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TEXT+KRITIK


TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur.

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

Redaktion:
Hannah Arnold, Steffen Martus, Axel Ruckaberle,
Michael Scheffel, Claudia Stockinger und Michael Töteberg
Leitung der Redaktion: Hermann Korte
Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,
Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96

Print ISBN 978-3-86916-468-7
E-ISBN 978-3-86916-470-0

Umschlagabbildung: Jürgen Bauer (2010)

Preis für dieses E-Book € 23,99–

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2016 Levelingstraße 6a, 81673 München
www.etk-muenchen.de

Inhalt

Jan Wagner

Neue Texte

Heinrich Detering

Qualle und Killer. Eine Einführung in das Schreiben Jan Wagners

Ernst Osterkamp

Die stillen Helden der Kunstautonomie.
Über Jan Wagners »Die Eulenhasser in den Hallenhäusern«

Gustav Seibt

Des einzelnen fröhlich. Zwei Exkurse zu Jan Wagners Gedicht »nach canaletto«

Walter Hettche

Unterwegs im Moorarchiv. Zu Jan Wagners Gedicht »torf«

Michael Braun

Das regungslose Zentrum vom Gesang.
Zwei Fußnoten zur Dichtkunst Jan Wagners

Mirjam Springer

Selfie mit Bienen. Jan Wagners Spiegelblicke

Holger Pils

Mit literaturbetrieblicher Wucht. Das Echo auf die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse an Jan Wagner

Robin Robertson / Matthew Sweeney

On Being Translated by Jan Wagner

Iain Galbraith

Die Außenseite der Innenseite des Gedichts. Jan Wagner übersetzen

Simone Ketterl

Auswahlbibliografie

Biografische Notiz

Notizen

[101|102]Notizen

Michael Braun, geboren 1958; Studium der Germanistik und Philosophie. Lebt als Literaturkritiker in Heidelberg. In seinen Aufsätzen und Essays beschäftigt er sich in erster Linie mit Gegenwartslyrik und zeitgenössischer Poetik. Zudem moderiert er seit 1994 beim Erlanger Poetenfest und gibt Lyrikanthologien und -kalender heraus. Zuletzt erschienen die Aufsatzsammlungen »Hugo Ball. Der magische Bischof der Avantgarde« (2011) und »Der gelbe Akrobat II« (2015).

Heinrich Detering, geboren 1959; Studium der Deutschen Philologie, Theologie, Skandinavistik und Philosophie in Göttingen, Heidelberg und Odense. Promotion 1988, Habilitation 1993. Seit 2005 Professor an der Universität Göttingen. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts und zur Literaturtheorie. Darüber hinaus Tätigkeit als Lyriker. Zuletzt erschien der Gedichtband »Wundertiere« (2015). Seit 2011 ist Detering Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Iain Galbraith, geboren 1956; Studium der Germanistik, Anglistik, Romanistik und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Cambridge, Freiburg i. Br. und Mainz. Seit »Britische Lyrik der Gegenwart« (1984) publiziert er regelmäßig Essays zur Literatur sowie eigene Gedichte. Außerdem übersetzt er Lyrik, Prosa und Dramatik, wofür er 2004 mit dem John Dryden Prize for Literary Translation und 2014 mit dem Stephen Spender Prize for Poetry Translation ausgezeichnet wurde. 2015 hat er für seine Übersetzung von Jan Wagners Gedichten den Popescu European Poetry Translation Prize erhalten.

Walter Hettche, geboren 1957; Studium der Germanistik und Anglistik in München. 1986 Promotion mit einer Arbeit zur Lyrik Kleists. Seit 1997 ist er am Institut für Deutsche Philologie der Universität München tätig und hat eine Reihe von Editionen und Aufsätzen zur Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts vorgelegt. Zuletzt erschien Otto Julius Bierbaum: »Von Fiesole nach Pasing und andere Geschichten« (2015).

Simone Ketterl, geboren 1988; Studium der Neueren deutschen Literatur, Englischen Literaturwissenschaft und Germanistischen Mediävistik in München und Leeds, wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität Leipzig, Dissertationsprojekt zu Thomas Bernhard.

