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Foto Ayşe Yavaş

Alberto Nessi, geboren 1940 in Mendrisio, studierte an der Universität Freiburg Literaturwissenschaft und Philosophie. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Er unterrichtete italienische Literatur in Mendrisio, schrieb für Zeitungen und verfasste Hörspiele. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Schweizer Grand Prix Literatur für sein Lebenswerk. Alberto Nessi lebt in Bruzella. Im Limmat Verlag sind von ihm lieferbar: «Nächste Woche, vielleicht», «Terra matta», «Schattenblüten», «Die Wohnwagenfrau», «Mit zärtlichem Wahnsinn / Con tenera follia» und «Abendzug».

Die Übersetzerin

Maja Pflug, geboren in Bad Kissingen, Übersetzerausbildung in München, Florenz und London, übersetzt seit über dreißig Jahren italienische Literatur ins Deutsche, u. a. P. P. Pasolini, Cesare Pavese, Natalia Ginzburg. Sie lebt in München und Rom und wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis für ihr Lebenswerk. Im Limmat Verlag sind von ihr Übersetzungen von Anna Felder, Alberto Nessi, Giovanni Orelli und Anna Ruchat lieferbar.

Vorgestern, von meinem Denkmal hier auf dem Friedhof der Freuden, habe ich dich gesehen. Du hast meinen steinernen Arm betrachtet, der die Fackel hält, die Bronzemedaille mit der Widmung der Klasse der Stuckateure, den Fries mit dem Lineal, dem Zahnrad und dem Zirkel, die zwei Hände, die einander drücken.

Viele haben damals oben im Barrio Alto, im Büro der Arbeitervereinigung, die Totenwache bei mir gehalten, in Calçada dos Paulistas. Und mich dann hier auf die Hügel begleitet. Etwa tausend Arbeiter, die Frauen waren auch dabei. Und jedes Jahr am Ersten Mai kamen sie mich besuchen, mit Fahnen und einem Karren voller Blumen, und mittendrin mein Porträt.

Jetzt bist du hier. Was hat dich wohl bewegt, mich zu besuchen? Das Licht zu verlassen, dem du wie ein durstiger Hund über die Hänge hinterherläufst in dem Tal, wo ich geboren bin? Das Wasser zu verlassen, eingezwängt in Schluchten, wo im Winter, wenn das Laub von den Bäumen fällt, im Talgrund das nackte Gestein zum Vorschein kommt? Das Dorf, wo du dich eingesponnen hast, um dich in Seide aus Wörtern zu hüllen? Was treibt dich, es deinen Landsleuten gleichzutun, die vor dir in die Welt hinausgezogen sind? Sehnsucht nach nicht gelebtem Leben?

Alberto Nessi

Nächste Woche, vielleicht

Roman

Aus dem Italienischen von Maja Pflug

Limmat Verlag

Zürich

Mai 1871

Ich heiße José, bin einunddreißig Jahre alt und Buchhändler in Lissabon. Ich bin lungenkrank und will die Welt verändern.

Lange Zeit dachte ich, ich sei der Heilige, der in meinem Geburtsort in der Apsis der Erlöserkirche dargestellt ist. Ich preschte auf meinem weißen Pferd heran und stieß dem Drachen die Lanze in den Schlund. Der aufgerissene Schlund befand sich neben dem Hauptaltar und gehörte einer großen Eidechse mit gezacktem Rücken, die in den Sonntagspredigten das Böse verkörperte. Der Glaube war das Gute, die Rieseneidechse das Böse. Und ich war der heilige Georg auf dem weißen Pferd. Jetzt will ich euch diesen Traum erzählen.

Meine Buchhandlung ist die älteste der Stadt, «seit 1727 im Dienst der Kultur». Tagsüber bediene ich die Kunden, sitze am Schreibtisch oder gehe ins Lager in der Rua da Figueira. Der Abend gehört der Politik.

Häufig kommt Eça de Queiroz in die Buchhandlung, der Genosse Eça. Wir haben uns angefreundet, und ich lese alle seine «Folhetins». Sobald die «Gazeta» erscheint, kaufe ich sie umgehend und schneide den Artikel aus. Hier vor mir auf dem Schreibtisch habe ich einen Satz von ihm liegen, der mir gefällt: «Jeder Fuß möchte Flügel sein.»

