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CHRISTIAN
IRRGANG

Ostsee
linksherum

ANSICHTEN
EINES
SEGELSOMMERS

 

 

 

 

 

 

 

 

DELIUS KLASING VERLAG

 

 

 

Datenkonvertierung E-Book: HGV Hanseatische Gesellschaft für
Verlagsservice, München

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I‘ve spent my life watching sky and sea change colour
Hypnotised by
The Beauty of it all
And you ask me why I’m singing …

(Hothouse Flowers)

Inhalt

6. Tag, Rügenwalde (Darlowo), Freitag, 21. Mai

9. Tag, Gdansk (Danzig), Pfingstmontag, 24. Mai

13. Tag, Klaipeda (Memel), Freitag, 28. Mai

16. Tag, Libau (Liepaja), Montag, 31. Mai

24. Tag, Kuressaare (Arensburg), Dienstag, 8. Juni

28. Tag, Kihnu (Kühnö), Sonnabend, 12. Juni

32. Tag, Haapsalu (Hapsal), Mittwoch, 16. Juni

34. Tag, Tallinn (Reval), Freitag, 18. Juni

Das Virus, Hamburg, 1. Mai 1970

41. Tag, Hanko, Freitag, 25. Juni

47. Tag, Mariehamn, Donnerstag, 1. Juli

49. Tag, Reposaari, Sonnabend, 3. Juli

57. Tag, Kemi, Sonntag, 11. Juli

64. Tag, Kage, Sonntag, 18. Juli

71. Tag, Härnösand, Sonntag, 25. Juli

79. Tag, Öregrund, Montag, 2. August

89. Tag, Stockholm, Donnerstag, 12. August

95. Tag, Idö, Mittwoch, 18. August

98. Tag, Visby, Sonnabend, 21. August

107. Tag, Svaneke, Montag, 30. August

Der letzte Tag, Seedorf, Donnerstag, 1. September

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Standort Rügenwalde (Darlowo),
Freitag, 21. Mai, der 6. Tag

Ahoi, Landratten!

Ein stiller, heller Morgen im Mai. Blassblauer Himmel über Rügen, Tagesanbruch. Auf dem Wasser liegt milchiger Dunst. Seedorf, der kleine Hafen im Südwesten der Insel, schläft noch tief und fest. Ich drehe den Bug in die Morgensonne. Lautlos gleitet mein Boot am Schilfgürtel entlang, die Halme rascheln leise im Wind. Aus dem Wäldchen gegenüber ruft ein Kuckuck. Der Beginn meiner großen Reise, genauso habe ich ihn mir immer vorgestellt. Lange habe ich auf diesen Moment gewartet, jetzt endlich ist es so weit! – und natürlich ist alles vollkommen anders.

Und zwar so: Sonntagmorgen, 16. Mai 2010. Sprühregen aus dunkelgrauem Himmel, Südwestwind Stärke fünf. So geht das schon seit Tagen. Was ist bloß mit dem Wetter los in diesem Frühjahr? Unruhig laufe ich auf dem Steg hin und her. Immer wieder suche ich am Horizont nach einem Hoffnungsschimmer, doch da ist nichts in Sicht. Langsam muss ich mich aber mal entscheiden, und deswegen sage ich laut zu mir selbst: Jetzt! Jetzt soll es sein! Damit diese Warterei ein Ende hat.

Wollsocken, Segelstiefel, Schal und Mütze, rotes Ölzeug überm Faserpelz, das volle Programm. Schließlich noch die Schwimmweste mit dem Lifebelt. Zum ersten Mal schlage ich die Fallen an und ziehe die Segel hoch. Noch keine Spur von Routine, jeder Handgriff will genau überlegt sein. Das Boot hängt jetzt nur noch an der Vorleine, die Segel schlagen im Wind. Dann löse ich auch diese letzte Verbindung, klettere zurück ins Cockpit und hole die Schoten dicht. Die CILLY legt sich auf die Seite und nimmt Fahrt auf. In meiner Blutbahn kreist ein Adrenalincocktail. Dann, mit einem Schlag, löst sich die Anspannung der letzten Tage und Wochen. Ich kann nicht anders und brülle, so laut ich kann, über den ganzen Hafen: »Ich bin unterwegs!« Angst und Aufregung, Nervosität und Freude, der Wunsch, lieber noch zu bleiben, und die beinahe unerträgliche Ungeduld, endlich loszukommen, all meine Gefühle geraten in diesem Augenblick vollkommen durcheinander; ich kann es kaum beschreiben. Das Wasser in meinen Augen kommt jedenfalls nicht allein vom Regen.

