Cover

Über dieses Buch:

Im Berlin der 30er Jahre wachsen die Freundinnen Jola und Luise Seite an Seite auf. Sie sind grundverschieden, und doch unzertrennlich: Während Jola in dieser Zeit des Umbruchs schon früh vernünftig ist, hat Luise viele Flausen im Kopf – doch gemeinsam erträumen sie sich ihre ganz eigene Welt. Sie erleben die erste große Liebe und nehmen sich ihr Recht auf Fröhlichkeit, wann immer sie können. Bis auch sie von den Schrecken des Krieges eingeholt werden …

Bewegend und mit autobiographischen Elementen erzählt die Bestsellerautorin Barbara Noack die Geschichte von zwei Freundinnen, die der schweren Zeit der Kriegsjahre trotzen und nicht müde werden, sich täglich eine Handvoll Glück zu erkämpfen.

Über die Autorin:

Barbara Noack, geboren 1924, hat mit ihren fröhlichen und humorvollen Bestsellern deutsche Unterhaltungsgeschichte geschrieben. In einer Zeit, in der die Männer meist die Alleinverdiener waren, beschritt sie bereits ihren eigenen Weg als berufstätige und alleinerziehende Mutter. Diese Erfahrungen wie auch die Erlebnisse mit ihrem Sohn und dessen Freunden inspirierten sie zu vieler ihrer Geschichten.
Ihr erster Roman »Die Zürcher Verlobung« wurde zweimal verfilmt und besitzt noch heute Kultstatus. Auch die TV-Serien »Der Bastian« und »Drei sind einer zu viel«, deren Drehbücher die Autorin verfasste, brachen in Deutschland alle Rekorde und verhalfen Horst Janson und Jutta Speidel zu großer Popularität.

Barbara Noack veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Romane »Die Zürcher Verlobung«, »Der Bastian«, »Danziger Liebesgeschichte«, »Drei sind einer zuviel«, »Brombeerzeit«, »Das Leuchten heller Sommernächte«, »Die Melodie des Glücks«, »So muss es wohl im Paradies gewesen sein«, »Jennys Geschichte«, »Der Duft von Sommer und Oliven«, »Der Zwillingsbruder«, »Das kommt davon, wenn man verreist«, »Auf einmal sind sie keine Kinder mehr«, »Was halten Sie vom Mondschein?«, »Valentine heißt man nicht«, »Der Traum eines Sommers« und »Ein Stück vom Leben. Schwestern der Hoffnung - Band 2«. Auch bei dotbooks erschienen ihre Erzählbände »Flöhe hüten ist leichter«, »Eines Knaben Phantasie hat meistens schwarze Knie« und »Ferien sind schöner« sowie die Sammelbände »Valentine heißt man nicht & Der Duft von Sommer und Oliven« und »Schwestern der Hoffnung - Die Saga in einem Band«.

***

eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 1982 by Langen Müller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Berlin

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Andrey Popo, Jue Valokuvaus

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-542-6

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Eine Handvoll Glück« an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Barbara Noack

Eine Handvoll Glück

Roman

dotbooks.

Lieber eine Handvoll Glück

als ein Haufen Verstand.

Russisches Sprichwort

Erstes Kapitel

Jeden Morgen, wenn ich darauf warte, daß der Toast nach Toast zu riechen beginnt und das Wasser für den Tee kocht, schaue ich aus dem Küchenfenster auf die Endvierziger in leuchtend bunten Trimmdichanzügen, die am Haus vorüberjoggen. Sie stoßen keuchend Dampf in die Morgenluft wie eine alte Lok aus meiner Kinderzeit; ihre Füße platschen bleiern über das Pflaster, sie können schon nicht mehr, aber sie geben nicht auf. Und wenn sie tot umfallen, sind sie wenigstens gesund gestorben.

