!» Charly stolzierte an Finn vorbei in das Zimmer hinein, hob das Michael-Ballack-Poster vom Boden auf, fand auf Anhieb eine Rolle Klebeband in dem Chaos und befestigte das Bild an der Wand neben dem Bett.

«Ähem – was machst du da?», fragte Finn irritiert.

«Mich einrichten.» Charly trat ein Stück zurück und kontrollierte, ob das Poster gerade hing.

«Aber … das ist mein Zimmer», sagte Finn leicht verunsichert.

«Meins auch.» Charly warf ihren Kopf herum und schenkte Finn ein atemberaubendes Lächeln. «Von mir aus können wir gern zusammenwohnen. Heimlich. Das merkt doch sowieso keiner!»

«Doch – ich!», sagte Finn. Er nahm sein Gepäck, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

«Die hat doch ’n Knall», murmelte er vor sich hin, als er hinunter zum Empfang ging, wo bereits Luca und Julia standen, die offenbar ebenfalls ein Problem hatten. Finn legte den Schlüssel auf den Empfangstresen.

«In meinem Zimmer ist ein Mädchen», sagte er zu Conny, mit einer Betonung, als wäre sie eine Kammerjägerin, die das Ungeziefer vertreiben sollte.

«Wunderbar!», rief Steffi, die gerade dabei war, den Ordner mit den Anmeldungen durchzublättern. Während Finn noch darüber nachdachte, was daran so toll sein sollte, hatte sie Julia bereits seinen Schlüssel in die Hand gedrückt und ihm ihren gegeben.

«Da ist uns offenbar ein Fehler passiert, aber jetzt ist ja alles in bester Ordnung», atmete Steffi auf. «Dann wohnt Julia jetzt mit Charleen zusammen, und die beiden Jungs teilen sich ein Zimmer. Einverstanden?»

Finn ließ seinen Blick an Luca hinunter und wieder hoch wandern.

«Bist du auch wirklich ein Junge?», fragte er sicherheitshalber.

Luca lachte. «Seit über zwölf Jahren», erklärte er.

«Redest du im Schlaf?», hakte Finn nach, der während der Sommerferien einige böse Überraschungen erlebt hatte. «Schnarchst du? Pupst du nachts? Räumst du dein Zimmer auf oder lässt du alles überall stehen und liegen?»

«Nun …» Luca kratzte sich umständlich am Kopf und sah Finn verlegen grinsend an. «Wie gesagt – ich bin ein Junge!»

Finn seufzte.

«Na, hoffentlich geht das gut», sagte er schließlich leise zu sich selbst und folgte seinem neuen Mitbewohner die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer.