Der Orden von Delphi

 

 

 

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Band 83

 

Der Orden von Delphi

 

von Catherine Parker und Simon Borner

 

 

© Zaubermond Verlag 2016

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: Die Autoren-Manufaktur

 

http://www.zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Bösen, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, wanderte seine Seele in den nächsten Körper. Im Jahr 1713 wurde er als Ferdinand Dunkel in Wien Zeuge, wie Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, von einem Nachfolger verdrängt wurde, der sich fortan Asmodi II. nannte. Ihn kann Dorian schließlich töten.

Nach vielen Irrungen nimmt Lucinda Kranich, die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie, die Rolle des Asmodi an. Niemand weiß, dass sie in Wirklichkeit hinter dem wiedererstandenen Fürsten steckt. Und letztendlich wird ihre Maskerade Wirklichkeit. Dass Lucinda sich einen Teil Asmodis einverleibt hat, um seine Macht zu erlangen, wird ihr zum Verhängnis. Der in ihr schlummernde Asmodi übernimmt die Kontrolle über ihren Körper und ersteht so tatsächlich wieder auf.

Und die Umstände wollen es, dass ausgerechnet Coco Zamis die neue Schiedsrichterin wird. Das Dämonenkiller-Team droht zu zerfallen, Dorian stirbt. Die Dämonen scheinen gesiegt zu haben.

Aber mit vereinten Kräften gelingt es Dorians Freunden, ihn ins Leben zurückzuholen. Das Team formiert sich neu. Dummerweise sind einige von ihnen während Dorians Abwesenheit auf Abwege geraten. Philipp Hayward ist nicht nur derzeit von seinem bösen Zwillingsbruder besessen. Ein geheimnisvoller Orden ist zudem hinter ihm her und möchte ihn aus der Weltgeschichte entfernen: der Orden von Delphi.

 

 

 

 

Erstes Buch: Der Orden von Delphi

 

 

Der Orden von Delphi

 

von Catherine Parker

nach einem Exposé von Susanne Wilhelm

 

Kapitel 1

 

Die Dämmerung setzte an diesem Januartag früh ein.

Frostiger Ostwind pfiff um Wiens Straßenecken. Graupelkörner fegten über den Asphalt. Die Menschen verhüllten ihre Gesichter mit Schals oder wollenen Tüchern und senkten beim Gehen die Köpfe.

Niemand achtete auf die Männer in den schwarzen Mänteln. Wie Schatten verschmolzen sie mit den Häuserwänden. Stumm und konzentriert bewegten sie sich vorwärts, als gehorchten sie einem geheimen Kommando, das nur sie hören konnten. Hätte sich ein Passant die Mühe gemacht, der seltsamen Formation zu folgen, wäre ihm ihr Ziel vielleicht bald klar geworden. Doch die Männer erreichten ungesehen die alte Villa, die in der vornehmen Vorstadtgegend nur das Spukhaus genannt wurde.

Es war das letzte Haus in der Straße, das am weitesten zurückversetzt lag. Der große Garten hinter der steinernen Mauer wirkte ungepflegt. Die Bäume waren lange nicht beschnitten und Reste schmutzigen Schnees säumten den Kiesweg. Das Tor allerdings war massiv und mit einem modernen Funkschloss gesichert.

Nur ein kaum spürbares Vibrieren der Winterluft verriet außerdem, dass das Grundstück von einer schwarzmagischen Barriere geschützt war.

»Stopp!« Der Anführer der Schwarzmäntel hob warnend die Hand. »Wir warten.«

Er wusste, dass die Hexe die Villa bald verlassen würde. Er wusste auch, dass Coco Zamis wütend und abgelenkt sein würde, weil sie sich aufgrund ihrer Tätigkeit als Schiedsrichterin der Schwarzen Familie inzwischen allzu oft mit nervtötenden Kreaturen wie der, die hier wohnte, und deren albernen Zänkereien beschäftigen musste.

Dazu kam ihre wachsende Sorge um Phillip.

Beim Gedanken an den Hermaphroditen hob der Mann lauernd den Kopf und lauschte in die Stille ringsum. Doch es war nur das Heulen des Windes zu vernehmen.

Reglos verharrten die Mitglieder der Gruppe wie steinerne Wächter in der Dunkelheit.

Warten machte ihnen nichts aus, solange die Zeit auf ihrer Seite war.

Und bisher war es stets so gewesen.

 

Im Innern der Villa ahnte Coco Zamis nichts von der unheimlichen Belagerung draußen.

»Genug jetzt!«, herrschte sie den alten Vampir an.

Er unterbrach seinen Monolog vor dem Kamin und fuhr so hastig herum, dass er beinahe eine der dort aufgereihten Urnen aus massivem Silber vom Sims gestoßen hätte.

Das hätte eine hübsche Sauerei gegeben.