Mein Vater, mit Ende vierzig, hielt nicht auf Figur, sondern auf Würde. Jede Art von unnatürlicher Beschleunigung war ihm verhaßt. Er trug Bauch, das stand ihm zu, und einen Gehpelz – das Wort besagt es schon –, dazu Melone, Spazierstock und graue Gamaschen über den Schuhen. Wofür, habe ich nie begriffen, denn oben auf dem Fuß friert man am wenigsten. Mir jedenfalls wurden immer zuerst die Zehen klamm, und bis zu denen reichten die Gamaschen nicht. Vor allem habe ich nie begriffen, wie eine um zwanzig Jahre jüngere, hübsche Frau wie meine Mutter sich in so einen würdigen Herrn verlieben konnte. Aber sie sah in einem Mann wohl etwas anderes als ich, darum ist ihre Ehe auch so gutgegangen.

Sie heirateten in Berlin, kurz nach Beendigung der Inflation. Auf die Hochzeitsreise wurde sie allein geschickt; mein Vater wollte nachkommen, sobald er ein geeignetes Zuhause für sie gefunden hatte – ein schwieriges Unternehmen in Anbetracht der großen Wohnungsnot. Bisher hatten beide möbliert gelebt, meine Mutter bei einer Gesangslehrerin im Hinterstübchen, mein Vater bedeutend komfortabler bei einer Dame, die sich Hoffnungen auf ihn gemacht hatte und nun Gift und Galle spuckte wegen meiner Mutter, dem jungen Ding.

Ziel der einteiligen Hochzeitsreise war das Rittergut Mayden bei Ludwigslust. »Gediegenes Herrenhaus. Ende 17. Jahrhundert. Schöne Pappelallee. Guck mal nach, Charlotte, ob das Taubenhaus noch steht.« Mein Vater hatte auf Mayden glückliche Ferien verbracht bei seinem Onkel Wilhelm, inzwischen zweiundneunzig, aber noch immer gut beisammen, zumindest seine Schrift in dem Brief zu ihrer Hochzeit, wie gestochen.

***

Onkel Wilhelm hatte versprochen, meine Mutter persönlich am Bahnhof in Empfang zu nehmen. Damit sie ihn auch gleich erkennen konnte, zeigte ihr mein Vater eine kartonierte Fotografie, auf genommen anläßlich einer Familienfeier im Jahre zwölf. Vorn sitzen die Tanten, unmenschlich ernst vor lauter Würde und Rechtschaffenheit und wohl auch wegen der angereisten Fotografen, nicht nur wegen der Zahnlücken. Auch Kinder lachten nicht, sondern guckten wie hypnotisierte Kaninchen in die Kamera.

Hinter den Tanten standen stocksteif die männlichen Anverwandten. Zwischen all den hellen Dickschädeln mein damals noch zierlicher, schwarzlockiger, schnauzbärtiger Vater. Onkel Wilhelm mit seinen Einsneunzig überragte sie alle. Sein rundes Gesicht unter dem viel zu kleinen Hut sah aus wie das Zifferblatt einer Kirchturmuhr.

»Du wirst ihn mögen, Lotte«, sagte mein Vater zu meiner Mutter. »Kavalier der alten Schule. Unverheiratet. Ist ihm gelungen, sich erfolgreich gegen das Verkuppeltwerden mit überzähligen Gutstöchtern aus der Nachbarschaft zu wehren. Überhaupt ein Einzelgänger. Hat sich nie in die Karten schauen lassen, auch nicht von der Familie. Von der schon gar nicht. Und bitte, sag nichts gegen Bismarck, Lotte. Onkel Wilhelm war ein großer Verehrer von ihm. Hat ihm zu Lebzeiten immer Kiebitzeier zum Geburtstag geschickt.«

»Warum?« fragte ich später meine Mutter, von der ich die Geschichte ihrer seltsamen Hochzeitsreise erfahren habe. »Warum Kiebitzeier?«

Das wußte sie auch nicht genau. »Vielleicht, weil sie ihm besser schmeckten als Hühnereier.«

***

Sie sah Onkel Wilhelm sofort auf dem Perron stehen, als der Zug in Ludwigslust einfuhr. Er ragte noch immer über seine Mitmenschen hinaus, nur sein dicker Bauch war fort, als ob man die Luft aus ihm gelassen hätte, und sein Gesicht war noch enger um den zahnlosen Mund zusammengeschnurrt.

