Estep, Jennifer Black Blade

PIPER

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Lesen was ich will!

www.lesen-was-ich-will.de

 

Wie immer: Für meine Mom, meine Grandma und Andre – für all ihre Liebe, Hilfe, Unterstützung und Geduld mit meinen Büchern und allem anderen im Leben.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

ISBN 978-3-492-97310-6

Mai 2016

© 2015 Jennifer Estep

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Dark Heart of Magic« bei Kensington Publishing Corp., New York.

Deutschsprachige Ausgabe:

© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2016

Covergestaltung: Zero Werbeagentur, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Danksagung

Jede Autorin wird erklären, dass ihr Buch ohne die Arbeit vieler, vieler Menschen nicht möglich gewesen wäre. Hier sind einige der Leute, die dabei geholfen haben, Lila Merriweather und die Welt von Cloudburst Falls zum Leben zu erwecken:

Ich danke meiner Agentin Annelise Robey für all ihre hilfreichen Ratschläge.

Ich danke meiner Lektorin Alicia Condon für ihren scharfen Blick und die aufmerksamen Anmerkungen. Sie machen das Buch immer ein Stück besser.

Ich danke allen bei Kensington, die an diesem Projekt mitgearbeitet haben, besonders Alexandra Nicolajsen, Vida Engstrand und Lauren Jennings für ihre Werbung. Und ein Danke geht auch an Justine Willis.

Und schließlich möchte ich all meinen Lesern da draußen danken. Ich schreibe Bücher, um euch zu unterhalten, und das ist mir immer eine besondere Ehre. Ich hoffe, ihr habt genauso viel Spaß dabei, von Lila zu lesen, wie ich, über sie zu schreiben.

Viel Spaß!

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1

Für die Mafia zu arbeiten war gar nicht so toll.

O sicher, in Filmen und Serien wirkt es total glanzvoll und glamourös. Leute in schicken Anzügen, die in feinen Restaurants speisen und sich über Kaffee und Cannoli darüber unterhalten, wie sie am besten mit ihren Feinden fertigwerden. Und vielleicht hatte ich ein paar dieser Dinge in den letzten Wochen, in denen ich für die Sinclair-Familie gearbeitet hatte, auch wirklich getan. Doch meistens war die Arbeit für die Familie ein langweiliger, nerviger Job wie jeder andere …

»Vorsicht, Lila!«, schrie Devon Sinclair.

Ich duckte mich gerade rechtzeitig, um nicht von einer Kakipflaume im Gesicht getroffen zu werden. Die reife, apfelgroße Frucht segelte über meinen Kopf hinweg. Als sie auf dem Boden aufkam, zerplatzte die Haut, rotes Fruchtfleisch ergoss sich über die grauen Pflastersteine und erfüllte die Sommerluft mit einem klebrig-süßen Geruch.

Traurigerweise war das Pflaster nicht das Einzige, was mit Fruchtfleisch überzogen war. Dasselbe galt für mich. Roter Saft verunstaltete mein blaues T-Shirt und die graue Cargohose, wo ich bereits getroffen worden war, während Samen und Fruchtfetzen in den Schnürbändern meiner Turnschuhe hingen.

Ein zorniges, hohes Fiep-fiep-fiep erklang. Das Geräusch lag irgendwo zwischen dem Krächzen einer Krähe und dem Ruf eines Streifenhörnchens. Ich starrte wütend in den Baum, aus dem die Kakipflaume gekommen war. Drei Meter über meinem Kopf sprang ein Wesen mit kohlegrauem Fell und smaragdgrünen Augen auf einem Ast auf und ab. Die Sprünge der Kreatur waren so heftig, dass weitere reife Früchte von ihren Ästen fielen und auf dem Boden zerplatzten, um noch mehr nassen Schleim auf den Pflastersteinen zu verteilen. O ja. Der Baumtroll war definitiv sauer, dass er mich mit seiner letzten Fruchtbombe verfehlt hatte.

Baumtrolle gehörten zu den Monstern, die in und um Cloudburst Falls, West Virginia, lebten – zusammen mit Menschen und Magiern wie mir. Auf mich wirkten die Trolle immer wie eine seltsame Mischung aus großen Eichhörnchen und den fliegenden Affen aus dem Zauberer von Oz. Oh, Baumtrolle konnten nicht tatsächlich fliegen, aber die dunkle Gleithaut unter ihren Armen half ihnen dabei, Luftströmungen einzufangen, wenn sie von einem Ast zum nächsten oder von einem Baum zum anderen sprangen. Und ihre langen Schwänze ermöglichten es ihnen, auch kopfüber zu hängen. Die Trolle waren vielleicht dreißig Zentimeter groß, also waren sie bei Weitem nicht so gefährlich wie Kupferquetschen und viele der anderen Monster in der Stadt. Die meiste Zeit über waren die Trolle ziemlich harmlos, außer man machte sie wütend. Und dieser hier war definitiv wütend. Er sprang die ganze Zeit auf und ab und zwitscherte in unsere Richtung.

Devon Sinclair wich den fallenden Kakipflaumen aus, als er neben mich trat und den Kopf in den Nacken legte. Auf seinem schwarzen T-Shirt und der beigefarbenen Cargohose klebte sogar noch mehr Kakipflaumenschleim als auf meiner Kleidung. Er sah aus, als sei er in ein rotes Unwetter geraten. Das Einzige, was an ihm nicht mit Fruchtfleisch verklebt war, war die silberne Manschette, die an seinem rechten Handgelenk glänzte und auf der ein unverwechselbares Bild eingeprägt war – eine Hand, die ein Schwert in die Luft reckte. Das Wappen der Sinclair-Familie.

»Er ist nicht besonders glücklich, hm?«, murmelte Devon mit seiner tiefen, rumpelnden Stimme. »Kein Wunder, dass die Touristen sich über ihn beschweren.«

Cloudburst Falls war weit und breit bekannt als »der magischste Ort Amerikas«, ein Ort, »wo Märchen wahr werden«. Also drehte sich hier alles um Tourismus. Leute aus dem gesamten Land und der Welt kamen hierher, um die fantastische Aussicht vom Cloudburst Mountain zu bewundern, dem gezackten, nebelverhangenen Gipfel, der über der Stadt aufragte. Außerdem erfreuten sie sich an all den Läden, Kasinos, Restaurants, Hotels und anderen Attraktionen, die den Midway – die Hauptstraße mitten in der Stadt – umgaben.