Konni und Brigga, seine Frau, haben ihren Drachen klargemacht und begleiten mich noch eine Weile. Nebeneinander kreuzen wir raus auf den Rügischen Bodden. Draußen steht eine kurze, unangenehme Welle. Immer wieder Schauerböen. Bald sind die beiden nass und durchgefroren. Ein letztes Winken, dann drehen sie ab. Von nun an bin ich allein.

Querab des Seebades Bansin kommt ein großes Schlauchboot längsseits, fünf Mann in schwarzen Uniformen und alles andere als freundlich: Bundespolizei. Woher, wohin, wer ist an Bord, sie wollen meinen Ausweis sehen. Ich muss ihn in einen Kescher werfen und rüberreichen. Schließlich, nach genauer Überprüfung meiner Identität über Funk, haben sie noch eine letzte Frage, anscheinend ganz ernst gemeint: »Führen Sie mehr als 10 000 Euro in bar mit sich?«

O Mann, seh ich vielleicht so aus, allein auf meinem kleinen Holzboot? Was für ein merkwürdiger Abschied von Deutschland.

Ein paar Meilen weiter, kurz hinter der berühmten Seebrücke von Ahlbeck, geht meine erste Gastlandflagge hoch. Polen. Die erste von acht, die eine nach der anderen da oben flattern werden.

So befremdlich die letzte Begegnung im eigenen Land, so freundlich der Empfang in Swinemünde. Bevor ich überhaupt einen Fuß an Land setzen kann, reichen mir ein paar polnische Motorbootfahrer ein Glas Wein aufs Vorschiff.

Und im roten Wein funkelt jetzt, am Ende dieses ersten Tages, sogar die Abendsonne.

Swinemünde, auf Polnisch Swinoujscie, ist der südlichste Hafen der gesamten Ostsee und damit auch der südlichste Punkt meiner Reise. Ab jetzt geht’s nur noch nordwärts. Tolles Gefühl!

So also beginnt die Reise, von der ich geträumt habe, seit ich mit Sanne und unseren beiden Töchtern vor 15 Jahren zum ersten Mal Segelurlaub in Griechenland machte. Ich dachte, wie schön es doch wäre, könnte ich mich einmal einen ganzen Sommer lang ohne jeden Zeitdruck zwischen den Inseln treiben lassen, ohne immer schon nach zwei oder drei Wochen wieder an Land gehen zu müssen.

Dieser Gedanke ließ mich nicht mehr los, aber, auch das war mir klar, so einen Traum träumen ja viele. Bücher, die davon handeln, einfach mal weg zu sein, zu Lande oder zu Wasser, füllen die Regale meterweise. Doch für die meisten Träumer bleibt es beim Lesen und für die meisten Leser beim Träumen. Was, wenn ich es tatsächlich schaffen würde, loszufahren? Einen ganzen Sommer lang, drei oder vier Monate am Stück, warum eigentlich nicht?

In den folgenden Jahren fuhren wir wieder nach Griechenland, segelten im blauen Ionischen Meer, und ich ertappte mich dabei, dass ich immer konkreter über mein Vorhaben nachdachte. Ich begann allerdings auch, das Revier kritisch zu betrachten. Die griechischen Häfen sind immer voll. Da ist es heiß, manchmal sogar sehr heiß; selbst im Hochsommer wird es abends schon früh dunkel. Alles nicht wirklich ideal. Gab es denn vielleicht eine Alternative? Allerdings, die gab es, und zwar direkt vor der Haustür. Die Ostsee, eins der schönsten Segelreviere überhaupt! Dort könnte ich einfach immer weiter nach Norden segeln, bis es irgendwann überhaupt nicht mehr dunkel wird. Dort sind die Häfen auch im Sommer nie voll. Ich müsste mir nicht ernsthaft Gedanken über zu viel Hitze machen – und mit den Mücken würde ich auch noch fertig werden. Einmal ganz außen rum, ohne ein einziges Mal meinen Kurs zu kreuzen. Immer vorwärts, statt nur hin und her.

