Wilhelm Hauff

 

Der Mann im Mond

oder

Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme

 

Impressum



Covergestaltung:       Irene Repp

 

Digitalisierung:       Gunter Pirntke

 

BROKATBOOK Verlag Gunter Pirntke

 


 

2016 andersseitig.de

ISBN: 9783955019716

 




andersseitig Verlag

Dresden

www.andersseitig.de


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Inhalt

Impressum

Erster Teil

Der Ball

Ida

Schöne Augen

Der Fremde

Die Kirche

Das Souper

Das Urteil der Welt

Der Kotillon

Die Beichte

Das Dejeuner

Der Brief

Operationsplan

Die Mondwirtin

Der polnische Gardist

Der Hofrat auf der Lauer

Der selige Graf

Gute Nachricht

Der lange Tag

Der Tee

Das Ständchen

Die Freilinger

Feindliche Minen

Geheime Liebe

Emils Kummer

Der selige Berner

Entdeckung

Zweiter Teil

Die Heilung

Neue Entdeckung

Das Tête-à-tête

Das Unkraut im Weizen

Das Unkraut wächst

Trübe Augen

Die Gräfin agiert

Eifersucht

Der neue Nachbar

Trau – schau – wem?

Der Gram der Liebe

Feine Nasen

Der Herr Inkognito

Emil auf der Folter

Der Rittmeister

Unschuld und Mut

Noch einmal zieht er vor des Liebchens Haus

Das Duell

Fingerzeig des Schicksals

Licht in der Finsternis

Reue und Liebe

Versöhnte Liebe

Die Freiwerber

Fortsetzung der Freier

Das Soirée

Die Braut

Präliminarien

Zurüstungen

Hochzeit

Der Schmaus

Schluß

Nachschrift

Kontrovers-Predigt über H. Clauren und Den Mann im Monde

I

II

 

Erster Teil

Der Ball

 

Über Freilingen lag eine kalte, stürmische Novembernacht; der Wind rumorte durch die Straßen, als seie er allein hier Herr und Meister, und eine löbliche Polizeiinspektion habe nichts über den Straßenlärm zu sagen. Dicke Tropfen schlugen an die Jalousien und mahnten die Freilinger, hinter den warmen Ofen sich zu setzen, während des Höllenwetters, das draußen umzog. Nichtsdestoweniger war es sehr lebhaft auf den Straßen; Wagen, von allen Ecken und Enden der Stadt rollten dem Marktplatz zu, auf welchem das Museum, von oben bis unten erleuchtet, sich ausdehnte.

Es war Ball dort, als am Namensfest des Königs, das die Freilinger, wie sie sagten, aus purer Gewissenhaftigkeit, nie ungefeiert vorbeiließen. Morgens waren die Milizen ausgerückt, hatten prächtige Kirchenparade gehalten, und kümmerten sich in ihrem Patriotismus wenig darum, daß die Dragoner, welche als Garnison hier lagen, sie laut genug bekrittelten. Mittags war herrliches Diner gewesen, an welchem jedoch nur die Herren Anteil genommen und so lange getrunken und getollt hatten, daß sie kaum mehr mit dem Umkleiden zum Ball fertig geworden waren.

Auf Schlag sieben Uhr aber war der Ball bestellt, dem die Freilinger Schönen und Nicht-Schönen schon seit sechs Wochen entgegengeseufzt hatten. Schön konnte er diesmal werden, dieser Ball; hatte ihn doch Hofrat Berner arrangiert und das mußte man ihm lassen, so viele Eigenheiten er sonst auch haben mochte, einen guten Ball zu veranstalten, verstand er aus dem Fundament.

Die Wagen hatten nach und nach alle ihre köstlichen Waren entladen; die Damen hatten sich aus den neidischen Hüllen der Pelzmäntel und Shawls herausgeschält und saßen jetzt in langen Reihen, alle in unchristlichem Wichs, an den Wänden hinauf. Es war der erste Ball in dieser Saison. Der Landadel hatte sich in die Stadt gezogen; Kranke und Gesunde waren aus den Bädern zurückgekehrt, es ließ sich also erwarten, daß das Neueste, was man überall an Haarputz und Kleidern bemerkt und in feinem aufmerksamem Herzen bewahrt hatte, an diesem Abend zur Schau gestellt werden würde. Daher füllte die erste halbe Stunde eine Musterung der Coiffüren und Girlanden, und das Bebbern und Wispern der rastlos gehenden Mäulchen schnurrte betäubend durch den Saal. Endlich aber hatte man sich satt geärgert und bewundert, und fragt überall, warum der Hofrat Berner das Zeichen zum Anfang noch nicht geben wolle.

Das hatte aber seine ganz eigenen Gründe; man sah ihm wohl die Unruhe an, aber niemand wußte, warum er, ganz gegen seine Gewohnheit, unruhig hin- und herlaufe, bald hinaus auf die Treppe, bald herein ans Fenster renne; sonst war er Punkt fünf Uhr mit seinem Arrangement fertig gewesen und hatte dann ruhig und besonnen den Ball eröffnet, aber heute schien ein sonderbarer Zappel das freundliche Männchen überfallen zu haben.

Nur er wußte, warum alles warten mußte; keinem Menschen, soviel man ihn auch mit Schmeichelwörtchen und schönen Redensarten bombardierte, vertraute er ein Sterbenswörtchen davon; er lächelte nur still und geheimnisvoll vor sich hin und ließ nur hie und da ein: »Werdet schon sehen« – »Man kann nicht wissen, was kommt« fallen.

Wir wissen es übrigens und können reinen Wein darüber einschenken: Präsidents Ida war vor wenigen Stunden aus der Pension zurückgekommen; er, der alte Hausfreund war zufällig dort, als sie ankam, er hatte nicht eher geruht, bis sie versprochen hatte, das ganze Haus in Alarm zu setzen, das Blondenkleid, in welchem sie bei Hofe war präsentiert worden, ausbiegeln zu lassen, und auf den Ball zu kommen. Wie spitzte er sich auf die langen Gesichter der Damen, auf die freundlichen Blicke der Herren, wenn er die wunderschöne Dame in den Saal führen würde; denn kennen konnte sie im ersten Augenblick niemand.

Wo hatte nur das Mädchen die Zeit hergenommen, so recht eigentlich bildhübsch zu werden? Als sie vor drei Jahren abreiste, wie besorglich schaute da der gute Hofrat dem Wagen nach; er hatte sie auf dem Arm gehabt, als sie kaum geboren war; bis zu ihrem vierzehnten Jahre hatte er sie alle Tage gesehen, hatte sie früher auf dem Knie reiten lassen, hatte sie nachher, trotz dem Schmollen der Präsidentin, zu allen tollen Streichen angeführt; er liebte sie wie sein eigenes Kind, aber er mußte sich vor drei Jahren doch gestehen, daß ihm angst und bange sei, was aus dem wilden Ding werden solle, das man da in die Residenz führe, um sie menschlich zu machen.

Denn wollte man ein Mädchen sehen, das zur Jungfrau und fürs Haus völlig verdorben schien, so war es Präsidents Wildfang; einen solchen Unband traf man auf zwanzig Meilen nicht.

