Prolog am See

Es war Herbst geworden. Ich saß mit Fredi auf einer Bank am See. Fredi trug das Silberkettchen mit dem Anhänger nicht mehr. Er und Anita hatten sich im Sommer getrennt.

Wir schauten auf das Wasser.

„Hast du schon mal von Sigmund Freud gehört?“, fragte Fredi nach einer Weile.

„Ist das der Psycho-Onkel?“, fragte ich.

„Genau.“

„Was ist mit dem?“, fragte ich.

„Wusstest du, dass seine Tochter damals zugestimmt hat, dass man ihn umbringt?“

„Echt?“

„Ich hätte nie zugestimmt“, sagte Fredi.

„Ich weiß nicht“, sagte ich leise und atmete tief durch.

1. Kapitel

Wo mein Zahnarzt sagt, dass ich ein Psycho sei und ich entdecke, dass mein Vater ein Geheimnis hat

Ich glaube, alles fing an diesem Januarnachmittag an, als mir unser Zahnarzt eröffnete, dass ich ein Psycho sei und eine Knirscherschiene bräuchte.

„Sie wollen also sagen, dass ich ein Psycho bin?“ Herausfordernd blickte ich Dr. Kühnle in die Augen.

„Nein, nein“, er lachte und schob sich auf seinem Untersuchungshocker ein Stück vom Behandlungsstuhl weg, „nein, Tilda. Das habe ich nicht gesagt.“

Er verschränkte die Arme vor seinem Bauch und sah mich ernst an: „Du hast immer wieder diese Verspannungen in der Kiefermuskulatur, du hast Kopfschmerzen und deine Mutter sagt, dass du nachts mit den Zähnen knirschst.“

Er wandte sich an die Zahnarzthelferin: „Gabriele, bringen Sie mir doch bitte mal das Zahnmodell.“

Gabriele verschwand. Irgendwohin.

„Deine Beschwerden könnten ein Hinweis auf seelische Spannungen sein. Weißt du, vielleicht verarbeitest du nachts mit den Zähnen, was du tagsüber nicht lösen kannst. Hast du Probleme in der Schule?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Oder mit deinen Eltern oder mit deinem Freund?“ Ich schwieg. War ich hier beim Zahnarzt oder beim Seelenklempner?

„Nun ja“, fuhr er fort, „geht mich ja auch nichts an, aber ...“

Genau, dachte ich, es geht dich nichts an. Außerdem gab es keinen Freund, jedenfalls zurzeit nicht.

„Wir sollten die Sache von zwei Seiten angehen“, fuhr Dr. Kühnle fort. „Ich würde dir zu autogenem Training raten und zusätzlich zu einer Knirscherschiene. Das autogene Training hilft dir innerlich zur Ruhe zu kommen und die Knirscherschiene ... geben Sie mal her!“

Gabriele reichte ihm ein Gebissmodell, das so groß war, dass es nur von einem Pferd stammen konnte.

„Die Knirscherschiene schützt deine Zähne. Denn bei der nächtlichen Knirscherei können Zähne über die Jahre hinweg richtig abgeschliffen werden.“

Er führte mit dem Pferdegebiss Kaubewegungen vor. Es machte ein hässliches Geräusch. Dann steckte er auf eine der beiden Zahnreihen eine zarte Plastikhülle. Jetzt gab es nur ein ganz feines Mahlgeräusch.

„Mit deiner Mutter habe ich heute Morgen schon telefoniert. Sie wäre damit einverstanden, dass wir die Abdrücke gleich machen. Und du?“

Schicksalsergeben nickte ich.

„Wie geht’s eigentlich deinem Vater?“, fragte er unvermittelt. „Sind seine Schmerzen etwas besser geworden?“

Wer hatte denn da nun wieder rumgequatscht? Was gingen Dr. Kühnle die Schmerzen meines Vaters an, dachte ich.

Er schien meine Gedanken zu erraten: „Deine Mutter war doch neulich mit Julian hier. Er muss übrigens zum Kieferorthopäden. Jedenfalls sieht man deiner Mutter an, dass es ihr nicht gut geht. Gabriele hat nachgefragt und deine Mutter hat gleich angefangen zu weinen und erzählt, dass dein Vater ständig Schmerzen hat.“

Meine Mutter kann ihre Klappe einfach nicht halten, dachte ich. Seit einiger Zeit hatte mein Vater immer wieder heftige Schmerzen in den Beinen. Wenn diese Schmerzattacken über ihn hereinbrachen, zog er sich zurück. Oft saß er dann mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Couch oder auf dem Bettrand und rieb sich Oberschenkel und Schienbeine. Massagen und Krankengymnastik hatten ihm bisher kaum geholfen. Erst kürzlich war er zu einer Untersuchung in Freiburg gewesen, aber ob etwas dabei herausgekommen war, wusste ich auch nicht genau. Mama hatte nur gemeint, es sei nicht ganz klar und es müssten noch weitere Untersuchungen gemacht werden. Ich wusste nicht, warum ich nicht wollte, dass andere es erfahren würden. Vielleicht, weil Papa sich auch sonst so verändert hatte. Er redete kaum noch mit uns. Früher war er lustig gewesen. Meine Mutter und er waren die witzigsten Eltern gewesen, die man sich vorstellen kann. Jetzt hing eine dunkle Wolke der Traurigkeit um ihn und lähmte uns alle.