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Die nächste Frage war, wann der richtige Zeitpunkt für solch eine Reise sein könnte. Unsere beiden Töchter müssten mit der Schule fertig sein, so viel stand fest. Im Abi-Stress wollte ich sie nicht allein lassen – und beim Feiern hinterher natürlich auch nicht. Der Sommer 2009 wäre demnach die erste Möglichkeit für meinen großen Törn. Bis dahin waren es damals noch genau sechs Jahre. Zeit genug, um aus dem vagen Traum einen ernsthaften Plan zu machen.

Morgens gleich weiter nach Kolberg (polnisch: Kolobrzeg). Herrliche Nordwestbrise, halber Wind, die Schoten geschrickt, da rutscht mein kleines Boot in Böen mit neun Knoten die Wellen runter. Und im Logbuch steht es schwarz auf weiß: 11 Uhr Sonne! 12.30 Uhr Sonne!! 14.30 Uhr Sonne!!! Und schließlich: 16 Uhr Sonne, vier Ausrufezeichen.

Die Einfahrt nach Kolberg ist schmal, davor stehen bei diesem Wind kräftige Wellen. Trotzdem muss ich da jetzt rein, nützt ja nichts. Unter vollen Segeln rausche ich auf den Hafen zu, und zwischen den langen Molen wird das Wasser bald ruhiger. Weiter drinnen, in der Abdeckung der hohen Lagerhäuser, ist fast Flaute.

Am nächsten Morgen weht der Nordwest mit fünf plus. Keine Chance für mich, hier rauszukommen. Das bedeutet: mein erster Hafentag. Da kann ich mal in Ruhe basteln.

Ich bin mit einem Folkeboot unterwegs, einem dieser wunderhübschen Holzboote mit bernsteinfarbenem Rumpf. Gebaut hat es vor 30 Jahren eine kleine Werft in Svendborg. Die Baunummer 793 mit dem D für Dänemark steht bis heute im Großsegel. Das Boot ist topfit, aber, jeder Holzbootsegler weiß das, ab und zu ist immer mal was. Wenn’s bei Kleinigkeiten bleibt, bin ich froh. Gestern hatte ich zum Beispiel ein Problem mit meiner Cockpitsitzbank. Da fielen auf einmal die Schrauben einfach eine nach der anderen raus, und jetzt versuche ich, das mit Bordmitteln wieder hinzubekommen. Da steht plötzlich jemand auf der Pier, begrüßt mich auf Deutsch, sagt: »Hallo, ich bin Jörn Heinrich«, sieht sofort, dass ich zwei linke Hände habe, und bietet mir spontan an, mich und das Brett mit in seine Werkstatt zu nehmen. Es dauert eine Weile, bis bei mir der Groschen fällt und ich mitbekomme, dass es der Jörn Heinrich ist, dessen Handbücher für die polnische und baltische Küste auch in meinem Bücherschapp stehen. Seit einigen Jahren lebt er hier und baut in seiner Kellerwerkstatt ausgeklügelte Windfahnen-Selbststeueranlagen. Er ist ganz erstaunt, dass ich völlig ohne Autopilot unterwegs bin, und kann gar nicht glauben, dass ich so etwas auch überhaupt nicht haben will.

Erst einmal fahren wir also zu einem Baumarkt und kaufen die nötigen Schrauben. Dann folgt eine kleine Geschichtsstunde. In Jörns altem Golf kurven wir ein paar Runden über den alten Flugplatz von Kolberg. Überwucherte Bunkeranlagen, schlaglöcherige Rollbahnen, mehr ist hier nicht übrig geblieben. Aber 1939 starteten von hier aus Hitlers Bomber, um Warschau in Trümmer zu legen. In den ehemaligen Kasernen, in einem Kiefernwäldchen gelegen, sind heute Wohnungen. Im Offizierstrakt unterm Dach wohnt Jörn mit seiner Familie. Wir gehen in den Keller, und hier, mit dem richtigen Werkzeug, geht alles ruck, zuck. Neue Löcher gebohrt, neue Schrauben rein und fertig.

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Wonnemonat Mai: Mütze, Handschuhe, Heißgetränk.

Später laufe ich alleine durch die Stadt. Hoch oben thront der Mariendom, eine mächtige Backsteinbasilika. Bei Kriegsende war davon kaum noch etwas übrig. Die Rote Armee hatte die ehrwürdige Kirche bei der Einnahme der Stadt fast vollständig zerschossen. Später wollten die Sowjets auch noch die Reste sprengen, aber da hatten sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Kolberger wollten ihr Wahrzeichen nämlich gern behalten, und so fuhren polnische Soldaten kurzerhand ihre Panzer in die Kirche, stellten sie dort ab und nahmen die Schlüssel mit. Da bliesen die Russen die Sprengung lieber ab, denn die Panzer wurden ja noch gebraucht. So jedenfalls hat mir Jörn die Geschichte erzählt.

