Marc Klave

Involtanien

Fantasy- Roman

Prolepse

Als er die Augenlider wieder leicht öffnete, fühlte er wie mehrere Arme seinen Körper hielten. Ein dünnes Seil schnürte seinen rechten Oberarm ab und wurde in regelmäßigen Abständen gelockert, um danach wieder gestrafft zu werden. Aus der Ader an dem rechten Handgelenk tropfte Blut aus dem Körper und flog gen Himmel. Nach dem wieder der Druck aus der Schlinge am Oberarm genommen wurde, geriet ein ganzer Rinnsal in Bewegung und floss nach oben. Dieser verebbte nur wieder durch erneutes Zuschnüren. Aus dem Dröhnen im Ohr wurde ein leises Rauschen und Stimmen drangen zu ihm durch.

Peter Freimanns schlaffer Körper hing in den Magnetschuhen wie eine reife Frucht am Baum, die auf den Moment wartete, sich vom Stamm zu lösen. Das war nicht seine Welt.

Die neuen Umstände forderten seinem Geist und vor allem seinem Körper einiges ab.

Die Menschen in Involtanien haben ein Leben lang Zeit, sich auf die Gegebenheiten hier einzustellen. Peter musste es in den letzten drei Tagen lernen.

„Ich glaube wir kriegen in langsam wieder!“, erklärte der Mann vor ihm.

Eine Art Stethoskop, welches allerdings nicht in den Ohren des Arztes endete, sondern einen kleinen Lautsprecher im Gerät selber hatte, ließ alle den ruhigen Puls hören.

„Wir sind wieder zwischen einhundertundzehn und siebzig, das ist normal. Noch einige Milliliter und alles ist gut!“, erklärte der Mann der Menschenschar um ihn herum.

Wieder rann Blut aus der Arterie am Handgelenk über den Handballen zum Mittelfinger und verlor dort den Halt. Für Peter kam es vor, als ob man auf offener Straße ein Schwein zerlegte. Doch hier gab es keinerlei Blutlachen, die nach kurzer Zeit geronnen und ihren eigenen Geruch bildeten. Nein, hier war alles sauber.

„Na das ist doch wieder eine gesunde Hautfarbe!“

Der junge Arzt kniff in den elfenbeinfarbigen Teint des Mannes vor ihm, der soeben einen altertümlichen Aderlass auf offener Straße erhalten hatte.

Die Menschen, um ihn herum klatschten und würdigten den reaktionsschnellen Tatendrang des Mediziners in größtem Maße. Ein Taschenlötkolben wurde aus der schwarzen Tasche des Mannes zu Tage gefördert und verödete den Schnitt am Handgelenk.

So ein Gerät hatte Peter noch nie gesehen. Hier gab es Wissen und Geräte, die einen hoch entwickelten Standard besaßen, und auf der anderen Seite wieder Anwendungen und Güter, die altertümlich erschienen. Involtanien war irgendwie farbenfroh blass, wie eine gefüllte Leere oder irgendwie säuerlich süß. Man wusste nie, was einem als nächstes erwartet. Doch diese Schwierigkeiten hatte nur Peter. Für alle Involtanier waren die Zustände normal und alltäglich.

Der Bulk, um ihn herum, erwartete nun die Heilung des Patienten und die sofortige Danksagung.

Peter versuchte sich gerade zu halten. Nun stützte ihn niemand mehr und er hing erneut in den Magnetschuhen. Er bewegte den Fuß zum Lösen des Schuhes, um einen Schritt nach vorne zu setzen. Doch zum Aufsetzen fehlte ihm die nötige Kraft und so schwankte das Bein haltlos in alle Richtungen. Der Arzt half ihm und führte ihn zum sicheren Halt.

„ohh . bestssteetesten Dannk..“, säuselte Peter.

“Es geeeehehht mir viiiiiiiieeeeeeeeel bessessesser..!“

Seine Lider bewegten sich langsam und schlossen nach jedem Wort die Augen.

Einige edel gekleidete Damen rümpften die Nasen und schüttelten verständnislos die Köpfe!

„Da ist so ein ehrenhafter Jungmediziner, der einen Menschen vorm Kopfplatzertod rettet und wofür, damit der Besoffene wie der ins nächste Gasthaus wanken kann!“, tuschelten einige von ihnen.