Ernst Osterkamp, geboren 1950; Studium der Germanistik, Sozialwissenschaften und Philosophie in Münster. Promotion 1977, 1988 Habilitation. [102|103]Seit 1992 Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen Literatur des 17. bis 21. Jahrhunderts, etwa zu Johann Christian Günther, Johann Joachim Winckelmann, Johann Wolfgang Goethe sowie zum Verhältnis von Literatur und bildender Kunst. Zuletzt erschien »Edna St. Vincent Millay. Leben in Bildern« (2014).

Holger Pils, geboren 1976; Studium der Germanistik und Geschichte in Heidelberg. Promotion über die Publikationsgeschichte von Thomas Manns »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull«. Pils war Pressesprecher der Kulturstiftung Hansestadt Lübeck und Dozent an der Universität Heidelberg. Von 2009 bis 2014 leitete er das Buddenbrookhaus in Lübeck. Seit 2014 ist er Geschäftsführer der Stiftung Lyrik Kabinett in München.

Robin Robertson, geboren 1955; Studium der Anglistik in Aberdeen, danach Beschäftigung im Verlagswesen. Für sein Lyrikdebüt »A Painted Field« (1997) wurde er mit dem Forward Price ausgezeichnet. Seitdem publiziert er seine Gedichte regelmäßig in Zeitschriften und Anthologien. Außerdem ist er als literarischer Übersetzer tätig; als solcher hat er unter anderem Werke Tomas Tranströmers ins Englische übertragen. Zuletzt erschienen »Hill of Doors« (2013) und »Sailing the Forest« (2014).

Gustav Seibt, geboren 1959; Studium der Geschichte und Literaturwissenschaft in Konstanz, München, Bielefeld und Rom. 1990 Promotion mit einer Arbeit zur Geschichtsschreibung in Rom. Von 1987 bis 1996 arbeitete er bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, zuletzt als Leiter des Literaturblatts. Seit 2001 ist er Autor der Süddeutschen Zeitung. Er ist Verfasser mehrerer Essaybände und historischer Studien. Zuletzt erschien »Mit einer Art von Wut. Goethe in der Revolution« (2014).

Mirjam Springer, geboren 1966; Studium der Germanistik, Slawistik und Musikwissenschaft in Münster und Tübingen. 1998 Promotion mit einer Arbeit zu Schillers dramatischen Fragmenten. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Institut der Universität Münster. Publikationen etwa zu Annette von Droste-Hülshoff, Hans Fallada sowie zur Gegenwartslyrik (Thomas Kling, Marcel Beyer).

Matthew Sweeney, geboren 1952; Studium des Chemieingenieurwesens in London und Freiburg i. Br. 1981 literarisches Debüt mit dem Gedichtband »A Dream of Maps«. Seitdem zahlreiche weitere Veröffentlichungen und Herausgebertätigkeiten. Auf Deutsch sind Sweeneys Jugendbuch »Fuchs« (2003) und der Gedichtband »Rosa Milch« (2008), in der Übersetzung Jan Wagners, erschienen.

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[3|4]Jan Wagner

Neue Texte

säge

wer wüßte mehr von trennen und gelingen

zugleich? die feinen zähne des piranha,

der schlanke griff – und schimmernd wie die klinge,

die zwischen sigurd und der keuschen bryn-

hild ruhte, bis die morgensonne

durchs fenster auf das betttuch rieselte.

und plötzlich kehrt der duft der sägespäne

zurück, jener moment im zirkuszelt,

in dem die jungfrau lächelnd in zwei teilen

sich wiederfand, der große zambonini

den hut abnahm, um ihn just dort zu wedeln,

wo beides wahr schien, zwischen rumpf und beinen

im trommelschwellen, im wirbel des lichts

nicht etwas da war, aber auch nicht nichts.

muff

als er dir beim wühlen

im schrank oder im wörterbuch

entgegenfällt, denkst du an höhlen-

bär und riesenhirsch, an den geruch

von mottenpulver, milben,

längst ausgestorbenes in dioramen;

muff, seine eine, pelzige silbe

mit dem gewicht von russischen romanen,

[4|5]wo die prinzessin irgendetwas sagt,

was dir entgeht, ihre kohlweißlingshände

im warmen fell versteckt,

während der schlitten über lände-

reien, durch die schneebedeckte tundra

und taiga gleitet, seine schellen,

ihr fröhliches tandara-

dei in der nacht verklingt und du allein

zurückbleibst, nur mit werst

um werst von dunkel, diesen rauhen

winden und dem permafrost

tief unten, wo die schweren mammuts ruhen.