»Was erlauben Sie sich?« Seine Augen funkelten sie giftig an. »Ich habe noch längst nicht alle Fakten aufgezählt, die notwendig sind, um zu beweisen, dass …«

»Das ist auch nicht nötig«, beschied sie ihm. »Ich konnte mir bereits ein Bild von der Situation machen.«

Und von dir auch, du Nervensäge.

»So?« Anklagend richtete er seinen dürren Zeigefinger auf sie. »Das bezweifle ich! Wie soll ohne Kenntnis sämtlicher Fakten eine objektive Einschätzung möglich sein?«

Coco schnaubte, doch ehe sie ihm eine saftige Erwiderung in sein hässliches Gesicht schleudern konnte, setzte er schon zu einer neuerlichen Tirade an.

»Diese neu zugezogene Sippschaft in der Stadt, die behauptet, entfernt mit den Nowottnys verwandt zu sein, die 1920 aus Prag hierher kamen, hält sich an keine Regeln. Keine!«

Ja. Ja. Ja. Ich habe es gehört.

»Ich frage mich, wie kann das sein? Meine Familie wird diese Übergriffe nicht länger dulden. Wir leben seit Jahrhunderten hier. Mit den Nowottnys hatten wir nie Ärger, sie hielten sich wie wir an dämonisches Recht und Gesetz. Aber diese angeblichen Verwandten besudeln mit ihren Taten ein Gebiet, das meiner Familie gehört. Ich sage Ihnen, das muss ein Ende haben. Jawohl! Ich fordere, dass es ein Ende hat. Sie müssen ...«

»Was ich muss, bestimme ich.« Coco straffte die Schultern. »Und jetzt noch mal extra für Sie zum Mitschreiben: Ich bin keine Beschwerdestelle, sondern Schiedsrichterin. Klar?«

Der alte Vampir blinzelte verwirrt. Offenbar leuchtete ihm nicht ein, worin der Unterschied bestand.

Coco war kurz davor, ihm den Eidesstab über den runzligen Schädel zu ziehen. Das machtvolle Holz erkannte jedoch ihre Absicht und erwärmte sich leicht. Innerlich seufzend zwang sie sich zur Ruhe.

Sie musste die Würde ihres hohen Amtes wahren – egal, welcher grenzdebile Grottenolm ihre Geduld mal wieder auf die Probe stellte.

»Ich setze einen Termin an, bei dem die andere Seite zu diesem Konflikt ebenfalls Stellung nehmen kann«, sagte sie. »Sofern das von den Nowottnys gewünscht wird.«

Sie betonte jedes Wort, um keine Zweifel an ihrer Entschlossenheit aufkommen zu lassen, die Sache im Einvernehmen mit allen Beteiligten zu klären. »Sollte daraufhin eine offizielle Kampfansage erfolgen, achte ich darauf, dass die Regeln der Schwarzen Familie eingehalten werden. Sie hören also in Kürze wieder von mir.«

Der Vampir stieß ein unwilliges Knurren aus.

Coco ignorierte es und schlüpfte in ihre Jacke. Der heulende Wind draußen vor dem Fenster ließ sie jetzt schon frösteln. Mistwetter! Und das, obwohl die sibirische Eisdämonin Mainica endgültig besiegt worden war. Hier in Wien zeigte sich der Winter derzeit trotzdem noch von seiner höchst ungemütlichen Seite.

Immerhin ein paar neue Stiefel hatte Coco sich gegönnt. Todschicke Overknees. Die Absätze klackerten auf den Treppenstufen, als sie das Haus des alten Vampirs verließ und die Kapuze über den Kopf schlug. Sie freute sich darauf, bald wieder in ihrem Büro zu sein. Das Handy in ihrer Jackentasche summte.

Coco zerrte es hervor, während sie durch den dunklen Garten auf das Tor zu stapfte. Besorgt erkannte sie, dass es Phillip war, der anrief.

»Hey, was gibt's?«, rief sie. »Alles okay?«

Die Verbindung war schlecht. Zwischen Knistern und Rauschen waren Phillips Worte kaum zu verstehen. Die Panik in seiner Stimme war dennoch nicht zu überhören.

»Die Männer, die das Meer ruft … Sie sind hier!«

»Was?« Sie erstarrte. »Wer ist bei dir?«

»Nein, falsch …« Phillips hastig gestammelter Erklärung entnahm Coco, dass er allein war. Niemand war in ihr Büro und die Räume eingedrungen, die einst Lucinda Kranich gehört hatten. Sie atmete auf. Phillip befand sich nicht in akuter Gefahr oder drohte, gerade erneut entführt zu werden.

»Sorry. Also noch mal: Beruhige dich. Was ist los?«

»Sie sind … auf dem Weg.« Seine Stimme klang schrill und drängend und als er den Satz wiederholte, überschlug sie sich fast. »Sie sind auf dem Weg!«

Coco hatte nicht die geringste Ahnung, wovon er sprach. Wen meinte er? War es eine seiner Visionen, die ihn derart in Angst versetzte?