Die Menschentraube löste sich kurzerhand auf und Peter hing nach wenigen Sekunden allein auf der Straße. Nach einer knappen Viertelstunde fühlte er sich wieder einigermaßen fit, um einen neuen Versuch zur Fortbewegung anzutreten. Diesmal gelang es ihm. Jedoch benötigte er für die Strecke zum –knallen Rotter-, dies war der Name seines heutigen Gasthauses, die vierfache Zeit als zuvor. Er fühlte sich schlapp, müde und vor allen Dingen hungrig.

Peter trat in eine Kabine und wurde von dem Wechselfahrstuhl ins Innere der Gastwirtschaft befördert. Er fragte sich nicht, wie das alles funktionierte, sondern schlenderte zum Tresen.

Nach einem kurzen Gespräch mit dem Wirt, war er schon bald zu der höher gelegenen (sich demnach tiefer im Boden befindlichen) Etage geleitet wurden. Hier gab es ein schönes Zimmer mit Bett, Dusche und einer Toilette mit Wasserspülung. Der Abfluss erfolgte mit Hilfe der hiesigen Anziehung durch ein Kanalisationssystem, dessen Ausgang ein Rohr oberhalb des Wirtshauses war.

Nach einer erholsamen Dusche ging Peter nach unten und nahm in dem bereits gefüllten Raum, an einem Tisch, Platz.

Peter verbrachte heute den ersten Abend in Involtanien an Land. Noch vor drei Tagen hatte er ein Erlebnis, dass ihn eigentlich das Leben gekostet hätte. Noch vor drei Tagen betrat er ein Tauchboot in Ägypten, um seinen letzten Urlaubstauchgang zu genießen.

*

Tag 1

Drei Tage zuvor.

„Die Tabletten gegen die Reisekrankheit helfen bestens“, dachte Peter, während die Crew und er am zwölften August im Jahr 2014 zu einem ganz besonderen Tauchgang raus fuhren.

Bei seinem ersten Tauchgang in der letzten Woche erging es ihm anders. Kaum hatten sie das Festland verlassen und waren über die Außenriffgrenze hinweg gesegelt, veränderte sich seine Gesichtsfarbe. Er hatte sich in regelmäßigen Abständen übergeben müssen. Auch nachdem sein Mageninhalt bereits komplett ausgeworfen wurde, kam dieser Brechreiz wieder. Sein Zustand veränderte sich erst, als sie am Nachmittag zur Tauchstation zurückkehrten und er festen Boden unter den Füßen spürte.

In zwei Tagen würde Peter wieder im Flieger sitzen. Am Montag schon müsste er das Boot mit dem Schreibtisch tauschen. Er versuchte den Gedanken beiseite zu wischen. Es gelang ihm jedoch nicht.

„Wie ätzend“, dachte Peter.

„Bestimmt sind die neuen Umsatzstatistiken schon da, die natürlich wieder keiner ausgewertet haben wird!“

Er war total genervt.

Peter hasste seinen Job und sein langweiligen Leben. Der einzige Lichtblick aus seinem Alltagstunnel war dieser Urlaub in Hurghada gewesen. Die Clubanlage für Singles und die einzigartigen Tauchgänge hatten ihn in den letzten Monaten seine Arbeitsstunden durchstehen lassen.

„Du hättest mehr Initiative aufbringen sollen bei der kleinen Düsseldorferin gestern!“,

ärgerte er sich immer noch.

Die hat ein nettes Lächeln!“

Er nahm sich vor sie anzusprechen, falls sie heute Abend wieder mit ihrer Freundin zur Strandbar kommen sollte.

An diesem Morgen sollte kein Wrack oder ein fischreiches Riff betaucht werden. Nein, heute stand die Faszination der scheinbaren Unendlichkeit auf der –briefing list-. Als „The blue hole“ wurde dieses Ausflugsziel bezeichnet. Bei diesem Tauchgang würde die Gruppe im offenen Meer ausgesetzt werden. Der Meeresgrund befand sich in 1500 Metern Tiefe. Hierbei gab es keine Orientierungspunkte durch Sandbänke, markante Meerespflanzen oder Riffvorsprüngen. Eine Endlosigkeit in Blau. Durch die Tauch-Guides wird eine Tauchtiefe auf maximal dreißig Meter vorgegeben.

