Ulli Schubert

Fußballschule am Meer. Im Alleingang

Mit Illustrationen von Elisabeth Holzhausen

 

 

 

Band 3

 

 

Mit Illustrationen

von Elisabeth Holzhausen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Finn humpelte über den Parkplatz zum Eingang der Fußballschule. Er war so ausgelaugt und platt, dass er sich kaum noch bewegen konnte. Wie so oft in den vergangenen Tagen hatte er sich mal wieder total ausgepowert.

Gleich nach der Mittagspause war er in den Kraftraum im Keller des Internatsgebäudes gegangen und hatte dort Gewichte gestemmt, jede Menge Sit-ups gemacht und in Rekordzeit zwanzig Kilometer auf dem Ergometer gestrampelt. Danach war er im Pool hinterm Haus 20 Bahnen geschwommen, bevor er seine Laufschuhe angezogen hatte und am Strand von Norderdünersiel entlanggelaufen war. Immer hin und her, immer durch den tiefsten Sand und immer im höchsten Tempo!

Wer Finn nicht kannte, konnte glauben, dass er für den nächsten «Ironman» auf Hawaii trainierte, dem wohl härtesten Triathlon der Welt. Auch wenn die Reihenfolge der einzelnen Disziplinen nicht ganz stimmte.

Doch Finn war kein Leichtathlet, sondern Fußballspieler, und er wollte weder auf Hawaii mitmachen noch beim «Hafentriathlon» in Leer oder beim «Nordsee-Man Triathlon» in Wilhelmshaven. Finn wollte einfach nur Pitt Fischer, seinem Trainer, beweisen, was in ihm steckte!

Der Co-Trainer der Ligamannschaft des FC Norderdünen war seit dem Sommer auch für die gemischte D-Jugend des Vereins verantwortlich und machte ein knallhartes Training. Sein Motto hatte er den Jungs und Mädchen vor der ersten Trainingseinheit unmissverständlich mitgeteilt: «Ich erwarte viel von euch, aber dafür biete ich auch viel. Wer sich quält, wer im Training mitzieht, wer sich durchsetzen will, der kann bei mir ein ganz Großer werden. Wer es nicht schafft, hat es auch nicht verdient, in meiner Mannschaft zu spielen!»

Finn wollte es unbedingt schaffen, denn er hatte ein klares Ziel vor Augen: Er wollte dabei sein, wenn der FC Norderdünen in sechs oder sieben Jahren in die Bundesliga aufsteigen würde. Und zwar nicht als Zuschauer oder einfaches Mitglied des Vereins, sondern als Spieler auf dem Rasen!

Finn zweifelte keine Sekunde daran, dass der Club sein ehrgeiziges Ziel erreichen würde. Also musste er nur Pitt Fischer davon überzeugen, dass er ein Vollblutfußballer war, und schon würden ihn alle im Verein auf dem Weg von der D-Jugend bis zur Bundesliga unterstützen!

Unabhängig davon machte es Finn aber auch Spaß, sich selbst alles abzuverlangen. Im Grunde fühlte er sich nur richtig gut, wenn er alles gegeben hatte. Zumindest körperlich. Seinen Kopf beanspruchte er dagegen immer weniger.

Das fiel ihm umso leichter, je mehr er sich tagsüber verausgabte. Deshalb gab er nicht nur beim Sport in der Schule und beim Vereinstraining mit Pitt Fischer alles, sondern quälte sich darüber hinaus in jeder freien Minute auch noch alleine weiter. So lange, bis kein einziger Funken Energie mehr in ihm steckte. Er wollte am Abend nicht mehr in der Lage sein, an irgendetwas denken zu können.

Die Strategie funktionierte, und so beschäftigte Finn sich in diesen Tagen ausschließlich mit den drei Dingen, die ihn am meisten interessierten: Fußballspielen, Fußballtraining und Fußballersprüche! Dass es daneben noch einiges gab, was auch ein Fußballerleben lebenswert machte, ging an Finn vorbei. Ihm fehlte nichts. Glaubte er jedenfalls. Aber das sollte sich schon sehr bald ändern!

Finn freute sich auf die Dusche, als er das Internatsgebäude betrat und sich die Treppe hinauf in den ersten Stock schleppte, wo die Zimmer der D-Junioren lagen. Vielleicht würde er später noch ein bisschen im Internet nach neuen Fußballersprüchen suchen oder zum Ausschwimmen nochmal in den Pool springen. Mehr war an diesem Tag dann aber wirklich nicht drin!