Doch auch Monster fühlten sich von der Gegend angezogen wegen des Bluteisens, einem magischen Metall, das viele Jahre lang aus dem Cloudburst Mountain gewonnen worden war. Zumindest behaupteten das die örtlichen Legenden und Sagen. Touristentölpel mochten begeistert die Monster in den verschiedenen Zoos auf dem Midway bestaunen und die Kreaturen auf Touren und Expeditionen auf den Berg in ihren natürlichen Lebensräumen fotografieren, doch die Auswärtigen schätzten es nicht, von Baumtrollen mit Kakipflaumen beworfen zu werden, während sie nichtsahnend über einen Gehweg wanderten. Und die Touristen wollten auch nicht von den gefährlichen Monstern angegriffen oder gefressen werden, die überall in der Stadt in dunklen Gassen und finsteren Verstecken lauerten. Also war es die Aufgabe der Familien – oder Mafia-Banden – sicherzustellen, dass die Monster in den für sie ausgewiesenen Gebieten blieben. Oder zumindest dafür zu sorgen, dass sie nicht zu viele Touristen in Snacks verwandelten.

Dieser spezielle Troll hatte sich in einem großen Kakipflaumenbaum häuslich eingerichtet, der an einem der Plätze in der Nähe des Midway stand. Da dieser spezielle Platz in das Revier der Sinclairs fiel, waren wir gerufen worden, um uns um die Kreatur zu kümmern. Seit drei Tagen bewarf der Troll jeden mit Früchten, der es wagte, an seinem Baum vorbeizugehen. Damit hatte er mehrere Touristen dazu gebracht, ihre teuren Kameras und Handys fallen zu lassen, die dabei kaputtgegangen waren. Nichts brachte einen Touristen so auf die Palme, wie sein schickes neues Handy zu verlieren. Ich wusste das nur zu gut, denn ich hatte die letzten paar Jahre damit verbracht, Handys aus jeder Tasche und jedem Rucksack zu stehlen, der nach lohnender Beute aussah.

Neben mir bewegte sich Devon aus der direkten Sonne in den Schatten des Baumes. Kleine Sonnenflecken durchdrangen das Laubdach und tanzten über seinen muskulösen Körper, betonten seine leuchtend grünen Augen, sein kantiges Gesicht und die honigblonden Strähnen in seinem dunkelbraunen Haar. Ich atmete tief ein und sofort stieg mir sein frischer Kiefernduft in die Nase, vermischt mit der klebrigen Süße der aufgeplatzten Kakipflaumen. Allein Devon so nahe zu sein, sorgte schon dafür, dass mein Herz einen kleinen Tanz hinlegte, doch ich ignorierte das Gefühl, wie ich es nun schon seit Wochen tat.

»Was willst du wegen des Trolls unternehmen?«, fragte ich. »Denn ich glaube nicht, dass er kampflos von diesem Baum steigen wird.«

Devon war der Wächter – und damit das stellvertretende Oberhaupt – der Sinclair-Familie, verantwortlich für alle Familienwachen und jeglichen Monsterproblemen, die innerhalb des Territoriums der Sinclairs entstanden. Die meisten Wächter der anderen Familien waren arrogante Mistkerle, die ihre Machtposition ausnutzten und es genossen, andere herumzukommandieren. Doch Devon war ein wirklich guter Kerl, der jeden in der Familie gleich behandelte, von dem kleinsten Pixie zum härtesten Wachmann. Außerdem tat er alles, um den Leuten zu helfen, die ihm etwas bedeuteten. Das hatte er bewiesen, indem er sich wieder und wieder in Gefahr begeben hatte.

Devons angeborener Anstand und seine Hingabe gegenüber anderen waren einer der vielen Punkte, die dafür sorgten, dass ich ihn mehr mochte, als gut für mich war. Seine seelenvollen grünen Augen, sein spöttisches Grinsen und sein atemberaubender Körper störten auch nicht gerade.

Ich dagegen? Anstand und ich waren nicht gerade gute Freunde. Ich opferte mich nur für mich selbst auf und um sicherzustellen, dass ich Geld in den Taschen, einen vollen Magen und einen warmen, trockenen Ort zum Schlafen hatte. Ich war eine einzelgängerische Diebin, die die letzten vier Jahre in den Schatten gelebt hatte, bis man mich vor wenigen Wochen rekrutiert hatte, um als Devons Leibwächterin zu arbeiten. Nicht, dass er wirklich einen Leibwächter gebraucht hätte. Devon war ein zäher Kämpfer, der gut auf sich selbst aufpassen konnte – und mehr als das.

»Nun, ich würde sagen, wir pflücken eine Frucht, die noch am Ast hängt, und bewerfen zur Abwechslung mal den Troll damit«, schlug eine dritte Stimme bissig vor. »Lasst ihn spüren, wie es ist, vollkommen mit Fruchtfleisch verklebt zu sein.«

Ich sah zu Felix Morales, Devons bestem Freund und einem weiteren Mitglied der Sinclair-Familie. Mit seinem lockigen schwarzen Haar, der bronzefarbenen Haut und den dunkelbraunen Augen sah Felix sogar noch besser aus als Devon trotz der Tatsache, dass er über und über mit Fruchtbrei verklebt war. Nicht, dass ich ihm das jemals erzählt hätte. Felix flirtete jetzt schon mit allem, was sich bewegte. Wir hielten uns vielleicht seit zehn Minuten auf dem Platz auf und er hatte mehr Zeit damit verbracht, die vorbeikommenden Touristenmädchen anzugrinsen, als damit, eine Lösung für das Trollproblem zu finden.

Felix zwinkerte zwei Mädchen in Tanktops und wirklich kurzen Hosen zu, die auf einer nahen Parkbank saßen und Limonade tranken, dann winkte er ihnen. Die Mädchen kicherten und winkten zurück.

Ich rammte ihm den Ellbogen in die Seite. »Versuch dich zu konzentrieren.«

Felix rieb sich die Seite und bedachte mich mit einem schlecht gelaunten Blick.