Von meinem Arbeitsplatz sehe ich die Passanten in der Rua do Chiado, jeder in sein Schweigen eingeschlossen. An manchen Nachmittagen, wenn auch das Akkordeon des Blinden an der Ecke verstummt und die Buchhandlung menschenleer ist, denke ich: Die Welt ist melancholisch. Der Fuß möchte Flügel sein, schafft es aber nicht. Er bleibt auf der Erde, während sich Asche auf den Dingen ablagert. Vor allem im Herbst und im Frühjahr, den Übergangszeiten. Im Mai, wenn die Blumen die Illusionen wecken, die der Oktober wieder mitnimmt.

Warum ich beschlossen habe, Tagebuch zu führen und meine Geschichte aufzuschreiben? Ich weiß es nicht, ich frage es mich. Vielleicht, weil sich der feuchte Fleck in meiner Lunge ausweitet und allmählich auch mein Denken verändert. Die Krankheit bringt Fragen und Erinnerungen mit sich. Ich würde gern mehr von meinem Leben begreifen. Zum Beispiel, was mich gedrängt hat, die anderen in mich hineinzulassen. Ich spreche nicht von Büchern, sondern von Menschen, Arbeitern, Frauen in der Fabrik. Bücher leisten einem Gesellschaft, Menschen verletzen. Doch was ist mehr wert als der Mensch?

Vielleicht ist es die Beleidigung, die meinen Entschluss herbeigeführt hat. Die Beleidigung, dass es das Böse auf der Welt gibt. Wer immer auf der Straße vorbeigeht, spiegelt sich in meinem geheimen Spiegel. Ich kann nicht so tun, als wäre nichts. Ich bin wie er. Ich bin er.

Ich will schreiben, um zu versuchen, die Zeit anzuhalten, die ihren Lauf für mich beschleunigt hat. Schreiben. Vielleicht will ich all den Schriftstellern Konkurrenz machen, die mich aus den Regalen anblicken … Eine neue Klarheit lässt mich das Leben rückblickend erweitern, verlängert meine Tage nach hinten. Und die Dinge aus dem Dorf, wo man geboren ist, funkeln in der Erinnerung wie die Schneide der Sense in den Händen des Schnitters.

Ich habe Eça gefragt, ob die Literatur den Menschen besser machen kann, und er hat mit einem Lächeln geantwortet. Man muss Revolution machen, damit der Mensch besser wird. Der Fuß muss Flügel werden: nächste Woche, vielleicht … Denn es weht ein neuer Wind in Lissabon: die Vorträge im Casino.

Gestern Abend, erster Vortrag: «Causas da decadência dos povos peninsulares nos últimos três séculos». Antero de Quental glich dem heiligen Franziskus, in aller Unschuld hat er die Bourgeois kaltgemacht.

Es waren die Leute da, die gewöhnlich in die Buchhandlung kommen, die Politiker, die Journalisten. Doch auch Miguel war da, der Buchbinder, der sich eingeschüchtert zwischen den eleganten Gestalten umsah. Nobre França war da, der für mich wie ein Bruder ist. Der Drucker war da, mit dem zusammen ich mir die Hände schmutzig machte, bevor ich anfing, hier mit Büchern zu handeln. Einige Arbeiter aus unserer Parteisektion standen hinten im Saal und betrachteten die Deckengemälde. Sie fühlten sich wie Hunde in der Kirche. Aber wir werden sie verändern.

Was hat Antero gesagt? Kurz zusammengefasst: Der Niedergang der Völker der Halbinsel begann, als sie unter das Joch des religiösen Despotismus gerieten, den das Konzil von Trient mit sich brachte. Starke Worte. Und während er sich über die Jesuiten aufregte, die das Volk stumm, gehorsam und dumm haben wollen, während er die Conquistadores anklagte, die uns zwar Gold, Gewürze und Palisanderholz gebracht, aber zwei Kaiserreiche und zehn Millionen Menschen zerstört haben, hörte man im Saal die Skapuliere rascheln. Einige Leute wanden sich, als litten sie an Gürtelrose.

Heute Nacht dachte ich: Tief in uns gibt es einen Schatten, der die Freude am Wachstum hindert. Die Blume öffnet sich nicht. Manchmal sehe ich diesen Schatten auch in Anteros Augen, obwohl er so kämpferisch ist. Doch während des Vortrags gestern hatte er Licht in den Augen und Flammen im Haar. Als er über Religion sprach, strahlte sein Licht. Das Christentum war die Revolution der antiken Welt, und die Revolution ist das Christentum der modernen Welt, hat er gesagt. Da bin ich aufgestanden, um zu klatschen. Die vier Arbeiter hinten im Saal hörten allem mit aufgerissenen Augen zu. «Das ist der vierte Stand», dachte ich, «mit ihnen werden wir gegen den Obskurantismus marschieren.»