Luca, mit dem er das Zimmer teilte, schaute nicht einmal hoch, als Finn eintrat. Er saß an seinem Schreibtisch und sah schwer beschäftigt aus. Neben ihm auf dem Boden stapelten sich die Schulbücher.

Verdammt, die Hausaufgaben!, dachte Finn. Er war in der Schule bereits einige Male negativ aufgefallen, weil er seine Aufgaben gar nicht oder nur zum Teil gemacht hatte. Auch an diesem Tag hatte er keine Lust dazu.

Nur widerwillig setzte Finn sich an seinen Schreibtisch. Er wusste genau, dass es im Grunde überhaupt keinen Sinn machte. Dafür hatte er sich in den vergangenen zwei Stunden den Kopf viel zu gründlich leertrainiert!

Um den Schein zu wahren, kramte er seine Schulsachen hervor und tat wenigstens ein paar Minuten lang so, als ob er die Hausaufgaben machen würde. Doch schon bald schaute er immer öfter zu Luca hinüber. Sein selbsternannter Bruder merkte jedoch nicht, dass er Hilfe brauchte, oder es war ihm egal. Beides sprach nicht gerade für ihn, und deshalb wollte Finn ihm auch nicht den Triumph gönnen und ihn um Hilfe bitten.

Mit einem lauten Seufzer der Erleichterung, der allerdings nicht besonders gut gespielt war, ließ Finn den Stift fallen, klappte das Heft zu und rieb sich über das Gesicht.

Luca sah hoch und blickte ihn erstaunt an.

«Bist du schon fertig?», fragte er.

«Klar», log Finn und hörte selbst, dass seine Stimme nicht sehr überzeugend klang.

«Oder brauchst du Hilfe?», fragte Luca prompt.

Das Angebot war eindeutig ehrlich gemeint, aber es kam zu spät. Finn hatte sich innerlich schon darauf eingestellt, an diesem Tag keine Hausaufgaben mehr zu machen.

«Ich habe fertig», zitierte er den wohl bekanntesten Satz aus der berühmt-berüchtigten Wutrede des einstigen FC-Bayern-Trainers Giovanni Trapattoni. Doch Luca fand Finns Fußballersprüche-Sammlung nicht annähernd so lustig wie Brit. Oder er war davon beeindruckt, wie energisch Finn seinen Schreibtisch wieder leer räumte und alle Sachen in der Schultasche verschwinden ließ. Auf alle Fälle lachte er nicht.

«Du weißt, dass du Ärger mit Herrn Dittmer bekommst», sagte er stattdessen.

Tatsächlich hatte der Mathelehrer erst an diesem Morgen unmissverständlich erklärt, dass sich ab sofort jeder sehr warm anziehen müsste, der auch nur noch ein einziges Mal eine Aufgabe vergessen würde! Diese Drohung hatte der ganzen Klasse gegolten, aber da Finn der Auslöser für den Ärger des Lehrers gewesen war, hatte Herr Dittmer ihn ganz besonders lange und intensiv angeschaut.

Allen war klar, dass sich keiner in den nächsten Tagen auch nur die kleinste Kleinigkeit im Unterricht erlauben durfte. Das galt vor allem für Finn! Doch der rechte Verteidiger hatte das Denken ja eingestellt, und so dachte er auch nicht über die Konsequenzen nach, die ihm drohten, wenn Herr Dittmer ihn am nächsten Tag wieder ohne Hausaufgaben erwischen sollte.

Finn zuckte jedenfalls gleichgültig mit den Schultern, und Luca vertiefte sich wieder in seine Hausaufgaben. Für einen Augenblick reizte es Finn, ihm seine Hilfe anzubieten, aber das wäre dann doch wohl etwas zu frech gewesen. Nachher nahm Luca das Angebot noch an!