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Mit voller Blase durch dichten Nebel.

Vorn an der Strandpromenade gibt es Fish & Chips, dann fängt es leider an zu regnen. Ich sitze gemütlich in meiner Kajüte, in warme Decken eingewickelt, höre den Regentropfen zu, die auf meine Cockpitpersenning prasseln, und lese beim Schein der Gaslampe ein schönes Buch mit dem sehr passenden Titel Auf Reisen. Die Lampe ist nicht nur recht hell, sondern auch schön warm, sodass die kleine Kajüte komplett beheizt wird – auf mollige 15 °C …

Sechs Uhr am nächsten Morgen. Ich schaue aus dem Fenster und lege mich gleich wieder hin. Pottendichter Nebel. Also: der zweite Hafentag. Als es gegen elf Uhr aufklart, ist es zum Auslaufen schon zu spät. Denn es brist aus Nordost, nicht gerade ideal für meinen Kurs Richtung Rügenwalde (Darlowo). Wie sagte Käpt’n Wolter, mein alter Segellehrer, immer so schön, damals in Travemünde? »Fahrtensegler kreuzen nicht!« Na bitte.

Viele Touristen spazieren durch den Hafen, immer wieder sprechen mich Deutsche an. Meistens ältere Herrschaften, die hierher zur Kur gekommen sind, aber auch ein junges Pärchen aus Lübeck, auf Radtour durch Polen. Sie wollen alles wissen über mein Boot und meine Pläne, denn sie haben auch ein Folke, das liegt in Neustadt. Als sie weiterradeln, sind sie, glaube ich, ein bisschen neidisch.

Sonne und Nebel wechseln sich jetzt halbstündlich ab. Um 17 Uhr gibt der Klempner, der seit gestern in den Sanitärcontainern gewerkelt hat, das ersehnte Zeichen. Das Wasser läuft wieder, wenn auch nur in einer Dusche. Die anderen Duschen, ebenso wie die Toiletten, sind leider in einem ziemlich desolaten Zustand. Wofür verwenden die hier wohl die Hafengebühren, die sie jeden Abend kassieren?

Ein neuer Morgen, und wieder ist alles dicht. Dazu nur schwacher Wind aus Nord. Deutschlandfunk um 6.40 Uhr sagt: »Anfangs diesig.« Hoffnung keimt auf, dass sich der Nebel, so wie gestern, später verzieht. Um halb acht lege ich ab, Ziel ist heute Darlowo. Erst mal kreuze ich Schlag um Schlag aus der engen Einfahrt, dann liege ich bis halb zehn wie festgewurzelt in einer Totenflaute, keine Meile vor dem Hafen. Ich versuche es mit meinem Außenborder, doch das funktioniert überhaupt nicht. In der alten Dünung, die noch von gestern steht, taucht die Schraube immer wieder aus dem Wasser. Noch mache ich mir darüber keine weiteren Gedanken, außerdem beginnt es gerade leise zu lüfteln. Zwei Windstärken, vielleicht drei aus Nordwest. Das bedeutet bei meinem Kurs von 62°: Backstagsbrise. Und jetzt kommt zum ersten Mal mein Turbo zum Einsatz: Ich setze die Blase, meinen blauweißen Gennaker. Das ist ja klasse! Feinstes Gennakersegeln mit halbem Wind, vier bis fünf Knoten, aber das Ganze leider völlig blind. Die Hoffnung auf klare Sicht habe ich inzwischen aufgegeben. Ich orientiere mich nur mithilfe des Kartenausschnitts auf meinem GPS, fahre dicht unter Land, so dicht, dass ich die Stimmen der Spaziergänger am Strand hören kann, immer an der Fünfmeterlinie entlang. Um sieben Uhr abends wird es eher noch schlimmer. Der Wind ist nun wieder völlig weg, der Schwell aber auch. Ganz vorsichtig taste ich mich unter Motor an die Einfahrt von Darlowo heran und sehe die Molenköpfe erst, als ich schon genau zwischen ihnen bin. Wie schön, dass es GPS gibt. Und was nützen eigentlich die Feuer auf den Molen, wenn sie nicht angeschaltet sind?