Thema und Variationen. Die Bewohner der Halbinsel sind auf natürliche Weise religiös, sie lieben Prozessionen, die Heiligen, den Weihrauch und die Kirchenlieder, wissen aber nichts von Theologie. «Das Christentum ist ein Gefühl, der Katholizismus aber ist eine Institution.» Mit den Dogmen hat sich alles verändert: Wie kann man glauben, dass Christus wahrhaftig im Brot des Bäckers und im Wein des Weinbauern anwesend sei? Und warum kann die Seele nicht direkt mit Gott in Verbindung treten, sondern muss sich bei der Beichte mit einem Eindringling herumschlagen, der geistlicher Führer heißt?

Er hat tatsächlich «Eindringling» gesagt. Ein Murmeln ging durch den Saal.

Der Vortrag im Casino hat Aufsehen erregt. Die von der «Naçao» haben zurückgeschlagen: Diese Trottel wollen die Welt erneuern! Besserwisser! Schriftgelehrte und Pharisäer! Über Antero sagen sie, dass er den Mantel über den Boden schleift «wie ein elender Jude, ein Erbe der Mörder Christi».

Wenn es regnet, bleibe ich am Schreibtisch. Wenn ich den Blick hebe, sehe ich die Buchrücken, die mich anschauen, mich warnen, mir zublinzeln. Don Quijote führt mich mit seinem Gaul zu den Windmühlen.

Ich blicke durch die Schaufenster und mir scheint, als liefen die Regentropfen über den Spiegel, der in mir ist. Ich bin ein Tropfen: Auch wir fließen wie das Wasser. Das Regenwasser, das die Straßen wäscht. Der Tejo. Zu Hause in der Rua do Monte Olivete sehe ich ihn durchs Fenster glitzern. Die Wassertropfen, die den Fleck in meiner Lunge vergrößern.

Ich machte mir Sorgen wegen des Vortrags von Eça de Queiroz: Jeder Fuß möchte Flügel sein …

Ab und zu bin ich Eça abends nach Ladenschluss bei Ba­talha Reis oben im Barrio Alto begegnet, in der Travessado Guarda-Mor. Das ist ein Treffpunkt für uns. Im Licht einer Petroleumlampe habe ich ihn dort gesehen. Eine lange, magere Seele. Mir fiel der Spitzname ein, den sie mir als Junge gegeben hatten: Ich war sehr, sehr mager, und in meinem Dialekt riefen sie mich «Gambadazelar», Selleriestängel. Wir alle, die wir die Welt verändern wollen, sind Selleriestängel. Doch Eça ist außerdem noch elegant, hat Hände wie aus Elfenbein, ein Monokel wie ein Intellektueller, einen dünnen Rohrstock, der einen Sklaventreiber neidisch macht. Er raucht eine Zigarette nach der anderen und schreibt unermüdlich.

Ich habe ihn auch in der Bibliothek des Gremio Literario gesehen. Ich las Proudhon, er Gérard de Nerval. Als wir einmal in einer Schänke in Alfama zusammen Bacalhau aßen, hat er mir ein Gedicht von Gérard de Nerval vorgetragen. Ich erinnere mich an den ersten Vers: «Je suis le ténébreux, le veuf, l’inconsolé …»

Es herrschte Interesse an seinen Worten im Casino-Saal. Scheinbar ist Eça aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die Zuhörer, doch er hat einen Muskel im Leib, den die anderen nicht haben. Seine Vornehmheit hat alle beeindruckt: schwar­zer Schnauzer, schwarzes Haar, eine Strähne fiel ihm in die Stirn, die Hände gestikulierten.

Er hat Proudhons Theorien vorgetragen. Die neue demokratische Kunst: Courbet. Der Künstler muss beobachten können und darf nichts aus seinem Blick ausschließen. Warum Musen und Phantasmagorien malen? Es genügt, den Markt­platz seines Dorfes zu zeigen, seine Gasse.

«Ihr, die ihr euch anmaßt, Karl den Großen, Cäsar und Jesus Christus persönlich darzustellen, könntet ihr ein Porträt eures Vaters malen?», hat Courbet eines Tages, an die Mitglieder der Akademie gewandt, gefragt.