Er empfing sie mit formvollendetem Handkuß, anerkennend nuschelnd: »Dunnerlitjen, der Franz hat einen guten Geschmack!«, und überreichte ihr eine entblätterte Rose.

Zur Feier ihrer Ankunft hatte er seinen Bratenrock angelegt, der von oben bis unten bekleckert war und an den Kanten abgestoßen, genau wie sein schmuddeliger Umlegekragen.

Meine Mutter hatte sich während der Reise die Kutschfahrt nach Mayden vorgestellt: Rechts und links abgeerntete Felder und Wiesen unter schleierhaft weißen Herbstnebeln. Am Ende der entlaubten Pappelallee das Herrenhaus. Dicke Mamsell mit weißer, gestärkter Schürze zur Begrüßung. Kaminfeuer. Und eine schöne heiße Tasse Bouillon.

Es wartete aber keine Kutsche vorm Bahnhof. Der mürrische Hausbursche eines Gasthauses nahm ihren Koffer auf die Schulter.

Onkel Wilhelm reichte meiner Mutter den Arm. So schritten sie gravitätisch über das Kopfsteinpflaster einem Gasthaus zu, in dem er ein Zimmer für sie reserviert hatte.

Onkel Wilhelm begleitete sie bis vor ihre Tür. »Sobald du dich frisch gemacht hast, liebe Charlotte, erwarte ich dich auf Nummer neun. Ich habe dort einen Imbiß für dich vorbereitet.« Meine Mutter machte sich frisch und begriff nicht: Warum hier? Warum fuhren sie nicht nach Mayden? Das Zimmer Nummer neun ging zum Hof, es war eng wie ein Karzer, weil mit viel zu wuchtigen Eichenschränken vollgestellt. Das Schlimmste war der Mief. Es war der Mief eines uralten Mannes, der nichts von Waschen und Frischluft hält. Nur der Wunsch, einen guten Eindruck vor Franz’ Lieblingsonkel zu machen, hielt meine Mutter davon ab, ohnmächtig hinzusacken. Onkel Wilhelm führte sie zu seinem einzigen Backensessel: Nimm Platz, liebe Charlotte.

Aus dem Wärmerohr des Ofens holte er eine Biedermeierkanne und stellte eine Blechschachtel mit versteinerten Lebkuchen auf den Tisch. Die hatte ihm eine Verwandte einmal zu Weihnachten geschickt. In welchem Jahr das gewesen war, fiel ihm nicht mehr ein, aber wenn man sie lange genug eintunkte, waren sie noch recht schmackhaft, meinte Onkel Wilhelm.

Während sie Kakao tranken und Lebkuchen einstippten, stolzierten seine Komplimente steifbeinig über den Tisch zu meiner Mutter. Er pries ihren sanften Liebreiz, fand sie jedoch zu mager: Komm, trink noch eine Tasse, Charlotte, damit du was auf die Rippen kriegst.

Meine Mutter hatte zwar vorgehabt, sich auf dem Lande ein bißchen herauszufuttern, sie hatte dabei nur nicht an klütrigen, im Rohr gewärmten Kakao gedacht.