Weil es schon so spät ist, hole ich meine Handfunke raus, die ich genau für solche Fälle mitgenommen habe (ohne mich um die vorgeschriebenen Funksprechzeugnisse, Anmeldungen etc. zu kümmern – wir sind hier ja schließlich in Polen), und frage den Hafenmeister, ob die Brücke, die den hinteren Hafenteil versperrt, heute noch mal aufmacht. Die Antwort kommt prompt, ich bekomme eine Privatdurchfahrt. Außerdem winkt der freundliche Mann mich noch zu sich heran und wirft mir einen Schlüssel für den nagelneuen Sanitärcontainer zu, neben dem ich später, als einziges Boot, festmache.

Heute Morgen keine Besserung: alles pottendicht und null Wind. Rund 50 Meilen sind es bis Leba, keine Chance für mich und die CILLY. Aber ich entdecke vorn am Strand das Hotel Apollo, da gibt es leckeren Kaffee und Kuchen. So gestärkt, ziehe ich mir die Laufschuhe an und jogge eine Stunde den lang gezogenen Strand entlang. Eben war hier noch alles öd und leer, aber plötzlich ist der Himmel blau, und auf einmal sind sie alle da. Buntes Treiben. Männer, Frauen, Kinder, alles wuselt durcheinander, ein Bild wie aus einem Prospekt für eine Sommerfrische an der See. Ein paar ganz Mutige baden sogar schon!

Mast- und Schotbruch!, der Alleinsegler

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Standort Gdansk (Danzig),
Pfingstmontag, 24. Mai, der 9. Tag

Ahoi, Landratten!

Nach einem sonnigen Morgen regnet es nun. Campingfeeling unterm Cockpitzelt, mitten in der Danziger Altstadt. 36 Stunden nonstop, bis ich gestern Abend hier war. Nonstop ist allerdings leider nicht ganz richtig. Denn eigentlich war’s nur stop and go:

Als ich am Sonnabendmorgen Darlowo achteraus lasse, scheint eine bleiche Sonne durch den Morgendunst. Wind soll später kommen, haben sie gesagt, doch davon ist noch nichts zu spüren. Das Wasser ist spiegelglatt, und so schnurrt der Quirl am Heck klaglos, und ich mache langsam, aber stetig Strecke. Zwei Stunden geht das so, ganz gemächlich mit drei Knoten Fahrt, dann sehe ich, wie eine leichte Gänsehaut über die Wasseroberfläche zieht. Da kommt sie, die Brise. Motor aus, endlich Stille. Um 13 Uhr lasche ich die Pinne fest und mache mir Kartoffelsuppe aus der Dose heiß. Muss man ja ausnutzen, wenn das Boot mal nicht schaukelt. Dann nimmt der Wind zu, aber gleichzeitig kommt wieder Nebel auf. Verdammt! Ich habe inzwischen die Blase gezogen und »rase« mit fünf Knoten durch die Waschküche. Der Radarreflektor, die extra große Ausführung, die ich nur setze, wenn’s so dicke kommt wie jetzt, hängt auf Halbmast, aber ganz geheuer ist mir das alles trotzdem nicht. Nur die Tatsache, dass ich wieder dicht unter Land, knapp neben der Zweimeterlinie bleibe, wo ich sicher bin, keinem größeren Schiff zu begegnen, und die bisherige Beobachtung, dass ich so ziemlich der einzige Segler bin, der hier und jetzt unterwegs ist, lässt mich das Ganze einigermaßen gelassen sehen. Um 14.30 Uhr passiere ich Stolpmünde (Ustka), irgendwo da im Nebel muss es liegen. Ich verschärfe meine Aufmerksamkeit, muss ja nicht sein, dass ich mit dem einzigen Fischerboot kollidiere, dass da vielleicht gerade rein- oder rausfährt.