Eça hat Proudhon zitiert und seine Beschreibung eines Bildes von Courbet: betrunkene Landpfarrer, die von einer Kon­ferenz mit anschließendem Gelage zurückkehren. Das Bild hatte Anstoß erregt und war von einer in Paris vorgesehenen Ausstellung ausgeschlossen worden.

Dann hat er ein Loblied auf Gustave Flaubert und dessen «Madame Bovary» gesungen.

Ich habe lange an den Vortrag gedacht. Ich bin zwar kein Künstler, glaube aber, dass Kunst zur Kenntnis des Menschen und der Welt beiträgt. Der neue Mensch, das Produkt unserer Revolution, wird es verstehen, sich von einem Gemälde rühren zu lassen. Auch von Courbets Steinklopfern im zerlumpten Hemd. Vor allem von ihnen.

Bei Eças Vortrag fiel mir wieder ein, wie ich mit siebzehn war. Und als ich in meinen Papieren wühlte, fand ich den Zeitungsausschnitt, den ich als Junge im Jura aufgehoben hatte. Davon werde ich ausgehen, für meine Memoiren. Von einem alten Zeitungsausschnitt, seitdem sind beinahe zwanzig Jahre vergangen. Aber ich erinnere mich noch gut. Die Erinnerung ist unsterblich. Die Erinnerung ist ein Vogel, der durch die Zeit fliegt und gegen die Scheiben prallt.

Ein Vogel, der durch die Zeit fliegt

Le Locle, 1er août 1857

«Cherubino Patà, peintre, en passage en cette ville, prévient le public qu’il se charge de faire des portraits à l’huile, de toutes manières et de toutes dimensions. Prix du portrait grandeur naturelle: 20 francs. S’adresser à l’Hôtel de la Couronne ou à l’église catholique.»

Dieses «grandeur naturelle» hatte mich beeindruckt. Noch nie hatte ich einen Künstler gesehen. Was Gemälde betraf, erinnerte ich mich nur an den heiligen Georg auf dem Pferd in meinem Dorf, das kleine Fresko von der Madonna mit dem Tüchlein und die Exvoto-Täfelchen. Deshalb ging ich an jenem Nachmittag zur «Couronne» und stellte mich unter das eiserne Schild, auf dem die Königskrone glänzte, um von dort durchs Fenster Cherubino zu beobachten, der Porträts malend von Dorf zu Dorf zog. Er kam mir wie ein wahrer Engel vor. Vielleicht sogar ein Erzengel. Kurz, ein göttliches Wesen, das aus dem Nichts etwas erschaffen konnte.

Le Locle: «loculo», Grabnische, nannten meine Landsleute den Ort. Weil dort eine Grabeskälte herrscht und ein Wind weht, der von dreißig Pfoten gebracht wird, er fährt dir in die Knochen wie Todeskälte. Wind und Raben streifen über die Felder.

Ich war mit meiner Mama in den Jura gekommen, weil die Gebirgsluft Lungenschwachen guttut. Und was mich als Erstes beeindruckte, waren die Raben. Es sind keine heiteren Vögel: Mein Vater starb, als ich wenige Jahre alt war, dort unten in meinem Tal, und an jenem Tag krächzten die Raben.

Jetzt diesen Zeitungsausschnitt aus meiner Jugend zu betrachten, kommt mir seltsam vor. Jetzt, da das bedruckte Papier zu meinem Alltagsrauschen geworden ist, höre ich das Schwirren des Vogels, der mir diese Erinnerung bringt. Jeder Flügelschlag ein Tag, der vergeht.

Damals, als ich den fahrenden Künstler heimlich durch die Scheiben des Hôtel de la Couronne beobachtete, lag mein ganzes Leben noch vor mir. Ich beobachtete jenen Cherub mit seiner schlauen Miene und den zerzausten Locken, genau so, wie ein Maler sein muss. Er bewegte den Pinsel auf der Leinwand, und nach und nach nahmen die Gesichtszüge des vor ihm posierenden Monsieur Le Maire Gestalt an. Stolz stand er da, nachdem er den Zylinder an den Kleiderständer gehängt hatte, mit seinem steifen Kragen, die Hände auf den Spazierstock gestützt; und mir war, als spiegelte sich in den Formen, die sich allmählich auf der Leinwand abzeichneten, auch seine Gattin mit dem Schirmchen und dem weißen Pferd.