Wenig später schob mir eine andere Zahnarzthelferin eine löffelartige Plastikschiene zwischen die Zähne. Die Schiene war mit giftgrünem Abdruckmaterial gefüllt und schien meinen Mund zu sprengen. Mit ein paar ermutigenden Worten, die so ähnlich klangen wie „Immer durch die Nase atmen und wenn du keine Luft mehr kriegst, rufst du einfach. Die Leichensäcke sind nebenan! Haha!“, ließ mich die Helferin allein. Ich konnte nicht einmal den Mund öffnen, geschweige denn rufen.

Einsam saß ich in dem winzigen, schlauchartigen Behandlungszimmer und versuchte, ruhig durch die Nase zu atmen. Die Längswand neben mir war von oben bis unten mit Regalen bedeckt, auf denen kleine Kästen gestapelt waren. An der Frontseite dieser Kästchen hatten die Helferinnen mit rotem und blauem Filzstift Daten und die Namen der Patienten notiert, deren Gebissabdrücke hier für die Nachwelt lagerten. Rot für die weiblichen Patienten und blau für die männlichen. Bald würde auch mein Name eines der Kästchen zieren. Und wenn die Archäologen in zweitausend Jahren mein Kästchen in den Händen hielten, würden sie in verblassender, roter Schrift lesen „Tilda Llewelyn, Knirscherschiene.“ Sie würden es öffnen und beim Anblick der Abdrücke meines Oberund Unterkiefers Verbindungen zum schiefen Turm von Pisa herstellen, oder zu den verfallenen Grabsteinen alter, walisischer Friedhöfe. Ich musste grinsen und verschluckte mich fast. Ich versuchte trotzdem, weiter ruhig durch die Nase zu atmen.

Durch das hohe, gardinenlose Fenster am Ende des Raumes sah ich dicke Schneeflocken herabtrudeln. Gleich würden sie eins werden mit ihren Schneeflockenkameraden auf der Erde, dachte ich melancholisch zwischen zwei Erstickungsanfällen.

Engelsgleich stand plötzlich Gabriele neben mir und erlöste meine Zähne von der hart gewordenen Masse in dem Plastiklöffel. Ich durfte mir noch den Mund ausspülen, erhielt eine Broschüre mit ersten Anleitungen zum autogenen Training und einen weiteren Termin für nächste Woche. Dann konnte ich dieses Folterstudio endlich verlassen.

Inzwischen war es fast dunkel geworden. Die weißen Hauben auf den geparkten Fahrzeugen und die feinen Schneelinien auf den Geschäftsschildern der Läden glitzerten im Licht der Schaufenster.

Ich schaute auf meine Armbanduhr: Es war 17.44 Uhr. Mein Bus würde um 17.58 Uhr am Bahnhof abfahren. Ich rannte los.

Mein langer Mantel schlug mir um die Waden, mal rutschte ich, mal watete ich durch den Schnee. Ich war fast sechzehneinhalb Jahre alt, 153 Zentimeter groß und wog gut 70 Kilo. Den Bus sah ich gerade noch von hinten.

Der nächste Bus in meine Richtung würde erst in einer Dreiviertelstunde fahren. Erschöpft ließ ich mich auf die Bank in einer Ecke des Wartehäuschens fallen und japste nach Luft. Trotz der Kälte schwitzte ich. Wenn meine Freundin Sandra mich jetzt so sähe!

Sandra besuchte die Klasse über mir. Die Mädchen aus unseren beiden Klassen hatten gemeinsam Sportunterricht. Sandra und ich waren uns beim gemeinsamen Sportunterricht-Schwänzen nähergekommen.

Sandra war aus Prinzip gegen das Unterrichten von Leibesübungen. Sie fand es lächerlich und altmodisch. Folglich hatte sie ihre monatliche Regel recht unregelmäßig und vor allem recht häufig. Die Entschuldigungen dafür schrieb sie selber. Die Unterschrift ihrer Mutter fälschte sie.

Manchmal blickte die Sportlehrerin Sandra zweifelnd an und meinte, sie solle vielleicht doch mal eine Frauenärztin aufsuchen. Irgendetwas könne mit ihrem Zyklus nicht stimmen. Schließlich sei sie siebzehn. Ob sie, die Sportlehrerin, mal mit Sandras Mutter reden solle? Nein, nein, wehrte Sandra dann ab, ihre Mutter sei Krankenschwester und kenne sich aus. Ein unregelmäßiger Zyklus bei jungen Mädchen sei ganz normal. Manchmal könne es Jahre dauern, bis der sich richtig eingespielt habe.

