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Über dieses Buch:

Ein Sturm zieht über den sieben Königreichen Englands herauf …
Mitte des 9. Jahrhunderts: Während die plündernden Kriegsscharen der Dänen sich immer weiter vorwagen, ist nach dem Tod des Königs von Wessex ein erbitterter Kampf um die Thronnachfolge entbrannt, der bald auf die benachbarten Reiche überzugreifen droht. Plötzlich scheint das Schicksal ganz Englands auf den Schultern der jungen Elswyth zu ruhen, der Prinzessin von Mercia: Dazu erzogen, zu gehorchen, soll sie schon bald einen Mann heiraten, den sie nicht liebt. Doch insgeheim sehnt sie sich nach Alfred, dem jüngsten Sohn des Königs von Wessex. Und auch er hat Elswyth vor langer Zeit sein Herz geschenkt – aber sie nun tatsächlich gegen alle Regeln zu seiner Frau zu machen, würde seinen Traum von einem neuen Zeitalter der Einigkeit und des Friedens gefährlich ins Wanken bringen …

Die epische Saga um Alfred den Großen, den Vater des Englands, wie wir ihn heute nennen – und die außergewöhnliche Frau an seiner Seite: »Joan Wolf bringt die staubigen Fakten der Historie zum Leuchten!« Publishers Weekly

Über die Autorin:

Joan Wolf ist die amerikanische Grande Dame der gefühlsgewaltigen historischen Romane. Sie wuchs in der New Yorker Bronx auf und studierte Englische und Vergleichende Sprachwissenschaften am renommierten Hunter College in Manhattan. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie längere Zeit als Englischlehrerin an einer Highschool, bevor sie ihre internationale Karriere als Autorin begann. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Connecticut.

Bei dotbooks veröffentlichte Joan Wolf auch ihren historischen Roman »Der Weg nach Avalon« sowie ihre Regency-Romane »Die Braut des Fürsten«, »Das Herz des Earls« und »Die Leidenschaft des Lords«.

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Aktualisierte eBook-Neuausgabe März 2021

Dieses Buch erschien bereits 1998 unter dem Titel »Prinzessin des Lichts« bei Blanvalet und 2016 unter dem Titel »Die Liebe des Königs« bei dotbooks.

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1990 unter dem Originaltitel »The Edge of Light« bei Dutton, New York.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1990 by Joan Wolf

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1998 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Copyright © der Neuausgaben 2016, 2021 dotbooks GmbH, München

Dieser Titel wurde vermittelt durch Interpill Media GmbH, Hamburg. By arrangement with Natasha Kern Literary Agency.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/stockcreations, Sundraw Photography, Yulia Darafei, Vector Tradition

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95824-636-2

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Joan Wolf

Die stolze Königin

Die große Wessex-Saga

Aus dem Amerikanischen von Antje Althans

dotbooks.

Für Joe

»Der Wind unter meinen Flügeln«

Vor allem muß ich eines sagen: Es war mein Wunsch,

ehrenhaft zu leben und den Menschen nach mir

durch meine guten Werke in Erinnerung zu bleiben.

– Alfred, König der Westsachsen,

in seiner Boethiusübersetzung

Vorspiel

A. D. 856 – 865

Kapitel 1

Der kleine Junge stand in der Ecke. Sein Vater, der König, hatte ihn für einen Moment vergessen. Die Thane, die sich um König Ethelwulf scharten, machten verdrießliche Gesichter und sprachen mit grimmigen Stimmen. Das Wort, das sie ständig gebrauchten, kannte Alfred nicht.

Rebellion.

Was bedeutete das? Alfred drückte sich tiefer in die Ecke des Königssaals und versuchte zu verstehen, was die Lehnsmänner sagten. Sein Bruder Ethelbald führte eine Rebellion an; soviel war klar. Aber was hieß das, »Rebellion«?

Alfred und sein Vater waren das letzte Jahr fern von Wessex auf einer Pilgerfahrt nach Rom. Während ihrer Abwesenheit war die Herrschaft Alfreds ältesten Brüdern, Athelstan und Ethelbald, übertragen worden. Vor ein paar Monaten war Athelstan gestorben, und Ethelbald hatte das ganze Königreich übernommen.

Und nun führte er eine Rebellion an.

Was auch immer eine »Rebellion« war, dachte Alfred erschaudernd, es konnte nichts Gutes bedeuten. Das sah man am Gesichtsausdruck der Thane.

»Mein Prinz.« Es war die vertraute Stimme von einem der Lehnsmänner, die Ethelwulf ständig begleiteten. »Komm mit, Junge«, sagte der Mann jetzt ruhig. »Die Königin sucht dich.«

Alfred brauchte einen Moment, um zu begreifen, von wem er sprach. »Oh«, sagte er dann, »Judith!«

»Ja, Lady Judith. Sie hat nach dir verlangt.«

»In Ordnung«, antwortete Alfred und trat plötzlich ganz bereitwillig aus seiner dunklen Ecke hervor. Vielleicht wußte Judith, was »Rebellion« bedeutete. »Ich komme.«

Prinzessin Judith, Tochter von Karl dem Kahlen, war vor drei Wochen in Frankreich mit Ethelwulf verheiratet worden.

Judith war sechzehn Jahre alt; Ethelwulf war dreiundfünfzig.

»Alfred«, sagte Judith auf fränkisch, als er ihr Schlafgemach betrat. Sie war nicht viel älter als ihr Stiefsohn, und die beiden hatten während des viermonatigen Aufenthaltes der Westsachsen am französischen Königshof schnell Freundschaft geschlossen. Kinder lernen leicht, und so hatte Alfred sich Grundkenntnisse in Fränkisch angeeignet und brachte Judith nun Sächsisch bei. »Was geht hier vor?« fragte sie, und ihre großen braunen Augen sahen besorgt aus.

»Ich weiß nicht, Judith«, antwortete Alfred und schloß die Tür hinter sich. »Ich glaube, mein Bruder Ethelbald hat etwas Böses getan. Die Thane sagen, es ist »Rebellion«.« Er benutzte das sächsische Wort. »Weißt du, was das bedeutet?« fragte er.

Judith schüttelte den Kopf. »Wenn du das Wort nicht kennst, Alfred, wie soll ich es dann kennen?«

»Oh.« Enttäuscht überquerte er den Holzfußboden und erklomm den zweiten Sessel im Raum, der wie Judiths nahe beim Kohlenbecken stand. Beunruhigt sagte er: »Komisch, daß meine anderen Brüder, Ethelbert und Ethelred, nicht hier sind, um uns zu begrüßen.«

Judith seufzte irritiert. »Ihr mit euren westsächsischen Namen! Für mich hören sie sich alle gleich an!«

Alfred grinste ein wenig, »›Ethel‹ bedeutet von Adel«, erklärte er. Es gefiel ihm, ihr etwas beibringen zu können. »Die Namen vieler westsächsischer Adliger beginnen so.« Ihm fiel etwas ein, worüber er sich schon immer geärgert hatte. »Von all meinen Geschwistern bin ich der einzige, der nicht so einen Namen hat. Sogar meine Schwester heißt Ethelswith!«

»Du warst ein Nachzügler«, sagte Judith mit ihrer sanften Stimme. »Dein Vater hat mir erzählt, daß du sein besonderes Gottesgeschenk bist. Deshalb hast du auch einen besonderen Namen.«

Alfred schob die Unterlippe vor. »Ich finde ›Ethelwold‹ schön«, meinte er nach einer Weile.