„Auf offener See sind selten Fische zu sehen, dennoch wirkt dieses Gefühl noch beängstigender, da man sich einfach nur verlassen fühlt!“, erzählten ihm andere Taucher, die diesen Tauchgang bereits erlebt hatten.

„Das schlimmste ist der Blick nach unten. Man kann hier kein Grund sehen, nur ein immer dunkler werdendes Blau!“, fügten sie ihrer Erklärung bei.

Der Motor des Bootes starb ab und leichte Aufregung machte sich breit. Jeder nahm in der Nähe seiner Tauchkiste Platz und begann sich anzuziehen. Da Peter allein reiste, hatte er bei diesen Tauchgängen immer wechselnde Tauchbuddies an seiner Seite. Heute war es ein sommersprossenüberzogener Engländer mit rotem Kopf und knapp hundertzwanzig Kilo Lebendgewicht, die sich auf einer Körpergröße von eins fünfundsiebzig verteilten. Er wirkte sehr unbeholfen und hektisch. Anscheinend hatte er bislang noch nicht viele Tauchgänge erlebt.

„Oh Mann, noch so ‘n Insulaner, der sämtliche Korallen abbricht und vor Aufregung seine Flasche innerhalb von zwanzig Minuten leersaugt.“

„ Wie war sein Name noch mal?“

„Ach ja Andrew.“

„Ich werde ihn aber Paul nennen. Passt irgendwie besser zu ihm“, dachte Peter, während er sich gerade den Reißverschluss seines Anzuges zuzog.

Er sah aus dem Augenwinkel, wie sein Buddy beim Anziehen seines Anzuges enorme Schwierigkeiten hatte. Peter versuchte es so aussehen zu lassen, als habe er es nicht bemerkt. Doch schon bald wurde ihm klar, dass sich hierdurch für alle der Tauchbeginn verzögern würde.

„Wait a moment, Paul!“, ertönte Peters Stimme und Andrew schaute ihn mit offenem Mund an.

„My name is Andrew!“

Peter nickte.

Das Neopren rutschte nur widerwillig über die Schulter des Briten und auf einmal schwankte das Boot extrem. Die meisten Personen an Deck mussten sich gegenseitig festhalten. Tauchkisten und unterschiedliche Utensilien rutschten unkontrolliert über den Boden.

„Wale Attack“, rief einer der Tauchlehrer grinsend und alle auf dem Schiff grinsten zurück.

Doch keiner wusste, ob das nun Ernst war oder nicht. Der dicke Tauchpartner griff nach seinem Bleigurt und zog sich weiter an. Peter musste seine Tauchkiste erst wieder suchen und beeilte sich ebenfalls.

Seine Ausrüstung kam ihm nun irgendwie schwerer vor, als die Tage zuvor.

„Das wird wohl an dem heutigen Doppelflaschenjacket liegen“, kam es ihm anschließend in den Sinn.

Da die Gruppe eine horizontale Strecke von knapp siebenhundert Metern bei einer Tauchtiefe von dreißig Metern absolvieren sollte, benötigte man für den zusätzlichen Adrenalinfaktor einen höheren Pressluftinhalt. Stress lässt die Atemfrequenz erhöhen und somit einen höheren Flascheninhalt verbrauchen.

Peter machte gerade bei seinem Tauchpartner den Buddy- Check! Er kontrollierte, ob sein Gegenüber alle Sicherheitschecks durchführt hat. Zum Schluss war er an der Reihe. Er atmete durch den ersten Atemregler, anschließend durch den zweiten.

Kurz bevor Peter zum Jacketfüllmechanismus griff, brachte ein erneuter Ruck das Boot zum Schaukeln. Durch das zusätzliche Gewicht der Ausrüstungen fielen einige Taucher hin. Andere stießen auch zusammen und verfingen sich mit dem Equipment ineinander.

Peter fiel nach hinten, schlug mit den Flaschen gegen eine Eisenreling und prellte sich leicht die linke Rippe. Ein Schmerz durchzog seinen Körper.