Devon zuckte mit den Achseln. »Normalerweise müssen wir gar nicht so viel tun. Die meisten Trolle bleiben in den Bäumen in und um den Midway, die man ihnen zugewiesen hat. Wann immer sie anfangen, Ärger zu machen, schicken wir ein paar Wachen los, die ihnen erläutern, dass sie entweder damit aufhören oder wieder auf den Berg verschwinden sollen, wo sie tun und lassen können, was sie wollen.«

Ich nickte. Wie die meisten anderen Monster verstanden auch Baumtrolle die menschliche Sprache, auch wenn Menschen und Magier die ihre nicht allzu gut deuten konnten.

»Normalerweise reicht das. Aber dieser Kerl hier scheint einfach nicht verschwinden zu wollen«, erklärte Devon. »Er ist immer noch hier trotz der Wachen, die ich gestern vorbeigeschickt habe. Und er ist nicht der Einzige. Ich habe Gerüchte gehört, dass alle anderen Familien ähnliche Probleme mit den Trollen haben. Anscheinend hat irgendetwas sie erschreckt und dafür gesorgt, dass sie in großer Zahl den Berg verlassen.«

Sobald Devon das Wort verlassen ausgesprochen hatte, sprang der Baumtroll noch heftiger auf seinem Ast auf und ab und sein fiependes Schnattern wurde immer lauter. Die hochfrequenten Schreie bohrten sich förmlich in mein Hirn. Ich war dankbar, dass mein magisches Talent nichts mit überdurchschnittlichem Hörvermögen zu tun hatte. Die Kreatur war schon laut genug, ohne dass die Geräusche auch noch durch Magie verstärkt wurden.

Überall um uns herum hörten die Touristen auf, ihre riesigen Softdrinks zu schlürfen, ihre gigantischen Zuckerwatteberge zu essen oder Fotos von dem großen Springbrunnen in der Mitte des Platzes zu schießen. Stattdessen drehten sie sich zu uns um, weil der Lärm sie neugierig machte. Ich senkte den Kopf und schob mich hinter Felix, um so wenig wie möglich aufzufallen. Als Diebin gefiel es mir einfach nicht, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Es war ein bisschen schwierig, jemandem die Tasche auszuräumen oder die Uhr vom Handgelenk zu stehlen, wenn er einen direkt ansah. Ich mochte ja im Moment nicht hier sein, um etwas zu klauen, aber alte Gewohnheiten ließen sich nur schwer ablegen.

Devon sah mich an. »Glaubst du, du könntest deine Seelensicht einsetzen, um herauszufinden, warum er so aufgeregt ist?«

»Genau«, schaltete sich Felix ein. »Die große Lila Merriweather soll ihre coole Magie einsetzen. Schließlich ist sie die Monsterflüsterin.«

Ich rammte ihm die Faust gegen die Schulter.

»Hey!« Felix rieb sich den Arm. »Was habe ich getan?«

»Ich bin keine Monsterflüsterin.«

Er verdrehte die Augen. »Hast du vor ein paar Wochen drei Kerle an das Lochness verfüttert oder nicht?«

Ich zog eine Grimasse. Genau das hatte ich getan. Und ich fühlte mich deswegen nicht einmal schlecht, da diese Kerle zu diesem Zeitpunkt versucht hatten, mich und Devon umzubringen. Doch ich hatte meine Magie, meine Talente immer geheim gehalten, genauso wie das Wissen, das meine Mom mir über den Umgang mit Monstern vermittelt hatte. Das hatte ich tun müssen, weil ich meine Magie gerne behalten wollte, statt sie mir von jemandem, der sie für sich selbst wollte, aus dem Körper reißen zu lassen. Also war ich einfach nicht daran gewöhnt, dass Felix oder irgendjemand anderes so offen darüber sprach. Jedes Mal, wenn er oder Devon meine Magie kommentierten, sah ich mich um und fragte mich, wer es vielleicht mitbekommen hatte und was sie mir antun würden, um meine Macht für sich zu gewinnen.

Devon bemerkte meine besorgte Miene und legte eine Hand auf meine Schulter. Die Wärme seiner Finger drang durch mein T-Shirt und schien meine Haut zu verbrennen. Das war noch etwas, das ich viel mehr mochte, als gut für mich war. Ich schüttelte seine Hand ab, wobei ich mir Mühe gab, den verletzten Ausdruck in seinen Augen zu ignorieren.

»Bitte, Lila«, sagte Devon. »Versuch mit dem Troll zu reden.«

Ich seufzte. »Sicher. Warum nicht?«

Der Großteil der magischen Talente ließ sich in drei Kategorien einteilen – Stärke, Geschwindigkeit und Sinne. So besaßen viele Magier ein Talent für Sicht, ob es nun um die Fähigkeit ging, besonders weit zu sehen, Dinge in mikroskopischem Detail zu erkennen oder im Dunkeln auszumachen. Doch ich besaß das um einiges ungewöhnlichere Talent, zusätzlich auch in Personen schauen zu können und dabei ihre Gefühle zu spüren, als wären sie meine eigenen, ob nun Liebe, Hass, Wut oder etwas anderes. Das nannte man Seelensicht. Ich hatte sie noch nie zuvor auf ein Monster angewandt, aber wahrscheinlich gab es für alles ein erstes Mal.

Ich trat vor, legte den Kopf in den Nacken und spähte zu dem Baumtroll hinauf. Vielleicht spürte er, was ich vorhatte, denn er hörte tatsächlich mit dem Herumspringen auf und musterte mich genauso eingehend wie ich ihn. Unsere Blicke trafen sich und sofort schaltete sich meine Seelensicht ein.

Die glühend heiße Wut des Baumtrolles traf mich in die Brust wie eine brennende Faust, doch dieses Gefühl wurde schnell von einer anderen, noch stärkeren Emotion verdrängt – nämlich von panischer Angst.

Ich runzelte die Stirn. Wovor konnte sich der Baumtroll so fürchten? Sicher, Devon, Felix und ich trugen alle Schwerter an der Hüfte wie fast jeder aus den Familien. Aber es war ja nicht so, als wollten wir die Kreatur tatsächlich verletzen. Vielleicht taten das die anderen Mafiafamilien ja. Ich hätte den Draconis durchaus zugetraut, jedes Monster abzuschlachten, das es wagte, in ihr Territorium einzudringen – egal ob hier in der Stadt oder oben auf dem Cloudburst Mountain, wo das Anwesen der Draconi-Familie lag.