Ich litt wahlweise unter Asthmaanfällen, Unterzuckerung oder hatte Hüftbeschwerden wegen meines Übergewichtes, wenn ich keine Lust auf das sportliche Rumgehampele hatte.

Von gegenüber leuchteten mich durch den dichten Schleier aus fallenden, weißen Flocken die hellen Fenster des McKing freundlich an. Wie in einem Schaufenster konnte man die Jugendlichen beobachten, die in mehreren Reihen an der Verkaufstheke anstanden. Vor dem Fenster hockten sie auf hohen Stühlen und schlürften Getränke oder tunkten Kartoffelstäbchen in Soßennäpfe. Ich strich über meine festen Schenkel. Kälte kroch an meinen Beinen hoch. Ein Zug aus Richtung Schweiz rollte hinter mir langsam in den Bahnhof ein. Ich mummelte mich fester in meinen dicken, dunkelbraunen Mantel. Reisende stiegen aus. Einige zogen Metallkoffer hinter sich her. Die kamen sicher direkt vom Züricher Flughafen. Wo die wohl überall gewesen sein mochten? Ich stellte mir die Sahara vor und fröstelte. In meinem Rucksack wühlte ich nach dem Portemonnaie. Zwar hatte ich kaum noch Geld, aber irgendwo musste vom letzten Kinobesuch noch die Kinokarte mit dem aufgedruckten HamburgerGutschein sein. Eigentlich wollte ich heute nichts mehr essen. Aber da ich doch vorher fast einen Erstickungstod gestorben war, jetzt auch noch den Bus verpasst hatte und der Gutschein nur zwei Wochen gültig war, beschloss ich, mir ein Plätzchen im Warmen und eine Kleinigkeit zum Futtern zu gönnen. Ich nahm den Rucksack auf, raffte meine Mantelschöße und hechtete zwischen den fahrenden Autos hindurch auf die andere Straßenseite. Es herrschte Feierabendverkehr. Alle wollten nach Hause.

Als ich die Tür zum McKing aufstieß, empfing mich sofort das warme Leben. Eine laute Welle aus Lachen und Geschwätzigkeit rollte mir entgegen. Ich kaufte einen Riesen-Hamburger und setzte mich auf einen der Barhocker direkt am Fenster. Genüsslich begann ich zu kauen, während ich den vorbeifahrenden Autos gedankenverloren nachschaute.

Diesen einen richtig fetten Hamburger würde ich noch genießen, beschloss ich und dann ab sofort Diät halten. Im Sommer würde ich mich auf der Wiese am Seeufer im türkisfarbenen Bikini räkeln. Ich stellte mir Hennings Gesicht vor. Henning war erst vor einem Monat in Sandras Klasse gekommen. Seine Familie war aus Norddeutschland an den See gezogen. Ich hatte mich ein bisschen in Henning verliebt. Seitdem Sandra von meiner Verliebtheit wusste, erzählte sie mir immer, was mit Henning gerade so los war.

Oder würde mir zu meinen kirschrot gefärbten Haaren statt des türkisfarbenen ein grüner Bikini besser stehen, überlegte ich und wischte mir den Ketchup aus dem Mundwinkel. So ein grüner, wie der Astra, der dort vorne gerade in zweiter Reihe vor der Ampel hielt. So ein Auto hatten meine Eltern auch. Sogar das Autokennzeichen war ... das waren meine Eltern! Ich erkannte Papas langen Hinterkopf. Ich sah seinen grauen Bart, als er den Kopf zu Mama neben ihm wandte. Mama? War sie beim Friseur gewesen? Ich sprang auf und rannte auf die Straße. Ich hatte den Reißverschluss meines Rucksacks nicht richtig zugezogen und beinahe hätten sich meine Schulbücher noch auf den Bürgersteig ergossen.

„Papa! Halt an!“, rief ich aus vollem Halse, „Halt! Mama! Wartet auf mich!“ Ich hatte fast das Auto erreicht. Gleich würde ich auf den Kofferraum schlagen können, um auf mich aufmerksam zu machen. Ich meinte Papas ernste Augen im Rückspiegel erkennen zu können. Sah er mich? Der Wagen fuhr an.

„Papa!“, brüllte ich, „Halt! Wartet! Mama!“

Jemand hupte hinter mir. Der Astra meiner Eltern fuhr ganz plötzlich und ganz rasch davon.

Ich war so sauer, dass ich den Rest meines Hamburgers in den Schneematsch warf.

„Scheiße!“, schrie ich, „verdammte Scheiße!“

Meine Armbanduhr zeigte 18.30 Uhr. Noch eine viertel Stunde, bis mein Bus kommen würde. Meine Bank an der Bushaltestelle war noch frei. Ich setzte mich und fror beleidigt vor mich hin.