Statement

Ein paar Quadratzentimeter weißes Papier, bedruckt mit einer Handvoll Wörter – mehr braucht es nicht, um größte zeitliche wie räumliche Distanzen zu überwinden: Man blättert die Seite um – und ein Dichter der Tang-Dynastie spricht einem plötzlich aus dem Herzen. Ein Gedicht bringt auf kleinster Fläche ein Maximum an sprachlichen Mitteln, bringt Gegensätze und Paradoxien in Einklang, zum Klingen, ein Höchstmaß an Musik und Bedeutung. Dabei wahrt es die poetischen Grundtugenden von Überraschung und Regelbruch (ob es sich nun um fremde oder selbst gesetzte Regeln handelt) – und wird so zur größtmöglichen Freiheit auf engstem Raum.

Ich glaube, dass sich aus grundsätzlich allem ein Gedicht machen lässt. Die vermeintlich banalsten, im Alltag so leicht übersehenen Gegenstände enthüllen mit einem Mal ungeahnte poetische Qualitäten. Wer ansetzt, ein Gedicht über das Thema ›Freiheit‹ zu schrei­ben, mag scheitern. Wer sich ganz auf einen fallen gelassenen weißen Handschuh im Rinnstein konzentriert, wird vielleicht ein großartiges Gedicht über die Freiheit zustande bringen.

Mich interessiert die Spannung zwischen der Form, die ein Gedicht immer ist, und dem Spielerischen. Unreine Reime, auch andere Mittel, können das Strenge gerade traditioneller Formen unterwandern, ohne diese Formen bloßzustellen. Sie alle haben ihren Reiz, die Sestine mit ihrem Sechserspiel, die Villanelle mit ihren Wiederholungen. Man muss sie nicht als Beschränkung wahrnehmen; für mich wäre es im Gegenteil ein Verlust an Freiheit, diese Formen nicht dort zu verwenden, wo sie sich aufdrängen, weil ihre [5|6]Eigenheiten dem Gedicht zugute kommen. Form kann so zu einem Korsett werden, in dem es sich besonders gut atmen lässt – wenn man sie nicht als Verpflichtung begreift, sondern als Prozess, der die bildliche und gedankliche Entwicklung des Gedichts in vollkommen unerwartete Bahnen lenkt.

Ein gelungenes Gedicht ist verblüffend und neuartig, weil es etwas so fasst, so sagt, wie es zuvor nicht gesagt worden ist, doch sollte es dabei so wirken, als sei es das Selbstverständlichste, es auf diese und nur auf diese Weise zu sagen, als habe man bislang nur versäumt, es so zu betrachten – aber immer schon gespürt, dass es so sein müsse. Unprätentiös, aber aus dem Vollen schöpfend. Vielschichtig, aber nicht willkürlich. In einem guten Gedicht wird ein Bewusstsein für das eigene Medium, für die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Sprache spürbar sein – ohne dies explizit zu thematisieren oder gar darüber das Sinnliche, den Bezug zum Dampfenden, Leuchtenden, Riechenden, Lärmenden, also: zur Welt zu verlieren. Ohne ihn wird es nicht zu jenem gelungenen Gedicht, von dem Dylan Thomas einmal sagte, es sei seinerseits ein Beitrag zur Wirklichkeit. Dies zu sein, wird auch das nächste, erst noch zu schreibende Gedicht versuchen – und es gibt ja immer nur dieses eine, noch zu schreibende Gedicht. Alles drängt zu ihm hin.