Kein Graben war ihr zu breit, kein Baum zu hoch, kein Zaun zu spitzig; sie sprang, sie klimmte, sie schleuderte trotz dem wildesten Jungen; hatte sie doch selbst einmal heimlich ihren Damensattel auf den wilden Renner ihres Bruders, des Lieutenants, gebunden und war durch die Stadt gejagt, als sollte sie Feuerreiten! Dabei war sie mager und unscheinbar, scheute vor jeder weiblichen Arbeit, und der einzige Trost der gnädigen Mama war, daß sie Französisch plappere wie ein Stärchen, und daß, trotz ihrem Umherrennen in der Märzsonne, ihr Teint dennoch trefflich erhalten sei.

Aber jetzt –!

Nein! was war mit diesem Mädchen in den kurzen drei Jahren eine Veränderung vorgegangen! Wenigstens um einen Kopf war sie gewachsen, alles an ihr hatte eine Rundung, eine zarte Fülle bekommen, die man sonst nicht für möglich gehalten hätte; das Haar, das sonst, wie oft man es auch kämmte und an den Kopf hinsalbte, der wilden Hummel in unordentlichen Strängen und Locken um den Kopf flog, war jetzt der herrlichste Kopfputz, den man sich denken konnte. Die Augen waren glänzender, und doch fuhren sie nicht, wie ehemals, wie ein Feuerrädchen umher, alles anzuzünden drohend. Die Wangen bedeckte ein feines Rot, das bei jedem Atemzug in alle Schattierungen von zartem Rosa bis ins Purpurrote wechselte; das liebe Gesichtchen war oval und hatte eine Würde bekommen, über die der staunende Hofrat lächeln mußte, sosehr er sie bewunderte.

Dieses Götterkind, diesen Ausbund von Liebenswürdigkeit erwartete der Hofrat; dem guten alten Junggesellen pochte das Herz beinahe hörbar, wenn er an sein Gold-Idchen dachte. Wie mußte sie erst im Ballkleide aussehen, wenn sie ihn in dem Reiseüberröckchen und in der Haube à la jolie femme beinahe närrisch machte; wie mußte sie erst strahlen, wenn sie, wie sie ihm versprochen, die Haare nach dem aller-nagel-funkel-neuesten Geschmack, die schöne Stirne und den schlanken Hals, die wie aus Wachs geformten Partien, welche die handbreiten Brüßler Kanten umziehen werden, mit dem Amethystschmuck schmückte, den sie von ihrer Pate, der Fürstin Romanow geschenkt bekommen hatte. Ihm, ihm hatte sie mit all jener Herzlichkeit, mit der sie früher versprochen, einen Spaziergang mit ihm zu machen, oder ihn, den Einsamen, zu besuchen, wenn er krank war, jetzt, als Königin des Festes die erste Polonaise zugesagt. –

Immer verdrießlicher wurden die Damen, immer ungestümer mahnten die Herren den alten Maître de plaisir, schon seit einer halben Stunde stimmten die Musikanten, daß man vor dem Quieken der Klarinette, vor dem Brummen der Bässe sein eigenes Wort nicht hörte – er gab nicht nach. Da rasselte ein Wagen über den Marktplatz her und hielt vor dem Flügeltor des Museums.

»Das sind sie«, murmelte der Hofrat und stürzte zum Saal hinaus; bald darauf öffneten sich die Flügeltüren und der kleine freundliche Alte schritt am Arm einer jungen Dame in den Saal.

 

Ida

Aller Augen waffneten sich mit Lorgnetten und Brillen; wer konnte das wunderschöne Mädchen sein, so hoch und schlank, mit dem königlichen Anstand, mit dem siegenden Blick, mit der kräftigen Frische des jugendlichen Körpers? Sie nickte so bekannt nach allen Seiten, als käme sie alle Tage auf Freilinger Bälle und Assembleen; und doch kannte sie niemand. Doch ja! da kommt ja auch der alte Präsident, wahrhaftig! es kann niemand anders sein, als Präsidents Ida.

Aber wie herrlich war dieses Knöspchen aufgegangen, »Welcher Anstand!« bemerkten die Herren, »Welche Figur, welcher Nacken, wahrhaftig! man möchte ein Mückchen oder noch etwas Wenigeres sein, nur um darauf spazierenzugehen.« »Welcher Schmuck, welche Spitzen, welche Stickerei an dem Kleid«, bemerkten die Damen und wünschten sich weit weg, denn wie sollten sie ihre Fähnchen, die sie doch ihr gutes Geld gekostet, ihre Blumen, die sie selbst gemacht und für wundervoll gehalten hatten, neben diesen italienischen Rosen und Astern, die eben erst aus den Gärten der Hesperiden gepflückt zu sein schienen, neben diesen Kanten sehen lassen, von welchen die Elle vielleicht mehr wert war, als eines ihrer Ballkleider nebst Schneiderskonto und Façon! Nein, Berner, der arge Berner hätte ihnen keinen schlimmern Streich spielen können, als diese Ida gerade heute einzuführen. Aber man mußte sich Gewalt antun; der Präsident machte das erste Haus in der Stadt, war der gewaltige Herrscher der Provinz, eine glänzende Aussicht auf Thés dansants, Soupers, Hausbälle und dergleichen eröffnete sich vor den schnell berechnenden Blicken der Damen; wehe der, die dann nicht mit Ida bekannt war, oder sie sogar kalt empfangen hatte. Man wußte, daß dies die Frau Mama Präsidentin nie verzeihen würde; man nahm sich zusammen, und in kurzem war die Gefeierte von allen jungen und alten Damen umringt, welche Glück wünschten, alte Bekanntschaft erneuerten und nebenbei dies und jenes von dem hoffähigen Anzug spickten. Alle redeten zumal, keine wurde verstanden, und die Herren fluchten und schimpften ein Donnerwetter über das andere, daß sich eine so dichte Wolke vor dieser kaum aufgegangenen Sonne gedrängt und sie ihrem Anblick entzogen habe.

Jetzt zog Hofrat Berner das weiße Sacktuch, schwenkte es in der Luft und gab dem Kapellmeister und Stabstrompeter der Dragoner das Zeichen, und eine herrliche Polonaise begann. Im Nu stoben die Glückwünschenden auseinander und machten Raum für die Assessoren, Lieutenants, Sekretärs, jungen Kaufherrn, Jagdjunkern, die glücklicherweise noch nicht versagt waren und sich jetzt um einen Walzer, Ekossaise oder gar Kotillon mit Ida die Hälse brechen wollten. Sie aber lachte, daß die Schneeperlen der Zähne durch die Purpurlippen heraussahen, behauptete, sich immer nur auf eine Tour zu versagen, hüpfte dem Hofrat entgegen und reichte ihm die kleine Hand.

