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Wolfgang Benz

Antisemitismus

Präsenz und Tradition eines Ressentiments

Wolfgang Benz

Antisemitismus

Präsenz und Tradition eines Ressentiments

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Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Begriffe und Definitionen

2. Religion und Judenfeindschaft: Antijudaismus von der Antike bis zur Neuzeit

Ritualmordlegenden

Das Anderl von Rinn

Hostienfrevel

Jud Süß

Talmudhetze

3. Rasse und Judenfeindschaft: Der moderne Antisemitismus als antiemanzipatorische und antimoderne Ideologie

Rassismus und „Judenfrage“: Argumente gegen die Emanzipation

4. Gesellschaft und Judenfeindschaft in Europa

Die Dreyfus-Affäre

Pogrome im Zarenreich

Die „Protokolle der Weisen von Zion“

Judenfeindschaft in Polen

5. Erster Weltkrieg und Weimarer Republik: Antisemitismus auf dem Weg zur Staatsdoktrin in Deutschland

Der Miesbacher Anzeiger

Eine jüdische Karriere in Deutschland: Walther Rathenau

Der Fall Gumbel

Ein Antisemitentag in Wien

6. Ausgrenzung und Diskriminierung: Juden im Nationalsozialismus

„Juden sehen Dich an“

Diskriminierung durch Propaganda

Rassenkunde

Die Rücknahme der Emanzipation

„Der ewige Jude“

Zerrbilder vom Juden

7. Ideologie und Genozid: Der Judenmord

Der Novemberpogrom 1938

Die „Endlösung der Judenfrage“

8. Antisemitismus nach dem Holocaust

Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945

Die Allensbach-Umfrage 1949

Die Möllemann-Affäre

Ein patriotisches Projekt

Sonderwege: Antisemitismus in der Schweiz

9. Linker Antisemitismus und Antizionismus

10. Israelkritik und Antisemitismus

Lyrische Intervention

11. Judenfeindschaft von Muslimen

12. Holocaustleugnung

13. Bekämpfung des Antisemitismus

Engagement gegen Judenfeindschaft

Der Abwehrverein

Der Centralverein

Strategien gegen Judenfeindschaft nach dem Holocaust

14. Wege der Antisemitismusforschung

Bibliographie

Vorwort

Dieses Buch fasst Arbeitsergebnisse und Erkenntnisse aus langjähriger Beschäftigung mit dem langlebigsten Vorurteil der menschlichen Geschichte und den Folgen der daraus erwachsenen Katastrophe des Judenmords zusammen. Das Buch versteht sich als Kompendium, das ohne gelehrte Attitüde, aber mit aller wissenschaftlichen Akribie und Sorgfalt gewonnene Einsichten bündelt, die in anderem Zusammenhang und in größerer Ferne zum Publikum entstanden. Den Hintergrund bildet das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, das über zwei Jahrzehnte, von 1990 bis 2011, meine akademische Heimat war und mir immer noch Arbeitsmöglichkeiten bietet, deren Summe neben Monografien, Aufsätzen, Artikeln zu speziellen Themen das Handbuch des Antisemitismus darstellt, erschienen 2008-2015 in acht Bänden.

Ohne Mitarbeiter, Kollegen, Freunde wäre weder das wissenschaftliche noch das öffentliche Bemühen um Aufklärung über das Wesen, die Wurzeln, die Ausprägungen und Wirkungen von Judenfeindschaft möglich gewesen. Ebenso wenig ohne die Doktoranden, Magister- und Staatsexamenskandidaten, die ich betreuen durfte bzw. noch betreue und deren Fragen und Annäherungen an das schwierige Thema ich viel verdanke. Unmittelbar beteiligt an der Entstehung dieses Buches sind, wie immer, Ingeborg Medaris (Sekretariat), Dr. Marion Neiss und Patricia Fromme, die Literatur und Quellen beschafften, dabei auch vor entlegenen Problemen nie kapitulierten. Christine Eberle organisierte nicht nur die Erstellung des Manuskripts, sondern war mit Recherchen unentbehrlich. Ihnen allen danke ich sehr herzlich.