[6|7]Heinrich Detering

Qualle und Killer

Eine Einführung in das Schrei­ben Jan Wagners

Sprechen wir vorerst nicht von Jan Wagner. Sprechen wir von Theodor Vischhaupt, von Anton Brant und Philip Miller, drei Verborgenen, deren Spuren ein Herausgeber namens Jan Wagner nachgegangen zu sein und deren verschüttetes Werk er wieder freigelegt zu haben behauptet. Derart überzeugend werden sie uns vorgestellt, mit allem, was dazugehört – biografischen Angaben, Fußnoten, Bibliografie –, dass Grund zu der Annahme besteht, sie existierten tatsächlich. Da aber der Band im Buchhandel unter dem Verfassernamen Jan Wagner erhältlich ist, ja sogar als dessen Buch rezensiert worden ist, steht zu befürchten, dass dieser selbst eine Fiktion ist, erdacht von den drei Herren Vischhaupt, Brant und Miller.1

Im Jahr 2013 allerdings hat dann jemand, der sich als Jan Wagner ausgab, in öffentlichen Vorträgen historisch und systematisch über das Erfinden von Dichtern nachgedacht und über die Werke dieser Dichter, die man dann ja gleich dazu erfinden müsste.2 Auch über sich selbst hat er gelegentlich gesprochen, zum Beispiel in der Selbstvorstellung vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 2010: »Sich vorstellen – das tut man, nicht wahr, zuallererst mit seinem eigenen Namen. Darf ich mich vorstellen, sagt man und läßt jene Kombination von Lauten folgen, die man sich nicht aussuchen konnte und die einem doch in allen Registern bis zum Schluß treu bleiben wird. Mir selbst lag mein Name lange Zeit wie fremd auf der Zunge. (…) wahr blieb (…), daß weder mein Vor- noch mein Nachname sonderlich originell und selbst ihre Kombination in keinem Telefonbuch eine Seltenheit ist. An einem Winterabend in Berlin, als es klingelte und ich zum Hörer griff, wurde aus dieser Gewißheit ein Augenblick geradezu existentiellen Schreckens. ›Hier ist Jan Wagner‹, sagte ich, nur um am anderen Ende der Leitung eine mir unbekannte Stimme antworten zu hören: ›Hier auch‹«.3

Geboren und aufgewachsen ist dieser vorgebliche Träger des Namens dort, wo die Hansestadt Hamburg aufhört und Schleswig-Holstein anfängt: 1971 in Ahrensburg, im Schatten eines schönen weißen Schlosses. Er studierte in Hamburg, am Trinity College in Dublin und in Berlin, lebt in Berlin und bis vor Kurzem auch in München, ist zu Hause in einem »Australien«, das nicht auf der Landkarte zu finden ist, und hat seine Sache ganz auf die Poesie gestellt, die Landessprache dieses fremden Kontinents: als Lyriker, als Lyrikkritiker, als Übersetzer von Lyrik aus dem Englischen, [7|8]unter anderem von Charles Simic, Simon Armitage, Matthew Sweeney und James Tate. Denn ein Leben ohne Poesie, das hat er selbst einmal geschrieben, »nein: Das ist undenkbar.«4

Er ist dafür, schon vor dem Preis der Leipziger Buchmesse und nach ihm wieder, mit diversen Stipendien und Preisen ausgezeichnet worden, die hier aufzuzählen nicht nötig ist. Die Titel der Bücher aber, die unter seinem Namen erschienen sind, will ich doch nennen. Von 1995 bis 2003 gab er mit Thomas Girst eine Serie von insgesamt elf ›Literaturschachteln‹ heraus, Loseblatt-Anthologien zur zeitgenössischen Weltpoesie, unter dem (zufällig gefundenen) Titel »Die Aussenseite des Elementes«. Mit seinem Dichterfreund Björn Kuhligk unternahm er eine poetische Harzreise, deren Ergebnisse in dem Buch »Der Wald im Zimmer« nachzulesen sind. Mit »Probebohrung im Himmel« erschien 2001 sein lyrisches Debüt, es folgten »Guerickes Sperling« 2004, »Achtzehn Pasteten« 2007 und »Australien« 2010. 2011 veröffentlichte er seine gesammelten Essays zur Poesie, »Die Sandale des Propheten«, 2012 folgten »Die Eulenhasser in denHallenhäusern« – verfasst nicht von Jan Wagner, sondern, wie gesagt, von den Herren Vischhaupt, Brant und Miller, und 2014 der bis dato größte Erfolg, die »Regentonnenvariationen«.