Gegen 17 Uhr klart es endlich auf. Der Wind ist unbeständig: Mal bleibt er ganz weg und lässt den Gennaker in sich zusammenfallen, mal haucht er mich sanft an und die Blase füllt sich wieder. Um 19 Uhr zeigt das GPS null Knoten Fahrt an. Windstille. In diesem Moment fällt mir ein, dass ich eine Angel an Bord habe. Also raus mit dem Pilker! So bin ich wenigstens beschäftigt. Genau das Richtige, denke ich, da kommt vielleicht eine meditative Ruhe auf, die mir helfen wird, die elende Flautendümpelei gelassen zu ertragen. Ich kann ja nicht ahnen, dass es nur ein paar Minuten dauert, bis es richtig hektisch wird, denn ich habe einen am Haken. Und gleich einen ordentlich großen, einen armlangen Dorsch! Ich frage mich, wer überraschter ist, er oder ich. Zum Glück für ihn habe ich aber keine Lust auf ein Blutbad auf dem Achterschiff. Nachdem ich ihn fotografiert habe, darf er zurück ins Wasser. Was sollte ich denn sonst mit ihm anfangen? Zum Aufessen ist er für mich alleine zu groß, und eine richtige Kühlung habe ich nicht an Bord. Außerdem werde ich heute Nacht auf See bleiben müssen.

Ich habe keine andere Wahl, denn leider ist es so, dass ich bei Flaute vollkommen aufgeschmissen bin. Jedenfalls dann, wenn noch, so wie hier, alter Schwell nachläuft. Ein Außenbordmotor hängt zwar am Heck, aber leider ist es nicht der richtige. Folkeboote brauchen bekanntlich einen Langschafter. Ist der Schaft, wie bei meinem Motor, um die entscheidenden zwölf Zentimeter zu kurz, dann kommt die Schraube bei jeder Welle, die das Heck anhebt, aus dem Wasser. Die Maschine jault auf wie ein Hund, dem man auf den Schwanz tritt, und das klingt nicht nur schrecklich, auch die Antriebswirkung geht auf null. Kann ich also komplett vergessen.

Es hilft auch nichts, dass ich die schrecklichsten Verwünschungen in den Sonnenuntergang spucke, die mir gerade in den Sinn kommen. Ich finde das schlimmer als Starkwind, weil man absolut gar nichts machen kann. Das Allerschlimmste daran ist aber, dass es ganz und alleine meine eigene Schuld ist. Ich hab’s schließlich gewusst, als ich losfuhr! Bei der Überführung letztes Jahr, von der Schlei nach Rügen, da lief es wunderbar, erst später fiel mir ein, dass ich damals einen Mitsegler an Bord hatte: meinen Freund Jasper, der bringt das eine oder andere Kilo auf die Waage, und da liegt das Boot natürlich ganz anders im Wasser. Vielleicht hätte ich darüber mal etwas intensiver nachdenken sollen.

Doch nun stehe ich stundenlang mit schlagenden Segeln auf der Stelle und versuche, mich mit meinem Schicksal abzufinden. Langsam werde ich ruhiger. Genau wie das Meer um mich herum, die ganze Atmosphäre. Nichts ist zu hören, kein anderes Schiff zu sehen weit und breit, nur ganz hinten an der pommerschen Küste ein paar vereinzelte Lichter. Im Westen wird der Horizont langsam schwarz. Ich bin vollkommen allein, und das ist wunderschön. Sternenklar der Himmel über mir, mondhell glitzert das Wasser rings um mich herum. Nirgendwo anders möchte ich sein in diesem Moment, als genau hier. Könnte das, kommt mir in den Sinn, nicht eine Definition sein für Glück?

Irgendwann, als die Müdigkeit zu stark wird, lege ich mich, so, wie ich bin, auf die Koje und mache die Augen zu. Alle 15 Minuten klingelt die Eieruhr, die ich extra für diesen Zweck mithabe. Dann schaue ich kurz aus dem Luk und schlafe jedes Mal sofort wieder ein. Nach ein paar dieser Schlafhäppchen bin ich schwer in Versuchung, die Klingel einfach zu ignorieren. Tue ich aber nicht.

Erst morgens um fünf Uhr kommt Leba in Sicht. Für die 50 Seemeilen bis hierher habe ich sage und schreibe 23 Stunden gebraucht! Und inzwischen hab ich schon lange entschieden, weiterzudümpeln, in einem durch bis Danzig.

Es ist der Morgen des Pfingstsonntags. Zu Hause frühstücken sie jetzt wahrscheinlich bei schönster Sonne im Garten, und ich sitze hier alleine, im Nebel schon wieder. Außerdem kriecht mir inzwischen die Müdigkeit schwer in die Glieder. Aber dann setzt ganz sanft eine hauchzarte Brise ein, und auf einmal ist die Sonne da! Traumsegelwetter und plötzlich eine Ahnung von Frühling.