Judith sagte bestimmt: »Ich mag ›Alfred‹.«

Er blickte sie unter langen, goldenen Wimpern von der Seite an; dann grinste er.

»Wie alt ist dein Bruder Ethelbald?« fragte Judith als nächstes.

Das Lächeln verschwand, und Alfred blickte eifrig auf seine Finger. »Ethelred ist achtzehn. Ethelbert ist vier Jahre älter als er, und Ethelbald noch mal zwei Jahre älter. Also ist er…« Er runzelte die Stirn, konzentrierte sich und fing an, mit Hilfe der Finger zu rechnen.

»Vierundzwanzig«, sagte Judith schließlich, als es offensichtlich war, daß Alfred den Überblick verloren hatte.

Alfred runzelte wütend die Stirn, weil es ihm nicht gelungen war, die Rechenaufgabe zu lösen.

In diesem Moment bewegte sich der Türriegel, und die Tür wurde aufgestoßen. Alfred und Judith sprangen auf, als ein großer, dünner Mann mit grauem Haar den Raum betrat.

»Mylord«, sagte Judith. Ihre Stimme war plötzlich gedämpft.

»Vater!« rief Alfred erleichtert. Sobald Ethelwulf auf sie zusteuerte, fragte Alfred auf sächsisch: »Was ist eine »Rebellion«?«

»Rebellion«, wiederholte Ethelwulf, König von Wessex, niedergeschlagen. Er wandte sich zu Judith und sagte das Wort noch einmal, auf fränkisch. Ihre Augen weiteten sich, als sie plötzlich begriff.

»Setzt Euch, meine Liebe«, sagte Ethelwulf zu seiner Frau. Er sprach Französisch mit Akzent, aber relativ fließend. Er wandte sich Alfred zu. »Du kannst dich auf den Boden setzen, mein Sohn. Meine alten Knochen haben einen Sessel nötiger als deine.«

Alfred sank auf den Fellteppich zu Füßen seines Vaters. »Was habt Ihr zu Judith gesagt?« fragte er Ethelwulf mit der furchtlosen Neugier eines verwöhnten Kindes. »Wie hieß das Wort? Was ist »Rebellion«?«

Ethelwulf ließ sich auf dem Sessel nieder und streckte die langen Beine aus. »»Rebellion« ist, wenn man eine Armee gegen den König aufstellt«, sagte er und sah in die goldenen Augen seines Sohnes, die zu ihm aufblickten. »Anscheinend hat dein Bruder Ethelbald beschlossen, seine jetzige Position nicht aufzugeben. Er hat Geschmack daran gefunden, König zu sein.«

Alfred starrte seinen Vater an. Ethelwulf sah gar nicht besorgt aus, dachte er. Nur müde. Was Ethelbald auch tat, es konnte nicht so schlimm sein, wie Alfred befürchtet hatte.

Judith sagte: »Mylord, es tut mir leid, das zu hören. Aber ein Mann allein kann keine Rebellion führen. Hat Euer Sohn Gefolgschaft?«

»Es scheint so«, antwortete Ethelwulf.

»Aber nicht Ethelred!« warf Alfred ein, der seinen Lieblingsbruder sofort verteidigte.

»Nein, Ethelred nicht«, stimmte sein Vater zu. »Ethelred und Ethelbert erwarten mich in Winchester. Anscheinend hat Osric, Ealdorman von Hampshire, das Fyrd zu unserer Verteidigung aufgestellt.«

Es war einen Moment still. Dann fragte Judith fast schüchtern. »Ich verstehe Eure Worte nicht, Mylord. Was ist das Fyrd? Was ist ein Ealdorman?«

»Ein Ealdorman ist vergleichbar mit einem fränkischen Grafen, meine Liebe«, erklärte Ethelwulf. »Ein Adliger, der vom König ernannt wird, um die Grafschaft zu leiten. Er ist zuständig für Rechtsprechung und Verteidigung. Das Fyrd ist die Streitkraft, die der Ealdorman in Notzeiten aus Thanen und Freien der Grafschaft aufstellt.«

Alfred war den Ausführungen seines Vaters mit kaum verhohlener Ungeduld gefolgt. »Vater« sagte er, sobald Ethelwulf gesprochen hatte, »hat Ethelbald etwa eine Armee}«–

»Ja, mein Sohn«, war die traurige Antwort. »Ich befürchte ja.«

Alfred spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. »Was bedeutet das alles?« Er flüsterte fast. »Was wird geschehen?«

Judiths pragmatische, kühle Stimme übertönte ihn. »Wer gehört zu Ethelbalds Gefolge, Mylord? Und wie viele Männer sind es?«

Alfreds Vater rieb sich das Gesicht, ein sicheres Zeichen, daß er in Sorge war. »Ethelbalds Pflegevater ist der Bruder meiner ersten Frau; Eahlstan, Bischof von Sherborne. Ethelbald hat den Großteil seines Lebens im Westen des Landes verbracht, und die Männer aus der Gegend westlich des großen Waldes von Selwood haben sich erhoben, um ihn zu unterstützen.«

»Aber die Männer im Osten werden doch zu Euch stehen?« Überrascht starrte Alfred Judith an. Noch nie hatte er sie so … bestimmt erlebt.

»Soviel ich weiß, ja.«

Judith lehnte sich im Sessel zurück. »Nun, wenn Eure anderen Söhne auf Eurer Seite sind, Mylord, und alle Grafschaften östlich von Selwood, dann wird Ethelbalds Unterfangen nur von kurzer Dauer sein.«

Alfred sah, wie der Vater kurz in seine Richtung blickte. Dann lächelte Ethelwulf Judith an. »Dessen bin ich mir ganz sicher, meine Liebe«, sagte er mit einem falschen, besänftigenden Unterton, den Alfred kannte, und der bedeutete, daß ihm etwas verheimlicht wurde. »Ich bin mir ganz sicher.«

***

Alfred konnte es kaum erwarten, nach Winchester zu kommen. Sein Bruder Ethelred war dort, und Ethelred war der Mensch, den Alfred auf der ganzen Welt am liebsten hatte. Natürlich liebte er seinen Vater auch, aber es war immer Ethelred gewesen, der sich für das jüngste Mitglied der westsächsischen Königsfamilie Zeit genommen hatte. Ethelred hatte Alfred das Reiten und das Jagen beigebracht und ihn gelehrt, wie man mit Pfeil und Bogen schießt. Er hatte ihm sogar versprochen, ihn im Umgang mit dem Schwert zu unterrichten, wenn er aus Rom zurückkehrte.