Nachdem Finn die Hausaufgaben auf seine Art «erledigt» hatte, startete er sein Notebook, um im Internet nach neuen Sprüchen von Fußballern zu suchen. Doch dann fiel ihm ein, dass noch nicht einmal zwanzig Stunden vergangen waren, seit er das letzte Mal seine Lieblingsseiten durchsucht hatte. So viele dumme Fußballer gab es nun auch wieder nicht, dass er bereits neue Sprüche finden würde, also fuhr er den Computer wieder herunter. Dann fuhr er ihn wieder hoch, um nachzuschauen, ob er Post bekommen hatte. Doch wer sollte ihm schreiben?! Sein Vater war froh, dass Finn nicht mehr zu Hause wohnte und er ihn nicht jeden Tag sehen musste, was umgekehrt allerdings genauso galt. Mats und Marie, die Zwillinge, konnten noch gar nicht schreiben, und von seiner Mutter hatte er gerade erst einen Brief mit tausend Grüßen, noch mehr Küssen und fünfzig Euro bekommen. Wahrscheinlich war sie die Einzige, die Finn ehrlich vermisste. Jedenfalls ab und zu. Selbst zu Stevie, seinem damals besten Freund, zu seiner alten Klasse und sogar zu seiner ehemaligen Mannschaft war der Kontakt abgebrochen, seit Finn im Fußballinternat lebte. Folgerichtig war sein E-Mail-Briefkasten leer, und Finn machte das Notebook endgültig aus.

Er überlegte kurz, ob er duschen sollte, aber auch dazu konnte er sich nicht aufraffen. Also legte er sich verschwitzt, wie er war, auf sein Bett, schloss die Augen und ging seiner absoluten Lieblingsbeschäftigung nach: Er träumte von einer steilen Karriere als Fußballprofi!

Irgendwann war er dabei wohl eingeschlafen. Finn lief jedenfalls gerade mit dem Champions-League-Pokal in den Händen eine Ehrenrunde, als ihn jemand unsanft an der Schulter rüttelte.

«He, Vorsicht! Der Pokal!»

«Pokal ist gut», sagte Luca und lachte.

Finn öffnete die Augen und sah, dass er einen seiner beiden Laufschuhe in die Höhe streckte. Der andere lag neben ihm auf dem Kopfkissen. Offenbar hatte er sie im Halbschlaf noch ausgezogen, aber nicht mehr vor das Bett gestellt.

«Warum weckst du mich?», knurrte Finn. «Ich habe gerade so schön geträumt.»

«Hast du etwa das Training vergessen?», fragte Luca erstaunt.

«Welches Training?», fragte Finn erschrocken.

«Wir haben heute doch das Sondertraining, zusammen mit den anderen beiden Mannschaften.»

«Oh», machte Finn. Irgendwo ganz weit hinten in seinem Denkkasten regte sich tatsächlich eine winzige Erinnerung.

Beim FC Norderdünen gab es neben Finns Mannschaft, die sich die «Pappnasen» nannte, noch drei weitere D-Junioren-Teams: die 1. D-Jugend, in der nur Jungs aus Norderdünen kickten, dazu die D-Juniorinnen, eine reine Mädchenmannschaft, die sich aus einheimischen Mädchen und Spielerinnen aus der Sportschule zusammensetzte, und eine weitere reine Jungsmannschaft, in der vor allem die etwas jüngeren und die etwas schlechteren Spieler kickten. Für diesen Tag hatte Pitt Fischer angekündigt, dass die «Pappnasen» mit dem Mädchenteam und der 1. D-Jugend gemeinsam trainierten.

Fast 40 Kicker gleichzeitig auf einem Fußballplatz! Besonders spannend klang das nicht. Deshalb hatte Finn das Training wohl auch vergessen und sich schon am Nachmittag komplett verausgabt. Auch den Grund für das Sondertraining wusste er nicht mehr. Aber damit war er ausnahmsweise mal nicht allein.

«Keine Ahnung», sagte Luca, als Finn ihn danach fragte. «Aber Herr Fischer wird es uns bestimmt gleich erklären. Also los, beeil dich. Du hast nur noch zehn Minuten!»

Luca verschwand aus dem Zimmer, und Finn schickte ihm einen Fluch hinterher. Warum hatte er ihn nicht eher geweckt?! Zehn Minuten waren nicht viel, um sich für das Training umzuziehen und zum Platz zu laufen. Zum Glück war der große Sportplatz direkt an der Fußballschule inzwischen fertig geworden. Seitdem fand das Training meistens dort statt und nicht mehr auf einem der Nebenplätze des Stadions, das ein paar hundert Meter entfernt lag. Zurzeit konnte dort sowieso nicht trainiert werden, weil der Neubau des Stadions kurz vor der Fertigstellung stand und alles abgesperrt war. Am übernächsten Wochenende sollte der neue Sportpark des FC Norderdünen feierlich eingeweiht werden.