Wie bei ihrer Ankunft schwang das Tor kurz auf und ließ sie passieren. »Phillip, hör zu, ich bin gleich bei dir. Dann klären wir das. Gib mir fünfzehn Minuten, ja?«

Die Vorstadtstraße lag einsam in der Dunkelheit. Entweder gab es hier vor dem letzten Grundstück keine Straßenbeleuchtung oder die alten Laternen funktionierten aufgrund des Sturmes nicht mehr.

Ein paar Dachziegel klapperten verdächtig, als der Wind daran rüttelte. Misstrauisch wandte Coco beim Weitergehen den Blick nach oben. Dass ihr ein Ziegel auf den Kopf fiel, fehlte ihr gerade noch.

»Nein, ich … du musst … COCO!« Phillip stieß einen verzweifelten Schrei aus. Es klang, als würde er einen Albtraum durchleben.

Sie presste das Telefon fester ans Ohr und beschleunigte ihre Schritte.

Warum ist er nur so verstört?

»Phillip?« Sie näherte sich gerade der Straßenecke, um die Fahrbahn zu überqueren und nach links abzubiegen, als er unerwartet losbrüllte.

»RECHTS!«

Reflexartig warf Coco sich zur Seite. Mit der Schulter prallte sie heftig gegen eine Hauswand. Gleichzeitig schoss ein blendend weißer Lichtstrahl an ihr vorbei. Er traf direkt die Stelle, auf der sie vor einer Sekunde noch gestanden hatte. Steinchen und Schneedreck spritzten auf.

»LAUF!«

Coco sprintete los, ohne nachzudenken.

Instinktiv gehorchte sie Phillips Anweisungen, obwohl sie sonst eher der kämpferische Typ war. Bei einem Angriff davonzujagen wie ein Hase war absolut nicht ihr Stil. Aber ihr untrüglicher Instinkt riet ihr, auf Phillip zu hören.

Dummerweise hatte sie es mit mehreren Verfolgern zu tun, wie ihr klar wurde, als sie die zahlreichen Schritte hinter sich hörte. Und Phillips Warnung hatte ihr nur einen minimalen Vorsprung verschafft.

Coco vertraute auf ihre Schnelligkeit. Doch ihre Angreifer schienen jede Richtung, in die sie rannte und jede Deckung, die sie in Betracht zog, vorauszuahnen.

Wieder schlug ein greller Lichtblitz unmittelbar neben ihr in den Boden. Sie presste die Lider zusammen, als die Luft vor ihren Augen zu flimmern begann. Nahezu blind stürzte sie um die nächste Ecke. Ihre Finger krallten sich um das Handy.

»Phillip?« Ihre Gedanken rasten.

Die weißmagische Aura des Lichts hatte Coco nicht einmal gestreift, dennoch verspürte sie eine Wirkung. Diese seltsamen Blitze machten sie benommen. Verwirrten ihre Sinne. Setzten ihre Hexenkräfte kurzzeitig außer Gefecht. Das durfte sie nicht zulassen!

Von dem Angreifer, der urplötzlich neben ihr auftauchte, um ihr den Weg abzuschneiden, sah sie wenig mehr als seinen Schatten. Dafür spürte sie seine Präsenz umso deutlicher. Sofort wirbelte sie herum.

Für Sekunden versetzte sie sich in einen schnelleren Zeitablauf und griff ihn frontal an. Ihr spitzer Stiefelabsatz traf sein Kinn. Ächzend ging er zu Boden.

Coco wich zurück, bevor der Kerl im schwarzen Mantel gegen sie fiel. Er landete mit dem Gesicht auf dem Straßenpflaster. Etwas klirrte leise. Das kurz aufblitzende Amulett um seinen Hals? Oder vielleicht seine Zähne.

Selbst schuld, dachte Coco mitleidlos.

Inzwischen ahnte sie, mit wem sie es zu tun hatte. Das mussten die Männer sein, die Phillip vor einiger Zeit entführt hatten. Denen es gelungen war, Dorian und Morales auszuknocken und gefangen zu nehmen. Der geheimnisvolle Sonnenorden, der Apollon verehrte, und von dem behauptet wurde, seine Mitglieder könnten in die Zukunft sehen.

Wenn das stimmte, hatte Coco bei ihrer Flucht verdammt schlechte Karten. Sie konnten jede ihrer Bewegungen vorausahnen.

»Abbiegen! Links«, drang Phillips Stimme an ihr Ohr.

Sie begriff auf Anhieb, was er vorhatte.

Phillip war der Einzige, der sich den magischen Kräften des Ordens entzog. Seine Zukunft entzog sich ihrer Vorhersehungskraft. Wenn Phillip Coco nach Hause lotste, würde ihnen ihre Fluchtroute verborgen bleiben. Sie musste nur jeden eigenen Gedanken verwerfen und sich völlig auf den Hermaphroditen verlassen. Den Weg, den er ihr wies, konnten ihre Verfolger nicht voraussehen. Vielleicht gelang es ihr so, zu entkommen.