„Quick, quick, quick“, rief der Tauch-Guide und winkte die Hobbietaucher zum Heckausstieg.

Die Leute rappelten sich auf und kamen sofort seiner Aufforderung nach. Ein allgemeines Zischen war zu hören und jeder füllte sein Jacket mit Pressluft.

Peter reihte sich ebenfalls ein und folgte seinem Buddy. Das Auffüllen des Jacket schmerzte an der geprellten Rippe und daher ließ er wieder Luft ab. Andrew sprang vor ihm ins Wasser und brachte eine große Fontaine zustande.

Anschließend nahm Peter den Jacketfüllregler in die rechte Hand und hielt die Maske vorbildlich mit der Linken fest, bevor er sprang. Ein kleiner Hub Luft füllte sich um seinen Brustkorb und hielt ihn kurz unter der Wasseroberfläche. Er suchte den dicken Engländer, dessen rote Haare jetzt, wie die einer Nixe, wild über seinen Kopf herumwirbelten. Ein gegenseitigen O.K. Zeichen signalisierte, dass sie den Tauchgang antreten konnten.

Peter ließ sofort die Luft aus seinem Jacket und sank hinab in die Tiefe. Mit der linken Hand glich er regelmäßig den Druckausgleich in den Ohren aus. Nach knapp fünf Metern bemerkte er, dass der dicke Engländer nicht abtauchte.

Das geht ja gut los! Als ob ich es nicht gewusst hätte. Wo war noch mal die Tauchbuddytauschbörse? Bei deinem Eigenge wicht solltest du dir lieber den Anker umschnallen“, ärgerte sich Peter.

Er schüttelte den Kopf und wollte sein Jacket wieder mit Luft füllen, um ihm zu helfen. Bei diesem Versuch hörte Peter, wie Luft durch die Schläuche strömte, die jedoch gleich wieder hinter ihm als Luftblasen aus seinem Jacket austraten. Ein weiterer langer Hub veränderte nichts an seinem Abtauchen. Die Luft blubberte weiterhin aus dem Jacketbalg.

„Was ist denn das für eine Scheiße? Wieso…“, fluchte Peter stumm.

Seine Atemfrequenz wurde schneller und flacher. Nervosität machte sich breit.

„Bleib ruhig, Peter! Denk nach! Verdammt nochmal, denk nach!“

Angst macht dumm, hatte ihm mal ein Unternehmenscoach beigebracht und Peter versuchte sich zu beruhigen.

„Okay, versuch das!“, feuerte er sich selber an und sog einen tiefen Lungenzug durch den Atemregler ein. Daraufhin nahm er den Regler aus dem Mund und blies seinen Lungeninhalt in den Pressluftregler seines Jackets. Er hoffte, dass nur ein Leck im Versorgungsschlauch der Flasche vorlag, doch während des Atemvorganges, spürte er erneut die Luftblasen an seinem Nacken aufsteigen.

Seine Körpertemperatur erhöhte sich merklich.

Verdammter Mist!“

Der Druck stieg erneut in seinen Ohren und Peter vollzog noch mal Druckausgleich. Der Blick nach oben verriet ihm, dass er sich bereits weit von der Tauchgruppe entfernt hatte. Die glitzernde Wasserfläche umgab deutlich die Silhouetten des Tauchbootes und der anderen. Einer der Taucher versuchte ebenfalls, sich so schnell wie er, absinken zu lassen. Peter glaubte, dass es einer der Tauch-Guide sein müsste, doch auch dieser Abstand wurde immer größer.

„Wie bekomme ich Auftrieb? Verdammt! Peter reiß’ Dich zusammen!“, forderten seine Gedanken ihn auf.

„Ach ja!“

Er suchte die Schnalle seines Bleigürtels. Nach hastigen Bewegungen am Gürtelgewebe konnte er jedoch nur die Gewichte ertasten. Es kam vor, dass die Gürtelschnallen bei den Tauchbewegungen zur Seite rutschten, doch diesmal konnte Peter, auch nach weiteren verzweifelten Handgriffen, nichts außer den Gürtelstoff und die Gewichte ertasten. In solchen Fällen würden erfahrende Taucher ihr Messer herausholen und den Gurt einfach durchschneiden. Doch Peter hatte kein Messer. Er empfand das immer etwas albern. Als ob man unter Wasser mit einem Hai kämpfen müsste? Ein Blick auf seinen Tauchcomputer verriet ihm, dass er schon auf fünfunddreißig Meter Tiefe abgesunken war.