Selig, gerührt, begeistert stellte er sich mit seinem holden Engelskind an die Spitze der Kolonne und marschierte unter den mutigen, lockenden Tönen der Polonaise, stolzen Schrittes gegen das wohlunterhaltene feindliche Tirailleurfeuer, das von vorn, von den Flanken, überallher aus den Mündungen der Lorgnetten auf seine Tänzerin sprühte. Aber diese, war sie kurzsichtig, hatte sie statt des Korsettchens einen Kürassierpanzer vom feinsten Stahl mit der Musketenprobe um das Herzchen, oder war sie das Feuer so gewohnt, wie die alte Garde, die, Gewehr im Arm, im Paradeschritt durch das Kartätschenfeuer marschierte? ich weiß nicht, aber sie schien gar nicht auf die schrecklichen Ausbrüche der gebrochenen Herzen, auf die Knallseufzer der Verwundeten zu hören, das Plappermäulchen ging so ruhig fort, als ginge sie, drei Jahre jünger mit dem guten Hofrätchen im Wald spazieren.

Da kamen alle die Streiche, die der leichte Springinsfeld losgelassen, alle jene tausend Schwieten des kleinen Übermuts aufs Tapet; Lust und Lachen blitzte wie ehemals aus ihrem Auge, wenn sie sich erinnerte, wie sie einer Spanferkel Kindszeug angezogen und sie dem Hofrat als Fündling vor die Türe gelegt, wie sie dem Oberpfarrer die Waden voll Stecknadeln gesetzt, daß sie aussahen wie der Rücken eines Stachelschweins, alles ohne daß er es merkte, denn er trug falsche. Der Hofrat wollte seinen Ohren nicht trauen; es war ja dasselbe lustige, naive Ding wie früher und doch so wunderherrlich, so groß, mit so unendlich viel Anstand und Würde! Er hätte sie auf der Stelle am Kopf nehmen und recht abküssen mögen, wie früher, wenn sie einen rechten Ausbund von Schelmenstreich gemacht hatte.

Es ging über seine Begriffe! »Wie können Sie nur so hartherzig sein, Idchen!« sagte er, »und nicht einen Blick auf unsere jungen Herren werfen, die zerschmelzen wie Wachs am Feuer? Nicht einmal einen Blick für alle diese Exklamationen und Beteurungen, welche Sie doch gehört haben müssen?«

»Was gehen mich Ihre jungen Herren an«, plapperte sie mit der größten Ruhe fort, »die sind hier, wie überall unverschämt wie die Fleischmücken im Sommer; das könnte kein Pferd aushalten, wollte man darauf achten; sie pfeifen in der Residenz ebenso, das wird man gewohnt; so von Anfang macht es ein wenig eitel; wenn man aber sieht, wie sie dieser und jener dasselbe zuflüstern, vor der Ursel ebenso, wie vor der Bärbel sterben möchten, so weiß man schon, was solche schnackische Redensarten zu bedeuten haben.«

Die muß eine gute Schule durchgemacht haben, dachte der Hofrat; siebzehn Jahre alt und spricht so mir nichts, dir nichts von der Farbe, als wäre sie seit zwanzig Jahren in den Salons von Paris und London umhergefahren. Er ärgerte sich halb und halb über Mamsell Neunmalklug und Übergescheit, denn es waren just keine unebene junge Männer, die ihre Seufzer so hageldicke losgelassen hatten, und ihn, der in seiner Jugend wohl so zwanzig Amouren und Amürchen gehabt hatte, konnte nichts mehr ärgern, als ein fühlloses Herz.

Aber dieser Ärger konnte bei seinem Idchen nicht in ihm aufsteigen. Wenn er in ihr volles, glühendes Auge sah, wenn er den süßgewölbten Mund betrachtete, da dachte er: Nein, dir traue dieser und jener, aber ich nicht, weiß ich doch von früher her, wie du gerne Flausen machst, und dem guten ehrlichen Berner gerne ein X für ein U unterschiebst. Jetzt willst du dein Schach verdeckt spielen und mir irgendeinen blauen Dunst vorschwefeln und das Herzchen ist am Ende doch in der Residenz geblieben und Fräulein Stahlherz ist nur darum so spröde gegen die Freilinger Stadtkinder. Aber basta! der Hofrat Berner hat auch gelebt und geliebt und wettet seinen Kopf, dieses Auge weiß, was Liebe ist, diese frischen Purpurlippen haben schon geküßt, aber anders als nur solche Hofratsküsse!

Der gute Alte äußerte etwas von diesen Gedanken gegen Ida, sie aber sah ihm ganz ruhig ins Gesicht und versicherte lächelnd, gefallen habe ihr schon mancher, geliebt habe sie aber bis diese Stunde noch keinen Mann, als ihren Vater und ihn.

 

Schöne Augen

»Aber sagen Sie, Idchen«, fragte der Hofrat, als er sie wieder an ihren Platz geführt hatte, »ist das etwa ein Cousin oder dergleichen, der da mit Ihnen kam?«

»Ich kam mit Papa«, antwortete die Gefragte, »und sonst war niemand dabei. Wen meinen Sie denn?«

»Nun, der Bleiche dort kam ja doch wohl mit Ihnen, es kennt ihn niemand im Saal und mit Ihnen trat er herein, sonst müßte er ja, Sie wissen, daß das Museum geschlossene Gesellschaft ist, sonst müßte er ja eingeführt sein. Sehen Sie, der dort.« Er zeigte hin. An eine Säule gelehnt, stand unbeweglich mit übergeschlagenen Armen eine schlanke Gestalt. Noch konnte Ida das Gesicht nicht sehen, nur die glänzenden schwarzen Locken des Haares fielen ihr auf; sie wollte sich eben besinnen, wo sie schon solche gesehen habe, da wandte jener sich um und unwillkürlich schrak Ida zusammen; gespensterhafte Blässe lag auf diesem feinen, schönen Gesicht, geheimer Gram oder verschlossenes Kämpfen mit finsterem Leiden schien das muntere, jugendliche Leben aus diesen tiefen, im schönsten Ebenmaß geformten Zügen hinweggewischt zu haben, und ein gemischtes Gefühl drängte sich bei seinem Anblick auf, neugieriges Mitleid schien sich mit zweifelhafter Furcht streiten zu wollen.

Kaum hatte des Fremden glühendschwarzes Auge Ida getroffen, als sie ihren Blick abwandte. Überraschung und Verlegenheit machten sie stumm auf einige Augenblicke; von dem Diadem auf der schönen Stirne, über den Liliensamt der blühenden Wange, bis herab auf den jungfräulichen Alabasterbusen flog ein brennendes Rot, das der Hofrat nicht unbemerkt ließ. Er wollte sie eben mit dem pfiffigsten Gesicht nach der Ursache ihres Rotwerdens fragen, aber eine Unzahl Herren drängten sich zu, um sie um einen Tanz zu bitten; Vettern und Basen freuten sich, sie wiederzusehen und gafften das Wunderkind an. Der Hofrat aber, welchem daran lag, die Spur, die er aufgefunden zu haben meinte, zu verfolgen, machte seine Bewegungen wie ein geübter Feldherr; er fragte sie so laut als möglich, ob es ihr jetzt, wie sie gewünscht, gefällig sei, zu ihrem Herrn Vater zu gehen, der im dritten Zimmer sich zu einem Whistchen gesetzt habe? und Pfiffköpfchen verstand gleich, wo der gute Alte hinauswollte; sie beurlaubte sich also mit großer Hast von dem ungeheuren Kometenschweif, in welchem sie als Kern gesessen und ging mit Berner durch den Saal.