Ethelred würde ihn nicht wie ein Baby behandeln. Ethelred würde ihm sagen, was los war. Ethelred würde dafür sorgen, daß er sich wieder sicher fühlte.

Die Steinmauern von Winchester waren den römischen Mauern, die man in Frankreich und Italien überall sah, sehr ähnlich, aber Alfred sah die westsächsische Hauptstadt an diesem Tag mit anderen Augen, als er mit dem Zug seines Vaters durch das Stadttor ritt. Die Städte in Frankreich und Italien waren viel prachtvoller gewesen als das kleine Marktstädtchen Winchester. Alfred hatte gestern Judiths Gesichtsausdruck gesehen, als sie zum ersten Mal das einfache, hölzerne Herrenhaus erblickt hatte, das der Hauptwohnsitz des Königs in Southampton war. Southampton war eines der kleinsten westsächsischen königlichen Landgüter; aber selbst die größten und prächtigsten, nicht einmal Wilton, entsprachen auch nur im entferntesten dem Glanz der königlichen vils in Franken.

Alfreds Herz klopfte vor Freude, als er die beiden Männer sah, die sie auf den Treppenstufen des Königssaales erwarteten.

»Meine Brüder!« sagte er zu Judith; aber eigentlich sah er nur einen von beiden an.

Ethelbert und Ethelred begrüßten ihren Vater wie es sich geziemte, und dann stellte Ethelwulf sie Judith vor. Ihr Willkommensgruß fiel kurz aus; keiner der Prinzen sprach Fränkisch, und Judiths Sächsisch war rudimentär.

Dann konnte Alfred es nicht länger erwarten. »Ethelred!« rief er.

Der blonde junge Mann wandte sich von Judith ab und strahlte den kleinen Jungen auf dem Pony an. »Alfred!« sagte er lachend und imitierte Alfreds unverwechselbare abgehackte Sprache. Dann griff Ethelred nach ihm, zerrte den kleinen Bruder geradewegs aus dem Sattel, schwang ihn zuerst hoch in die Luft und nahm ihn dann fest in die Arme. »Wie geht es meinem kleinen Lieblingsbruder?« fragte er, als er das Kind wieder auf die Füße stellte.

Alfred strahlte. »Ich bin dein einziger kleiner Bruder«, entgegnete er, und Ethelred lachte und zerzauste ihm das Haar.

»Deshalb bist du mir ja auch so lieb und teuer.«

Ethelwulf hob Judith vom Pferd. »Kommt«, sagte er zu seinen Söhnen. »Wir gehen in den Saal.«

Der große Saal von Winchester war genauso geräumig wie die Königssäle, die Alfred in Frankreich gesehen hatte. Der Kamin in der Mitte war so lang, daß darin zwei Feuer brannten, an jedem Ende eines. Der Rauch schlängelte sich nach oben und entwich durch den offenen Rauchabzug im Dach. Geschnitzte Säulen stützten dicke Querbalken, und in beide langen Wände waren Türen eingelassen. An den Holzwänden hingen Wandteppiche in leuchtenden Farben, und darüber eine Sammlung polierter Waffen und Schilde. Ringsum standen Bänke, und der Steinboden war mit frisch duftenden Binsen bedeckt. In den Wandleuchtern brannten mehrere Fackeln.

Es war zwar kein Steingebäude, dachte Alfred loyal, als er den Raum betrat, aber es war genauso prachtvoll wie der Palast von Judiths Vater. Und das Beste war, es war sein Zuhause.

Ethelwulf befahl gerade einer Dienerin, Judith in eines der privaten Schlafgemächer am hinteren Ende des Saales zu führen, aber Judith sagte: »Alfred wird es mir zeigen.«

Bestürzt blickte Alfred seinen Vater an. Er wollte nicht mit Judith gehen; er wollte dableiben und dem Gespräch zwischen dem Vater und den Brüdern zuhören. Doch Ethelwulf sagte nur: »Ich bin sicher, Alfred zeigt es Euch gern, meine Liebe.«

Fürstliche Höflichkeit zwang Alfred dazu, sich an Judiths Seite zu begeben und zu sagen: »Hier entlang, Mylady. Das Zimmer links.«

Es war das Gemach seiner Mutter gewesen. An der Tür hielt er inne und starrte auf die unveränderte Einrichtung. Auf dem Bett lag eine wunderschöne gewebte Decke mit einem goldenen Drachen darauf, dem Symbol des Königshauses. Seine Mutter hatte über ein Jahr daran gearbeitet; sie hatte sie ganz allein gewebt. Die Kleidertruhe war mit poliertem Messing eingefaßt und der Steinboden mit den farbenfrohen Teppichen bedeckt, die schon immer da gelegen hatten. Da stand ein Tisch mit einem Schmuckkästchen, das jetzt leer war, und zwei weitere Tische mit Öllampen. Neben jedem Tisch befand sich ein Korbsessel mit bequemen Kissen.

»Was für ein hübsches Zimmer«, sagte Judith. Alfred hörte die Überraschung in ihrer Stimme deutlich heraus.

»Es hat meiner Mutter gehört«, sagte er.

Es folgte ein kurzes Schweigen. Dann sagte Judith behutsam: »Hoffentlich macht es dir nichts aus, wenn ich es benutze.«

Er dachte darüber nach. »Ich war überrascht, als du meinen Vater geheiratet hast«, gab er zu. Mit der brutalen Ehrlichkeit, die Kindern eigen ist, fügte er hinzu: »Er ist alt, und du bist jung.«

Judiths hübsches Gesicht war unbewegt. »Mein Vater hat die Heirat arrangiert. Er hielt es für eine gute Idee, unsere beiden Länder in dieser schweren Zeit der Wikingerinvasion miteinander zu verbinden.«

»Macht es dir nichts aus, deine Heimat und dein Volk zu verlassen?« Alfred war wirklich neugierig. Als sie nicht gleich antwortete, fügte er hinzu: »Mir würde das nicht gefallen.«

»Ich wurde nicht gefragt, ob es mir etwas ausmacht«, antwortete Judith schließlich, und sogar ein Siebenjähriger konnte die Bitterkeit in ihrer Stimme erkennen. Ihre zarten Gesichtszüge schienen jetzt von Kälte durchdrungen. »Ich bin eine französische Prinzessin; deshalb muß ich heiraten, wie es mir befohlen wird. So ist es im Leben.«

Alfred war entsetzt. »Du bist nicht gefragt worden?«

»Prinzessinnen werden niemals gefragt, Alfred.« Die Kälte hatte sich nun auch in ihre Stimme eingeschlichen.

»Wie ist das bei Prinzen?« Mit der rücksichtslosen Ichbezogenheit eines Kindes hatte Alfred sofort Parallelen zwischen seiner und ihrer Situation gezogen. »Könnte man mich auch so verheiraten, weg von meiner Familie, in ein fremdes Land?« Seine Augen waren riesengroß, die Stimme klang entsetzt.