Was auch immer dem Troll solche Angst einjagte, er würde weder verschwinden noch sich beruhigen, bevor dieses Problem gelöst war. Als könnte er meine Gedanken lesen, zwitscherte der Troll noch einmal, dann kletterte er höher in den Baum und verschwand im Laubdach.

»Was hast du mit ihm angestellt?«, fragte Felix.

»Gar nichts«, sagte ich. »Hier. Halt das mal.«

Ich löste den schwarzen Ledergürtel von meiner Hüfte und hielt ihn Felix hin. Er drückte sich den Gürtel mit dem daran befestigten Schwert in der Scheide an die Brust.

»Was hast du vor, Lila?«, fragte Devon.

»Der Troll macht sich wegen irgendetwas Sorgen. Ich will wissen, worum es geht.«

Damit trat ich an den Stamm des Kakipflaumenbaums und ließ den Blick meiner dunkelblauen Augen von einem Ast zum nächsten gleiten, während ich darüber nachdachte, wie ich am besten zu der Stelle vordringen konnte, an der sich der Troll jetzt versteckte.

Felix sah erst mich an, dann den Baum. »Du willst da raufklettern? Zu dem Troll?« Er schüttelte den Kopf. »Manchmal vergesse ich, wie total bekloppt du bist.«

»Der Einzige, der hier bekloppt ist, bist du, Romeo«, spottete ich.

Felix verzog bei meiner nicht allzu subtilen Anspielung auf sein Liebesleben besorgt das Gesicht. Nach außen hin mochte Felix ja wie ein absoluter Casanova auftreten, doch damit wollte er nur verbergen, dass er total in Deah Draconi verschossen war, die Tochter von Victor Draconi, dem mächtigsten Mann der Stadt. Natürlich hasste Victor alle anderen Familien voller Leidenschaft, besonders die Sinclairs – weil zum Scheitern verdammte Liebesgeschichten nur auf diese Art funktionierten. Meine Mom und mein Dad waren das beste Beispiel dafür.

Devon sah zwischen Felix und mir hin und her, schwieg aber. Falls er wusste, worüber wir sprachen, ließ er sich zumindest nichts anmerken.

Ich verdrängte Devon und Felix aus meinen Gedanken, trat vor und griff nach dem ersten Ast. Der Baum war alt und kräftig, mit jeder Menge dicker Äste, die mein Gewicht halten würden. Und ich war schon immer gerne geklettert, egal auf welcher Oberfläche. Für eine Diebin war das quasi eine Voraussetzung, denn Klettern war oft der bequemste Weg, in verriegelte, bewachte Häuser einzudringen – an Orte vorzustoßen, an denen ich eigentlich nichts zu suchen hatte.

Also glitt ich mühelos am Stamm nach oben, um dann nach dem ersten Ast zu greifen. Schnell stieg ich fünf Meter höher. Die ganze Zeit über lächelte ich und genoss den erdigen Geruch des Baumes und die raue Rinde unter meinen Händen. Ich mochte ja inzwischen ein offizielles Mitglied der Sinclair-Familie sein, aber ich trainierte trotzdem noch gerne meine alten Tricks. Man wusste schließlich nie, wann man sie brauchen konnte, besonders da Victor Draconi irgendeine Intrige gegen die anderen Familien plante.

Schließlich, bei zehn Metern, hörte ich wieder dieses charakteristische Schnattern. Ich entdeckte den Troll auf einem Ast links von mir. Die Kreatur beobachtete mich mit offenem Misstrauen, die smaragdgrünen Augen zu Schlitzen verengt. Der Baumtroll hielt schon die nächste Kakipflaume in den gebogenen schwarzen Krallen, bereit, die Frucht auf mich zu werfen. Drei frische Narben zogen sich über seine rechte Gesichtshälfte, als hätte er sich vor Kurzem mit einem viel größeren Monster angelegt – und gewonnen. Dieser Baumtroll war ein Kämpfer. Nur gut, dass dasselbe für mich galt.

Ich schlang meine Beine um den Ast, um sicherzustellen, dass ich nicht fallen konnte, dann hob ich die Hände, um dem Troll deutlich zu machen, dass ich ihm nichts tun wollte. Die Kreatur starrte mich weiter an, machte aber keine Anstalten, mir die Frucht ins Gesicht zu klatschen. Endlich. Ein Fortschritt.

Ich senkte die rechte Hand und öffnete den Reißverschluss an einer meiner Hosentaschen. Der Troll legte den Kopf schräg und seine kleinen, grauen, dreieckigen Ohren zuckten, als mehrere Vierteldollarmünzen in meiner Tasche klimperten.

Ich zog einen Schokoladenriegel heraus, hob ihn über den Kopf und wedelte damit. Die schwarze Nase des Trolles zuckte und seine grünen Augen leuchteten erwartungsvoll.

Monster mochten mehr Zähne und Klauen haben als Menschen oder Magier, aber es war recht einfach, mit den Kreaturen umzugehen – meistens zumindest. Man musste einfach nur wissen, womit man sie bestechen konnte. Oft reichte ein Tropfen Blut oder eine Haarlocke, um sich sicheres Geleit durch das Revier eines Monsters zu erkaufen. Manche Monster – wie das Lochness, das Felix erwähnt hatte – verlangten Vierteldollarmünzen oder andere glänzende Dinge. Aber Baumtrolle wollten sofortige Befriedigung.

Dunkle Schokolade, und zwar eine Menge davon.

»Komm schon«, flötete ich. »Ich weiß, dass du ihn willst. Ich zahle nur den Zoll, weil ich auf den Baum gestiegen und in dein persönliches Revier eingedrungen bin …«

Der Troll kletterte nach unten, schnappte sich den Schokoriegel und kehrte auf seinen Ast zurück. Dabei waren seine Bewegungen zu schnell, als dass ich sie wirklich hätte wahrnehmen können.

Knister-knister-knister.

Seine schwarzen Krallen machten kurzen Prozess mit der Verpackung, dann vergrub der Baumtroll die nadelspitzen Zähne in der Schokolade. Wieder schnatterte er, doch diesmal klang es eher genüsslich.