Als ich später in die Straße einbog, in der wir lebten, war es dunkel geworden. Missmutig stapfte ich durch den frischen Schnee. Auf dem Wendeplatz, dort, wo meine Eltern unser Auto immer abstellten, wartete einsam der schwarze VW-Käfer unserer Nachbarin auf Gesellschaft. Ich schloss die Wohnungstüre auf.

„Mama!“, rief ich aus Gewohnheit. „Papa!“

Es war still. Doch es duftete nach gebackenem Käse und Spinat und im oberen Stockwerk schimmerte Licht.

„Julian!“, rief ich.

Mein kleiner Bruder tobte sich sicher mit seinem Freund Anton an einem Computerspiel aus. Das ungehemmte Lachen aus vollem Halse - typisch vorpubertäre Jungs - schallte jetzt von oben herab durch den Flur. Die Küchentür öffnete sich. Mamas kräftige Statur erschien im Türrahmen. Mama band sich die Küchenschürze ab und fuhr sich mit bemehlten Fingern durchs Haar. Der weiße Staub hinterließ feine Spuren auf ihren halblangen, dunkelbraunen Locken. Sie war nicht beim Friseur gewesen.

„Du, du, du bist ja da?!“, stotterte ich. Mein Rucksack plumpste beim Flurspiegel auf den Linoleumfußboden.

Wo war Papa, fragte ich mich. Und vor allem: Wer war die Frau neben ihm gewesen?

Meine Mutter lächelte: „Gleich gibt’s was Leckeres. Ich hab gefüllten Blätterteig im Ofen. Wie war’s in der Schule? Wie war’s beim Zahnarzt?“

Ich sagte meiner Mutter nichts von der anderen Frau in unserem Auto. Aber mein Vater, hatte mein Vater mich erkannt?

Ich verzog mich in mein Zimmer, um mir die Broschüre über das autogene Training anzuschauen. Ich legte mich aufs Bett und fühlte mich laut Anweisung aus dem grünen Heftchen ganz schwer. Klar fühle ich mich schwer, dachte ich, ich bin schwer.

>Ich hatte dich erkannt. Jemand hupte hinter mir, ich sah dein aufgeregtes Gesicht im Rückspiegel. Ich befürchtete, dass du die Frau auch gesehen haben könntest. Ich konnte dir das nicht antun. Noch nicht. Fast in Panik drückte ich den Fuß aufs Gaspedal. Deinen fassungslosen Blick fing ich gerade noch auf. <

2. Kapitel

Wo ich meinen Vater zur Rede stelle und Sandra findet, dass mein Vater wie alle Männer ist

An diesem Abend, wie auch an den folgenden Tagen, sah ich meinen Vater kaum. Obwohl das Auto meinen Eltern gemeinsam gehörte, war er jetzt ständig mit dem Wagen alleine unterwegs. Meine Mutter war auf den Bus angewiesen, wenn sie in die Stadt wollte. Aber sie beklagte sich nicht.

Die wenigen Male, an denen ich meinem Vater morgens oder abends im Flur oder in der Küche begegnete, war er schweigsam und kurz angebunden. Mama erklärte mir und Julian, dass Papa einen besonderen Übersetzungsauftrag habe. Er müsse mit dem Auftraggeber persönlich verhandeln. Als freie Übersetzer waren meine Eltern auf jeden Auftrag angewiesen.

Ich musste immer wieder an diese Frau denken. Ob Papa sich wohl heimlich mit ihr traf? Auch Mama erschien mir in diesen Tagen ungewöhnlich ruhig. Als ich sie einmal direkt fragte, ob sie Kummer habe, meinte sie nur, sie mache sich Sorgen um Papas Beine. Aber zu einer Freundin reicht es ihm wohl immer noch, dachte ich hasserfüllt.

Meine Entspannungsübungen begannen, mir zu gefallen. Neben dem Schwererwerden der Arme und Beine spürte ich inzwischen auch die Wärme recht gut.

>Meistens fuhr ich ohne Ziel durch die Gegend, stellte den Wagen irgendwo auf einem Parkplatz ab, zog die Kapuze meines Parkas hoch und wanderte am Seeufer entlang. Ich genoss es, wenn der Wind mir unter die Kapuze in den Nacken jagte. Manchmal traf ich die Frau. Wir redeten viel. Sie verstand mich. Sie verstand mich besser als deine Mutter, Tilda. Deine Mutter dachte in dieser Zeit nur an sich selbst.<

Ich war gespannt, welche Ausrede mein Vater haben würde, um am Wochenende mit dem Auto unterwegs sein zu können. Seine so genannten Auftraggeber musste er ja wohl kaum Samstag und Sonntag treffen. Doch es gab keine Ausrede; er blieb tatsächlich daheim.

Den Samstag verbrachte er allerdings bis zum frühen Abend im Bett. Am Abend hatte Mama ein dampfendes Blech Pizza auf ein großes Holzbrett auf den Tisch gestellt. Für jeden war etwas dabei: duftende Tomaten, weich fließender Mozzarella, saftige Ananasstücke, Salamischeiben, die sich in der Hitze des Backofens gerollt hatten, und scharfe Pepperonistückchen. Julian erhob gleich Besitzansprüche auf den mit Ananas belegten Teil.