Ich muss es versuchen.

»Wohin?«, zischte sie.

Phillip schickte Coco zurück zum Ausgangspunkt und dirigierte sie quer durch den Garten der Vampir-Villa. Ihre Verfolger betraten das Grundstück nicht, aber Coco hörte sie rufen. Beschwörender Gesang tönte hinter ihr durch die Dunkelheit.

Sie stolperte und fluchte.

»Nicht stehen bleiben. Weiter«, drängte Phillip. »Abkürzen! Über die Mauer. Und dann über den angrenzenden Friedhof.«

Coco beschloss, sich nicht damit aufzuhalten, zu rätseln, woher er derart exakt ihren Standort wusste. Phillip war von jeher sein eigenes Mysterium gewesen.

Entschlossen setzte sie über ein paar Büsche hinweg – das kahle Gestrüpp wuchs nicht allzu hoch, aber mit hochhackigen Stiefeln war ihr Sprung dennoch ein gewagtes Unterfangen. Ein störrischer Ast riss am Saum ihrer Jacke und brachte sie erneut ins Straucheln.

Coco fluchte laut. Beinahe hätte sie das Handy fallen lassen.

Verdammt schlechter Zeitpunkt, um sich ungeschickt anzustellen.

Die direkte Verbindung zu Phillip war ihre einzige Chance, den Orden abzuschütteln.

Also pass gefälligst besser auf, ermahnte sie sich selbst.

Sie hetzte weiter, vorbei an einem Beinhaus mit steinernem Engel auf dem First, der drohend sein Marmorschwert in die Dunkelheit richtete. Hoffentlich gegen ihre Verfolger.

Cocos Atem ging stoßweise, als sie den Friedhof verließ.

Phillip scheuchte sie kreuz und quer durch den Bezirk. Sie jagte durch unzählige Gassen, bis er sie endlich zu einer U-Bahn-Station wies.

Coco keuchte vor Anstrengung. In ihren Ohren rauschte es. Doch dahinter glaubte sie in der Ferne immer noch den Ordensgesang zu hören.

Mit aller Konzentration, die sie noch aufbrachte, verdrängte sie die Melodie aus ihrem Kopf und tauchte zwischen ahnungslosen Passanten in die Tiefen der Wiener Verkehrsbetriebe.

Sekunden später sprang sie in die einfahrende U-Bahn.

Eine Viertelstunde später erreichte sie unbehelligt ihr Büro.

 

»Ich kann nicht fassen, dass mir das passiert ist.« Mit geballten Fäusten umrundete Coco ihren Schreibtisch, dessen wuchtige Ausmaße einer Schiedsrichterin ebenso würdig waren wie der ungeheure Zorn, den seine Besitzerin gerade verströmte.

Die erfahrene Hexe platzte fast vor Wut, dass dieser ominöse Sonnenorden es gewagt hatte, ihr bei der Ausübung ihrer Tätigkeit für die Schwarze Familie aufzulauern – und es beinahe auch noch geschafft hätte, sie zu überrumpeln.

Phillip legte den Kopf schief. Er wirkte unglücklich und bedrückt. Seine Erleichterung, dass sie es unbeschadet bis nach Hause geschafft hatte, war rasch verflogen.

»Sie werden es wieder versuchen«, stieß er traurig hervor.

»Aber was wollen diese Leute von mir?«

Aufgebracht warf Coco ihr pechschwarzes Haar zurück. »Hatten sie vor, mich als Köder zu verwenden, um dich aus dem Haus zu locken? Sollte das Ganze ein Erpressungsversuch sein, damit du dich ihnen freiwillig stellst?«

In dem Moment, als sie es aussprach, ahnte sie, dass genau das wahrscheinlich der Plan des Ordens gewesen war. Es ging ihnen nur um Phillip. Sie wollten ihn – nicht sie.

Sie hatten immer nur ihn gewollt.

Doch seit es Dorian mit Maximilians Hilfe und einem größeren Blutbad unter den Wachen des Ordens gelungen war, ihn aus ihren Fängen zu befreien, hielt Phillip sich in Cocos gut gesichertem Büro verschanzt. Solange er die Räumlichkeiten nicht verließ, gab es keine Möglichkeit, an ihn heranzukommen.

»Du wirst auch weiterhin in deinem Zimmer bleiben«, schärfte sie ihm ein. »Egal, was diese Typen anstellen. Egal, was passiert. Hörst du?«

Phillip nickte. Durch die zahlreichen Dämonenbanner, mit denen er behängt war, wirkte er auf Coco in letzter Zeit oft fremd. Doch er trug diese Amulette nicht zum Spaß.