Berlin, Januar 2015

Einleitung

Die Jahrhunderte lange Judenfeindschaft aus unterschiedlichen Motiven – religiösem Ressentiment, kulturellem Vorbehalt, ökonomischer und sozialer Ausgrenzung, rassistischem Hass – kulminierte unter nationalsozialistischer Ideologie im 20. Jahrhundert im Völkermord mit sechs Millionen Opfern. Die Dimension, aber auch die Methoden des Mordens, der Fanatismus der Mörder und, vielleicht am erschreckendsten, die gleiche kaltherzige Hinnahme des Geschehens durch Hassende, Ahnende, Wissende, Gleichgültige machen den Holocaust einzigartig in der Geschichte. Nach der Katastrophe erinnerten sich die Angehörigen der Tätergesellschaft so ungern wie die unbeteiligten Bewohner der Mordregionen.

Die Entschädigung für materielle Verluste und die „Wiedergutmachungsleistungen“ der Bundesrepublik an jüdische Opfer erfolgten auf Drängen der Alliierten, (d. h. de facto der USA) als politische Notwendigkeit; die Amnesie der mit eigenem Leid beschäftigten Deutschen berührte das nicht. Und der Antisemitismus als Ressentiment gegen die Juden als Gruppe lebte fort. Er richtete sich gegen „Displaced Persons“, das waren aus Ghettos und Lagern befreite Juden, die in Westdeutschland in Lagern lebten, wo sie auf Möglichkeiten zur Emigration warteten. Der Neid gegen deren vermeintliche Bevorzugung, die Scham über den Judenmord, dessen Details den Deutschen drastisch vor Augen geführt wurden, belebten die Abneigung der Mehrheit gegen die Juden ebenso wie die Schuldgefühle und das patriotische Aufbäumen gegen die Sanktionen, die von den Besatzungsmächten den Deutschen auferlegt wurden.

Neben der alten Judenfeindschaft entstand nun ein mit neuen Argumenten operierender Antisemitismus, der sich parallel dazu aus Scham- und Schuldgefühlen entwickelte und an den Restitutionsleistungen festmachte. Bestandteil der politischen Kultur der Bundesrepublik wurde gleichzeitig ein offizieller Philosemitismus, der aber private Ressentiments gegen Juden nicht tangierte. Die DDR leistete zwar keine Wiedergutmachung und bot deshalb keinen Ansatz für diesen „sekundären Antisemitismus“, aber sie kultivierte im Schatten ihrer Schutzmacht einen vehementen Antizionismus. Die Bürger der DDR glaubten sich von antisemitischen Ressentiments frei. Die Parteisäuberung der frühen 1950er Jahre im Zeichen des Stalinismus, deren Opfer Juden waren, und der Exodus der Juden aus dem östlichen Nachfolgestaat des Deutschen Reiches wurden bis zum Ende der DDR nicht thematisiert.

Zur Überwindung der Amnesie über den Judenmord und zur Sensibilität gegenüber dem Antisemitismus trugen mehrere Ereignisse bei. Das Erschrecken über die Welle von Schmierereien an Synagogen, die Weihnachten 1959 von Köln ausgingen, war ein Anlass, dem Thema im Schulunterricht mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 hatte starke Resonanz in den deutschen Medien, ebenso der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main Mitte der 1960er Jahre. Den stärksten Eindruck bei einem großen Publikum machte aber Anfang 1979 die Ausstrahlung des US-amerikanischen Fernsehrührstücks „Holocaust“, das zum Ärger mancher Historiker über die emotionale „Betroffenheit“ hinaus die Aufklärung über den Judenmord förderte.