Papa erschien im Bademantel. Er setzte sich und blickte heißhungrig auf die Pizza. Die graumelierten Haare standen ihm verklebt vom Kopf ab.

„Hast du mein Haargel benutzt?“, fragte Julian interessiert.

Mein Vater fuhr sich verlegen lächelnd durch die fettigen Strähnen: „Ich glaube, ich sollte mich mal frisch machen vor dem Essen.“

Schwerfällig stand er auf. Als er an mir vorbeiging, roch ich eine leichte Alkoholfahne. Für die andere Frau, für die macht er sich bestimmt immer frisch, dachte ich bitter. Meine Mutter, die blöde Kuh, lächelte ihm auch noch aufmunternd zu: „Ja, Darling, mach dich ein bisschen frisch.“

Ich schaute ihm in die Augen und versuchte in meinen Blick so viel Verachtung zu legen, wie ich nur konnte.

Später beim Essen, nachdem er sich wenigstens die Haare gekämmt hatte, redete mein Vater tatsächlich mal mit mir. Er fragte mich wegen meines Zahnarzttermines. Er sagte, er hoffe, dass bald die Muskelkrämpfe im meinem Kiefer aufhörten.

Wenn das hier alles nicht so traurig wäre, kriegte ich statt der Muskelkrämpfe Lachkrämpfe, dachte ich. Lustlos berichtete ich von meinem Beinahe-Erstickungstod im Folterstudio. Nächste Woche Dienstag würde die Schiene fertig sein.

Julian nervte mit der Idee, ich müsse jetzt eine Zahnspange tragen. Für ihn wäre das der Super-GAU, die schlimmstmögliche Vorstellung von Peinlichkeit. Bis ihm die Ohren abfielen, versuchte ich ihm zu erklären, dass es sich bei dem mir angepassten Gerät keineswegs um eine fest eingesetzte Zahnspange, sondern um eine Knirscherschiene handele, die nur nachts getragen werden müsse. Außerdem – und dies fügte ich mit Blick auf seinen bevorstehenden Termin beim Kieferorthopäden aus pädagogischen Gründen hinzu – gäbe es, soweit ich wüsste, bereits Popstars, die mit Stolz ihren Zahnregulierungsapparat trügen. Ich wusste, mit meiner gestelzten Wortwahl konnte ich ihn ganz schön ärgern. Er schnitt eine Grimasse in meine Richtung.

Das Telefon klingelte. Mama schaute uns ärgerlich an. Papa starrte schweigend auf seinen Teller. Wir blieben sitzen. Wenn wir beim Essen saßen, wurde das Telefon nicht abgenommen.

Und was am wichtigsten sei, fuhr ich mit meinem Lehrvortrag fort, es käme schließlich auf die inneren Werte an und nicht auf Äußerlichkeiten, wie Zahnspange oder Übergewicht. Mama lächelte mir zu. Ich warf einen Seitenblick auf Papa. War die andere Frau schlanker als Mama? Ich versuchte mich an den kurzen Eindruck zu erinnern, den ich gehabt hatte. Ich hatte nur helles, halblanges Haar gesehen. Vielleicht war es ja auch ein junger Mann gewesen? Erschrocken stellte ich fest, dass ich an diese Möglichkeit überhaupt noch nicht gedacht hatte. Natürlich, wieso verdächtigte ich meinen Vater eigentlich gleich des Seitensprungs, nur weil eine mir unbekannte Person neben ihm im Auto gesessen hatte? Aber wieso war mein Vater dann mit dem Auto losgebraust? Ich war hinund hergerissen.

Das Telefon klingelte wieder.

„Vielleicht will Frau Thormann ja was.“

Mama sah meinen Vater unsicher an und verließ die Küche. Frau Thormann, war unsere Nachbarin, die mit dem schwarzen VW-Käfer im Wendeplatz. Mal brauchte sie Mehl, mal einen starken Mann, der ihr den Vorhang nach der Wäsche aufhängte oder sie hatte vergessen, sich die aktuelle Fernsehzeitschrift zu besorgen. Aber sie selbst half auch gerne aus. Und das Netteste war: Wenn sie lachte, zogen sich ihre Wangen nach oben und die Nase kräuselte sich, sodass sie aussah wie eine Katze. Und sie sah oft aus wie eine Katze.

„Kommst du mal bitte, Julian!“, rief meine Mutter aus dem Flur. „Anton ist am Apparat.“

Julian sprang auf und rannte in den Flur. Für wenige Augenblicke saß ich mit meinem Vater allein am Küchentisch. Ich hörte, wie Mama im Flur Julian einschärfte, es kurz zu machen und seine Freunde in Zukunft darauf hinzuweisen, dass wir beim Essen das Telefon nicht abnähmen. Sie schien neben ihm stehen zu bleiben.