Und jetzt nahm sie Berner ins Gebet; zuerst setzte er die Daumenschrauben des Spottes an, dann untersuchte er die vermeintliche Herzenswunde seines Gold-Idchens mit der langen Sonde des väterlichen Ernstes, indem er ihr vorwarf, sehr unklug getan zu haben, ihre Residenzliebhaber mit nach Freilingen zu nehmen. Sie aber lachte dem Ratgeber, welcher meinte, seine Sache recht gut gemacht und sie ganz im Netz zu haben, ins Gesicht und witschte ihm aus.

»Sie geben sich vergebliche Mühe, Hofrätchen«, kicherte das lose Ding, »ganz vergebliche Mühe, ich habe diesen Menschen in meinem ganzen Leben, auf Ehre, noch nie gesprochen; doch gesehen«, setzte sie, ernster werdend, hinzu, »gesehen habe ich ihn, und deswegen kam ich auch vorhin etwas in Verlegenheit.«

»Was da! zwischen sehen und sehen ist ein großer Unterschied«, antwortete Berner mit einem völlig ungläubigen Kopfschütteln; »da müssen Sie ihm doch ein wenig gar scharf in die Augen gesehen haben?«

»So hören Sie mich doch, Sie böser Mann!« unterbrach ihn Ida, »wer wird denn auch gleich auf den Schein hin verdammen; ich sage noch einmal, ich weiß nicht, wer er ist, aber das innigste Mitleid habe ich mit ihm. Als wir gestern durch den Lanzinger Wald kamen, fuhren wir einer Equipage vor, die ganz langsam im Schritt hinging. Es war ein prachtvoller Landau mit einem großen Bock, worauf ein alter Diener in reicher Livree saß; am Wagen zogen vier Postpferde; das Dach war zurückgeschlagen, und es saß niemand darin, als ein großer Hund. Sie wissen wie man auf der Reise ist, man interessiert sich um die Mitreisenden, besonders wenn man glaubt, auf einerlei Station mit ihnen zu wohnen oder zu speisen. So dachte ich mir jetzt, die Reisenden, denen der Wagen gehört, seien vorausgegangen, und lassen ihn langsam nachfahren. Ich sah daher alle Augenblicke aus unserm Wagen, ob ich noch keine reisenden Engländerinnen oder Französinnen gewahr werden konnte, aber immer vergebens. Endlich, als wir um eine Waldecke bogen, sah ich auf einmal einen Mann, der unter einer Eiche saß und zu dem Wagen gehören mußte.«

»Und war es derselbe, der dort an der Säule steht?« fragte der Hofrat.

»Derselbe; er war auch ganz schwarz gekleidet wie jetzt, sein Hut lag neben ihm im Gras, seinen Kopf stützte er in die hohle Hand. Das Geräusch unseres Wagens, der jetzt, weil es bergauf ging, auch langsam fuhr, schien ihn aufzuschrecken; ohne aufzusehen, ging er mit gesenktem Haupt bis an unsere Wagentüre. Da richtete er sich auf, und Sie können sich meinen Schrecken denken, Hofrat, als ich das nämliche geisterbleiche Gesicht sah, das auch Ihnen aufgefallen ist. Er mußte heftig geweint haben, denn Tränen hingen in den langen schwarzen Wimpern und gaben dem glühendschwarzen, sinnigen Auge einen ganz eigenen Reiz!«

»So, so? einen ganz eigenen Reiz!« antwortete lächelnd der Hofrat, »wer hat denn meinem Mädchen erlaubt, über Männeraugen Betrachtungen anzustellen? Hat Sie das auch bei Madame La Truiaire in der Residenz gelernt?«

Das lustige Amorettenköpfchen, das sich da, es wußte nicht wie, verbebbert hatte, schlug die Augen nieder und sagte: »Legen Sie nicht alles so bös aus, Bernerchen, Sie verstanden ja doch sonst Ihre Ida nicht immer falsch.

Sehen Sie, was die Augen betrifft, da habe ich nun einmal meinen eigenen Geschmack. Schöne blaue oder schwarze Augen, mitunter auch recht glänzendbraune sehe ich an jedermann gern. Daher sind mir auch alle junge Herren so zuwider, weil sie selten schöne Augen haben; sie haben ihnen durch die Lorgnetten, Brillen und Gott weiß durch was sonst den schönsten Glanz benommen und stieren uns an wie gestochene Böcke; desto mehr freue ich mich, wenn ich einmal eine solche Ausnahme treffe. Eine ganz eigene Freude macht mir auch das Aufschlagen der Augen, das man unter Tausenden kaum einmal so recht anmutig, sinnig, und, wie man es gerne haben möchte, trifft. Beides sah ich nun an dem Fremden, darum hatte er mir auch so ge–«

Da hatte sich das schnelle Schnäbelchen schon wieder verplappert! der Hofrat horchte noch immer, aber Idchen blieb still, biß die Lippen zusammen und spielte mit dem Amethystkreuz am Kollier, das unter dem Tanzen sich zwischen den Schneehügeln hinabgeschoben hatte und ganz glühend heiß geworden war.

»Ei, ei!« warnte der Hofrat, »ich habe da in zwei Minuten Dinge gehört, wovor einem die Haut schaudern könnte; nimm dich um Gottes willen in acht, Kind, wenn du deine Augenbeobachtungen anstellst; ich weiß es aus meiner Jugend, daß in gewissen Augen Häkchen sitzen, die uns, wenn man allzu tief schaut, festhalten, daß an kein Entrinnen zu denken ist; hast du nie etwas von der Augensprache gehört?«

»Doch«, entgegnete der kleine Übermut, »ich glaube sie auch zur Not zu verstehen.« –

»Ist gar nicht vonnöten; man spricht sie zwar vom Rhein bis zum Mississippi, vom Don bis zum Ohio, lerne aber nie mehr, als etwas kauderwelsch parlieren; denn wer sich so gar geläufig ausdrückt und mit zwanzig zumal in dieser Sprache spricht, gilt nicht mit Unrecht für eine Erzgeneralkokette.«

»Nun für eine solche werden Sie mich doch nicht halten«, sagte Ida etwas empfindlich.