»Nein, Alfred.« Judiths Gesicht wurde weicher, und sie legte ihm den Arm um die Schultern. »Mach dir keine Sorgen, mein Lieber. So etwas könnte dir niemals passieren. Du bist schließlich ein Junge. Du hast bei deiner Heirat ein Wörtchen mitzureden.«

Er musterte sie. »Bist du sicher?«

»Ganz sicher.« Sie lächelte.

»Aber Judith…« Jetzt, wo seine eigenen Befürchtungen aus der Welt geschafft waren, konnte er wieder an sie denken. »Das ist nicht fair«, sagte er.

»Nein«, sagte sie kalt. »Das ist es nicht. Aber anscheinend empfinden das nur kleine Jungs und junge Mädchen so.«

Er wußte nicht, wie er sie trösten sollte. Sie sah so traurig aus. »Judith«, sagte er zaghaft mit sanfter Stimme. »Ich bin sehr froh, daß du im Zimmer meiner Mutter wohnen wirst.«

In ihren Augen schimmerte etwas. Besorgt hoffte er, daß es keine Tränen waren. »Danke, Alfred«, sagte sie. »Du bist ein guter Freund.«

Er lächelte sie gewinnend an und lud sie zum größten Vergnügen ein, das er sich vorstellen konnte. »Vielleicht kannst du morgen mit mir und Ethelred auf die Jagd gehen.«

»Wir werden sehen«, antwortete sie. »Aber vielen Dank, daß du mich gefragt hast.«

»Falls wir überhaupt zum Jagen kommen«, murmelte er und folgte ihr zur Kleidertruhe. »Ethelbald mit seiner blöden Rebellion!«

Kapitel 2

Die Gespräche im Königssaal drehten sich nur um Ethelbalds Rebellion, und bald strömten die Ealdormen und die führenden Thane aus den Grafschaften östlich von Selwood in Scharen nach Winchester, um sich mit dem König zu beraten.

Alfred fand heraus, daß ein Grund für die Rebellion die Heirat seines Vaters mit Judith war.

»Aber Judith ist doch nett!« Alfred legte bei Ethelred Protest ein, nachdem er diese traurige Nachricht erfahren hatte. »Warum sollte Ethelbald gegen sie sein?« Ihm fiel noch etwas anderes ein. »Sie ist doch die Urenkelin von Karl dem Großen, Ethelred. Ich habe gehört, daß das ein Grund ist, warum Vater sie geheiratet hat. Weil er unsere Familie mit der Karls des Großen verbinden wollte.«

»Ethelbald stört, daß Judith zur Königin von Wessex gekrönt und gesalbt worden ist, als sie Vater geheiratet hat«, erklärte Ethelred. »Noch nie zuvor ist eine Königin gesalbt worden, Alfred. Weder in Wessex noch im übrigen Reich. Die Salbung steht Königen zu, nicht Königinnen. Auch von den westsächsischen Thanen ist niemand über diese Salbung erfreut. Wir haben keine Königinnen in Wessex. Mutter war die Ehefrau des Königs, sie wurde niemals Königin genannt.«

»Aber Judiths Mutter wird Königin genannt«, sagte Alfred.

»Das ist bei den Franken so üblich. Bei uns nicht.«

Alfreds Gesicht hellte sich auf. »Vielleicht kann Vater Judith nach Hause schicken. Das würde sie freuen.« Er senkte die Stimme. »Ich glaube, sie ist nicht sehr glücklich hier, Ethelred. Sie spricht unsere Sprache nicht, und sie ist so weit weg von Zuhause…«

Doch Ethelred schüttelte den Kopf. »Eine Ehe dauert das ganze Leben, Alfred. Vater kann Judith nicht einfach nach Hause schicken.«

»Oh.«

»Vater hat nach Ethelbald schicken lassen. Er soll zu Verhandlungen nach Winchester kommen«, sagte Ethelred darauf.

Alfred war überrascht. »Glaubst du, daß er kommt?« fragte er nach einer Weile. »Hier sind alle so böse auf ihn.«

»Das weiß niemand«, sagte Ethelred.

Alfred hatte seine blonden Augenbrauen zusammengezogen. »Ich kann mich nicht an Ethelbald erinnern«, gestand er.

»Er war auf deiner Taufe.« Ethelred zerzauste seinem kleinen Bruder das Haar. »Aber ich nehme an, daran kannst du dich nicht erinnern.«

Alfred entzog sich der Hand seines Bruders. »Natürlich weiß ich das nicht mehr!« Empört starrte er Ethelred an. »Da war ich noch ein Baby!«

»Das stimmt«, antwortete Ethelred ernst. »Aber das ist wahrscheinlich das einzige Mal, daß du Ethelbald gesehen hast. Er war immer bei seiner Pflegefamilie im Westen.«

»Ethelred, wieso hatte Ethelbald einen Pflegevater?« Über diese Frage hatte Alfred sich schon tagelang den Kopf zerbrochen. »Wir anderen hatten keinen. Wir sind alle daheim bei unserem eigenen Vater geblieben. Warum ist Ethelbald weggeschickt worden?«

»Als sie noch klein waren, haben sich Ethelstan und Ethelbald dauernd gestritten«, antwortete Ethelred. »Ethelbald hat sich darüber geärgert, daß Ethelstan Vaters Erbe war, obwohl er nicht Mutters Sohn war, sondern von einer Konkubine. Um des lieben Friedens willen hat Vater schließlich alle beide zu Pflegeeltern gegeben. Deshalb ist Ethelbald von Eahlstan aufgezogen worden.«

»Aha.« Alfred schnitt ein neues Thema an. »Sieht Ethelbald aus wie ich?«

»Nein. Er sieht unserem Großvater, König Egbert, ähnlich. Vater sagt immer, von all seinen Kindern hat nur Ethelbald den berühmten Teint des westsächsischen Königshauses geerbt.«

»Ich sehe aus wie Mutter«, sagte Alfred traurig.

»Sei froh«, sagte Ethelred. »Sie war sehr hübsch.«

»Sie war ein Mädchen.«

Um Ethelreds Mund zuckte es. »Stimmt. Aber du siehst nicht wie ein Mädchen aus, kleiner Bruder.«

»In Rom haben sie gesagt, ich sehe aus wie ein kleiner Engel.« Alfred klang nun restlos empört.

Ethelred hustete. »Aber Engel sind Jungs«, sagte er nach einer Weile.

Alfreds Gesicht erhellte sich. »Das stimmt.«

»Vielleicht kannst du Ethelbald schon bald sehen«, sagte Ethelred. »Vater hat einen Boten nach Sherborne entsandt. Wir müssen nur auf die Antwort warten.«

***

Die Antwort kam schneller als erwartet. Vier Tage, nachdem der Bote des Königs aufgebrochen war, ritt Ethelbald persönlich nach Winchester. Alfred war gerade von der Messe im Münster zurückgekehrt, als die Gruppe aus Sherborne ankam. Er sah seinen Bruder Ethelbald, wie er im Hof von seinem großen braunen Hengst stieg.

Sein erster Gedanke war, daß Ethelbald groß war. Größer als Ethelred. Größer als Alfreds Vater. Er trug keine Kopfbedekkung; ein blaues Stirnband hielt sein schulterlanges Haar aus dem Gesicht. Und das Haar hatte die Farbe des Mondlichts.