Sie waren dringend nötig, um seinen bösen Zwillingsbruder Maximilian in Schach zu halten, mit dem Phillip sich weiterhin einen Körper teilte. Zwangsläufig teilen musste. Weil Coco noch immer keine Lösung eingefallen war, wie sie Phillip von dieser Bürde befreien konnte.

Sie seufzte leise. Noch ein Problem, das sich vor ihr auftürmte.

Es musste einfach eine Möglichkeit geben, die beiden zu trennen, ohne dass Phillip dabei zu Schaden kam. Aber bislang war ihr nichts Erfolgversprechendes eingefallen. Das Risiko, das Phillip bei einem ihrer Fehlversuche starb, war schlicht zu groß.

Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum und blinzelte mehrmals in Richtung Fenster. Sein Gesichtsausdruck wirkte nervös. Coco fragte sich, was jetzt schon wieder mit ihm los war. Dann kapierte sie, was er ihr mitteilen wollte.

»Lungern diese Typen etwa da draußen herum?« Ungläubig wandte sie sich um. »Im Ernst? Die sind hier?«

Er antwortete nicht. Es war auch nicht nötig. Ein Blick genügte Coco, um ihren Verdacht bestätigt zu wissen. Die Schemen in den dunklen Mänteln waren kaum wahrzunehmen, doch die Hexe hatte ausgezeichnete Augen.

Bastarde! Glaubt ja nicht, dass ich mich von euch einschüchtern lasse.

Phillip murmelte etwas Unverständliches.

Coco achtete zunächst gar nicht darauf, weil ihre Wut zu groß war. Irgendwann drang jedoch zu ihr durch, dass es bei seinem Gemurmel um den Orden ging. Hatte er eine Vision?

»Phillip?«

Über sein Gesicht huschte ein Schatten, als sie ihn ansprach. Die Schultern zuckten. Seine Lippen öffneten sich – aber was er sagte, war kaum zu verstehen. Dann fiel er tief in einen tranceähnlichen Zustand.

Coco beobachtete ihn und wartete ab, bis er wieder auftauchte.

»Phillip?«, wiederholte sie besorgt. »Geht es dir gut?«

»Ich …? Ja.« Er riss die Augen auf. Sie waren dunkel vor Erschöpfung. »Ich muss … alle warnen. So wie … die anderen.«

»Was?«

»Wenn das Meer ruft … sie kommen … alle in Gefahr.«

»Geht's auch ein bisschen konkreter?«

Ging es nicht. Coco presste die Fingerknöchel fest gegen die Schläfen.

Bleib ruhig, befahl sie sich. Es hilft nichts und niemandem, wenn du jetzt ausflippst und vielleicht einen fatalen Fehler machst. Phillip ist, wie er ist. Er kann daran nichts ändern. Und du auch nicht.

Wahrscheinlich war es am sinnvollsten, Dorian anzurufen und ihm zu berichten, was heute in Wien geschehen war. Auch wenn sie auf dieses Telefonat wenig Lust verspürte. Sie hatten immer noch nicht zu einem normalen Umgangston zurückgefunden – üblicherweise waren ihre Gespräche von Misstrauen und kaum verhohlenen Vorwürfen geprägt.

Der Dämonenkiller tat sich schwer zu akzeptieren, dass sie in die Reihen der Schwarzen Familie zurückgekehrt war und dieses Amt übernommen hatte, das sie an seine Gegner band. Ansonsten schien er die Kluft, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte, nicht mehr so tragisch zu finden, seit er Salamanda Setis an seiner Seite hatte.

Ein leiser Anflug von Eifersucht stahl sich in Cocos Zorn. Ihr Schnauben ließ Phillip zusammenzucken – und holte ihn vollends zurück in die Realität.

Seine Augen klarten auf. »Ich habe Hunger«, verkündete er. »Ich bestelle was zu essen, ja? Pizza mit Extra-Käse?«

Offensichtlich hatte er gerade eine seiner etwas klareren Phasen, deshalb antwortete sie einfach: »Extra Peperoni ist mir lieber.«

Vergnügt trollte er sich aus ihrem Büro.

 

Nach einem höllisch scharfen Abendessen entschied Coco sich mit brennendem Gaumen, das Gespräch mit Dorian nicht länger aufzuschieben. Erfreulicherweise hatte sie ihn sofort an der Strippe. »Hallo.«

»Oh. Du.« Er zögerte. »Hallo.«

Das folgende Schweigen war zwar kurz, für Coco jedoch eindeutig zu lang. »Störe ich? Hast du jemand anderen erwartet?«

»Wie? Nein. Ich bin nur überrascht.«

Wieder trat Stille ein. Dann begannen sie beide gleichzeitig zu reden.

Hunter lachte. Coco fand das Ganze nicht lustig. Es hatte Zeiten gegeben, zu denen sie sich besser verstanden hatten. Manchmal sehnte sie sich danach zurück.

Aber nur manchmal.