»Dazu kenne ich mein süßes Mädchen zu gut«, entgegnete der Hofrat traulich und drückte ihr das weiche Samthändchen. »Was aber den bleichen Patron dort drüben betrifft, so kann er über allerlei geweint haben; er kann zum Beispiel seine Mutter, seine Schwester, oder gar sein Mädchen verloren haben.«

»Meinen Sie?« antwortete Ida gedehnt und unmutig; »doch nein! da würde er ja nicht auf den Ball gehen«, setzte sie freudig hinzu; »da würde er zu Haus trauern und nicht die Freude aufsuchen.«

»Oder«, fuhr jener fort, »es gingen ihm vielleicht seine Wechsel aus und er hat im Augenblick kein Geld, um seine Reise weiter fortzusetzen.«

»Nicht doch«, fiel sie ein, »wie mögen Sie nur diesem interessanten Gesicht einen so gemeinen Kummer andichten. Sieht er nicht nobler aus, als alle unsere Assessoren, Lieutenants und so weiter zusammen, und er sollte mit vier Postpferden in einem herrlichen Landau fahren, und weinen, weil er kein Geld hat? Pfui!«

»Ei, wie sich der kleine Advokat vereifert und verdisputiert; das Mäulchen geht ja, als sollte es einen Prozeß vor den Assisen führen! Übrigens wollen wir bald sehen, wer der Patron ist; habe ich doch den Ball arrangiert und daher auch das Recht, Fremden, die sich eindrängen, auf den Zahn zu fühlen.«

»Nun ja, tun Sie das, liebes Hofrätchen; aber ja recht artig und delikat«, setzte das errötende Mädchen mit den süßesten Schmeichelworten hinzu: »wer so tiefen Kummer hat, wie jener zu haben scheint, muß unter Fremden wie unter Freunden zart behandelt werden!«

 

Der Fremde

Unterdessen hatten sich mehrere Herren an Berner gewendet, um zu erfahren, wer der Fremde sei; allen war es aufgefallen, wie er schon seit einer Stunde sich nicht vom Platz bewegte und an seine Säule gelehnt, so wenig Interesse an dem glänzenden Ball zu nehmen schien. Der Hofrat ging zu ihm hin und kehrte bald zurück; »Wer ist es, wie heißt er«, fragten zehn, zwanzig zumal, »was hat er gesprochen?«

»Nichts hat er gesprochen«, antwortete Berner, »sondern mir nur diese Karte gegeben.«

Die Karte ging jetzt von Hand zu Hand, es war aber nichts darauf zu sehen, als ein schön gestochenes Wappen und der Name Emil, Comte de Martiniz. »Ein Graf also?« Die Neugierde war nur halb gestillt, die Freilinger, denen die Erscheinung eines fremden Grafen auf ihren Bällen etwas Seltenes sein mochte, gingen kopfschüttelnd umher; sie hätten gar zu gerne gewußt, woher er komme, wohin er gehe, warum er nicht tanze? Man betrachtete das fremde Wundertier von allen Seiten; doch der Hofrat, der so viel Takt hatte, daß er in des Fremden Seele fühlte, wie peinlich eine so kleinliche Neugierde sein müsse, gab das Zeichen und die Galoppade, von zwanzig Trompeten vorgetragen, rauschte durch den Saal hin und rief zum Tanze.

Walzer um Walzer waren getanzt, noch immer stand die fremde, gebietende Gestalt unbeweglich an die Säule gelehnt. Es war, als hätte er sich nur in Schwarz und Weiß geteilt und kenne keine andere Farbe. Sein Haar, sein Auge war so dunkel als das feine, glänzende Tuch seines Kleides, das blendend bleiche Gesicht, wunderschöne Wäsche, welche durch ihre Weiße, durch ihre zierlichen Fältchen den Freilinger Damen schon von weitem Bewunderung einflößte, kontrastierte sonderbar mit jener dunklen Farbe; nur die feinen Lippen schmückte ein gesundes, freundliches Rot. Er schien ganz ohne Teilnahme in das bunte Gewühl hineinzustarren, aber dennoch begegnete nicht leicht einer diesem scharfen Blick, ohne das eigene Auge überrascht vor diesem furchtbaren Ernst, dieser sprühenden Glut niederzuschlagen.

Wie es aber zu gehen pflegt; die Damen fingen nachgerade an, nicht viel von dem Fremden zu halten, weil er nicht tanzte, die jungen Herren machten sich über ihn lustig und beide Teile hatten so viel an der neuen Erscheinung der wunderlieblichen Ida zu schauen, zu bekritteln, zu bewundern, daß man bald nicht mehr an jenen dachte. Nur Idas Blicke streiften öfter nach jener Säule hinüber; ein Blick zu ihm schien sie für das Geschwätz der Freilinger Stutzer, die ihr heute unendlich fade vorkamen, zu entschädigen. Doch betrachtete sie ihn immer nur von der Seite, denn wenn Auge auf Auge traf, so trieb es ihr unwiderstehlich die Glut ins Gesicht, und sie war froh, daß die Musik so laut war, denn sie meinte in solchen Momenten, man müsse ihr siedendes, glühendes Blut an ihr Herzchen pochen hören. Waren es die Tränen, die sie gestern in diesen dunklen Wimpern sah, war es der wehmütige Ernst auf seinem Gesicht, was sie so rührte, hatte der Hofrat recht mit den Häkchen, die in gewissen Augen sitzen und hatte sie zu tiefe Beobachtung angestellt und war geangelt worden und gef– nein! lächelte sie schelmisch vor sich hin, gefangen? da hat es keine Not; es ist ja nur das natürliche Mitleiden, was mich immer nach ihm hinsehen heißt!

Eilf Uhr war vorüber, es sollte noch eine Ekossaise vor dem Souper getanzt werden. Stürmisch drängten sich die Herren um das Wunderkind; aber Trotzköpfchen Ida blieb fest dabei, diesmal auszusetzen und ließ die Herren ablaufen. Der Hofrat setzte sich zu ihr und unwillkürlich waren sie wieder mitten im Gespräch über den Fremden.

»Ach, sehen Sie nur«, sagte Ida mit der himmlischen Gutmütigkeit ihres Engelköpfchens, »sehen Sie nur, ich meine, er wird zusehends immer blässer, wenn er nur nicht krank wird.« Der Hofrat fand ihre Bemerkung richtig, er zeigte ihr aber, wie dieser feste, heldenmäßige Körper nicht so leicht von einem kranken Unfall gestört werden könne; aber Ida wurde immer unruhiger, sie sah, wie Martiniz die Lippen zusammenpresse, als wolle er einen Schmerz verbeißen; der Ernst in seinem Gesicht wurde nach und nach zur Trauer, das Wehmütige, der tränenschwere Trübsinn in seinem Auge wurde immer unverkennbarer.

»O Gott, sehen Sie ihn nur an, guter Berner, ist mir doch, als sollte ich zu ihm gehen und fragen, ›was fehlt dir, daß du nicht fröhlich bist mit den Fröhlichen, wie gern wollte ich alles tun, dir zu helfen –‹«

Der Mensch denkt's, Gott lenkt's!!!

Auch der Hofrat wurde jetzt unruhig, denn mit einem Ruck hatte sich der bleiche Fremde aufgerafft, und stand nun in seiner ganzen Größe, in gebietender und doch graziöser Haltung da, aber sein Auge heftete sich furchtbar starrend nach der Saaltüre. Berner wollte eben aufstehen und zu ihm hin –

Da öffnete sich die Türe, ein alter, reichgekleideter Bedienter, derselbe, welchen Ida gestern gesehen, trat ein, ging auf den Fremden zu, und neigte sich schweigend vor ihm. Dieser riß eine Uhr heraus, warf einen Blick auf sie und einen zweiten voll Wehmut auf Ida herüber und verließ langsamen Schrittes den Saal.

Ehe noch der Hofrat seiner Nachbarin seine Vermutungen über diesen sonderbaren Abzug mitteilen konnte, war die Ekossaise zu Ende. Der Präsident kam und führte sein liebes, holdes, wunderherziges Töchterchen zur Tafel.