Mit Herzklopfen beobachtete Alfred seinen Bruder, der flankiert von acht Thanen die Stufen zum Königssaal emporschritt und durch die große Tür verschwand.

Zwei Stunden später ließ der König nach seinen drei jüngsten Söhnen schicken und unterrichtete sie über seine Entscheidung.

»Vater. Ihr seid verrückt!« Ethelbert war vor Empörung ganz weiß. »Ihr könnt ihm doch nicht einfach so nachgeben.«

»Mein Entschluß ist gefaßt.« Das normalerweise freundliche Gesicht des Königs war hart wie Granit geworden. »Ich werde Ethelbald den größten Teil von Wessex übergeben und die Herrschaft über Kent übernehmen.«

Besorgt blickte Alfred von seinem Vater zu seinen Brüdern und wieder zurück.

»Kent und die restlichen Grafschaften, die unser Großvater für Wessex gewonnen hat, sind nur ein Unterkönigreich. Die Herrschaft über Kent wird der Tradition nach dem Erben übergeben«, sagte Ethelbert. »Es ist eine Demütigung für Euch, unter der Herrschaft Eures eigenen Sohnes zum Unterkönig zu werden, Vater!«

Ethelwulf schloß für den Bruchteil einer Sekunde die Augen. Alfred sprang auf und ging zu dem Tisch in der Ecke, um seinem Vater einen Kelch Met einzuschenken. Es war still im Raum, als er ihn vorsichtig zum Stuhl des Königs trug. Ethelwulf lächelte seinem Jüngsten zu und nahm den Met an.

»Hört zu, Söhne«, sagte er, als er getrunken hatte. »Ich bin nun fast achtzehn Jahre lang König von Wessex gewesen, und davor habe ich für meinen Vater Kent regiert. All diese Jahre habe ich immer getan, was das Beste für das Königreich war, das Beste für das Volk. Wir sehen uns nun mit der vielleicht größten Bedrohung der Zivilisation konfrontiert, die es jemals in England gegeben hat. Die grausamen und heidnischen dänischen Horden rauben und brandschatzen an unseren Küsten und quälen unser Volk wie der Wolf eine schutzlose Schafherde. Es ist Zeit für einen jungen König; es ist Zeit für einen Krieger. Ethelbald ist beides.«

»Er ist ein herzloser, rücksichtsloser Bastard.«

Entsetzt starrte Alfred Ethelbert an. Sogar die Lippen seines Bruders waren weiß.

Doch Ethelwulf war nicht zornig. »Dein Bruder hat mich immer an meinen Vater erinnert«, gab er zur Antwort und sah dabei nicht seine Söhne an, sondern den goldenen Met in dem Kelch mit der Goldgravur. »Er sieht aus wie mein Vater, und sein Charakter ist wie seiner. Egbert von Wessex war ein harter und rücksichtsloser Mann. Aber niemand kann bestreiten, daß er ein großartiger König war.«

Das verstand Alfred nicht. »Aber Vater… Wenn Ethelbald böse ist, wie kann er dann wie Großvater sein, der ein großer König war?«

»Ich habe nie behauptet, daß Ethelbald böse ist, Alfred«, antwortete Ethelwulf. »Er ist ehrgeizig. Das war mein Vater auch. Und Cerdic, der erste König unseres Geschlechtes, und Ceawlin, und Ine… alle großen westsächsischen Könige.« Er blickte von Alfred zu Ethelbert und dann zu Ethelred. »In Friedenszeiten wäre Ethelbald vielleicht nicht der König meiner Wahl. Friede erfordert Tugenden, die er nicht besitzt. Aber wir haben keinen Frieden, und ich glaube, er ist der richtige Mann, um mit den Dänen fertig zu werden. Er hat in Aclea mit mir gekämpft. Ich habe Ethelbald im Kampf gesehen, und es besteht kein Zweifel daran, daß er ein Krieger ist.«

Ethelbert machte eine Bewegung, als wollte er Einspruch erheben, aber der König hob die Hand. »Ich tue es für das Königreich«, sagte Ethelwulf. »Denkt immer daran, Söhne, wenn ihr je selbst an die Macht kommt. Ein wahrer König stellt immer das Wohl des Königreichs über seinen persönlichen Ehrgeiz.«

»Das wird Ethelbald nie tun«, sagte Ethelred bitter.

Alfred trat einen Schritt näher zu Ethelred und sah ihn mit großen Augen an.

»Vielleicht«, antwortete Ethelwulf seinem Sohn. »Aber noch bin ich der vereidigte und geweihte König, und das ist es, was ich tun werde. Ich werde nicht zulassen, daß dieses Land durch einen Bürgerkrieg auseinandergerissen wird.«

»Es wird einen Krieg geben, Vater.« Ethelbert fiel auf die Knie und umklammerte den Arm des Vaters. »Wir werden ihn vertreiben, ihn und seine ganze westliche Gefolgschaft!« Die blauen Augen, die zu Ethelwulf emporblickten, glänzten wild.

»Nein, Ethelbert.« Alfred hatte seinen Vater noch nie mit einer solchen Stimme sprechen gehört. Er trat noch näher zu Ethelred.

»Ich bin fest entschlossen«, fuhr der alte König langsam und mit Nachdruck fort. »Ich werde das Königreich an Ethelbald übergeben. Doch ich habe mit ihm die Abmachung getroffen, daß du nach meinem Tod die Herrschaft in Kent übernehmen wirst. Und falls er sterben sollte und keinen Sohn hinterläßt, der alt genug ist, um zu regieren, geht das gesamte Königreich auf dich über. Also sei versichert, Ethelbert, daß ich deine Interessen gewahrt habe. Deine und die deiner Brüder. In Krisenzeiten darf die Herrschaft über Wessex nicht einem Kind überlassen werden.« Nun blickte der König von einem zum anderen, um sich zu vergewissern, daß er ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit hatte. »Falls es notwendig wird, müßt ihr die Nachfolge des anderen antreten«, sagte er. »Das müßt ihr mir schwören.«

Ethelbert richtete sich langsam auf, und Alfred sah, daß sein Gesichtsausdruck verändert war. Plötzlich verstand Alfred, daß Ethelbert Angst um sein Erbe hatte. Deshalb sträubte er sich so dagegen, Ethelbald die Herrschaft zu überlassen!

»Ich sehe, ich kann Euch nicht davon abbringen«, stellte Ethelbert fest.

»Nein, mein Sohn.«

Kurze Zeit später herrschte Stille. Alfred senkte die Augen und starrte auf die braune Wolle seiner Tunika. Ethelred legte ihm seine warme Hand beruhigend auf die Schulter, und er hörte, wie sein Vater sagte: »Alles wird gut werden, meine Söhne. Ich verspreche euch, alles wird gut.«

***

Der Rat der westsächsischen Adligen, der Witan, kam auf Wunsch des Königs am nächsten Morgen zusammen. Die Könige von Wessex waren niemals Autokraten gewesen und hatten sich immer vom Witan beraten lassen. Aber es gab dominante und weniger dominante Könige. Ethelwulf hatte sich von jeher bereitwillig dem Rat der Ealdormen, Thane und Bischöfe des westsächsischen Adels unterworfen.