Ich wartete, bis der Troll noch einen Bissen genommen hatte, bevor ich meine Rede vom Stapel ließ. »Jetzt hör mal zu, kleines Pelztier. Ich bin nicht hier, um dir Ärger zu machen. Aber du weißt, wie es läuft. Wenn du dich danebenbenimmst und Sachen auf die Touristen wirfst, dann wird die Sinclair-Familie dich zwingen, weiterzuziehen. Das weißt du. Also, was hat dich so aufgeregt?«

Der Troll biss noch einmal in die Schokolade, doch er starrte mich dabei unverwandt an, hielt meinen Blick mit seinen grünen Augen. Wieder einmal trafen mich seine Wut und Sorge, vermischt mit dem Glück, das die Schokolade auslöste. Das war nicht überraschend. Schokolade machte mich auch glücklich.

Doch je länger ich den Troll anstarrte, desto heller und grüner erschienen seine Augen, bis sie wie Sterne aus dem pelzigen Gesicht leuchteten. Es wirkte fast, als besäße die Kreatur dieselbe Seelensicht wie ich; als spähe der Baumtroll auf dieselbe Weise in mich wie ich in ihn. Um abzuschätzen, ob ich vertrauenswürdig war oder nicht. Also konzentrierte ich mich darauf, ruhig zu bleiben und so wenig bedrohlich zu wirken wie nur möglich.

Vielleicht bildete ich mir das nur ein, doch ich hätte geschworen, dass ich spürte, wie etwas in mir … sich verschob. Als würde ich den Baumtroll irgendwie beruhigen, indem ich ihn anstarrte und besänftigende Gedanken dachte. Trotz der Hitze des Sommertages überlief mich ein kaltes Schaudern, heftig genug, dass sich auf meinen Armen Gänsehaut bildete.

Zitternd blinzelte ich, um den seltsamen Bann zu brechen. Dann war der Troll einfach wieder ein Troll und alles war normal. Keine glühenden Augen, keine seltsamen Gefühle in meiner Brust, keine weiteren kalten Schauder. Seltsam. Selbst für mich.

Der Troll schnatterte wieder, dann hob er den Arm und schob einen Ast über seinem Kopf zur Seite, um den Blick auf ein großes Nest freizugeben.

Zweige, Blätter und Gräser waren in einer Astgabel miteinander verwoben worden, zusammen mit mehreren Schokoladenverpackungen. Es sah aus, als würde dieser spezielle Troll wirklich schwer auf Schokolade stehen. Ich schob mich auf meinem Ast höher, bis mein Kopf sich auf derselben Höhe befand wie das Nest. Einen Moment später streckte ein weiterer Baumtroll – dem dunkelgrauen Pelz nach zu urteilen ein Weibchen – den Kopf aus dem Nest, gefolgt von einem viel kleineren, wuscheligeren Kopf. Kleine Augen musterten mich mit unschuldigem Blick. Der männliche Baumtroll übergab den Rest des Schokoriegels an das Weibchen und sofort verschwanden sie und das Baby wieder in den Tiefen des Nestes, wo ich sie nicht mehr sehen konnte.

Also bewachte das Monster nur seine Familie und darin lag der Grund für all die Fruchtbomben. Zweifellos sah der Troll in jedem eine Bedrohung, der sich dem Baum näherte. Nun, das konnte ich ihm nicht übel nehmen. Nicht in dieser Stadt. Ich mochte ja eine Diebin sein, doch ich wusste, wie es war, eine Familie beschützen zu wollen – ob nun eine Mafiafamilie oder eine normale.

Und ich wusste auch, wie es war, dabei jämmerlich zu versagen.

Ein vertrauter, qualvoller Schmerz zog mir die Brust zusammen, doch ich drängte das Gefühl in den hintersten Winkel meines Herzens zurück, wo es hingehörte.

»In Ordnung«, sagte ich. »Du kannst hierbleiben, bis dein Kind alt genug ist, um zu reisen. Wenn du nach einem etwas ruhigeren Ort suchst, in der Nähe der Lochness-Brücke gibt es ein paar schöne, hohe Bäume. Die solltest du dir mal anschauen.«

Wieder schnatterte der Baumtroll in meine Richtung. Hoffentlich bedeutete das, dass er mich verstanden hatte.

Ich deutete auf ihn. »Aber du wirfst keine Früchte mehr auf die Touristen, okay? Du lässt sie in Ruhe und sie lassen dich in Ruhe. Capisce?«

Der Troll schnatterte ein letztes Mal. Ich deutete das als Zustimmung.

Ich löste meine Beine von dem Ast und machte mich an den Abstieg. Der Troll beobachtete mich die ganze Zeit über, sprang von einem Ast zum nächsten und folgte mir über den Baum nach unten. Doch er bewarf mich nicht mehr mit Kakipflaumen. Ein echter Fortschritt. Vielleicht war ich ja doch eine Monsterflüsterin. Allerdings war ich mir nicht sicher, was ich davon halten sollte.

Als ich mich noch ungefähr drei Meter über dem Boden befand, setzte ich mich auf einen Ast, schob mich nach vorne und ließ einfach los. Ich sauste durch die Luft und lachte glücklich, als ich den Wind in meinem Haar fühlte, bevor ich in der Hocke landete. Ich vollführte eine überschwängliche Geste, um meinem dramatischen Abstieg die Krone aufzusetzen, dann richtete ich mich auf.

Felix grinste. »Angeberin.«

Ich grinste zurück. »Ich gebe mir Mühe.«

Devon legte den Kopf in den Nacken, um nach dem Troll Ausschau zu halten. »Also, was hat er getan?«

»Er hat eine Familie da oben, also wird er den Baum nicht verlassen«, erklärte ich. »Ich habe ihm klargemacht, dass er keine Früchte mehr auf die Touristen werfen soll, und ich denke, er hat dieser Bedingung zugestimmt. Also werden wir wohl einfach abwarten müssen.«

Devon nickte. »Danke, Lila. Gut gemacht.«

Ein Lächeln verzog sein Gesicht. Ich wandte den Blick von seinen grünen Augen ab, bevor meine Seelensicht sich einschalten konnte, doch die Wärme, die sich in meinem Herzen ausbreitete, hatte nichts mit meiner Magie zu tun. Er war einfach Devon und ich war hoffnungslos in ihn verschossen trotz meines Bedürfnisses, den Abstand zwischen uns zu wahren.