Mit der Wende und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten änderte sich auch das jüdische Leben in Deutschland. Hatten bislang vor allem die drei großen Gemeinden in Westberlin, München und Frankfurt die Wahrnehmung von Juden bestimmt, so entstanden neue Gemeinden durch den Zuzug von jüdischen „Kontingentflüchtlingen“ aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Zahl der in Deutschland lebenden Juden stieg damit auf über 100 000.

Das Verhältnis zu Israel hat in der deutschen Politik herausragende Bedeutung. Das betonen Politiker aller Ränge und fast aller Parteien einmütig bei allen Gelegenheiten. Im Sechstage-Krieg 1967 demonstrierten hunderttausende deutsche Bürger für das Existenzrecht des Staates Israel; Empathie für das Land gehört unverändert zu den politischen Grundüberzeugungen der Deutschen, wenngleich angesichts des wirkungsvoll medial vorgetragenen Leids der palästinensischen Zivilbevölkerung gegenüber militärischen Aktionen und der politisch unbeweglichen Positionen israelischer Regierungen die bedingungslose Zustimmung bei vielen einer kritischen Haltung gegenüber israelischer Politik gewichen ist.

Diese Haltung in Bausch und Bogen als „neuen Antisemitismus“ oder als revitalisierte Judenfeindschaft neonationalsozialistischer Observanz zu denunzieren, ist weder richtig noch hilfreich. Dass Juden zutiefst beunruhigt sind, wenn Demonstrationen wie im Sommer 2014 aus Anlass des Gaza-Kriegs auch in Deutschland stattfinden, ist verständlich. Nachvollziehbar ist ebenso, dass Juden sich im Stich gelassen fühlen, wenn dabei junge Araber und Sympathisanten der Palästinenser skandalöse Parolen skandieren, wie im Sommer 2014 vereinzelt geschehen. In der Sorge um Sympathieverlust wurde auch die Metapher, Juden säßen in Deutschland „auf gepackten Koffern“, wieder gebraucht. Solche Emotionen sind mit aus der Kenntnis der Geschichte rührendem tiefen Respekt zu würdigen. Von einer „Pogromstimmung in Deutschland“ zu reden, den November 1938 zu beschwören, einen Tsunami von „neuem Antisemitismus“ zu mutmaßen, wie von jüdischen Repräsentanten und israelischen Diplomaten artikuliert, ist aber kontraproduktiv. Weil es die beträchtlichen Anstrengungen des Aufklärens über und des Kampfes gegen Antisemitismus der letzten Jahrzehnte ebenso ignoriert wie die deutsche Erinnerungskultur und die Tatsache, dass Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland moralisch geächtet und juristisch kriminalisiert ist wie in keinem anderen Land. Das hat die Kundgebung im September 2014 am Brandenburger Tor in Berlin auf Wunsch des Zentralrats der Juden in Deutschland einmal mehr bestätigt.

Es gibt Judenfeindschaft im Alltag, die sich hinter vorgehaltener Hand, mit Anspielungen und Sottisen Luft macht. Es gibt auch antisemitische Pöbeleien, bis hin zur Gewalt Einzelner gegen Juden. Aber das ist nicht die Regel in Deutschland und es wird streng geahndet. Es gibt aber auch Irritationen und Missverständnisse, die als Ausdruck von Antisemitismus verstanden werden. Ein Beispiel bildete die Debatte, die das Urteil des Kölner Landgerichts im Sommer 2012 auslöste, in dem die unglücklich verlaufene Beschneidung eines vierjährigen muslimischen Knaben als Körperverletzung gewertet wurde. Ein Sturm der Entrüstung von Juden und Muslimen und eine Debatte über Religionsfreiheit und Kindeswohl waren die Folge. Der Mehrheit war die rituelle Bedeutung des Aktes für die jüdische Religion kaum bewusst, sie war wohl auch kaum interessiert und gewiss nicht begierig, ein Ventil für aufgestauten Antisemitismus zu nutzen. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland folgerte jedoch, Juden seien in Deutschland nicht erwünscht und eine internationale Rabbinerkonferenz verglich das Kölner Urteil gar mit dem Holocaust. Ein eilig verabschiedetes Gesetz war im Dezember 2012 Ausdruck des Bemühens um Schadensbegrenzung.