Ich ging zum Frontalangriff über: „Paps“, fragte ich und beobachtete jede Regung in seinem Gesicht, „wer ist da eigentlich am Montag neben dir in unserem Auto gesessen, als du mich am Bahnhof hast stehen lassen?“

Papa schreckte wie aus tiefen Gedanken auf. „Wie, was sagst du?“ Er legte die Gabel am Tellerrand ab, riss sich ein Papiertuch von der Küchenrolle und tupfte sich die Lippen. „Was sagst du da, mein Bärchen?“

Ernst blickte er mir in die Augen.

Wann hatte er mich das letzte Mal Bärchen genannt? Sah ich Ertappt-fühlen, sah ich Verrat? Ich blickte in hellbraune Augen. Mir fiel auf, dass die dunklen Augen meines Vaters bernsteinfarben geworden waren. Lag das am Alter? Ich hatte seine Augen geerbt, während Julians Augen die helle, leicht grünliche Farbe meiner Mutter hatten. Als kleines Kind hatte ich geglaubt, man sähe die Welt durch unterschiedliche Augenfarben unterschiedlich gefärbt.

Inzwischen vermutete ich, dass frühkindliche Depressionen mich die Welt so dunkel sehen ließen. Mein kleiner Bruder hatte ein sonniges Gemüt.

„Du hast mich am Bahnhof stehen lassen!“, sagte ich vorwurfsvoll. „Ich bin dir noch hinterher gerannt und in unserem Auto saß eine fremde Frau!“

Die letzten Worte sagte ich ganz schnell. Ein bisschen peinlich war es mir schon.

„Wo standest du, Kind?“

„Das war am Bahnhof. Du musstest vor der Ampel warten. Ich bin zwischen den stehenden Autos zu dir hingerannt. Ich hatte dich fast erreicht, da bist du losgefahren. Und neben dir saß eine Frau“, beharrte ich. Nun sag doch schon, dass es ein Mann war, dachte ich, bitte!

„Tilda, was fällt dir eigentlich ein, in der Dämmerung mitten auf der Straße herumzuspringen? Weißt du nicht, wie gefährlich das ist?“, schimpfte mein Vater plötzlich.

„Du hättest angefahren werden können. Wahrscheinlich hast du auch noch deinen dunklen Mantel getragen! Ich hab dich für vernünftiger gehalten!“

„Paps!“

Meine Mutter und Julian kamen in die Küche zurück. Sie sahen uns fragend an. Julian angelte verlegen nach einem Pizzastück.

„Für Julian ist das kein gutes Vorbild! Julian“, Papas Stimme klang streng, „hast du gehört, was deine Schwester da macht? Sie meint, sie hätte mich mit dem Wagen an der Ampel stehen sehen und turnt zwischen haltenden Autos in der Dunkelheit herum. So was ist absolut verboten! Hast du mich verstanden?“

Mein Bruder nickte brav, sah mich triumphierend an und nahm sich auch noch das letzte Pizzastück mit Ananas vom Blech.

Jetzt wandte sich mein Vater wieder mir zu: „Und dir verbiete ich in Zukunft, einen solchen Unsinn zu veranstalten! Hast auch du mich verstanden?“

„Paps, ich ...“

„Ob du mich verstanden hast?!“

„Paps!“

„Ich hatte dich etwas gefragt, mein Fräulein?“

War mein Vater jetzt völlig durchgeknallt? Aus welchem Jahrhundert stammte der eigentlich?

„Ja, mein Herrlein!“, schnippte ich, stieß meinen Stuhl zurück und verließ wutschnaubend die idyllische Abendessenrunde.

„Jetzt werd bloß noch frech!“, hörte ich ihn rufen, als ich die schmale Holztreppe zu meinem Zimmer hinaufstieg.

Zum Glück wurde ich nicht zum Abendessen zurückgerufen. Nach einer Weile schlich ich die Treppe wieder hinunter. Das Telefon war an der Wand direkt gegenüber dem Treppenabsatz angebracht. Dies war eine der Maßnahmen meiner Eltern, Geld zu sparen. Es war so ungemütlich, dort im Stehen zu telefonieren, dass die Gespräche nur von entsprechend kurzer Dauer sein konnten. Die Schnur reichte nicht einmal bis zur Treppe, wo man es sich wenigstens auf einer Stufe hätte bequem machen können. Ich hasste die Knauserigkeit meiner Eltern: Haus bauen, aber keine Kohle haben.

Wenn ich erwachsen wäre, würde ich mir eine großzügig eingerichtete, geräumige Wohnung in einem Hochhaus mieten, mit Blick über die Stadt und in jedem Zimmer ein Telefon.

Der Gedanke an meine baldige Zukunft ohne meine Eltern stimmte mich wieder etwas milder. Trotzdem wählte ich Sandras Nummer.