 

Die Kirche

Der alte Küster am Münster zu Freilingen saß in dieser Nacht, nach seiner Gewohnheit noch lange in seinem kleinen Stübchen; der Abendsegen war schon vor einer Stunde seiner Ehehälfte vorgelesen, er hatte sich jetzt hinter die alte Chronik gesetzt und las mit brummender Stimme halblaut vor sich hin, wie man den herrlichen, vierhundert Schuh hohen Münsterturm erbaut und wie solches viel Zeit und Geld gekostet habe. Eben wollte die Alte den weiß und blau gestreiften Umhang der zweischläfrigen Himmelbettlade auseinanderschlagen, um ihren Ehezärter zu ermahnen, sein gewohntes Lager zu suchen, als man stark an den Fensterladen des niedern Parterrestübchen pochte. »Macht auf, Meister Küster! seid so gut und macht auf!« rief eine tiefe aber bescheidene Stimme draußen. »Wird wohl ein Bote von einem Kranken sein«, näselte der Küster, »der die Sakramente noch will.« Er legte die Brille ins Chronikbuch, daß die Stelle nicht verblättere, denn er hatte von dem Kalk gelesen, den man mit Wein angemacht habe und hatte dabei unmutig an das Dünnbier gedacht, das seine Ursula ihm, einem Nachkommen dieser Weinmaurer, tagtäglich vorsetzte.

Draußen schob er die mächtigen Schlösser und Riegel der Haustüre auf, und herein trat ein kleiner ältlicher Mann, in reichbordiertem Bedientenrock. »Was soll's so spät?« fragte der Küster.

»Kamerad«, antwortete der Bediente, indem er den Küster aus dem kalten Hausgang in die wärmere Stube hineinzog, »Kamerad, wollt Ihr mir und noch jemand einen Liebesdienst erweisen?« Zugleich legte er einen blanken harten Taler auf den Tisch.

Der Küster wog den Taler in der Hand, ließ ihn wieder auf den Tisch fallen, daß es einen wohllautenden Klang gab, und sagte: »Wenn's nichts gegen Amt und Gewissen ist, warum nicht?«

»So nehmt Eure Schlüssel«, fuhr der andere fort, »und schließt die Münsterkirche auf.«

»Jetzt, in dieser Stunde?« rief der Alte mit Entsetzen; »jetzt in dieser stürmischen Nacht? geht nicht, Kamerad, so wahr ich – nein, es geht nicht, mich bringt kein Hund hinüber!«

»Beileibe«, rief die Küsterin aus dem Bette und riß den Umhang zurück, daß man das ganze Paradiesgärtlein ihres geblümten Bettes übersehen konnte, »führe uns nicht in Versuchung. Alter, laß dich nicht betören, wer weiß, was draußen lauert.«

»Hätte nicht geglaubt, daß Ihr, ein so stattlicher Mann unter dem Weiberregiment stündet«, sprach der alte Diener; »glaubt mir, es ist auch ein Gottesdienst, wenn Ihr mitgeht und bringt Euch guten Lohn.« Noch einmal wog der Küster den Taler auf der Fingerspitze und schien sich zu besinnen. »Es wird zwar gleich zwölf Uhr brummen und da ist es gar nicht geheuer drüben in der Kirche, denn ich weiß was ich weiß und habe gesehen was ich gesehen habe, aber weil Ihr sagt, es sei ein Gottesdienst, so kommt.« Indem hatte er schon die Laterne zurechtgemacht; er hing noch einen warmen Mantel um und ergriff die gewichtigen, wunderlich geformten Schlüssel.

»Ei du meine Güte! läßt er sich doch verblenden vom Mammon«, seufzte die Alte im Bette; der Küster aber trat zu ihr mit dem größten seiner Schlüssel, »Du schweigst, Ursel! der Herr da soll sehen, daß unsereiner nicht unterm Pantoffel steht«, brummte er und verließ mit dem Diener das Haus.

Die Nacht war grimmkalt, der Himmel jetzt ganz rein, nur einzelne dunkle Wölkchen tanzten im Wirbel um den Mond. Schweigend schritten die beiden durch die Nacht der Kirche zu; wenige Schritte, so standen sie am Portal des Münsters. Der Küster schrak zusammen, als dort aus dem Schatten eines Pfeilers eine hohe in einem dunkeln Mantel gehüllte Gestalt hervortrat. Es war jener Fremde, der Idas Interesse in so hohem Grade erregt hatte.

»Schließ auf, schließ auf«, sprach Martiniz, »denn es ist hohe Zeit!« Indem er sprach, fing es an zu surren und zu klappern, dumpf rollte gerade über ihnen im Turme das Uhrwerk und in tiefen, zitternden Klängen schallte die zwölfte Stunde in die Lüfte.

»Schließ auf!« schrie Martiniz, »schnell auf! dort kommt er schon um die Ecke!«

Seufzend ging die hohe Türe auf, in einem Sprung war jener in der Kirche. Der Küster schloß behutsam wieder hinter sich ab und ging dann voraus mit der Laterne; stille folgten ihm die Fremden. In wunderlichen Schatten und Figuren spielte das schwache Licht der Laterne an den hohen Säulen des Doms, nur auf wenige Schritte verbreitete es Helle, verschwebte dann in matte Dämmerung, bis es sich in der tiefen Nacht des Gewölbes verlor. Manchmal schien es, als schritten hohe Gestalten in weiten schleppenden Gewändern hinter den Säulen ihnen nach; scheu blickte Emil von Martiniz nach allen Seiten und ging dann schneller hinter dem Küster her. Dumpf schallten ihre Schritte auf dem hohlen Boden, unter welchem eine alte Gruft sich befand und ein vielfaches Echo gab diese Töne aus allen Ecken zurück.

So waren sie bis an den Altar gekommen. Martiniz setzte sich dort auf die Stufen, das Gesicht, das bei dem Schein der trübe brennenden Laterne auch viel bleicher erschien, stützte er auf die Hand, daß die glänzend rabenschwarzen Ringellocken darüber herabfielen. Der Diener winkte dem Küster, zog ihn auf eine Bank an der Seite zu sich nieder, und gab ihm durch Zeichen zu verstehen, daß er schweigen und sich ganz ruhig verhalten möchte.

Tiefe Stille herrschte mehrere Minuten in den großen dunklen Hallen, tiefe Stille draußen in der Nacht; nur vom Altar her hörte man ein leises Wispern, Martiniz schien zu beten. Bald aber erhob sich lauter die Nachtluft und wehte um die Kirche, je lauter es wurde, desto unruhiger wurde Emil; er seufzte, er blickte einigemal auf und lauschte nach der Seite hin, wo der Luftzug stärker wehte.

Näher und näher heulte der Wind, die Fenster bebten, das Licht der Laterne wehte seine Schatten her und hin, die alten verblichenen Banner, die an der Mauer hingen, rollten sich auf und bewegten ihre zerfetzten Bilder an der schwachbeleuchteten Wand.