Ein „neuer“ Antisemitismus wird alle paar Jahre prognostiziert und die Zunahme der Judenfeindschaft in Deutschland zu konstatieren, werden die Auguren nicht müde. Heinz Galinski seligen Angedenkens hatte den Anstieg nicht nur des Antisemitismus, sondern auch die zunehmende Dreistigkeit der Judenfeindschaft regelmäßig gegeißelt und damit Bundeskanzler Konrad Adenauers Beschwörungsritual („die Lage war noch nie so ernst“) adaptiert. Das sah er als seine Aufgabe, das erwartete man schließlich auch von ihm. Aber es entsprach nicht den Tatsachen. Die Realität, soweit sie sich mit wissenschaftlichen Methoden erfassen lässt, zeigt ein anderes Bild. Der von der Bundesregierung berufene „Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus“ schätzt die Dimension der Judenfeindschaft anhand von Einstellungsmustern über Jahre hinweg auf konstante 15 bis 20 Prozent. Das heißt, im Weltbild dieser Bundesbürger gibt es Ressentiments gegen Juden. Das bedeutet nicht, das diese Menschen samt und sonders fanatische oder gar gewaltbereite Judenhasser sind. Aber sie haben offenkundige Vorbehalte, die sie öffentlich nicht artikulieren würden. Gegenüber anderen Nationen sind das übrigens sogar günstige Werte, was freilich angesichts historischer Schuld nichts wiegt.

Antisemitismus hat – nach wissenschaftlicher Erkenntnis, die oft im Gegensatz zur gefühlten Situation steht – in Deutschland eher eine abnehmende Tendenz. Zu den Ergebnissen der Langzeitstudie an der Universität Bielefeld über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit mit dem assoziativen Titel „Deutsche Zustände“ gehört, dass fast die Hälfte der befragten deutschen Bürger glaubt, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben, jeder Fünfte ist dafür, die Zuwanderung von Muslimen zu unterbinden, ein Drittel glaubt an „natürliche Unterschiede“ zwischen Menschen schwarzer und weißer Hautfarbe und vertritt damit die Überzeugung unterschiedlicher Wertigkeit von Menschen (was ein wesentliches Definitionsmerkmal von Rassismus ist). Optimistisch an der Diagnose der deutschen Gesellschaft im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts stimmt lediglich der Rückgang von Homophobie und Antisemitismus. Judenfeindschaft gibt es als Ressentiment trotzdem auch in Deutschland. In regelmäßigen Meinungsumfragen wird auch deren Dimension sichtbar. Ohne signifikante Veränderung während jahrzehntelanger Beobachtung lautet der Befund, dass bis zu 20 % der Deutschen in ihrem Weltbild auch Ressentiments gegen Juden hegen. Das sind Einstellungen, die nicht mit Gewalt oder Gewaltbereitschaft verbunden sind oder mit Vernichtungs- bzw. Vertreibungswünschen einhergehen. Daher ist die Vergröberung der Umfrage-Ergebnisse zur Schlagzeile „jeder fünfte Deutsche ein Antisemit“ ganz falsch.