Das heikle Ich – doch, das gibt es oft in all diesen Texten; immer wieder sagt hier jemand oder etwas Ich. Nur ist es so wenig mit Jan Wagner zu verwechseln wie der gleichnamige Anrufer am anderen Ende der Leitung. Was hier Ich heißt, ist oft weniger Voraussetzung des Gedichts als vielmehr sein Effekt (so wie der Dichter in seinen Versen auch, sogar leitmotivisch wiederkehrend, Tanten, Freunde und Kollegen erwähnt, deren Existenz außerhalb dieser Texte sehr zweifelhaft, aber vermutlich auch unschärfer ist). Dieses Ich zeigt sich, indem es sich verbirgt; »when asked / t’ give your real name … never give it«.5

Es zeigt sich verborgen zum Beispiel in toten Malern und Dichtern wie Strindberg und Velázquez, in Zirkusartisten und namenlosen Passanten, in Tieren, und in diesen sogar mit besonderer Vorliebe. Ein »selbstporträt mit bienenschwarm« steht am Ende der »Regentonnenvariationen« wie eine Signatur. Es zeigt eine Art portrait of the artist as a beekeeper, ganz und gar bedeckt von den Bienen, die ihn kleiden und schützen wie das lange Haar die nackte Maria Magdalena oder wie die Rüstung den Ritter; so aber ist es »wirklich sichtbar erst mit dem verschwinden«.6 Der Dichter im Bienenschwarm, der seine Züge trägt, indem er ganz Bienenschwarm ist: dieses Schlussbild erscheint wie ein Emblem der Pflanzen- und der Tierporträts. Es gibt ungemein genaue, anrührende und einfühlsame, oft komische Gedichte von Jan Wagner über Murmeltiere und Rohrdommeln, über Ottern und Dachshunde, über Austern oder jene Qualle, die er in einem hier exemplarisch zu zitierenden Gedicht so anredet:

[8|9]qualle

gefräßiges auge,

einfachste unter den einfachen –

nur ein prozent trennt sie von allem,

was sie umgibt.

stoße dich weiter vor

ins unbekannte: ein brennglas, geschliffen

von strömungen und wellen; eine lupe,

die den atlantik vergrößert.7

Um Erkenntnis, Entdeckung, ja Bereicherung und Vergrößerung der Welt geht es, mithilfe der Sonde des Gedichts, das zugleich auch Lupe sein kann oder Teleskop. Vor allem aber: Das so erkenntnislustige Gedicht ist selbst das handelnde Subjekt, das äugend, schmeckend, strudelnd durch die Welt schwimmt, Jan Wagners Gedicht ist wie die Qualle ›ganz Auge‹, und das Gedicht mit seiner Aufforderung »stoße dich weiter vor« in Wahrheit ein Selbstgespräch. Als er 2006 nach seinem Verhältnis zur damals zeitweise modischen ›Poesie der Fakten‹ und nach seiner Ansicht über das Verhältnis von Poesie und exakten Wissenschaften gefragt wurde, hat Jan Wagner geantwortet: Der Lyriker sei ja »per se ein Eklektizist, ein Sammler, der nimmt, was sich ihm bietet, und es mit dem verknüpft, was er bereits hat. Als solcher wird er die Kluft zwischen den Kulturen nicht schließen, kann sie aber bewohnbar machen. Vielleicht auch haben die recht, die sagen, er könne von den Naturwissenschaften nicht nur Material erhoffen, sondern sich auch zu einer Präzision des Denkens, des sprachlichen Aufbaus, der genauen Bildbearbeitung ermutigen lassen, die eine gefühlige Schwammigkeit von vornherein ausschließen.«8