Jetzt brauste der Sturm auf in gewaltigen Stößen; krachend stürzte ein Fenster des Chors auf die breiten Quader des Bodens, daß der Schall durch die Halle tönte und – mit fürchterlichem Lachen des Wahnsinns fuhr der am Altar auf und sprang die Stufen hinan. Gellend tönten diese hohlen Töne der Verzweiflung durch die Gewölbe: »Er kann nicht herein, er kann nicht herein zu mir«, schrie er, »darum hat er die Wolken aufgezäumt, auf dem Sturmwind reitet er um die Kirche; ça ça! Holla Antonio – wie schäumt das Purpurblut deiner Wunde! rase, tobe durch die Lüfte, du kannst doch nicht herein zu meiner Freistatt!« –

Der Sturm legte sich, ferner und ferner rollte der Wind und säuselnd zog die Nachtluft durch die Kirche; der Mond schien freundlich durch die hellen Scheiben, und mit des Sturmes Toben schien auch der Sturm in Emils Brust gewichen zu sein; »Seht ihr«, sprach er wehmütig und zeigte an die vom Mond beschienenen Fenster hinauf, »seht ihr, wie er so ernst und zürnend auf mich herabsieht! Kannst du denn nicht vergeben, Antonio?«

Leiser wurde immer seine Klage, bis er weinend am Altare niedersank. Jetzt stand der alte Diener, dem während der schrecklichen Szene die Tränen in den grauen Wimpern gehangen, von seinem Sitze auf und unterstützte seinen Herrn; er wischte ihm den kalten Schweiß von der Stirne und die Tränen aus dem gebrochenen Auge und flößte ihm aus einer kristallenen Phiole mildernde Tropfen ein.

Der Ohnmächtige richtete sich wieder auf, hüllte sich tiefer in seinen Mantel und schritt durch die Kirche.

Der alte Diener aber trat zu dem Küster; »Ich danke, Alterle«, sagte er, »du hast jetzt gesehen, daß wir nichts Unrechtes in deinem Gotteshaus gemacht haben; dafür halte aber reinen Mund; und wenn du niemand ein Sterbenswörtchen hören läßt von dem was du hier gesehen und gehört hast, so kommen wir vielleicht morgen und manche Nacht wieder, und du sollst pflichtgemäß deinen Harten haben.«

»Das kann sich unsereiner schon gefallen lassen«, antwortete der Küster im Weitergehen, »soviel merke ich, daß Euer Herr entweder nicht richtig unter dem Hute ist, oder daß er mit dem Gottseibeiuns hier Versteckens spielt. Nun hier, denke ich, soll er ihn nicht holen; kommt nur morgen nacht wieder. Was das Stillschweigen betrifft, so seid außer Sorgen, von mir erfährt es kein Mensch, vor allem meine Ursel nicht, denn ich denke, was sie nicht weiß, macht ihr nicht heiß.«

Der alte Diener lobte den Entschluß des Küsters und nahm am Portal mit einem Händedruck von ihm Abschied. »Ist doch schade um ein so junges schönes Blut«, brummte dieser vor sich hin, indem er seinem Häuschen zuschritt; »so jung und hat schon Affären mit Herrn Urian. Nun, er soll ihn immer noch ein Halbjährchen reiten; um die harten Taler kann man zur Not so guten Wein kaufen, als die Freilinger Maurermeister hatten, um den Kalk zu meinem Münster festzumachen.«

 

Das Souper

Es schlug ein Uhr, als der Fremde und sein Diener von dem Münster zurück über den Marktplatz gingen. An den Fenstern des erleuchteten Museums drängten sich Gestalten an Gestalten geschäftig hin und her, verworrenes Gemurmel vieler Stimmen tönte herab auf den stillen Platz, hie und da zeigten laute Ausbrüche der Fröhlichkeit mit Trompeten vermischt, daß eine Gesundheit oder ein Toast ausgebracht worden sei.

»Robert!« begann der Graf, »ich will noch einmal hinaufgehen; die süßen Töne der Flöten, die klagenden Klänge der Hörner haben etwas Beruhigendes für mich und mitten im Gewühl der fröhlichen Menge vergesse ich vielleicht auf Augenblicke, daß ich unter den Glücklichen der einzige Unglückliche bin.«

Umsonst bat der alte Robert seinen Herrn, er möchte doch seine Gesundheit bedenken und sich jetzt zur Ruhe legen; er schien es gar nicht zu hören, schweigend warf er in der Haustüre den Mantel ab, gab ihn dem Alten und eilte die Treppe hinan. Kopfschüttelnd folgte ihm der Diener; hatte er doch seit einer langen, traurigen Zeit nicht bemerkt, daß sein armer Herr Freude an rauschender Lustbarkeit hatte; es mußte etwas Eigenes sein, das ihn noch einmal da hinauf zog, denn, wenn er sich sonst auch in das fröhlichste Gewühl gestürzt hatte, so war er doch immer nach einem halben Stündchen wieder zurückgekommen. Und heute hatte er ihn sogar an die Stunde mahnen müssen; heute ging er zu einer Zeit, wo er sonst erschöpft von Kummer und Unglück dem Schlaf in die Arme geeilt war, noch einmal auf den Tanzboden. »Gott gebe, daß es zu seinem Heil ist«, schloß der treue Diener seine Betrachtungen, und wischte sich die Augen.

Der Saal war noch leer, als Emil oben eintrat, nur die Musikanten stimmten ihre Geigen, probierten ihre Hörner und ließen die Schlegel dumpf auf die Pauken fallen, um zu sondieren, ob das tiefe C recht scharf anspreche, mittendurch netzten sie auch ihre Kehlen mit manchem Viertel, denn ein ellenlanger Kotillon sollte den Ball beschließen. Löffel- und Messergeklirr, das Jauchzen der Anstoßenden tönte aus dem Speisesaal; ein schwermütiges Lächeln zog über Emils blasses Gesicht, denn er gedachte der Zeiten, wo auch er keiner fröhlichen Nacht ausgewichen war, wo auch er unter frohen, guten Menschen den Becher der Freude geleert und, wenn kein liebes Weib, doch treue Freunde geküßt hatte und mit fröhlichem Jubel in das allgemeine Millionen-Hallo und Welt-Hurra der Freude eingestimmt hatte; unter diesen Gedanken trat er in den Speisesaal. In bunten Reihen saßen die fröhlichen Gäste die lange Tafel herab; man hatte soeben die hunderterlei Sorten von Geflügel und Braten abgetragen und stellte jetzt das Dessert auf. Gewiß! man konnte nichts Schöneres sehen, als die Präzision, mit welcher die Kellner ihr Dessert auftrugen, die Bewegungen auf die Flanken und ins Zentrum gingen wie am Schnürchen, die schweren Zwölfpfünder der Torten und Kuchen, das kleinere Geschütz der französischen Bonbons und Gelees wurde mit Blitzesschnelle aufgefahren, in prachtvoller Schlachtordnung, vom Glanz der Kristallüsters bestrahlt standen die Guß-, Johannisbeeren-, Punsch-, Rosinentorten, die Apfelsinen, Ananas, Pomeranzen, die silbernen Platten mit Trauben und Melonen. Aber Hofrat Berner hatte sie auch eingeübt, und den besten Kellnerrekruten schwur er hoch und teuer in acht Tagen so weit bringen zu wollen, daß er einen bis an den Rand gefüllten Champagnerkelch auf eine spiegelglatte silberne Platte gesetzt die Treppe herauf springen könne, ohne einen Tropfen zu verschütten, was in der Geschichte des Servierens einzig in seiner Art ist. Wenn die Festins, die er zu arrangieren hatte, herannahten, hielt er auf folgende Art völlige Übungen und Manövres. Er setzte sich in den Salon, wo gespeist werden sollte, ließ eine Tafel zu dreißig bis vierzig Couverts decken, und wie den Rekruten ein fingierter Feind mit allen möglichen Bewegungen gegeben wird, so zeigte er ihnen auch Präsidenten, Justizräte, Kollegiendirektoren, Regierungsräte und Assessoren mit Weib und Tochter, Kind und Kegel und mahnte sie, bald diesem ein Stück Braten, jener diese Sauciere zu servieren, bald einem Dritten und Vierten einzuschenken und dem Fünften eine andere Sorte vorzusetzen; da sprangen und liefen die Kellner sich beinahe die Beine ab, aber probatum est – wenn der Tag des Festes herannahte, durfte er auch gewiß sein, zu siegen. Wie jener große Sieger, der nur mit feierlichem Ernst die Worte sprach, »Heute ist der Tag von Friedland«, oder »Sehet die Sonne von Austerlitz«, so bedurfte es von seinem Mund auch nur einige ermahnende tröstliche Hindeutungen auf frühere Bravouren und gelungene Affären, und er konnte darauf rechnen, daß keiner der zwanzig Kellergeister über den andern stolperte, oder ihm die Aalpastete anstieß, oder daß sie mit Sauce und Salat einander rannten, purzelten und auf dem Boden die ganze Bescherung servierten.