Der regelmäßig prognostizierte „neue Antisemitismus“ existiert so nicht: es ist die monotone Judenfeindschaft mit ihren Stereotypen, Legenden, Unterstellungen, Schuldzuweisungen, die sich in Jahrhunderten entwickelt hat. Während religiös argumentierender Antijudaismus hierzulande allenfalls eine marginale Rolle spielt, ist Antisemitismus als politisches, soziales, ökonomisches und kulturelles Vorurteil mit seiner rassistischen Tradition spürbar. Ebenso der „sekundäre Antisemitismus“, der nicht trotz, sondern wegen Auschwitz Ressentiments gegen Juden nährt, weil sie sich angeblich mithilfe der Erinnerung an den Holocaust bereichern, durch Entschädigungen oder Wiedergutmachung, darüber hinaus durch Erpressung mit der Erinnerung an den Judenmord. In letzter Konsequenz mündet dieser sekundäre Antisemitismus in die Leugnung des Holocaust. Antizionismus ist eine weitere Version der Judenfeindschaft. Ihr Kern ist die Verweigerung des Existenzrechts Israels. Hier treffen sich die arabischen Feinde Israels mit Gesinnungsgenossen aus aller Welt. Und hier docken die Antisemiten an, die etwas gegen „die Juden“ haben, dies aber so nicht äußern dürfen, weil das dem politischen Comment unserer Gesellschaft fundamental widerspricht. Unter dem Deckmantel der Israelkritik finden sie sich; weil sie aber nicht (oder nicht nur) den Staat Israel und dessen Handlungen meinen, sondern „die Juden“ generell, erkennt man sie. Ihr Feindbild sind die Juden als solche, und das charakterisiert den Antisemitismus. Nicht nur die Judenhasser und die Israelfeinde bieten Anlass zur Sorge. Aktivisten versuchen, den Begriff Antisemitismus auf die Haltung gegenüber Israel zu verengen und beziehen in ihr Verdikt jede kritische Haltung zur israelischen Politik mit ein. Fest steht leider, dass die Stimmung gegenüber Israel erodiert. Das ist aber nicht gleichbedeutend mit Antisemitismus.

Gegenüber emotionaler Befindlichkeit, gegenüber der gefühlten Bedrohung von Juden, die in Deutschland leben und die ihre Ängste öffentlich gewürdigt sehen möchten, mag die nüchterne Bilanz der Wissenschaft unerheblich sein. Objektive Kriterien, was Antisemitismus ist, in welchen Formen er bei uns vorkommt, wie Judenfeindschaft von Israelkritik abzugrenzen ist, sind für eine differenzierte Betrachtung hilfreich, ja unentbehrlich. Dass Antisemitismus auch im 21. Jahrhundert noch Konjunktur hat, als politisches Instrument, als private Überzeugung, als unausrottbares Vorurteil, ist beschämend und beängstigend genug.

1. Begriffe und Definitionen

Der Terminus „Antisemitismus“ ist einerseits Oberbegriff für jede Art von Judenfeindschaft, andererseits charakterisiert er im engeren Sinne als Bildung des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts eine neue, pseudowissenschaftlich und nicht religiös, sondern mit Rasseneigenschaften und -merkmalen argumentierende Form des antijüdischen Vorbehalts. Von diesem modernen Antisemitismus ist der religiös motivierte, ältere Antijudaismus zu unterscheiden.1

Als politisches Instrumentarium dient eine vom „European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia“ vorgeschlagene Arbeitsdefinition: „Der Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein. Oft enthalten antisemitische Äußerungen die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass ‚die Dinge nicht richtig laufen‘. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt negative Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.“2

Im modernen Sprachgebrauch meint der Begriff Antisemitismus die Gesamtheit judenfeindlicher Äußerungen, Tendenzen, Ressentiments, Haltungen und Handlungen unabhängig von ihren religiösen, rassistischen, sozialen oder sonstigen Motiven. Nach der Erfahrung nationalsozialistischer Ideologie und Herrschaft wird Antisemitismus als ein gesellschaftliches Phänomen verstanden, das als Paradigma für die Bildung von Vorurteilen und die politische Instrumentalisierung daraus konstruierter Feindbilder dient.3