Doch diesmal setzte Ethelwulf sich durch.

Dafür gab es zwei Gründe, erklärte Ethelred Alfred, nachdem die Zusammenkunft des Witan, der Witenagemot, sich aufgelöst hatte. Erstens wäre Ethelbald seinem Vater wahrscheinlich sowieso auf den Thron gefolgt. Athelstans Sohn war zu jung, um die Führung eines Landes zu übernehmen, das von den Dänen bedroht wurde, und würde es auch in den nächsten fünfzehn Jahren noch sein.

Zweitens hatten viele der anwesenden Thane in Aclea gekämpft. Obwohl offiziell Ethelwulf das westsächsische Fyrd zu diesem denkwürdigen Sieg gegen die Dänen geführt hatte, war der wahre Führer sein Sohn Ethelbald gewesen. Das wußten sie alle.

Deshalb hatte der westsächsische Witan dem Ersuchen Ethelwulfs stattgegeben, Ethelbald zum neuen König zu ernennen.

Es würde jedoch keine feierliche Krönung geben. Die Kirche hatte sich geweigert, einen neuen König zu salben, solange der alte noch lebte. Ethelbald hatte auch nicht darauf bestanden. Er hatte die Macht; alles andere konnte warten.

Als Ersatz für die Krönungszeremonie hatte Ethelwulf ein Festmahl für die Großen des Königreichs vorgeschlagen. »Wenn wir nicht Zusammenhalten, werden wir nach und nach alle den Dänen in die Hände fallen«, sagte er, um die Einwände seiner treuesten Anhänger zu entkräften. »Wollt Ihr das etwa?«

Das wollte niemand, und so fand das Festmahl zwei Wochen nach dem Witan in Winchester statt.

Am Abend des Festes teilten Ethelwulf und Ethelbald sich die Ehre, auf dem Thron zu sitzen; zwei Könige, der alte und der neue, wachten über den zum Bersten vollen Saal.

Alfred saß zwischen Judith und Ethelred und hörte zu, wie der Skop Die Schlacht von Deorham sang, ein altes Kriegslied seines Volkes.

»Wie ein großer Silberadler fällt Ceawlin über seine Feinde her«, sang der Harfenspieler, und Alfred blickte schnell zu seinem ältesten Bruder. G'eawlin, dachte er, muß so ausgesehen haben wie Ethelbald.

Dann sah er seine eigenen kindlich schmächtigen Arme und Beine an. Er würde nie aussehen wie Ethelbald. Man hatte ihm oft genug gesagt, er ähnele seiner Mutter.

Auf einmal sah er, daß Ethelbald ihm zunickte. Alfred sprang auf und begab sich zum Thron. Er hatte bisher mit diesem Fremden, der sein Bruder war, nicht mehr als einen einfachen Gruß gewechselt.

»Würdest du gern den Metkelch im Saal umhertragen, mein Junge?« fragte Ethelbald mit seiner tiefen Stimme.

Alfred starrte in die Augen des Bruders empor. Sie waren nicht blau und auch nicht grün, dachte er, sondern aus einem Mischmasch. Er zögerte. Ethelbald tat ihm zwar große Ehre, aber Alfred befürchtete, es könnte Verrat an seinem Vater sein, Ethelbald diesen Dienst zu erweisen.

Sein Vater sagte mit freundlicher Stimme: »Tu, was dein Bruder dir gebietet, mein Sohn.« Alfred sah, daß Ethelwulf ihn anlächelte. Dann nahm er den goldenen Metkelch von Ethelbald in Empfang. Mit feierlichem Gesicht trug er ihn elegant zu dem Mann zur Linken Ethelbalds, bemüht, nichts zu verschütten. Dann ging Alfred langsam von Than zu Than.

Alfred hatte seine Aufgabe fast erledigt, als ihm plötzlich übel wurde. Er hätte das gewürzte Fleisch nicht essen sollen, dachte er besorgt. Er wußte, daß er es nicht durfte, aber es hatte so lecker ausgesehen…

Vielleicht verschwand die Übelkeit ja, wenn er sie einfach ignorierte.

Er brachte Ethelbald den Kelch zurück und bekam dafür ein kurzes, herzliches Lächeln aus den blaugrünen Augen. Er zwang sich zurückzulächeln und kehrte beherrscht auf seinen Platz auf der Bank zurück. Fünf Minuten später wandte er sich an den Bruder, den er liebte. »Ethelred«, sagte er leise. »Ich fühle mich nicht wohl. Ich glaube, es ist besser, wenn ich in den Prinzensaal gehe.«

Ethelred sah ihn prüfend an und sagte sofort: »Ich gehe mit dir.«

Alfred nickte und sah, wie sein Bruder dem Vater etwas ins Ohr flüsterte. Ethelwulf blickte Alfred durchdringend an und nickte dann Ethelred zu. Alfreds empfindlicher Magen war in der Familie bekannt.

Er übergab sich auf dem Hof und dann noch einmal, als sie schon im Saal waren. Er fühlte sich schwach und elend und schrecklich unzulänglich. Niemand sonst wurde von gewürzten Speisen krank. Nur er.

Er legte sich auf eine der Bänke im Saal und schloß die Augen. Er schwitzte, obwohl ihm sehr kalt war. »Geht es dir gut?« fragte Ethelred.

»Ja.« Er rang sich ein Grinsen ab. »Das wird schon wieder, Ethelred. Du kannst jetzt zurück zum Bankett gehen.« Er fing an, mit den Zähnen zu klappern.

»Du frierst ja«, sagte Ethelred und holte noch eine Decke. Nachdem er all seine Wolldecken über Alfred gelegt hatte, fragte er noch einmal: »Bist du sicher, daß du klarkommst?«

»Ganz sicher«, sagte Alfred.

»Vor der Tür steht ein Diener. Wenn du mich brauchst, schick ihn in den großen Saal.«

»In Ordnung.«

Als Ethelred gegangen war, öffnete Alfred die Augen, lag still und sah ins Feuer. Der große Holzklotz schwelte unter einem Aschehaufen. Alle Saaltüren waren fest verschlossen. Es war ganz still.

Ethelred war niemals krank, dachte Alfred. Auch Ethelbert nicht. Und Ethelbald… Alfred sah seinen ältesten Bruder ganz deutlich vor sich. Er ging jede Wette ein, daß Ethelbald noch nie im Leben krank gewesen war.

Wie wäre es, fragte er sich, wenn ich Ethelbald wäre? So groß wie ein Baum und so stark wie ein Ochse. Ein Krieger, der allen Ehrfurcht einflößt. Niemals Zweifel zu haben oder sich zu fürchten. Ethelbald sah nicht so aus, als wüßte er, was das Wort Furcht bedeutete.

Alfred hatte Angst. Er hatte Angst vor Krankheit. Er hatte Angst, schwach zu sein. Er hatte Angst, er würde niemals so stark wie seine Brüder.