Ich nähere mich dem Hafen Großendorf (Wladyslawowo) und der Halbinsel Hela (Hel). Davor liegt eines dieser militärischen Sperrgebiete. Wenn das geschlossen ist, muss ich einen Riesenumweg fahren, um mich mal eben zwölf Meilen von der Küste freizuhalten. Und woher soll ich wissen, ob das heute nötig ist oder nicht? In meiner Karte kann ich nichts darüber finden. Eine gute Gelegenheit, wieder mein kleines Funkgerät auszuprobieren. Ich schicke also meine Frage auf Englisch einfach so ins Blaue, und sofort antwortet von irgendwoher ein Fischer. Nein, heute sei doch Pfingsten, da hätte auch die polnische Marine Pause. Heute wird nicht geschossen, alles ist frei. Und gute Fahrt! Also weiter, immer schön am Strand entlang. Bis ein Uhr mittags, da ist es vorbei mit der Herrlichkeit. Wie ausgeknipst der Wind, und dazu wieder dieser verdammte alte Schwell.

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Petri Dank!

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Nicht Fisch, nicht Fleisch.

Oben auf dem schwankenden Mast kreiselt der Windex, und ich schreie laut: »Scheiße!« Es ist doch zum Verzweifeln! In meinem Logbuch steht an dieser Stelle das Wort »Krise!«. Wie konnte ich nur so blöde sein und mit diesem Motor losfahren? Von der Gelassenheit der vergangenen Nacht ist nichts mehr übrig. Und zum Angeln hab ich nun schon überhaupt keine Ruhe mehr.

Also koche ich mir ein fischloses Mittagessen.

Danach bin ich zum Glück auch nervlich wieder gestärkt, als ich gegen 16 Uhr auf dem Achterdeck knie, um Benzin in den Außenborder nachzufüllen. Zufällig gucke ich nach achtern – und sehe: weißes Wasser! Wie ein Teppich, von Riesenhand ausgerollt, kommt es rasend schnell auf mich zu. Eine Hammerbö, wo kommt die denn auf einmal her?! Mir fährt ein Riesenschreck in die Glieder. Und habe doch noch den blonden Hans im Ohr, wie er singt: »Nach vorn geht der Blick, zurück darf kein Seemann schau’n …«

Da irrt er sich aber ganz gewaltig. So was kann nämlich furchtbar in die Hose gehen, erst recht, wenn der Gennaker noch am Mast baumelt! Lange nachdenken ist jetzt nicht. Ich springe aufs Vorschiff und kann gerade noch den Bergeschlauch runterziehen, dann hackt es los. Aber wie! Zurück ins Cockpit, um das Fall zu fieren, da reißt der Wind den Schlauch wieder hoch. Das ganze Segel rauscht aus und knattert wie wild, die Schot löst sich, und das ganze lange Ende verschwindet in Lee. Das Boot krängt dramatisch, und ich bekomme die Sorgleine für den Schlauch nicht mehr zu fassen. Irgendwann gelingt es mir dann doch, und nachdem ich die lange Wurst geborgen habe, geht’s so richtig ab. Immer parallel zum Strand, schön ohne Welle in der Landabdeckung. Folkes segeln ja bekanntlich ungerefft, aber ein bisschen weniger Segelfläche kann jetzt nicht schaden. An der Südspitze von Hela berge ich die Fock. Dann das Achterstag dichtgeknallt, Traveller nach Lee, Großschot dicht und angeluvt, rüber, Kurs Danzig. Zwölf Meilen über die Bucht, aber die haben’s in sich.

Knackige sechs Beaufort aus West inzwischen, und die Wellen werden immer höher. Was für ein Ritt! Glücklicherweise kann ich anliegen, ohne kneifen oder womöglich kreuzen zu müssen. Dann, so etwa nach einem Drittel der Strecke, lässt die Bö auf einmal merklich nach, und ich denke schon, das war’s, jetzt geht das wieder los, Wind weg und alter Schwell. Also Lifebelt einpicken, nach vorn krabbeln und hoch die Fock – doch das ist leider viel zu voreilig. Denn nur Minuten später ist der Wind wieder da und hat noch kräftig Verstärkung mitgebracht. Jetzt legt er erst richtig los. Und ich mit voller Besegelung. In diesem Moment bin ich froh, dass ich kurz vor dem Start noch einen neuen Mast gekauft habe – wenn’s schon zum neuen Motor nicht gereicht hat …