Warum sinke ich so schnell? Das ist doch nicht normal? Der dicke Paul schwimmt wie ein Korken und ich…!“, fragte sich Peter.

In dem Moment schossen ihm die Bilder auf dem Bootsdeck durch den Kopf. Alle waren gerade beim Anziehen der Tauchausrüstung, während der starke Ruck erfolgte und die Tauchkörbe durcheinander rutschen ließ.

„Jetzt wird mir auch klar, warum die Gewichte so weit auseinander angeordnet waren. So ein Dreck! Der Engländer bringt bestimmt das Doppelte von mir auf die Waage. Das bedeutet, er benötigt auch das Doppelte der Gewichte“, überschlugen sich die Gedanken hinter Peters Stirn.

Obwohl das Jacket über dem Bleigurt lag, versuchte Peter erneut die Gürtelschnalle zu finden. Er schloss seine Augen und bemühte sich, seinen Atemrhythmus zu verlangsamen. Er drückte nun in immer kürzeren Abständen die Nasenflügel zusammen und kämpfte gegen den Druckausgleich.

Die Gürtelschnalle war nicht zu finden.

Peter bemerkte, wie er in Gedanken ruhiger und entspannter wurde.

„Eigentlich wäre das der Augenblick zur Panik“, dachte sich Peter, doch er fühlte sich nicht mehr ängstlich. Er fühlte sich leicht.

Trotz zunehmender Kälte und Dunkelheit wirkte das Absinken berauschend. Peters Gedanken wechselten von möglichen Rettungsversuchen zu Erinnerungen aus seinem Leben. Beeindruckende Momente seiner Vergangenheit rasten, in Bruchstücken von Sekunden, an seinem inneren Auge vorbei und ließen ihn, trotz Atemregler, lächeln.

Es war erschreckend wie schnell ein Mensch sich seinem Schicksal widerstandslos beugte, dachte er. Doch der Rausch und die Erinnerung an seinem bisherigen tristen Leben, ließen ihn resignieren. Er dachte, wenn ich hier mein Ende finde, dann will ich zumindest alles bisher Unbekannte auch erleben und sehen.

Peter betrachtete sein Pressluftmessgerät. Trotz des Vorganges hatte er erstaunlich ruhig geatmet und erst fünfzig von den vierhundert Litern verbraucht. Er nahm sich vor noch langsamer zu atmen, obwohl ihm die Kälte langsam frösteln ließ, und er dadurch seinen Atemrhythmus veränderte. Sein Tauchcomputer hatte sich schon verabschiedet. Ein – ERROR- blinkte in gleich bleibenden Abständen auf.

Im Unterbewusstsein begann er automatisch seine Spucke runter zu schlucken, welches den gleichen Effekt hatte, wie mit den Fingern die Nase zuzuhalten, um den Druck auf den Ohren aus zugleichen. Peter hatte keine Taschenlampe dabei, um in dieser Tiefe seine Umgebung oder das was sich unter ihm befand, betrachten zu können. Nur das Sonnenlicht von oben begleitete ihn so gut wie möglich, verlor jedoch von Meter zu Meter an Stärke.

Er lächelte erneut und begann während des Abtauchens, mit langsamen Ruderbewegungen Purzelbäume zu schlagen. Peter verwechselte seine Situation mit der eines Astronauten, in der absoluten Schwerelosigkeit. Durch die Bewegung strömte das aufgewärmte Wasser in seinem Neoprenanzug überallhin und wärmte ihn etwas. Das war der schöne Nebeneffekt seines Rausches. Geringe Mengen vom Salzwasser drangen an der Seite seiner Tauchermaske ein und brannten in den Augen. Er unterließ die Drehungen.