In ihm stieg wieder die Übelkeit hoch. Er stand auf und wankte zur Tür und nach draußen in die Dunkelheit, wo die Luft kalt war. Am besten wehrte man sich nicht gegen die Übelkeit, sondern wurde alles los, was dem Magen nicht bekam.

Er hatte einen ekligen Geschmack im Mund und weiche Knie und fror, als er schließlich zurück in den Saal kroch und Zuflucht unter den Decken suchte.

Er wollte seine Mütter. Osburgh war seit drei Jahren tot, und meist war sie nur noch eine verschwommene Erinnerung. Doch in Situationen wie dieser erinnerte er sich deutlich an ihre Hand auf seiner Stirn und an ihre sanfte Stimme. Tränen schossen ihm in die Augen, aber er biß die Zähne zusammen und hielt sie zurück.

Er war doch kein Baby. Er war schließlich acht Jahre alt. Er würde zum Heiligen Wilfred beten, ihn so tapfer und stark wie seine Brüder zu machen. Sein Magen zog sich zusammen, und er schloß die Augen, rollte sich zusammen und fing an zu beten.

Kapitel 3

Zwei Tage nach dem Festmahl verließen Alfred, sein Vater, Judith und zwei seiner Brüder Winchester, um nach Kent zu reiten, wo Ethelwulf die Herrschaft wieder aufnahm, die er jahrelang unter seinem eigenen Vater innegehabt hatte. Die folgenden Monate vergingen zwar friedlich, aber die Nachrichten aus Frankreich waren beunruhigend. Die Städte und Klöster an der Seine und an der Loire wurden von den Skandinaviern niedergebrannt und geplündert, und Judiths Vater, Karl der Kahle, war anscheinend nicht in der Lage, dem Wüten der Heiden Einhalt zu gebieten.

In diesem Winter beschäftigte Judith sich damit, Alfred das Lesen beizubringen. Die fränkische Prinzessin war entsetzt darüber gewesen, wie schlecht es in Wessex um die Bildung stand, und die brennenden Klöster in Frankreich spornten sie nur noch mehr an, den Segen ihrer eigenen erstklassigen Erziehung weiterzugeben so gut sie konnte. Bei Alfred entdeckte sie einen Wissensdurst, von dem kein Familienmitglied etwas gewußt hatte, und die beiden jungen Leute verbrachten viele lange Winternachmittage Seite an Seite über einem Buch.

Der Frühling kam, und an den Küsten von Sussex und Kent blieb es ruhig. Keine Langschiffe mit schrecklichen, geschnitzten Kielen und noch schrecklicherer Fracht, den Wikingerkriegern, tauchten aus dem Nebel über dem Kanal auf, um den Frieden der Freien, der Thane oder des alten Königs zu stören.

An der Küste im Westen von Wessex war es nicht so friedlich. Im Juni kamen skandinavische Plünderer aus Irland den Bristol-Kanal hinauf und raubten und brandschatzten. Aber Ethelbald hielt sich auf seinem Landgut in Wedmore auf und rief sofort das Fyrd von Somersetshire zusammen, um die Plünderer zu vertreiben. Sie segelten zurück übers Meer nach Dublin und wurden in diesem Jahr nicht mehr gesehen.

Statt dessen konzentrierten die Dänen ihre Angriffe auf Frankreich. Judiths Vater, vom Großteil seines Adels im Stich gelassen, mußte hilflos zusehen, wie die Wikinger seine Stadt Paris niederbrannten. Von all den prachtvollen Kirchen an der Seine standen am Ende des Sommers nur noch vier.

Der Winter kehrte wieder ein, die Zeit der Sicherheit in Wessex, wenn die Wikinger nach Hause zurückkehrten, auf ihre eigenen Ländereien und an den häuslichen Herd. Als der Dezember kam, begann Alfred wieder damit, seine Nachmittage mit Judith über den Büchern zu verbringen.

Ethelred verstand ihn nicht.

»In Judiths Gegenwart fühle ich mich so dumm«, gestand Alfred, als sein Bruder Überraschung darüber äußerte, daß Alfred wieder einmal nicht mit zur Jagd kommen wollte. »Wußtest du, daß sie Latein und Französisch lesen kann, und daß sie mir beibringt, Sächsisch zu lesen?«

»Du bist nicht dumm.« Ethelred blickte wütend drein. »Ich weiß noch, als Mutter dem ersten Kind, das lesen konnte, ein Buch versprochen hat, und du, bei weitem der Jüngste, hast es gewonnen!«

»Ich habe aber nicht Lesen gelernt.« Die Farbe auf Alfreds Wangen kam nicht von der Wärme des Feuers. »Ich habe das Buch mit zu einem Mönch im Münster genommen und ihn dazu gebracht, es mir an einem Nachmittag ein Dutzendmal vorzulesen. Ich habe mir die Worte gemerkt und wann man umblättern muß.« Er warf Ethelred schnell einen goldenen Blick zu. »Dann habe ich das Buch mit zu Mutter genommen und es auswendig aufgesagt. Sie dachte, ich hätte es gelesen, aber das war nicht der Fall.«

Ethelred grinste. »Du kleiner Teufel.«

»Judith hätte das niemals getan«, sagte Alfred. »Judith hätte Lesen gelernt.«

»Judith ist ein Mädchen. Mädchen haben nicht so viele andere Dinge im Kopf wie Jungs«, antwortete Ethelred leichthin.

»Judiths Vater hat eine Palastschule, Ethelred.« Alfred und sein Bruder standen zusammen vor dem Kamin im Königssaal von Eastdean, während die Thane des Vaters ihre Ausrüstung für einen Jagdausflug zusammensuchten. »Judith ist schon in die Schule gekommen, als sie fünf war«, sagte Alfred. »Sie sagt, in Frankreich müssen alle Kinder im Schloß die Schule besuchen und Lesen und Schreiben lernen.« Sein kleines Gesicht sah entschlossen aus. »Wir sollten in Wessex auch eine Palastschule haben.«

Aber Ethelred stimmte ihm nicht zu. »Es reicht, wenn der König seinen Namen schreiben kann, Alfred, damit er die königlichen Urkunden unterzeichnen kann. Und jeder Mann sollte das Latein aus der Messe kennen. Aber ich glaube nicht, daß es nötig ist, alle Kinder des königlichen Hofs zu Schriftgelehrten zu machen.«

»Judith sagt, das ist der einzige Weg, etwas zu lernen.«

»Judith sagt‹! Du klingst langsam wie Judiths Echo, Alfred.« Ethelreds braune Augen funkelten ärgerlich. »Kommst du jetzt mit auf die Jagd oder nicht?«

Alfred sah zu den Männern hinüber, die mit dem Zusammensuchen ihrer Ausrüstung beschäftigt waren. Die Hunde des königlichen Hofes rannten im großen Saal umher und beschnüffelten den Binsenboden, ganz aufgeregt, weil es bald nach draußen ging. Einer von ihnen kam herüber und stupste mit dem Kopf Alfreds Hand an. Er sah vom Hund zu seinem Bruder und grinste. »Ich komme mit.«

»Braver Junge«, sagte Ethelred und zerzauste Alfreds helles Haar.