Devon spürte meinen Stimmungsumschwung und sein Lächeln verblasste. Ich fühlte mich, als hätte ich die Hand gehoben und die Sonne mit bloßen Fingern gelöscht, und sofort stiegen Schuldgefühle in mir auf. Er war wirklich ein guter Kerl und ich stieß ihn immer wieder zurück; verletzte ihn, ohne das wirklich zu wollen.

Aber auch ich war verletzt worden – tief verletzt worden – und ich wollte nicht, dass mein Herz noch einmal gebrochen wurde. Nicht einmal von jemandem, der so allumfassend süß, charmant und wunderbar war wie Devon Sinclair.

Devon wartete, bis Felix mir meinen Gürtel zurückgegeben und ich das Schwert wieder an meiner Hüfte befestigt hatte, bevor er mit dem Daumen über die Schulter zeigte.

»Kommt«, sagte Devon dann. »Lasst uns nach Hause gehen und uns sauber machen.«

Er und Felix drehten sich um und verließen den Platz. Ich folgte ihnen. Aber dann brachte mich irgendetwas dazu, noch einmal anzuhalten und über die Schulter zurückzuschauen. Dank meines Sichttalents entdeckte ich mühelos den Troll, der mich zwischen den belaubten Zweigen hindurch beobachtete. Seine grünen Augen wirkten heller und wachsamer als jemals zuvor, als wüsste er um Gefahren, von denen ich nichts ahnte. Unsere Blicke trafen sich und erneut ließen die Sorge, die Angst und das Entsetzen der Kreatur mein Herz verkrampfen, hoben meinen Magen und jagten einen kalten Schauder über meinen Rücken.

Ich schüttelte mich, wandte den Blick ab und eilte hinter meinen Freunden her.

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2

Devon, Felix und ich verließen den Platz, gingen einen Fußweg entlang und erreichten schließlich den Midway, das wirtschaftliche Herz von Cloudburst Falls.

Der Platz und die Läden um den Kakipflaumenbaum waren schon recht belebt gewesen, aber der Midway war rappelvoll. Scharen von Touristen wanderten von einer Seite des kreisförmig angelegten Bereiches zur anderen, ergossen sich in Läden und Restaurants und wieder heraus. Jedes einzelne Geschäft hielt sich an das allgemeine Mittelalter-Thema, vom kleinen Stand namens Karamellen-Tafeley bis hin zum Hof von Camelot, einem der größten Hotels. Oh, es gab jede Menge magische Attraktionen wie die Zoos, in denen man Steinhörnchen und andere kleine Monster streicheln konnte. Doch letztendlich war der Midway nichts anderes als der größte – und kitschigste – Mittelaltermarkt der Welt.

Die Atmosphäre wurde noch zusätzlich unterstrichen von Männern und Frauen in kniehohen schwarzen Stiefeln und schwarzen Hosen, die dazu weite Seidenhemden, farbenfrohe Umhänge und Musketierhüte komplett mit Federn trugen. Goldene, silberne und bronzefarbene Armmanschetten mit verschiedenen Wappen darauf glänzten an ihren Handgelenken und an ihren Hüften hingen Schwerter. Die Wachen wanderten von einem Verkaufsstand und Laden zum nächsten, um sicherzustellen, dass alles reibungslos verlief – wie Haie, die im Wasser kreisten. Sie blieben ständig wachsam und kümmerten sich um alles, was so anfiel: von nervigen Touristen, die ein bisschen zu viel getrunken hatten, bis hin zu Angestellten, die mehr aus der Kasse entnahmen, als sie hineingelegt hatten.

Die Touristen hielten die verkleideten Wachen einfach für Statisten und mehrere Leute hielten an, um Fotos von ihnen zu schießen. Die Touri-Tölpel verstanden nicht, dass die Farbe der Umhänge und die Symbole auf den Armmanschetten darauf hinwiesen, zu welcher Familie die Wachen gehörten – und dass sie ihre Aufgabe sehr, sehr ernst nahmen.

Jeder Familie gehörte ein anderer Teil des Midways. Im Moment befanden wir uns im Gebiet der Sinclairs, das aus Banken, mehreren Streichelzoos und einem Museum bestand, in dem Artefakte aus dem Bluteisen ausgestellt wurden, das aus dem Gestein des Cloudburst Mountain gewonnen worden war.

Die Wachen hier trugen alle schwarze Umhänge und silberne Armmanschetten mit dem Sinclair-Wappen – einer Hand, die ein Schwert in die Luft reckte. Devon hielt an und sprach mit einer der Wachen, um ihr mitzuteilen, dass wir uns um den Baumtroll gekümmert hatten. Felix dagegen sprach mit oder winkte allen zu, die er kannte. Und das war so gut wie jeder, dem wir begegneten. Felix war quasi mit der ganzen Welt bekannt.

Die Wachen nickten mir zu und ihre Blicke blieben an der Armmanschette an meinem rechten Handgelenk hängen. Ich trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und ließ den Finger über den kleinen, sternförmig geschliffenen Saphir in der silbernen Manschette gleiten, der genauso aussah wie der Saphirring an meinem Finger. Ich zwang mich dazu, das Nicken der Wachen zu erwidern, obwohl ich mir gleichzeitig wünschte, ich könnte einfach in der Menge verschwinden. Je weniger Leute mich kannten, desto besser, davon war ich überzeugt – selbst wenn ich inzwischen offizielles Mitglied der Sinclair-Familie war.

Devon beendete sein Gespräch mit der weiblichen Wache, dann durchquerte er den Park in der Mitte des Midway, wofür er einen gepflasterten Weg wählte, der an mehreren Springbrunnen vorbeiführte. Er drehte das Gesicht in den kühlen, erfrischenden Sprühnebel und ließ sein schwarzes T-Shirt davon befeuchten. Das Wasser sorgte dafür, dass die Baumwolle an genau den richtigen Stellen an seinen breiten Schultern haftete, ganz zu schweigen von seiner muskulösen Brust. Ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden und eigentlich wollte ich das auch gar nicht.