Langsam übermannte die Müdigkeit seinen Tiefenrausch und Peter schloss die Augen. Tränen kämpften mit dem Salz und verdünnten die brennende Flüssigkeit hinter den Lidern. Seine Atemzüge wurden flacher, und die Schluckabstände kürzer. Peter begann zu zittern und machte sich klein. Er zog die Beine an sich und hielt sie mit den Armen vor seinem Bauch. Der schwere Bleigurt hinderte ihn etwas und schmerzte an der Rippe. Der Taucher sank kontinuierlich tiefer und nach zehn weiteren Metern übernahmen die Reflexe die Schlucktechnik und Atmung. Peter fiel in Ohnmacht.*

Grelles Licht und immer lauter werdende Vogelschreie holten Peter allmählich wieder in die Realität zurück. Schwankende Bewegungen ließen den Körper, und vor allen seinem Magen reagieren. Übelkeit machte sich bemerkbar. Er versuchte seine Augen zu öffnen, doch das helle Licht ließ ihn eine Weile blinzeln, bis sich sein Blick schärfte. Über ihn bemerkte er die Silhouetten von Seevögeln hin und her kreisen. Er trieb auf der Wasseroberfläche. Die Maske war beschlagen und schmerzte auf der Haut. Sein Atemregler befand sich immer noch im Mund und brodelte ab und an, sobald etwas Wasser in ihm eindrang

„Wie bin ich nach oben gekommen“, fragte er sich.

Er spuckte den Regler aus und zog die Maske nach unten, damit sie ihm um den Hals hing. Sein Körper trieb ausgestreckt flach auf der Wasseroberfläche.

“Hatte sich eventuell doch der Bleigurt gelöst und mich wieder aufsteigen lassen.“

Er sah zur Hüfte runter. Doch der Gurt befand sich immer noch an der gleichen Stelle. Peter versuchte mit den Füßen nach unten zu kommen, um sich umzuschauen, doch seine Beine zog es immer wieder nach oben, so als ob er sich im Toten Meer befand. Der Salzgehalt des Wassers dort war so hoch, dass man ohne Bewegungen flach auf dem Wasser treiben und in dieser Position sogar lesen konnte.

Die Wasservögel über ihm kreischten immer lauter und schon bald sah er, wie sich mittlerweile fast Hunderte von ihnen dort befanden. Klatschende Geräusche machten sich hinter seinem Kopf bemerkbar und als sich Peter umdrehen wollte, kam er mit dem Ellenbogen an den neben ihm treibenden Atemregler. Dieser erhob sich langsam aus dem Wasser und schwebte vor seinen Augen nach oben. Er konnte dies noch kurz verfolgen, als ein weiteres klatschendes Geräusch zu hören war und er einen dumpfen Schlag im Genick spürte. Erneut schwanden ihm die Sinne und ließen seine Muskeln erschlaffen.

*

 

„Dat is woll een von de Fischlüüd!“, hörte er ein Stimme von irgendwo sagen und spürte gleichzeitig einen Ruck an seinen Flossen.

Peter riss seine Augen auf und schreckte hoch. Auf einmal rasten Gedanken in seinem Kopf und versuchten die Situation zu erfassen und, vor allen Dingen, zu deuten.

Peter wurde von knapp einem Dutzend Männer angestarrt. Sie trugen helle weite Hosen und Seidenhemden; wobei sich keine einzige Farbe mit der eines Anderen glich. Die Haare klebten, anscheinend mit großem Einsatz von Haar Gel, platt auf ihren Schädeln. Außerdem teilten sich alle eine gleiche Barttracht, die sich von einer Kotelette über die Wange, runter zum Kinn und auf der anderen Seite wieder nach oben erstreckte. Aber auch diese Haare klebten platt auf der Haut.

„Na, mien Jung, bist wedder bi di?“, fragte jemand aus der zweiten Reihe.

Peter lächelte und nickte. „Ja, ich glaube das reicht erstmal für ein paar Jahre!“

Peter konnte etwas plattdeutsch verstehen. Aber er war kein Experte, und konnte diesen Dialekt keiner bekannten friesischen Mundart zuordnen.

Die Mannschaft schaute sich gegenseitig an und nickte.

„Verhool di erst mol un dann vertell us, watt wesen is un watt hest du im Water mookt?“

Die freundlichen Männer reichten ihm trockene Kleidung. Anschließend setzte man sich gemeinsam, auf umgedrehten Eimern, an einem langen Esstisch und servierte das Essen.