Auf dem Bild waren Frau und Pferd nicht vorhanden. Aber ich sah sie, weil ich von klein auf seherische Augen hatte. Da, das Gesicht des Bürgermeisters, vornehmer als in Wirklichkeit, faltenlos, da, die Nase, freundlich unter dem Pinsel, nun die Krawatte, die Uhrkette auf der Weste, das Wiehern des Pferdes … Lebensgroß. Für zwanzig Franken wird man schön und unsterblich wie der heilige Georg. Wie Wilhelm Tell, unser Held, den die Republikanhänger an jenem Tag auf den Straßen mit Fanfarenstößen feierten.

Ehrlich gesagt bin ich es gewohnt, Dinge zu sehen, die nicht da sind. Ist Schönheit in dem Bettler an der Ecke der Rua do Chiado? In dem Krebs, der ihm das Gesicht zerfrisst? In der Kaverne, die sich in meiner Lunge gebildet hat? Und doch, wenn ich unterwegs bin, dringt bei jedem Schritt die Schönheit in mich ein, als ließe der Staub der Tage eine feine Leuchtspur zurück. Auf der Straße sehe ich in jeder Bewegung einer Frau die Natürlichkeit, die das Begehren entzündet, der Anblick der Passanten erheitert mich. Mitten im Grau flammt eine Kerze auf, die sagt: «Du könntest glücklich sein …»

Ich weiß nicht, ob jener Cherubino Patà ein großer Maler ist. Damals jedoch schien er mir der Zauberer und Schöpfer persönlich zu sein. Als der Bürgermeister fort war, bat Cherubino mich, ihm ein wenig Tabak zu holen, und gab mir etwas Kleingeld. Mit schlauem Blick sah er mich unter seinen Locken an. Er war gut gelaunt, hatte Lust zu reden.

«Hé, mon gars … Was wolltest du da hinter der Scheibe mit diesem Ministrantengesicht? Du hättest doch hereinkommen können, das ist ja nicht verboten.»

«Mir fehlte der Mut, Monsieur l’artiste.»

«Ich höre, dass du so ähnlich sprichst wie ich, mon gars. Du hast einen merkwürdigen Akzent. Du bist nicht von hier.»

«Nein, ich bin nicht von hier. Ich stamme aus einem engen Tal nahe Italien.»

«Aus einem engen Tal? Hundsgemeine Welt, ich komme aus einem abgeschlossenen Tal, das sie in der Vergangenheit mit einem Tor verriegelt hatten, um Pest und Krieg nicht her­einzulassen: ein riesiges Tor, das auf den Abgrund hinausging.»

«Sind Sie früh fortgegangen aus diesem abgeschlossenen Tal, Monsieur?»

«Je me suis sauvé … Hör zu, mon gars, wie heißt du?»

«Ich heiße Giuseppe. Aber meine Mama nennt mich José.»

«José …?»

«Mama ist Lusitanerin.»

«Hör zu, mein kleiner Lusitaner, geh und hol mir ein bisschen starken Rauchtabak und komm dann herein, ein Glas Cidre trinken.»

Geschichte des Figurenmalers

«Mein Tal ist ein Ort, aus dem man besser fortläuft, wenn es einem gelingt, das Tor zu öffnen, ohne in den Abgrund zu fallen. Es bleiben nur die Männer aus den Wäldern. Es bleiben die, die sich an den Schwanz der Ziegen klammern und wie die Schweine leben. Die Dörfler, die am Sonntag nicht feiern wie die Arbeiter und die Fräcke … Es bleiben die Alten, die Schwachsinnigen, die Kinder, die Frauen mit den langen, unter den Achseln festgebundenen Röcken und die Mädchen, die im Wald Heu machen, auf den Felsen Roggen und Rüben pflanzen, im Herbst Körbe voll Esskastanien sammeln. Magst du Mädchen, kleiner Ministrant? Les filles … Wir nennen sie ‹Verrückte› in unserem Dialekt. Ich erinnere mich an Mariangela, die Mitleid hatte und mit den Einsamen in den Heuschober ging. Mariangela würde sofort mit dir gehen, kleiner Ministrant, auf dem Silbertablett würde sie sich dir kredenzen. So ist mein Dorf. Eine Schlangengrube voller Dornen, von außen kommt nie jemand, und man arrangiert sich, so gut es geht, vor Ort, um den Trübsinn zu vertreiben. Die Männer gehen nach Australien auf Goldsuche oder in die Städte in Italien, um den Ruß aus den Kaminen zu kratzen.