So sehen wir ihn selbst, den realen Autor, in den Rollen- und Maskenspielen seiner Verse nur so, wie wir in den Gemälden seiner neuen Bildgedichte den Maler sehen oder im Thriller von David Lynch den Killer: indem wir aus dem Blick, den wir unter dem Zwang der Kamera teilen, rückschließen auf den Menschen, dem diese Augen gehören müssen. Er selbst hat in seiner ›Münchner Rede zur Poesie‹, im Lyrik Kabinett, die Lyrik mit dem Kriminalroman verglichen, das Gedicht und die Aufklärung eines Verbrechens. Beiden gemeinsam sei, so sagt er, unter anderem das Vergnügen am Denken, an der Denkaufgabe, die zugleich ganz Spiel ist und in der es doch um Leben und Tod geht.9 Und die uns lehrt, die Welt, die wir zu kennen glauben, für die Dauer der Lektüre aus den Augen von Leuten zu sehen, die wir nicht sind und im wirklichen Leben vermutlich auch niemals sein wollen: Qualle oder Killer.

[9|10]Gedichte seien Instrumente der Entautomatisierung von Sprache und Wahrnehmung, hat der russische Dichter und Theoretiker Viktor Šklovskij zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschrieben. Wir dichten, sagt er, um »den Stein steinern zu machen«,10 damit wir das, was uns umgibt, sehen und nicht bloß wiedererkennen. In einem frühen Essay unter dem mit fast religiösem Pathos auftretenden Titel »Die Erweckung des Wortes« (1914) beklagt er: »(…) wir haben die Empfindung der Welt verloren; wir sind wie der Geiger, der den Bogen und die Saiten nicht mehr fühlt, wir sind nicht mehr Künstler unseres Alltags, wir lieben unsere Häuser und unsere Kleider nicht und trennen uns leicht von einem Leben, das wir nicht empfinden. Nur die Schaffung neuer Formen in der Kunst kann dem Menschen das Erlebnis der Welt zurückgeben, die Dinge erwecken und den Pessimismus töten.«11 Das könnte, das Pathos abgerechnet, beinahe von Jan Wagner sein.

Denn der zitiert an der einen Stelle zustimmend Ezra Pounds in dieselbe Richtung weisenden Imperativ »Make it new«12 und an anderer die nur scheinbar widersprechende Forderung Robert Frosts, das Gedicht solle seinen Lesern nichts Neues zeigen, sondern das, was sie schon kennen – was sie aber eben nur wiedererkennen und nicht sehen.13 Damit aber die Sehweise anders wird, damit wir die Empfindung der Welt wiederfinden, muss die Sprechweise anders werden. Die Poesie ist nicht nur ein, sondern das einzige Mittel, die Sprache in Bewegung und damit unsere sprachlich konditionierten Wahrnehmungen und Denkweisen am Leben zu erhalten; dies ist ihre ›Bestimmung‹, als Begriff wie als Aufgabe. Poesie ist darum nicht nur ein Lebens-, sie ist ein Überlebensmittel. Ohne sie hört der Stein auf, steinern zu sein, ohne sie verliert der Frühling sein Aroma, ohne sie verlieren die Vokale ihre Farben.

Spinnefeind ist Jan Wagner, dessen literarisches Credo ich damit gewiss nur unzulänglich zusammengefasst habe, dem Dogmatismus und der Etikettierung von Schulen, Bewegungen, Gruppen, den Verboten und Ausschlussverfahren. In einem Essay über die junge deutsche Gegenwartslyrik hat er bemerkt, es sei »nicht länger Glaubenssache, auf welche Schule man sich beruft«. Und er hat, entschieden zustimmend, hinzugefügt: »Über fast die gesamte jüngere Lyrik (…) ließe sich sagen, was Émile Zola einst über den experimentellen Roman bemerkte: Sie bewegt sich du connu à l’inconnu, ins Unbekannte, Unerhörte, Neuartige, wohin jedes gelungene Gedicht zielt, schon immer zielte.«14 An genau diesem Übergang sehen die tanzenden Mücken, diese beweglichen Schriftzeichen wie auf dem »stein von rosetta, ohne den stein«, auf einmal aus wie »schatten, / die man aus einer anderen welt // in die unsere wirft«; und das dunkelste Objekt dieses Blicks über eine beschattete Schwelle ist das unauffälligste: »man«.15