Peter bemerkte durch den festgeschraubten Tisch, sowie den schwankenden Lampen, dass er sich Inneren eines Schiffes befand. Die Form des Unterdecks wirkte etwas ungewöhnlich, da die Decke halbrund, ähnlich der Form eines Kiels, aussah. Doch seine Verwunderung wurde durch reichlichem Essen und Trinken abgelenkt. Es gab Fisch und ein Getränk, welches Peter nicht definieren konnte. Doch das diese Flüssigkeit einen gehörigen Alkoholgehalt besaß, war unschwer auszumachen.

Maroon sprach ihn noch während des Essens an. So hieß ein Mannschaftsmitglied im türkisfarbenen Hemd, der grob geschätzt auf ein Stockmaß von knapp einem Meter fünfundfünfzig kam und diesen Körper mit einer Konfektionsgröße von 32 bekleiden konnte, vermutete Peter. Er erklärte ihm, dass sie ihn nur wegen der Vögel gefunden hatten. Man konnte das Schiff jedoch nicht mehr bremsen und schlug ihn mit den Unterflügeln versehentlich ohnmächtig. Der Gerettete hatte wegen des Alkoholkonsums, der etwas schwierigen Sprache sowie einigen Fachbegriffen, die er nicht kannte, Schwierigkeiten alles zu verstehen, lachte jedoch einfach mit.

Doch allmählich kehrte wieder Ruhe ein und eine erwartungsvolle Aufmerksamkeit machte sich breit. Peter spürte die Blicke der Männer auf ihn haften und ahnte, dass er nun an der Reihe wäre, seine ungewöhnliche Reise zu erzählen.

Er hatte schon immer Schwierigkeiten vor einer größeren Zahl von Menschen zu sprechen und so füllten sich seine Wangen mit Blut. Sein Kopf glühte und er nahm einen weiteren Schluck.

Okay, Du kennst die Männer ja eigentlich gar nicht, daher kannst du dich auch nicht so stark blamieren“, beruhigte er sich gedanklich.

Er wollte sich kurz noch die Horde in Unterhosen vorstellen, verwarf allerdings diesen Gedanken wieder, und fing an, ruhig zu erzählen. Er begann seine Geschichte mit seinem letzten Tauchgang. Die Männer hingen an seinen Lippen. Doch mit jedem Satz wurden die Falten auf den Stirnen seiner Mithörer tiefer und Peter erkannte, dass sie keine Ahnung von dem hatten, was er ihnen erzählte. Er wurde nun langsamer und deutlicher, doch die Gesichter behielten ihren Ausdruck. Er verstummte und sah in die Runde.

„Pedä, wie bist so deep in t Water rinkomen?“, kam ein Frage. Peter blickte sich um.

„Na wie gesagt, das Blei hat mich runtergezogen!“

Jetzt sahen sich die Männer nacheinander in die Augen.

„Mut woll dat verdübelte Blee von Klabautermann wesen ween!“, schlussfolgerte Maroon und auf einmal lachten alle laut auf. Die beiden Tischnachbarn von Peter schlugen ihm auf die Schulter und brüllten vor Lachen. Nun musste Peter auch lachen, wusste wieder nicht warum, aber diese Jungs steckten einfach an. Die meisten Seeleute wischten sich die Tränen aus den Augen und schüttelten die Köpfe.

„Nu hebbt wi ’n godet Schipperlatein vör de Nacht!“, sagte einer und stand auf. Nacheinander folgten die anderen und lachten aufs Neue. Auch Peter war müde und Maroon zeigte ihm eine freie Koje.

Obwohl er nicht wusste, wo er sich befand und warum er diesen Tauchgang überlebt hatte, fühlte er sich dennoch wohl. Die Männer um ihn herum waren freundlich und der Alkohol im Blut beruhigte seine Ungewissheit.

Als er es sich in der Hängematte gemütlich machte, begann sein Gehirn erneut zu arbeiten.

„Die Gewässer Rotes Meer und Nordsee grenzen anscheinend dicht aneinander!“, kam es leise über seine Lippen. Er wollte jetzt nur noch schlafen.

„Morgen lässt sich alles aufklären“, versprach er sich selber und schlief nach wenigen Minuten entspannt ein.

*