»Also, du zuerst«, sagte er. »Ich nehme an, du rufst nicht ohne Grund an.«

»Leider nicht.« Coco setzte ihn in wenigen Sätzen von ihrem Zusammentreffen mit den Schwarzmänteln in Kenntnis.

»Ich fürchte, dass ich nicht die Einzige bin, auf die sie es abgesehen haben. Sie wollen Phillip, mit allen Mitteln. Da sie ihn auf direktem Weg nicht zu fassen bekommen, versuchen sie es nun über Menschen, die ihm wichtig sind. Jeder, der ihm etwas bedeutet, könnte das nächste Ziel eines Angriffs werden.«

Dorian knurrte ungehalten. »Diese verdammten Mönchsfressen.«

»Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass sie aufgeben?«

»Nein. Aber klar ist, dass wir Phillip unbedingt vor ihnen schützen müssen. Egal, ob sie behaupten, nur Gutes im Sinn zu haben. Ihr Tun spricht dagegen.«

»Wie du aus eigener Erfahrung weißt.«

»Ja und? Du doch auch! Oder hattest du den Eindruck, diese Typen meinten es gut mit dir, als sie ihre Lichtblitze auf dich geschleudert haben?«

Coco biss sich auf die Lippen.

Nein, sie würde ihm nicht verraten, wie sehr sie dieser ganze Vorfall beunruhigte. Vor allem die Tatsache, wie anfällig sie sich gegen die ausgeübte weiße Magie des Ordens gezeigt hatte. Ohne Phillip wäre sie verloren gewesen.

Es tröstete sie lediglich, dass Dorian ebenfalls schon von diesen Leuten überrumpelt worden war. Aber auch das würde sie ihm nicht sagen, um den wackligen Frieden zwischen ihnen nicht gleich wieder zu gefährden.

»Wir wissen zu wenig über den Orden«, sagte sie. »Das gefällt mir nicht. Ich will genauer wissen, mit wem wir es hier zu tun haben. Wir brauchen mehr Fakten, Informationen. Details zu ihren Absichten. Hintergründe. Zusammenhänge.«

»Du hast recht«, stimmte Dorian ihr zu.

Die Erkenntnisse, die sie bisher hatten, waren dünn. Der Orden von Delphi hatte es sich zur Aufgabe gemacht, jeden aufzuspüren, der die Fähigkeit besaß, in die Zukunft zu sehen oder Prophezeiungen zu treffen. Die Schwarzmäntel wollten alle, die über seherische Kräfte verfügten, aus dem Lauf der Geschichte entfernen.

Dabei töteten sie nicht, sondern versuchten die Betreffenden zunächst zu überzeugen, sich den Regeln freiwillig zu beugen und dem Orden anzuschließen. Diejenigen, die dieses Angebot ausschlugen, nahmen sie jedoch gefangen und schotteten sie für den Rest ihres Lebens von der Außenwelt ab.

Keine schönen Aussichten für Phillip.

»Die setzen ihre Ordensziele strikt durch, auch gegen den Willen der Beteiligten. Bei Phillips Entführung haben sie keine Skrupel gezeigt. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, wie wir diesen Orden unschädlich machen. Er stellt zweifellos eine Bedrohung dar.«

Coco nickte. »Trotzdem können wir diese Typen nicht einfach erledigen.«

»Ja, leider sind es keine Dämonen«, sagte Dorian und seine Stimme klang, als würde er das außerordentlich bedauern.

Sie verbiss sich eine heftige Erwiderung und betrachtete den Eidesstab, der jetzt wieder in seinem edlen Schwertständer ruhte. Eine wahre Zierde auf ihrem Schreibtisch. Der Stab erinnerte sie daran, dass Entscheidungen stets wohlüberlegt getroffen werden sollten.

So lästig dieser Orden auch war, indem er Ziele verfolgte, die weder Coco noch Dorian teilten – noch gab es keinen Grund, ihn mit aller Gewalt zu bekämpfen.

Nicht, solange Phillip in Sicherheit war.

»Es muss einen anderen Weg geben, den Orden unschädlich zu machen.«

»Bestimmt gibt es den«, meinte Dorian grimmig. »Und es würde uns sicher weiterhelfen, wenn wir mehr über diese seltsamen Brüder wüssten.«

»Wir graben also nach den Wurzeln?«

»Wäre mein Vorschlag, ja. Lass uns rausfinden, wer diese Typen eigentlich sind und woher sie stammen. Das hatte ich schon eine Weile vor, aber dann kam mir Mainica dazwischen und ich musste mich erst mal um dieses Biest kümmern.«

»Gut«, erwiderte Coco. »Ruf mich an, wenn du was Neues weißt. Ich durchforste so lange das Archiv von Lucinda Kranich.«

Sie hegte die berechtigte Hoffnung, dass ihre Suche dort ergiebiger sein würde als Dorians Recherche. Die Quellen, zu denen er Zugang besaß und die der menschlichen Allgemeinheit verfügbar waren, erwiesen sich meist als eher … beschränkt.