Das »Unbekannte, Unerhörte, Neuartige, wohin jedes gelungene Gedicht zielt« – das ist die uns vermeintlich schon bekannte Welt. Und so können [10|11]auch die Instrumente des Vorstoßes die sehr alten Formen sein. Nur dürfen sie nicht pedantisch reproduziert werden. Gelingt es aber, sie ihrerseits aufzufrischen, zu verfremden, dann kommen so unmerklich kunstvolle, so schöne und welterschließende Gebilde heraus wie seine Villanellen und sein kompletter Sonettenkranz, seine Oden und Sestinen. Und etwa auch der Reim? Ja, auch der Reim. Nur etwas anders, als wir ihn erwarten. Denn auch der Umgang mit ihm folgt der Maxime »Make it new«.

Das, was man in der angelsächsischen Welt slant rhymes nennt, ist für Jan Wagner elementarer Ausdruck und Grundbaustein dieser auffrischenden Begegnung der Gegenwart mit den Traditionen. Als »Reim in Schräglage« übersetzt Jan Wagner den Ausdruck, und er verbindet ihn mit den Halb- und »Parareimen« – für die er auch sogleich wunderbare Beispiele gibt (seine eigenen Gedichte sind voll davon, sie sind ihr auffallendstes Merkmal): »Wie steht es denn mit«, fragt er seine gegenüber dem Reimen argwöhnischen Leser, »Konsonanzen (…), bei denen (…) nicht die Vokale der Partnerwörter, sondern ihre Konsonanten entscheidend sind«? So reimt er zu Anschauungszwecken »Holz« nicht nur auf »Stolz«, sondern auch auf »Hals« und entdeckt – ein besonders spielfreudiges Beispiel – die »Konsonanten- und Lautfolge b-l-m-r-t-s« sowohl in dem Wort »belämmertes« als auch, genau identisch, in den Worten »Blaue Mauritius«, welch ein Reim! Und wir müssen nur, dazu ermutigt er uns ausdrücklich, »etwas mehr Beweglichkeit in den Buchstabengelenken« trainieren und »schon finden Sensen zu Pferdebremsen, Alabaster zu Wasser (…) Kohle auf Koala, Locken auf Laokoon und Papier auf Papaya«.16 Neuerdings sind Entdeckungen wie »knauser-« auf »canossa« hinzugekommen,17 in der bekanntesten ›Single-Auskoppelung‹ des neuen Bandes »giersch« auf »garage« und »geräusch«18 oder, mit einem auch geografisch verblüffenden Enjambement, »prärie« auf »bayri-«.19 Der schönste dieser Wagner’schen Reime, fanden meine Studenten, sei »Uppsala« auf »Obstsalat«.20

Und notabene – wenn er will, reimt er klassisch rein und glatt, weil ja auch der slant rhyme nicht zum neuen Automatismus werden darf. Wenn sich in den »Regentonnenvariationen« tatsächlich wieder »baum« auf »traum« reimt, sieht das abgebrauchte romantische Paar aus wie frisch verliebt. Schon in einem früheren Rollengedicht, es bewegt sich mit Shackletons Polarexpedition auf einer einsamen treibenden Eisscholle durch tödliche Kälte und Erstarrung, war zu lesen: »es frißt sich von den rändern bis zum herzen / der scholle stetig vor. dort kauern wir, / vom ruß verklebt, wie lettern nach dem schwärzen. / die blanke fläche. dieses blatt papier.«21 Es sind die letzten Worte seines Gedichtbuchs »Guerickes Sperling«.

Weil dieser Vorrat an Spielformen in den Jahrhunderten und Jahrtausenden der Weltpoesie so unerschöpflich ist und weil er sich jederzeit weiter entwickeln, weiter transformieren lässt: deshalb geht es Jan Wagner, noch einmal [11|12]mit seinen eigenen Worten, um »die genaue Kenntnis der Tradition, der Traditionen, die technisches Unvermögen und Naivität vermeiden hilft, und die Unverkrampftheit im Umgang mit einst unvereinbaren Gegensätzen, die zu einer neuen Offenheit und Spielfreude geführt hat«.22 Ob das für das ganze weite Feld der jüngeren deutschen Lyrik gilt, weiß ich nicht (möchte jedoch gern Jan Wagners Optimismus folgen). Auf seine eigene Dichtung aber passt es wie angegossen.