Wir vereinbarten, dass sie zu mir käme. Kurz bevor sie vor der Tür stünde, würde sie mein Handy kurz klingeln lassen, damit ich ihr öffnen könne. Meinen Eltern mussten nicht mitkriegen, dass ich Besuch bekäme.

„Und vergiss die Zigaretten nicht!“, zischte ich noch in den Hörer.

Aus der Küche hörte ich, wie der Tisch abgeräumt wurde und Papa mit Julian sprach. Wahrscheinlich schleimte mein kleiner Bruder sich jetzt wieder so richtig ein.

Eine halbe Stunde später saßen Sandra und ich vor meinem geschlossenen Fenster und rauchten gemütlich eine Zigarette.

Das geschlossene Fenster war ein Racheakt gegen meine Eltern: Eigentlich waren sie dagegen, dass ich überhaupt rauchte. Aber ich hatte ihnen erklärt, dass es doch besser für sie wäre, wenn ich nicht heimlich rauchen würde. Das hatten sie eingesehen und seitdem durfte ich notgedrungen in meinem Zimmer aus dem geöffneten Fenster nach draußen rauchen.

Sandra fand das Verhalten meines Vaters nicht ungewöhnlich. Es zeige eindeutig, dass er eine Freundin habe. Es sei ganz typisch für Männer, dass die zum Angriff übergingen, wenn sie sich ertappt fühlten.

„Wahrscheinlich ist seine Geliebte einige Jahre jünger als deine Mutter. Die hat ja wohl noch nichts gemerkt, oder?“

Ich vermutete das auch.

„Tja“, Sandra sog genüsslich an ihrer Zigarette, „deine Mutter scheint genauso naiv zu sein wie du.“

Dass Sandra so von meiner Mutter sprach, war mir unangenehm. Außerdem war ich auf keinen Fall naiv, protestierte ich.

„Weißt du nicht mehr, wie du die Geschichte mit Anitas Lover geglaubt hast?“ Sandra begann zu kichern.

Gut, gut, das war schon sehr peinlich gewesen: Anita war die Klassenschönste und -beste. Seit einiger Zeit trug sie ein dezentes Silberkettchen mit einem kleinen Anhänger. Den Anhänger hatte sie mir schon hundertmal gezeigt. „In Love Fredi“ war darauf eingraviert. Ich kannte Fredi nicht, aber Fredi war wohl 19 Jahre alt und ihr Lover, wie sie es nannte. Fredi trug angeblich das gleiche Kettchen mit ihrem Namen eingraviert. Anita bildete sich wahnsinnig was darauf ein, dass ihr Fredi einen roten Mazda MX 6 fuhr. Immer wieder erzählte sie mir von tollen Fahrten in die Disko und in die Berge.

„Ich will gar nicht wissen, wie die Sex auf der engen Rückbank haben“, hatte Sandra mal mit Kennermiene sinniert.

„Meinst du, die nimmt die Pille, oder so?“, hatte ich gefragt.

Sandra hatte kaum gezögert: „Spinnst du?“, hatte sie ausgerufen. „Die behält beim Sex bestimmt ihre Strumpfhose an!“

„Meinst du?“, hatte ich gezweifelt.

„Klar! Die ist doch auf dem Naturtrip.“

Sandra hatte gebrüllt vor Lachen, als sie merkte, dass ich es ihr glaubte und mir die Details vorzustellen versuchte.

„Hätte doch sein können“, maulte ich, als Sandra schon wieder so blöd grinste.

„Vermutlich ist die Geliebte deines Vaters nicht viel älter als Anita“, plauderte Sandra erbarmungslos weiter, „und wenn deine Eltern sich dann scheiden lassen“, gluckste sie, „dann gehst du zu ihr hin und sagst: Anita, darf ich Stiefmama zu dir sagen?!“ Sie hielt sich den Bauch und japste nach Luft.

Ich konnte nicht so mitlachen; bisher hatte ich meinen Vater immer anders als andere Männer gesehen. Und Papa mit einem jungen Mädchen konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen.

Ich sagte es Sandra, aber die lächelte nur böse. Sie hatte eine Flasche Bier mitgebracht und nahm nun einen kräftigen Schluck daraus. Sie sah mich groß an: „Ich glaube, wir beide kriegen nie einen ab. Ich bin zu kritisch und du zu gutgläubig.“

Sie strich sich ihre dünnen, blonden Strähnen aus dem schmalen Gesichtchen. Ich musste lachen: Sie sah so jung und durchsichtig aus, aber sie sprach wie eine Sorgentante aus dem Fernsehen.

Es klopfte an der Zimmertür. Mutters dunkler Schopf tauchte um die Ecke auf. Sie linste in mein Zimmer hinein und ihre Augen schienen von dem Haufen schmutziger Wäsche auf dem Schreibtisch magisch angezogen zu werden. Dann kroch ihr Blick zum umgekippten Mülleimer auf dem Fußboden, bis zur Zigarettenkippe zwischen meinen Fingern. Ich nahm einen Zug und blies den Rauch lässig in ihre Richtung.