Um Zeit zu sparen, zog Finn die Fußballschuhe bereits im Zimmer an, obwohl es verboten war, mit Fußballstiefeln durch das Haus zu laufen; wegen des Drecks, der unter den Sohlen klebte, vor allem aber, weil das Gehen mit Stollenschuhen auf dem teilweise ziemlich glatten Boden zu gefährlich war.

Finn wurde prompt erwischt.

«Schuhe aus, aber sofort!», ertönte von unten die Stimme von Steffi, eine der Betreuerinnen, die dafür sorgten, dass der Tagesablauf in der Fußballschule möglichst reibungslos funktionierte. Sie waren aber auch für die Sorgen und Nöte der Fußballschüler da, bei Stress mit einem Mitbewohner, Ärger mit den Eltern, in der Schule oder bei Liebeskummer. Und sie achteten darauf, dass die Regeln eingehalten wurden.

«Ich dachte, du merkst es nicht», rief Finn.

«Für wie blöde hältst du mich?», fragte Steffi. «Ich hab das Klackern deiner Stollen schon gehört, da hattest du die Schuhe noch gar nicht an!»

«Starke Leistung!», sagte Finn. Er zog seine Fußballstiefel wieder aus und ging auf Socken die Treppe hinunter, was nicht weniger rutschig und deshalb mindestens genauso gefährlich war. «Damit solltest du im Fernsehen auftreten. Bei ‹Deutschland sucht das Superohr›!»

Steffi lachte.

«Gute Idee! Dann werde ich reich und berühmt und muss nicht immer wieder denselben wie blind durch die Gegend laufenden Heranwachsenden die einfachsten Dinge erklären, die eigentlich schon Kleinkinder verstehen müssten! Apropos: Beim nächsten Mal ziehst du deine Turnschuhe an, wenn du zum Trainingsplatz gehst. Hast du das verstanden?»

Finn öffnete seinen Mund, um sich herauszureden und Luca die Schuld zu geben, weil der ihn viel zu spät geweckt hatte. Doch Steffi ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.

«Wir können das auch gleich jetzt üben, wenn du willst», sagte sie und zeigte ihm ihr zuckersüßes Lächeln.

Finn klappte seinen Mund schnell wieder zu. Wenn er auch nur eine Minute zu spät zum Training kam, konnte er gleich wieder umkehren. Nicht nur in dieser Hinsicht war Pitt Fischer gnadenlos.

Finn und die anderen hatten ihren neuen Trainer kennengelernt, kurz nachdem die Fußballschule am Meer eröffnet worden war. Sie hatten sich ein Spiel der 1. Herren des FC Norderdünen angeschaut, das nach einem 0 : 3-Rückstand zur Halbzeit dank einer engagierten Aufholjagd nach 90 Minuten noch mit 3 : 3 endete. Trotzdem hatte die Mannschaft in diesem Spiel eklatante Schwächen offenbart, und zwar in allen Mannschaftsteilen! Mit diesen Spielern würde der Verein noch nicht einmal in die Regionalliga Nord aufsteigen, geschweige denn in die 1. Bundesliga! In dem Punkt waren sich die Fußballschüler schnell einig gewesen.

Pitt Fischer, der damals noch ausschließlich Co-Trainer der Ligamannschaft gewesen war, hatte Finn und seine Freunde beruhigt. Die aktuelle 1. Herren-Mannschaft sollte in der Hinserie nur den Kontakt zur Tabellenspitze nicht verlieren. In der Winterpause sollten dann neue Spieler verpflichtet werden, die aufsteigen und sich in der Regionalliga Nord behaupten sollten, bis die gerade in der Fußballschule aufgenommenen B- und A-Juniorenspieler alt und vor allem gut genug waren, um in die Ligamannschaft integriert zu werden und für den nächsten Aufstieg in die 3. Liga zu sorgen. Zusammen mit den größten Talenten der jetzigen C-Junioren wollte der Verein dann auch noch den Aufstieg in die 2. Bundesliga schaffen, und wenn Finn und seine Freunde so weit wären, sollte schließlich die 1. Bundesliga angepeilt werden. Und zwar am besten nur mit «Eigengewächsen», also mit Spielern, die in der Fußballschule am Meer ausgebildet worden waren!

Finn fand das Konzept überzeugend, und er hatte auch Verständnis dafür, dass die Verantwortlichen streng waren und sehr genau darauf achteten, dass alle immer gut mitzogen. Vor allem natürlich beim Training. Also beeilte er sich lieber, um nicht zu spät zu kommen.