Mit dieser Präzision war also auch heute die Tafel serviert worden; der Nachtisch war aufgetragen, die schweren Sorten als da sind Laubenheimer, Nierensteiner, Markebrunner, Hochheimer, Volnay, feiner Nuits, Chambertin, beste Sorte von Bordeaux, Roussillon wurden weggenommen und der zungenbelebende Champagner aufgesetzt. Hatte schon der aromatische Rheinwein die Zungen gelöst und das schwärzliche Rot des Burgunders den Liliensamt der jungfräulichen Wangen und die Nasen der Herren gerötet, so war es jetzt, als die Pfropfe flogen und die Damen nicht wußten, wohin sie ihre Köpfe wenden sollten, um den schrecklichen Explosionen zu entgehen, als die Lilienkelche bis an den Rand mit milchweißem Gischt gefüllt, kredenzt wurden, wie auf einem Bazar im asiatischen Rußland, wo alle Nationen untereinander plappern und maulen, gurren und schnurren, zwitschern und näseln, plärren und jodeln, brummen und rasaunen; so schwirrte in betäubendem Gemurmel, Gesurre und Brausen in den höchsten Fisteltönen bis herab zum tiefsten, dreimalgestrichenen C der menschlichen Brust das Gespräch um die Tafel.

 

Das Urteil der Welt

Aber der größte Teil der Konversation wenigstens am untern Ende des Tisches galt Präsidents Ida. Dort gingen die zahnlosen Mäulchen der Tanten und Mütter wie oberschlächtige Mühlen, und die Posaunen-Seraphs-Gesichter der Töchter nickten ihren Konsens aus den kleinen Kalmuckenäugelein. Wie hatte doch das Mädchen vor Gott gesündigt und gefrevelt dadurch, daß es so wunderhübsch geworden war! Wäre sie zurückgekommen wie eine wilde Hummel, oder wie so manche, die man als Gagak in die Residenz schickt, um sie »Bildung und Blumenmachen« lernen zu lassen, und die als Gagak wiederkehrt, da hätte es geheißen, »An der ist Hopfen und Malz verloren, mich dauern nur die Eltern«. Jetzt, wo sie mit ihrem Tannenwuchs, mit ihrer unnachahmlichen Grazie bescheiden und doch voll so erhabener Würde hereintrat, das strahlende Diadem in den geschmackvoll geordneten Ringellocken und Löckchen, im feuersprühenden Auge Geist und Liebe, verschmolzen mit schuldloser, anspruchloser Natürlichkeit; die Wangen von Gesundheit gerötet, in den feinen Grübchen den kleinen, kleinen Schelm, den Mund so würzig, so kußlich, die aphroditische Schwanenbrust mit dem fürstlichen Schmuck, mit dem Pariser Hofkleid umschlossen – Nein! das Mädchen durfte nicht schön, durfte nicht unschuldig und tugendhaft sein. – »Hah, ha, ha, Frau Oberforstmeisterin!« lachte die Kammerdirektorin, ohne darauf zu achten, daß sie die acht unschuldigen Ohren ihrer erwachsenen Töchterlein beleidigen könnte, »tugendhaft? Wir kennen die Residenztugend noch aus unserer Zeit! Da müßten sich die Steine umgekehrt haben, die Garde-Ulanen-Rittmeister müßten ihre engschließende Uniform ausgezogen und die Herren Archidiakonen und Superintendenten um ihr ehrbares Kostüm ersucht haben, müßten in schwarzen Mäntlein, weißen Beffchen, kurzen Höschen und seidenen Wädchen, die Bibel unter dem Arm einhergehen, wenn man bei siebzehnjährigen Mädchen Tugend finden sollte in Sodum!«

»Wahrhaftig, Sie haben recht«, schnatterte es über die Tafel herüber, »und die gerühmte Schönheit? ist alles Lug und Trug, das kann man alles dort ums liebe Geld haben; meinen Sie denn, diese Locken dort, diese Zöpfe seien echt? Bewahre; man hat ja gesehen, was für Haar Mamsell Sausewind in die Residenz nahm; wo sind die gelben Zähne hingekommen? Meinen Sie etwa, ein so herrlicher Mund voll, wie jene hat, schiebe sich im sechzehnten, siebzehnten Jahre noch nach? Lauter Seehund, nichts als Seehund.«

»Ja, Frau Gevatterin«, unterbrach eine dritte, »und die handbreiten Brüssler Kanten, der Amethystschmuck, mit welchem man meinen Torweg pflastern könnte – von der Fürstin Romanow soll er sein? Ha, ha, ha, man hat auch seine Nachrichten; die Fürstin, Gott halte sie in Ehren, ist eine splendide Frau, auch reich, steinreich, gebe alles zu – aber so einem nasenweisen Kind, das kaum hinter den Ohren trocken ist, dieses Diadem, diese Ohrenringe, dieses Kollier, dieses Kreuz zu schenken – nein, dazu ist die Frau Fürstin Hoheit doch zu vernünftig. Haben Sie aber nie von ihrem Neffen, dem Prinzen Ferdinand gehört? soll ein splendider, artiger Herr sein, der Prinz, und wenn man nur gegen ihn gefällig ist, ist er es wohl auch wieder, ha, ha, ha –«

Und der ganze Zirkel lachte und stieß an auf den gefälligen splendiden Prinzen.