Na, kriegst du auch alles schön mit, dachte ich boshaft. Du solltest mal besser mitkriegen, was dein Mann so treibt.

Innerlich zählte ich einen Countdown: fünf ... vier ... drei ... zwei ... eins:

„Wenn ihr schon rauchen musst, musst ihr das dann unbedingt vor dem verschlossenen Fenster machen?“, kritisierte meine Mutter.

„Müsst, Mama“, korrigierte ich Mamas walisischenglischen Akzent. Immer, wenn meine Mutter aufgeregt war, verwechselte sie Ü und U. „Das heißt müsst, nicht musst. Ich muss, du musst, er, sie, es muss, wir müssen, ihr müsst, sie müssen. Ich glaub ich muss mal!“

Sandra gluckste.

Meine Mutter ging nicht darauf ein. Sie hatte heute keinen Sinn für Humor: „Sag mal, kannst du nicht einmal aufräumen?! Vor allem, wenn du Gäste hast, könntest du doch wenigsten deinen Ünrat entfernen. Ich finde es langsam ünerträglich.“

Dein Mann betrügt dich und für dich gibt es nichts Wichtigeres, als die Unordnung in meinem Zimmer, dachte ich wütend.

„Wenigstens den Mulleimer könntest du aufrecht hinstellen“, fuhr meine Mutter fort. Ich korrigierte sie jetzt lieber nicht. „Das ist absolüt ünhygienisch. Dass dir das vor deiner Freundin nicht peinlich ist!“

Genau diesen Ausdruck konnte ich genau jetzt überhaupt nicht vertragen: „Du bist diejenige, die peinlich ist“, zischte ich. „Geh raus aus meinem Zimmer! Raus!“

Meine Mutter sah mich einen Augenblick verdutzt, dann verletzt an. „Das ist ünser Haus!“, sagte sie scharf. Ich spürte, wie sie versuchte sich zu beherrschen und mich am liebsten angeschrien hätte.

„Schrei mich nicht an!“, brüllte ich.

„Ich schrei dich nicht an!“ Ihre Stimme wurde lauter.

„Ich spreke nür lauter.“

„Na, klar! Du hast mich überhaupt nicht angeschrien, nein, gar nicht“, provozierte ich. „Hat meine Mutter mich angeschrien, ja oder nein?“

Herausfordernd blickte ich Sandra an. Sandra zwirbelte sich verlegen eine ihrer langen, dünnen Strähnen um den Zeigefinger und blickte hilflos zwischen Mama und mir hin und her. Sie sagte nichts.

„Feigling“, zischte ich.

Meine Mutter spürte wohl, dass es besser war, hier abzubrechen. Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.

Als Sandra gegangen war und ich meine Entspannungsübungen gemacht hatte, schlief ich sofort ein, träumte aber unruhig.

>Eigentlich hatte deine Mutter an diesem Abend mit dir über mich reden wollen, doch nach dieser verletzenden Vorstellung vor deiner Freundin hörte ich sie schwer die Treppe hinuntersteigen. Ich saß noch im Wohnzimmer vor dem Fernseher und schaute mir die Nachrichten an. Deine Mutter setzte sich neben mich aufs Sofa. Ich legte den Arm um sie. „Kannst du Tilda nicht fragen, ob sie Lust hat, die Nachrichten mit uns anzuschauen. Ich fände das so wichtig, dass die Kinder mitkriegen, was in der Welt los ist“, sagte ich, nur um irgendetwas zu sagen.

„Ich wollte gerade mit ihr reden, aber ich hab so einen Krach mit ihr bekommen. Ich möchte sie im Moment nicht sehen. Und ihr Zimmer sieht mal wieder furchtbar aus. Außerdem musstest du eigentlich mit ihr reden“, fügte deine Mutter noch hinzu und sah mich von der Seite an.

Ich nickte.

Wenn ich nicht diese Schmerzen in den Beinen gehabt hätte, wäre ich jetzt schnell zu dir hinaufgesprungen und hätte einen Anfang gemacht. Wenigstens einen Anfang. Dass du die Frau in unserm Auto gesehen hast, hat mich erschreckt. Ich wollte es dir auch erklären, aber noch nicht. Ich hatte Angst. Ich wusste nicht, wie du reagieren würdest. So schauten deine Mutter und ich noch eine Weile fern sehen.

Später an diesem Abend befiel mich eine tiefe Traurigkeit. Ich glaube nicht, dass du etwas ahntest. Du warst an

diesem Abend so sehr mit deiner Freundin Sandra und deiner Enttäuschung mit mir beschäftigt, dass dich nichts anderes erreicht hätte. Deine Mutter und ich waren zu erschöpft, um uns noch weiter mit dir auseinanderzusetzen. Wir waren zu erschöpft, um miteinander zu reden. Wir hatten beide Angst und trauten uns nicht, es uns einzugestehen.<