Felix rammte mir den Ellbogen in die Seite und brach damit den Zauber. »Anscheinend bin ich nicht der Einzige mit romantischen Problemen, hm, Julia?«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Devon und ich sind nur Freunde.«

»Ge-nau«, meinte Felix gedehnt. »Ihr beide habt ja auch absolut nicht die letzten Wochen damit verbracht, euch gegenseitig anzuschmachten, wann immer ihr glaubt, der andere würde es nicht bemerken. Ihr müsst endlich rumschieben und es hinter euch bringen.«

Glücklicherweise gingen seine Worte im stetigen Plätschern der Brunnen und dem Plappern der Menge unter, sodass Devon sie nicht hören konnte. Ich warf Felix einen bösen Blick zu, aber er grinste nur und rammte mir noch mal den Ellbogen in die Seite.

Devon drehte sich zu uns um, dann hob er den Saum seines T-Shirts nach oben, um sich das Gesicht abzuwischen. Dabei enthüllte er seine Bauchmuskeln. Okay, ich starrte ihn schon wieder an.

Devon ließ sein T-Shirt wieder fallen und sah mich an. »Stimmt was nicht?«

Ich schüttelte so heftig den Kopf, dass mein Pferdeschwanz gegen meine Schultern peitschte. »Nö. Alles okay. Alles prima. Absolut.«

»Okay«, meinte er, auch wenn ich deutlich merkte, dass er mir nicht glaubte.

Ich ging an Devon vorbei tiefer in den Park. Stände zogen sich an dem gewundenen Weg entlang. Ihre Besitzer verkauften so gut wie alles, von eiskalter Limonade und Karamell-Popcorn bis hin zu Sonnenbrillen und T-Shirts. Der Duft von Hotdogs mit Speck und saftigen Krapfen mit massenweise Puderzucker erfüllten die Luft. Ich seufzte sehnsüchtig.

Felix beäugte mich. »Erzähl mir nicht, du bist schon wieder hungrig – besonders nach all den Sandwiches, die du zum Mittagessen verschlungen hast.«

»Auf Bäume klettern und mit Monstern verhandeln ist harte Arbeit.« Mein Magen knurrte, als wollte er meine Worte noch unterstreichen. »Ich muss bei Kräften bleiben.«

Felix stöhnte, aber Devon lachte.

»Ich glaube, uns bleibt noch genug Zeit, um Lila einen Snack zu gönnen, bevor wir zum Herrenhaus zurückfahren«, meinte er.

Wir bogen in einen Teil des Parks ab, in dem sich alles um Essen drehte. Mehrere schmiedeeiserne Bänke standen zwischen den Verkaufsständen und die Leute um uns herum mampften alles von Eis über Nachos bis hin zu frittiertem Gemüse. Und genau wie auf dem Rest des Midway patrouillierten auch hier Wachen. Sie allerdings trugen alle Schwerter und Armmanschetten aus Bronze, auf die eine Hazienda eingestanzt war – das Familienwappen der Salazars.

Als Wächter der Sinclair-Familie war Devon allen Familien gut bekannt und die Salazar-Wachen nickten ihm respektvoll zu. Er erwiderte die Geste. Felix war viel geselliger. Er zog sofort los und unterhielt sich mit einer süßen Salazar-Wachfrau ungefähr in unserem Alter. Ich verdrehte die Augen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass Felix jedes einzelne Mädchen in Cloudburst Falls kannte. Besonders die hübschen.

Die Salazar-Wachen beäugten mich wachsam und neugierig. Immerhin war ich ein neues Mitglied der Sinclair-Familie und damit eine unbekannte Größe. Ihre scharfen Blicke registrierten alles an mir: mein schwarzes Haar und die tiefblauen Augen, die silberne Manschette an meinem Handgelenk, die mit Pflaumenschleim verklebte Kleidung, meine Turnschuhe.

Doch das, was ihre Aufmerksamkeit fesselte, war das Schwert an meiner Hüfte.

Die Waffe steckte in einer einfachen, schwarzen Lederscheide. Doch der Knauf war natürlich zu sehen, sodass jeder den fünfzackigen Stern erkennen konnte, der ins Metall eingraviert war. Kleinere Sterne zogen sich über das Heft nach unten und zierten auch die Klinge selbst.

Überraschung blitzte in den Augen der Wachen auf und ein paar von ihnen fingen an, miteinander zu flüstern. Wahrscheinlich fragten sie sich, ob mein Schwert wirklich aus Bluteisen bestand. Angesichts des Namens des Metalls hätte man erwartet, dass die Klinge von einem rostigen Rot war, doch tatsächlich erschien das Schwert in einem dumpfen, ascheähnlichen Grau. Diese Schwerter wurden von den meisten Magiern Schwarze Klingen genannt, aufgrund einer einzigen, grauenhaften Tatsache – je mehr Blut auf die Klinge gelangte, desto dunkler wurde das Metall.

Mir gefiel die Musterung durch die Salazar-Wachen nicht und ich musste die Hände zu Fäusten ballen, um mich davon abzuhalten, die Finger um das Heft des Schwertes zu schließen und damit die Ornamente darauf vor Blicken zu verbergen.

Bluteisen war selten und die meisten Waffen, die daraus bestanden, ziemlich wertvoll – so wertvoll, dass die Symbole und Wappen der Familien ins Metall eingraviert wurden, um dafür zu sorgen, dass die Klingen leicht zu erkennen und auf dem Schwarzmarkt schwerer zu verkaufen waren. Selbst ich hatte niemals eine Schwarze Klinge gestohlen, weil sie einfach die Mühe nicht wert waren, die es Mo Kaminsky, meinen Pfandleiher-Freund, gekostet hätte, sie zu verkaufen.

Und ich hatte nie auch nur darüber nachgedacht, meine Schwarze Klinge zu verkaufen. Das Schwert hatte einst meiner Mom gehört und es gehörte zu den wenigen Dingen, die ich noch von ihr besaß, zusammen mit dem sternförmigen Saphirring.

»Je mehr du versuchst dein Schwert zu verstecken, desto mehr Aufmerksamkeit erregt die Klinge und du ebenfalls«, murmelte Devon, der meine Anspannung bemerkt hatte. »Du bist jetzt eine Sinclair, Lila. Du musst dich nicht mehr in den Schatten verstecken. Nicht vor den Salazars und auch vor niemand anderem. Wir passen aufeinander auf, schon vergessen?«

»Klar. Genau.«

Ich lächelte ihn an, aber gleichzeitig presste ich die Fingernägel in meine Handfläche, um mich davon abzuhalten, trotzdem nach meinem Schwert zu greifen.