***

Anfang Januar wurde Ethelwulf krank. Zuerst schien es nichts Ernstes zu sein, nur eine fieberhafte Erkältung, von der er sich bald erholen würde, wenn er das Bett hütete. Dann aber bekam er Husten und verlor an Gewicht. In weniger als einer Woche war klar, daß die Krankheit wahrscheinlich tödlich enden würde.

Der Bischof von Winchester, Ethelwulfs alter Freund Swithun, kam und nahm ihm die Beichte ab. Auch seine drei jüngsten Söhne fanden sich an seinem Sterbebett ein und versprachen in Bischof Swithuns Gegenwart noch einmal, sich gegenseitig zu unterstützen und für das Wohl von Wessex zusammenzuhalten.

Ethelbald kam nicht; man hatte auch nicht nach ihm geschickt.

Ethelwulf starb an einem stürmischen, regnerischen Januartag in den frühen Morgenstunden. Sobald der Regen etwas nachgelassen hatte, wurde der Sarg auf einen Wagen geladen. Vor und hinter dem in Gobelins gehüllten Sarg ritt eine Phalanx von Thanen aus Ethelwulfs Leibgarde. Dahinter folgte die Prozession der Trauernden: Judith, Ethelbert und seine Frau, Ethelred und Alfred. Die Familie des Königs eskortierte seine Leiche nach Winchester, wo er hatte begraben werden wollen.

Alfred ritt neben Ethelred. Die Pferde trotteten unbeirrt vorwärts, und wie die übrige Trauergesellschaft zog er seinen Umhang mit der Kapuze fester um sich. Um nach Winchester zu gelangen, mußten sie durch den Wald, einen der größten Wälder Englands, aber auch die Bäume boten den Reitern keinen Schutz vor dem peitschenden Regen.

Sein Vater war tot. Er würde Ethelwulf und sein warmes, liebevolles Lächeln niemals Wiedersehen und nie wieder hören, wie er ihn ein Geschenk Gottes nannte…

Alfreds Tränen vermischten sich mit dem Regen auf seinen Wangen. Er hatte Kopfschmerzen, und sein Magen spielte verrückt.

Er sah, wie Judith vor ihm sich die Kapuze enger um den Kopf zog.

Was würde mit Judith geschehen, jetzt wo Vater tot war? Er hatte gehört, wie sich Ethelbert und Ethelred in der Nacht, als Vater starb, über sie unterhalten hatten. Sie hatten gesagt, Judith müsse nach dem Tod ihres Ehemannes zurück nach Frankreich.

Er wollte nicht, daß Judith nach Frankreich zurückging.

Er wollte nicht, daß sein Vater tot war.

Alfred unterdrückte ein Schluchzen. Er würde nicht weinen.

Schließlich war er acht Jahre alt, fast ein Mann. Er würde den Schmerz ertragen wie ein Erwachsener. Tapfer, wie Ethelred.

Er wünschte nur, sein Kopf würde nicht so weh tun.

***

Ethelred nahm die Kälte und die Nässe mit stoischem Schweigen hin, und wie Alfred dachte er über die Zukunft nach.

Nach dem Tod des gütigen Ethelwulf würde sich in Wessex wenig ändern. Man würde Ethelbald in aller Form krönen, und Ethelbert würde zum Secondarius ernannt werden und an Ethelwulfs Stelle die Regierung Kents übernehmen.

Judith würde man zurück zu ihrem Vater nach Frankreich schicken. Karl der Kahle würde sie zweifellos noch vor Jahresende wieder verheiraten, und damit irgendeinen neuen dynastischen oder finanziellen Plan verfolgen. Ethelred, der ein weiches Herz hatte, empfand plötzlich Mitleid mit dem jungen Mädchen, der ehemaligen Ehefrau seines Vaters. Armes Ding. Doch für sie war jetzt kein Platz mehr in Wessex.

Als sie durch die Tore von Winchester ritten, hörte es plötzlich auf zu regnen. Ethelred wandte sich Alfred zu, der schon seit einiger Zeit verstummt war, um ihn aufzumuntern. Als er das Gesicht des Kindes sah, hielt er inne. »Was ist los?« fragte er scharf.

»Ethelred…« Alfred, dessen Teint sogar im Winter immer leicht golden war, sah im grauen Licht sehr blaß aus. »Mein Kopf tut weh«, sagte er.

Ethelred machte ein besorgtes Gesicht, beugte sich herüber und legte die Hand auf die Stirn des Bruders. Sie war kalt, nicht heiß. »Wo tut es weh?« fragte er.

»Hier.« Er deutete auf seine Stirn.

»Du bist wahrscheinlich nur müde«, tröstete Ethelred ihn. »Das war eine schwere Reise für dich. Du wirst dich wieder besser fühlen, wenn du im Warmen bist und etwas gegessen hast.«

Alfred lächelte ihn vage an, aber als er neben ihm zum Prinzensaal ging, bemerkte Ethelred, daß Alfred seinen Kopf ganz still hielt. Ethelred schickte ihn ins Bett, in sein privates Schlafgemach, wo es ruhig war, und riet ihm, sich auszuruhen.

Eine Stunde später hatte Alfred unerträgliche Schmerzen. Ethelred saß an seinem Bett, hielt ihm die Hand und betete für seine Genesung. »Es ist wie ein Hammer, der schlägt und schlägt und schlägt…« flüsterte das Kind. Alfred starrte seinen Bruder und Judith an, die neben Ethelreds Stuhl stand. »Muß ich sterben?« Seine Augen waren ganz dunkel; darunter zeigten sich Schatten.

»Natürlich mußt du nicht sterben!« Es war Judith, die antwortete. Sie sprach Sächsisch und klang entsetzt. Alfreds müde, schmerzerfüllte Augen wanderten zu Ethelred.

»Nein, Alfred«, sagte er und bemühte sich, sachlich und ruhig zu klingen. »Du mußt nicht sterben.«

»Aber wann hört das endlich auf?«

»Ich weiß nicht. Bald.« Gott, es mußte einfach bald aufhören. »Hier«, sagte Ethelred, nahm von Judith einen kalten Lappen in Empfang und legte ihn auf Alfreds Stirn. »Das wird dir helfen.«

Eine Stunde später verschwanden die Kopfschmerzen fast wie durch ein Wunder. In der einen Minute litt Alfred noch, in der nächsten sah er Ethelred benommen und verwundert an und sagte: »Es ist weg.«

»Weg?«

»Ja. Kein Hämmern mehr. Es ist… weg.«

»Gott sei Lob und Dank«, sagte Ethelred inbrünstig.

»Ja«, sagte Alfred wieder. Er hob den Kopf vom Kissen, als wollte er ausprobieren, ob er noch schmerzte, und legte ihn dann vorsichtig wieder zurück. Sein goldenes Haar breitete sich aus wie ein Heiligenschein.