Es gibt einen Mann, der durch unsere Dörfer zieht und Kinder kauft, die kleinen Buben kauft er, hundsgemeine Welt. Er bringt sie nach Locarno. Dann fahren sie mit dem Boot nach Italien. Einmal ist das Boot im See gekentert: Sechzehn aus meinem Dorf sind dabei ertrunken. Die Buben sind dürr wie der Hunger und können gut in den Rauchfang kriechen. Sie fahren mit ihrem Vater los, doch wenn sie dann zu arbeiten beginnen, dürfen sie ihn nicht mehr Papa nennen. Sie nennen ihn Padrone. Und an Silvester werden sie zum Mittagessen eingeladen. Aber still! Sie sitzen mit ihrem schwarzen Gesicht am weiß gedeckten Tisch der Reichen, weil sie Glück bringen.

Wie sie es machen, die Kamine hinaufzuklettern? Sie stemmen sich mit Rücken, Ellbogen und Knie ab und kriechen nach oben. Und werden dabei so voll Staub, dass sie kaum noch atmen können. Auf den Straßen rufen sie ‹Spazafurnel!›, Schornsteinfeger, und das Trinkgeld, das liefern sie beim Padrone ab.»

Diese Geschichte beeindruckte mich, dort im Saal des Hôtel de la Couronne. Cherubino war zu Vertraulichkeiten aufgelegt, und ich fühlte mich erwachsen, während die Männer rund um uns mit Monsieur Le Maire ihren Sonntagswein tranken und Pfeife rauchten. Die Blechbläser mit den Federbüschen waren, die Fanfare für Tell spielend, durch die Hauptstraße gezogen und hatten eine Klangspur hinterlassen, ein Versprechen auf etwas Außerordentliches, in dem sich meine Gedanken verloren.

«In den italienischen Städten mussten die Buben vor der Madonna schwören, nichts zu sagen. In Absprache mit den Padroni ließen die Priester sie schwören. In der Kirche. Aber ich wollte nicht Sklave sein, hundsgemeine Welt, und als der Kinderkäufer gekommen ist, bin ich fortgelaufen in den Wald. In unserem Tal gibt es Steinriesen, die vom Berg gefallen sind, weißt du das? Ich habe mich unter einem dieser Felsbrocken versteckt.

Meine Mutter konnte weder lesen noch schreiben, mein Vater war nicht mehr da, mein Bruder hatte sich von einem Anwerber hereinlegen lassen und war nach Australien gegangen. Ich habe da oben immer Madonnen und Gämsen in die Rinde der Kastanienbäume geritzt, dabei habe ich nach und nach gelernt, Figuren zu malen. Vom Kanton Tessin habe ich hundert Franken bekommen und bin drei Monate nach Mailand auf die Kunstakademie im Brera-Palast gegangen. Dann haben die Österreicher uns weggejagt.

Ich bin mit fünfzehn Schornsteinfegerbuben nach Sono­gno zurückgekehrt. Ich habe die Kirche ausgemalt, Verkündigung und Christi Geburt. Ich habe die Dreieinigkeit gemalt, Abraham mit dem Sohn auf den Knien und dem Engel, der ihm die Hand festhält. Kennst du die biblischen Geschichten, kleiner Ministrant? Moses mit der Bronzeschlange, der Evangelist Matthäus, der in ein großes Buch schreibt, und der Engel, der ihm das Tintenfass hält, Lukas mit dem Ochsen. Lauter heilige Sachen, mon gars, Ware, die aus der Werkstatt des lieben Gottes stammt.»

Ich lauschte verzaubert. Vielleicht habe ich damals angefan­gen, auf dem Pferd des heiligen Georg zu reiten. Ich lauschte den Geschichten von den Schornsteinfegern und schwang die Lanze.

«Die Männer aus meinem Dorf, mit Brot und Hunger aufgewachsen, waren eines Tages, als ich noch nicht geboren war, mit der Sichel am Gürtel nach Locarno gezogen, um den Baum der Freiheit auszureißen. Von Freiheit wollten sie nichts wissen. Mit Mistgabeln trieben sie die Jakobiner vor sich her: Diese Gauner – sagten sie – sollen zuerst dem Mönch ihre Schuld gestehen, und dann muss man ihnen den Kopf abschlagen, damit die Seele sich vom Körper trennt.