Ich halte mich nördlich des Verkehrstrennungsgebietes, das nach Danzig hineinführt, muss aber den Schifffahrtsweg nach Gdingen kreuzen. Zum Glück kommt gerade kein Großer. Auf der Reede vor Danzig liegen ein paar fette Dampfer. Einen kurzen Moment geben sie mir Deckung, als ich dicht an den hohen Rümpfen vorbeifahre. Die See wird immer chaotischer, die Wellen kommen aus allen Richtungen, und ich sitze in einer Dauerdusche. Die eine Hälfte des Wassers bekomme ich voll ab, die andere läuft vom Kajütdach direkt in die Leekoje. Zum Schotten dichtmachen hatte ich keine Zeit, und jetzt traue ich mich nicht mehr, auch nur eine Sekunde die Pinne loszulassen.

Irgendwann fädele ich mich zwischen den roten und grünen Tonnen ins Fahrwasser ein, falle ab und rausche mit gefierten Segeln full speed durch die breite Einfahrt. Kaum bin ich drin, ist der Spuk vorbei. Vorbei an der Westerplatte mit dem riesigen Denkmal kann ich noch segeln, hinter der Weichselburg ist der Wind fast ganz weg, sodass ich die Hafenrundfahrt unter Motor fortsetzen muss. Bis zum Yachthafen, der mitten in der Stadt liegt, sind es nochmal gute drei Meilen.

Inzwischen ist es halb neun, langsam wird es dunkel, und am Ufer gehen die Lichter an. Eine Werft liegt hier neben der anderen, auf einigen wird noch gearbeitet. Manchmal flackert das blaue Licht einer Schweißflamme über das Wasser. Voraus tauchen die Häuser der Altstadt auf. Auf einigen Kneipenterrassen herrscht fröhliche Feierlaune. Nach meinem Wahnsinnsritt genieße ich diese Fahrt und lasse den Motor nur langsam und leise laufen. Gegenüber dem Krantor schließlich das Hafenbecken für Sportboote. Kurz vor 22 Uhr sind die Leinen belegt, und ich kann mein Hafenbier aufmachen. Heute habe ich’s mir redlich verdient.

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Hinter den Ruinen: die Altstadtkulisse von Danzig.

Am nächsten Morgen hängt im Hafenbüro noch der Zettel mit den Wetterdaten von gestern. Wind in Böen über 30 Knoten! Und ich mittenmang.

Mast- und Schotbruch!, der Alleinsegler

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Standort Klaipeda (Memel),
Freitag, 28. Mai, der 13. Tag

Ahoi, Landratten!

Jetzt ist aber erst mal gut mit den Nachttörns. Danzig – Klaipeda (Memel), das waren schon wieder mehr als 30 Stunden. Allerdings auch eine ordentliche Strecke: 120 Meilen. Und im Logbuch steht vorgestern: »Supersegeltag«! So war es auch.

Aber erst mal Gdansk beziehungsweise Danzig. Montagnachmittag lässt der Regen nach und der Wind, immer noch recht kräftig, reißt die Wolkendecke auf. Außerdem weht er regelmäßig Klangfetzen vom Glockenspiel auf dem Rathausturm am Langen Markt herüber. Der Yachthafen liegt so zentral in der Stadt, dass man alle Sehenswürdigkeiten gut zu Fuß erreichen kann. Auf zum Sightseeing, inklusive Turmbesteigung der Marienkirche. Eine der größten Backsteinkirchen der Welt, immerhin. Allerfeinster Ausblick von dort oben, man bekommt eine Ahnung, wie schön diese Stadt einmal gewesen sein muss.

Gleich neben der Marina findet sich ein Geschäft für Bootsbedarf, hier bekomme ich eine neue Schot für meine Blase. Die Steganlagen sind nagelneu, das ganze Gelände ist eingezäunt und das Tor nur mittels Zahlencode zu öffnen. So neu ist das alles, dass leider die Duschen und die Toiletten noch nicht angeschlossen sind. Doch die Hafenmeisterin ist nicht nur jung und hübsch, sondern auch hilfsbereit. Als gestern Morgen immer noch kein Wasser aus den Duschen kommt (wenigstens die Toiletten funktionieren inzwischen), vermittelt sie mir kurzerhand eine Waschmöglichkeit in einem nahe gelegenen Hostel. Das wurde auch Zeit, ich hatte noch die Salzwasserhaare von meiner Sturmfahrt.