Auch die auf den ersten Blick bloß verspielten Anagrammgedichte Theodor Vischhaupts, mit dem wir anfingen – wir erinnern uns, er ist der Erfinder Jan Wagners –, zeigen auf den zweiten Blick, wie sich das Experimentieren mit nichts als dem reinen Buchstabenmaterial zu einem Instrument der sprachlichen Welterschließung machen lässt. Eine Ausgangszeile legt die Buchstaben fest, aus denen dann jede weitere Zeile durch Umstellungen hervorzugehen hat; eine strikt mechanische Regel also – und was für ein Zauberstab in den Händen dieses Magiers! So lautet beispielsweise ein erster Vers: »Mein Herz ist ein Doge, gefangen in seiner Pracht«. Und dann eröffnet die Serie der Vertauschungen und Umstellungen uns Einsichten in Märchen- und Traumwelten, die uns bislang verschlossen waren und in die wir nun verwirrt und bezaubert hineinschauen:

Mein Herz ist ein Doge, gefangen in seiner Pracht,

Ein Herr mit eigenen Zofen, dreißig Nachtpagen,

(…)

Gemeine Hofnarren, innig scherzend, Tipigäste,

Einige gerne ringende Zampanos, ihr Teint fesch,

Zartere Geishas, Nietendoggen in Minipferchen;

(…)

Ein Doge ist mein Herz, in seiner Pracht gefangen.23

So gefangen wie die Sprache in diesem Anagramm-Kerker, und zugleich so grenzenlos frei. Denn die Welt, die durch diese zugleich artistische und (der Ausdruck sei erlaubt) demütige Poesie entdeckt wird, die für uns durch die Poesie zu entdecken ist: Diese Welt hat in der Tat keine Grenzen. Wer mit zwei einsamen Windrädern eine »Probebohrung im Himmel« vornehmen kann, der kann sich auch mit derselben staunenden Neugier hinunterbeugen zum Fenchel – dem im selben Band ein Gedicht gewidmet ist – oder beim Waldspaziergang einer Schar von Champignons begegnen, als sehe er sie zum ersten Mal und als seien sie fremde Ritter, die ihm auf seiner Aventiurenfahrt begegnen, der kann alle, die er in einer auf einmal still gewordenen Welt vermisst, als sei wie in Büchners grausigem Märchen »Alles tot (…) Alles tot«,24 mit einem Blick hinauf am Stamm der »blutbuche« wiederfin[12|13]den: »im innern dann das helle / lachen über mir, das vollgepackte / geäst, als ich nach oben sah. und da saßen sie alle.«25

Wenn die poetische Qualle, Jan Wagners zart schwebende Schutzheilige, die ganz Brennglas, ganz Auge ist, in die Gewässer ewig lichtloser Höhlen eintaucht, dann sieht sie mit nicht nachlassendem Staunen auch noch den Grottenolm, dieses armseligste aller Tiere: als ein Wesen, das sich ganz aus der Welt zurückgezogen hat, augenlos und in sich ruhend. Und noch ihn, das genaue Gegenteil ihrer selbst, sieht Jan Wagners poetische Qualle mit einem Staunen, das mit Liebe leicht zu verwechseln ist. Da beide, Qualle und Olm, die beiden Enden des Erlebensspektrums markieren, das diese Gedichte umfassen, sollen auch diese Verse zitiert werden:

in einem reich ohne licht

und ohne farben, ohne wind,

sitzt der olm, der keine feinde

außer der sonne hat, zarter als die arbeit

von glasbläsern ist, kaum schwerer als ein brief

und leichter als ein schluck wasser.

weiß er nichts von unserer welt

oder weiß er alles? mit einer haut,

so durchlässig, daß sie nichts verwehrt

und alles aufnähme an giften,

an reichtümern, beschränkt er sich

aufs wenige, verzichtet aufs essen,

sogar auf den eigenen schatten.26