Coco lächelte.

In manchen Fällen zahlte es sich aus, eine Hexe zu sein.

 

 

Kapitel 2

 

»Wow, dir raucht ja mal wieder der Kopf.«

»Sehr witzig, Don.« Dorian drückte seine kokelnde Players im Aschenbecher aus und warf Don Chapman, der im Türrahmen lehnte, einen finsteren Blick zu.

»Es ist weit nach Mitternacht. Ich wollte nur nachschauen, ob du noch lebst.«

Seit dem Anruf von Coco waren mehrere Stunden vergangen, in denen Dorian vor dem Computer gehockt und recherchiert hatte. Leider erfolglos. Für solche Tätigkeiten war er einfach nicht gemacht. Der Qualm im Arbeitszimmer der Jugendstilvilla war in der Tat beträchtlich. Mittlerweile tränten ihm bereits die Augen.

»Kein Grund zu heulen«, witzelte Don.

»Haha. Hast du noch mehr solcher Späßchen auf Lager?«

Nur um zu beweisen, dass er sich davon nicht beeindrucken ließ, kramte Dorian die nächste Kippe aus der Packung. Zu seinem Ärger war es die letzte. Abschätzend drehte er sie zwischen den Fingern.

Don verschränkte die Arme und sah ihn forschend an. »Was ist los?«

»Ich zermartere mir das Hirn, wie ich mehr über diesen Orden von Delphi herauskriegen kann. Es kann doch nicht sein, dass es darüber keine Informationen gibt. Diese religiösen Spinner agieren seit Hunderten von Jahren. Ich weiß genau, dass der Orden bereits zur Zeit der Französischen Revolution sein Unwesen trieb.«

In seinem früheren Leben als Hugo Bassarak war Dorian ein Putzjunge am französischen Königshof gewesen. Damals war er einem geheimnisvollen Mann begegnet, Bernard, der zum Orden gehört hatte. Von ihm hatte Dorian erstmals von dessen Existenz erfahren. Dieser Bernard hatte ihm außerdem ein Amulett geschenkt, ein schlichtes Lederband mit einer stilisierten goldenen Sonne als Anhänger, und er hatte ihn aufgefordert, es immer zu tragen. Sein Geschenk hatte Hugo das Leben gerettet.

Später war er den Fängen des Ordens allerdings nur mit knapper Not entkommen. Sie hatten ihn ebenso kaltstellen wollen wie Phillip, weil auch Hugo angeblich eine Gefahr für den Lauf der Geschichte war. Der Orden begründete sein Eingreifen immer gleich.

»Es ist nicht zu fassen! Ich habe ja nicht erwartet, dass diese Brüder eine Homepage haben oder einen Blog betreiben. Aber egal, was ich eingebe oder mit welcher Suchmaschine ich meine Abfragen nach ihnen starte, die Trefferzahl ist immer gleich. Nämlich null.«

Don Chapman schüttelte ungläubig den Kopf. »Echt? Es gibt im Netz keine einzige Seite zu diesem Orden? Nicht ein Artikelchen? Oder ein Facebook-Eintrag? Eine Verschwörungstheorie? Gar nichts?«

»Nein, das ist es ja. Als würde er nicht existieren.«

»Aber wie kann das sein?«

»Es kann eben nicht sein. Eigentlich. Und trotzdem ist es so.« Dorian stöhnte frustriert auf und schnippte die leere Players-Schachtel Richtung Papierkorb. Sie tat ihm den Gefallen nicht, sondern plumpste daneben zu Boden.

»Mach lieber Schluss.« Don schlug ihm tröstend auf die Schulter. »Morgen ist auch noch ein Tag. Vielleicht hat unser schlauer Kollege Fred Archer ja eine gute Idee für dich.«

 

Am nächsten Morgen hing ein schmutzig-grauer Nebelhimmel über der Londoner Baring Road. Er passte perfekt zu Dorians Stimmung. Vom Fenster aus konnte man die Bäume im Park des Anwesens gerade noch erahnen.

Nach nur wenigen Stunden Schlaf hatte er kein gutes Gefühl, was den bevorstehenden Tag anging. Etwas nagte an ihm. Eine Unruhe, die er schwer benennen konnte. Als braue sich irgendwo dort draußen etwas zusammen, von dem die Welt noch nichts ahnte.

Dorian witterte Unheil. Er fragte sich, ob er und Coco die Lage falsch einschätzten. Ob die Bedrohung durch den Orden größer war, als sie ahnten.

Wie sollen wir das herausfinden, wenn diese Typen derart unsichtbar sind?

Unwillig schüttelte er die trüben Gedanken ab und steckte den Kopf unter den Wasserhahn. Der eiskalte Guss machte ihn mit einem Schlag hellwach.