Der Terminus Antisemitismus steht für Judenfeindschaft, die differenziert werden muss in den älteren, religiös motivierten christlichen Antijudaismus und in den „modernen“ Rassenantisemitismus des 19. Jahrhunderts, der pseudowissenschaftlich argumentiert. Judenfeindschaft ist, so die Erkenntnis interdisziplinärer Forschung, die Projektion von Vorurteilen auf eine Minderheit.4 Das hat für die Mehrheit verschiedene Funktionen und Vorteile. Festzuhalten bleibt, dass „der Jude“, den der Antisemit meint und bekämpft, mit real existierenden Juden nichts zu tun hat. Es sind Konstrukte, Bilder von zähem Leben, wie die Geschichte des antisemitischen Vorurteils beweist, des ältesten, sozialen, kulturellen, politischen Ressentiments überhaupt. Die aktuellen Ausprägungen von Judenfeindschaft sind unterschiedlich und weisen nationale Besonderheiten auf wie der sekundäre Antisemitismus in Deutschland und Österreich, dessen Ressentiments sich an Entschädigungen und Wiedergutmachungsleistungen nach dem Holocaust festmachen. Rassistisch argumentierender Antisemitismus tritt immer in rechtsextremen Zusammenhängen auf – dazu gehört auch die Leugnung des Holocaust –, die Verbreitung ist allgemein, aber unterschiedlich intensiv.

Dagegen findet religiöser Antijudaismus mit seinen traditionellen Formen („Gottesmord-Vorwurf, Blutbeschuldigung, Hostienfrevel, Ritualmordlegenden) in den Gesellschaften Osteuropas größere Resonanz als im Westen. Akut ist der Antizionismus, der a priori nicht mit Antisemitismus gleichgesetzt werden darf, sich aber durch fanatische Parteinahme gegen Israel und durch die Übernahme von judenfeindlichen Stereotypen und Argumentationsmustern („Weltherrschaftsstreben“, Verschwörungsphantasien) zu einer aktuellen Sonderform der Judenfeindschaft entwickelt hat, die derzeit größte Verbreitung findet.

Mit neuer Intensität tritt Judenfeindschaft seit Herbst 2000 in Westeuropa in Erscheinung. Der Nahost-Konflikt hat mit der zweiten Intifada eine Dimension weitab vom eigentlichen Schauplatz Israel/Palästina erhalten. Die Solidarisierung junger Muslime mit den Palästinensern in Frankreich und Belgien, den Niederlanden und Großbritannien, Staaten mit einem verhältnismäßig großen Bevölkerungsanteil arabisch-islamischer Herkunft, äußert sich nicht nur in israelfeindlicher Propaganda und in Demonstrationen bis hin zu Ausschreitungen, es wird dabei auch traditioneller Antisemitismus instrumentalisiert. Das zeigte sich im Sommer 2014 auch in Deutschland bei Demonstrationen anlässlich des Gaza-Krieges. In Osteuropa dient Judenfeindschaft bei der Selbstdefinition nationaler Mehrheiten immer noch als Leitmotiv. Das Vorurteil gegen Juden funktioniert als Katalysator für nationalistische und fundamentalistische Strömungen und bildet den gemeinsamen Nenner für antiliberale, antikapitalistische, antikommunistische und antiaufklärerische Bewegungen.

Anmerkungen

1    Vgl. Thomas Nipperdey/Reinhard Rürup, Antisemitismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1972-1992, Bd. 1, S. 129-153; s. a. Christhard Hoffmann, Christlicher Antijudaismus und moderner Antisemitismus. Zusammenhänge und Differenzen als Problem der historischen Antisemitismusforschung, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz (Hrsg.), Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen, Frankfurt/M. 1994, S. 293-317.

2    Deutsche Übersetzung 2008 durch European Forum on Antisemitism/American Jewish Committee Berlin.

3    Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus? München 2004.

4    Vgl. Wolfgang Benz/Angelika Königseder (Hrsg.), Judenfeindschaft als Paradigma. Studien zur Vorurteilsforschung, Berlin 2002.