Devon kaufte uns mit dunkler Schokolade glasierte Äpfel mit einer dicken Kruste aus gerösteten Mandeln und Himbeersirup. Felix schnappte sich seinen Apfel, dann ging er wieder zu der Salazar-Wache, um weiter zu flirten.

»Komm, wir setzen uns ein paar Minuten in den Schatten«, schlug Devon vor. »Es wird eine Weile dauern, bis Felix die Luft ausgeht.«

Ich schnaubte. »Die Luft ausgehen? Machst du Witze? Er isst diesen Apfel noch schneller, als er redet. Der Zuckerschub wird ihn nur noch anheizen.«

Devon lachte und zusammen gingen wir zur nächstgelegenen Bank, die von einem hohen Ahornbaum beschattet wurde. Ich spähte in den Baum hinauf, konnte aber keine Trolle entdecken. Nur ein paar Steinhörnchen, die auf den Ästen herumsprangen und fröhlich in Richtung ihrer Verwandten, den Streifenhörnchen, keckerten.

Wir hatten die Bank fast schon erreicht, als mir plötzlich klar wurde, wo genau im Park wir uns befanden – an der Stelle, wo meine Mom Devon einst vor einer Entführung gerettet hatte.

Weiße Sterne blitzten vor meinen Augen auf und drohten sich zu einer einzigen, durchgehenden Wand zu verbinden, hinter der die Gegenwart verschwinden würde, um mich stattdessen in die Vergangenheit zu katapultieren.

Und mich dazu zwang, all die schrecklichen Erinnerungen erneut zu durchleben, die ich so gerne vergessen wollte.

Devon bemerkte meine betroffene Miene. Er verzog das Gesicht, weil er sofort erkannte, woran ich gerade dachte.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hatte nicht bemerkt … Wir können auch woanders hin …«

Ich zwang mich, gegen die weißen Sterne anzublinzeln, dann schüttelte ich den Kopf. »Nein, ist schon okay. Wirklich. Setzen wir uns doch.«

Ich zog los und ließ mich auf die Bank fallen, wobei ich mich bemühte, nicht über das letzte Mal nachzudenken, als ich hier gesessen und mit meiner Mom Eis gegessen hatte. Wieder stiegen diese weißen Punkte vor meinen Augen auf, doch ich zwang sie zurück. Ich hatte diesen schrecklichen Tag in meinem Kopf schon Tausende Male durchlebt und ich wollte das einfach nicht mehr. Nicht, wenn ich andere Dinge hatte, über die ich nachdenken musste.

Wie darüber, an Victor Draconi Rache für den Mord an meiner Mom zu üben.

Devon setzte sich neben mich, so nah, dass seine Schulter in stummer Unterstützung meine berührte. Ich sah ihn nicht an, weil ich auf keinen Fall das sanfte Mitgefühl sehen – oder fühlen – wollte, das im Moment sicherlich in seinen Augen stand. Dann würde ich ihn nur noch mehr mögen, als ich es sowieso schon tat. Ich mochte ja eine Schwäche für einen süßen Jungen haben, aber ich war keine Närrin. Und nachdem ich vorhatte, die Sinclairs und Cloudburst Falls so bald zu verlassen, wie ich nur konnte, hatte es einfach keinen Sinn, etwas mit Devon anzufangen, das nur allzu bald wieder enden musste.

Besonders, weil er mir jetzt schon viel zu viel bedeutete.

Devon drückte noch einmal seine Schulter gegen meine, dann rutschte er ein Stück zur Seite, um mir den Freiraum zu lassen, von dem er wusste, dass ich ihn brauchte.

Wir saßen da, aßen unsere Äpfel und beobachteten den bunten Touristenstrom. Das angespannte Schweigen zwischen uns verlor an Spannung und die weißen Sterne und die Erinnerungen verblassten. Sicher, ich wünschte mir, meine Mom wäre immer noch am Leben. Aber sie wäre glücklich gewesen, mich hier mit Devon zu sehen. Meine Mom hatte für die Sinclairs gearbeitet, bevor sie mich geboren hatte, und sie wäre stolz gewesen zu sehen, was für ein toller Kerl Devon geworden war – und dass sie sich nicht umsonst für seine Rettung geopfert hatte.

Zehn Minuten später hatten Devon und ich aufgegessen und warfen die dazugehörigen Holzstäbe in einen Mülleimer.

Devon schaute zu Felix, der immer noch mit der Salazar-Wachfrau plauderte. »Wenn er so weitermacht, kriegt er noch Probleme mit seiner Freundin.«

»Welche Freundin?« Ich versuchte locker zu klingen, doch ganz gelang es mir nicht.

Devon schnaubte. »Die Freundin, mit der er sich ständig heimlich trifft. Erzähl mir nicht, du hättest das nicht bemerkt. Felix schleicht sich ununterbrochen mit einer Rose oder Pralinen oder etwas anderem, was ihr gefallen könnte, aus dem Herrenhaus. Den Kerl hat es übel erwischt.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Ich bin mir sicher, er wird sich schon bald jemand anderen suchen. Schau dir doch an, wie er flirtet. Glaubst du wirklich, dass irgendein Mädchen – und noch weniger eine Freundin – sich damit abfinden könnte?«

Auch Devon zuckte mit den Schultern. »Hängt vom Mädchen ab und davon, wie es in Bezug auf Felix empfindet. Ich weiß gar nicht, warum er sich die Mühe macht, mit anderen zu flirten, wo doch so offensichtlich ist, wie verrückt er nach ihr ist.« Er atmete tief durch. »Ich weiß genau, wie er sich fühlt.«

Er sah mich nicht an und das war auch gut so, wenn man bedachte, dass ich gerade rot wurde wie eine Tomate. Vor ein paar Wochen hatte Devon mir gestanden, wie er in Bezug auf mich empfand, aber ich hatte ihn auflaufen lassen und erklärt, wir sollten einfach Freunde bleiben. Dies war das erste Mal, dass er seitdem seine Gefühle ansprach. Ich fragte mich, wieso er ausgerechnet jetzt davon anfing und wie lange ich ihn noch von mir fernhalten konnte, statt einfach nachzugeben und herauszufinden, ob er so gut küsste, wie er aussah …

»Oh, schau mal«, erklang eine höhnische Stimme. »Da sind Diedeldei und Diedeldumm.«