Für neue Geistesblitze war es aber immer noch zu früh. Erst nach einer trockenen Scheibe Toast und drei Tassen hoch konzentrierten Kaffees fühlte Dorian sich in der Lage, mit seiner Recherche weiterzumachen.

Fred Archer erwies sich dabei als äußerst hilfreich. Er hörte sich zunächst an, was Dorian zu berichten hatte, und konzentrierte sich dann auf die wesentlichen Fragen.

»Dieser Orden von Delphi ist darauf spezialisiert, Menschen mit hellseherischen Kräften aufzuspüren und aus dem Verkehr zu ziehen, richtig?«

»Korrekt.« Dorian nickte.

»Du hattest schon zweimal direkten Kontakt mit dem Orden. Fällt dir irgendwas ein, das für unsere Suche nützlich sein könnte? Namen, Orte?«

Dorian stöhnte genervt auf. »Alles, was mir eingefallen ist, hab ich schon versucht. Die Zeit, das noch mal durchzukauen, können wir uns sparen. Was den Orden von Delphi betrifft, herrscht absolute Trefferflaute im Netz.«

»Gut, dann konzentrieren wir uns auf die zweite Möglichkeit.«

Dorian stutzte. »Und die wäre?«

»Hm. Warte …« Archers Finger flitzten über die Tastatur seines Laptops. Er tippte schneller, als Dorian denken konnte. »Pass auf: Wenn diese Organisation seit Jahrhunderten Menschen verschwinden lässt, könnten wir doch auch versuchen, deren Spuren zu folgen. Verstehst du? Also alle Wahrsager, die plötzlich vermisst wurden. Medien, die ihre angekündigten Séancen platzen ließen und nicht mehr auftauchten. Meldungen dieser Art.«

Der Gedanke war so einfach wie genial. Dorian fragte sich, warum er darauf in der Nacht nicht selbst gekommen war.

Innerhalb kürzester Zeit entdeckte Archer mehrere Hinweise.

So kramte er zum Beispiel den Fall eines amerikanischen Hellsehers aus, der seit den 50er Jahren vermisst wurde. Barney Briggs hatte damals für Aufsehen gesorgt, weil er unmittelbar nach einer Fernsehshow verschleppt worden war, in der er einen sehr merkwürdigen Auftritt abgeliefert hatte. Seine Familie hatte zunächst an eine Entführung geglaubt.

»Aber es gab nie eine Lösegeldforderung«, erklärte Archer. »Und Barney Briggs tauchte auch nie wieder auf.«

»Klingt nach einem passenden Kandidaten«, räumte Dorian ein.

Wenig später stieß Archer auf einen Artikel über ein indisches Brüderpaar, das in den 20er Jahren in einem karibischen Hafen verschwunden war. Sie hatten auf einem Kreuzfahrtschiff für die abendliche Unterhaltung gesorgt – mit Kartentricks, Jonglage und einer speziellen Zaubershow.

»Inklusive Wahrsagerei?«

»Ja, beide konnte angeblich hellsehen und haben ihre Künste auch vor Publikum betrieben. Bis sie verschwunden sind. Niemand hat sie je wieder gesehen.« Archers Augen leuchteten; wie immer, wenn er Blut geleckt hatte.

Auch Dorians Laune besserte sich deutlich. Offenbar waren sie dank Archers Eingebung endlich auf der richtigen Fährte.

Intensiv forschten sie weiter und vergaßen dabei sogar die Zeit fürs Mittagessen.

Die Namen einst berühmter Hellseher, die vermisst wurden, tauchten selbstverständlich in den Nachrichtenarchiven auf. Aber es gab auch einige lokale Anekdoten, die zu ihrer Zeit kein allzu großes Aufsehen erregt hatten. Fälle wie jener der vermissten Zigeunerin, die auf dem Jahrmarkt aus der Hand gelesen und Besuchern die Zukunft vorhergesagt hatte – bis sie plötzlich spurlos verschwand und nur ein leerer, hölzerner Wagen und ein hungriges Pferd zurückblieben.

Dorian rieb sich die Stirn. Allmählich überfiel ihn bleierne Müdigkeit. Die schlaflose letzte Nacht machte sich bemerkbar.

»Ob wir uns an jemanden wenden sollten, der ein solches Gewerbe aktuell noch ausübt? Wahrsagerinnen gibt es in London auch heute noch. Vielleicht weiß ja jemand was Näheres und kann uns ein paar Auskünfte geben.«

»Das scheint mir wenig sinnvoll«, überlegte Archer. »Die Kandidaten, die der Orden nicht bereits einkassiert hat, dürften Scharlatane und Schwindler sein. Vorausgesetzt, der Orden erledigt seine Arbeit gründlich.«

»Davon müssen wir nach den bisherigen Ermittlungen ausgehen, oder?«

»Ich schätze, ja.« Archer nickte. »Die wissen offenbar genau, was sie tun.«

»Das Dumme ist nur, dass wir