Irgendwann – im Laufe der schleppenden Unterhaltung – grinste Onkel Wilhelm zahnlos verschmitzt: »Ich habe eine Überraschung für dich, Charlotte, aber erzähl nur ja nichts den Verwandten, vor allem nicht deiner neidischen Schwägerin Ida, sonst kommen sie angereist und wollen mich anpumpen.« Er senkte die Stimme, als ob die Verwandten bereits, in Zimmerschränken versteckt, nach seinem Vermögen geierten, und gab endlich sein großes Geheimnis preis: »Ich bin ein reicher Mann, ich könnte ganz Mecklenburg aufkaufen.«

»Oh, das freut mich für dich«, sagte sie herzlich, »aber wann fahren wir nun endlich nach Mayden?«

»Ich habe es verkauft.« Onkel Wilhelm nahm Haltung an: »Vor dir, Charlotte, sitzt ein vielfacher Billionär.«

Meine Mutter, mit der – laut Dostojewskij – »Kurzsichtigkeit einer schönen Seele« ausgerüstet, begriff noch immer nicht, bis Onkel Wilhelm sein schreckliches Unterbett anhob und ihr einen Blick auf viele, viele plattgelegene Bündel mit Inflationsgeld gewährte. Jetzt dämmerte es auch ihr.

»Wann hast du verkauft, Onkel Wilhelm?«

»Vor zwei Monaten. Den Bankern kann man ja nicht trauen, das sind alles Filous. In meinem Bett vermutet niemand das Geld, und du darfst es auch keinem sagen, Charlotte.«

»An wen hast du verkauft?« fragte sie, und er: »Schnakeberg heißt der Mensch, aus Hannover. Keine Kiste, aber liquide. Zahlte aus dem Koffer. Seinen Notar – sehr seriös, ehemaliger Herrenreiter – hatte er gleich mitgebracht. Sie haben den ganzen ollen Klumpatsch« – er meinte die hundertfünfzigjährige Einrichtung des Hauses – »mit übernommen. In Bausch und Bogen. Nur paar Möbel aus dem Comptoir habe ich behalten«, er wies auf die eichernen Riesen, die das Zimmer verdüsterten und mit ihren Ausmaßen die Platzangst in demselben förderten. »Na, Charlotte, da staunst du, was?«

Ja, da staunte Charlotte. Mit einem blassen Gefühl in den Knien fragte sie, ob sie heruntergehen und Franz telegrafieren dürfe, daß sie gut angekommen sei.

»Ja, tu das, mein Kind«, sagte Onkel Wilhelm gemütlich und zündete sich eine von den Brasilzigarren an, die sie ihm aus Berlin mitgebracht hatte.

In der Gaststube erwartete sie bereits der Wirt mit einem Bündel unbezahlter Rechnungen.

»Ist man höchste Zeit, gnä Frau, daß mal einer nach dem ollen Herrn guckt. Ich wollte schon schreiben, aber wußte ja nicht wohin, und sagen tut er ja nischt. Zwei Monate is er all hier – wenn ich geahnt hätte, was ich mir mit dem aufladen tu. Meine Schwester Mine ist schuld, die war mal Mamsell auf Mayden. Sie hat gesagt, ich muß ihn aufnehmen. Das wäre Menschenpflicht. Aber was hat Mine davon? Er ist kiebig zu ihr und läßt sie nicht in sein Zimmer zum Saubermachen. Der Gestank, gnä Frau, und nächtens rumort er – meine andern Gäste können nicht schlafen.«

»Zahlt er nicht seine Miete?« unterbrach ihn meine Mutter, auf die vielen Rechnungen weisend, die in der Wirtshand vor ihrer Nase wedelten wie ein Fächer vor einer, die ohnmächtig werden will.

»Zahlen tut er. Pünktlich auf die Minute, aber man bloß mit Inflationslappen, die nicht das Schwarze unterm Nagel wert sind. Daß wir inzwischen Rentenmark haben, geht nich mehr in seinen alten Kopp. Wenn die gnä Frau vielleicht Richtigkeit machen wollen?«

»Ich möchte ein Telegramm aufgeben«, sagte meine Mutter, »mein Mann muß sofort kommen.«

Mein Vater machte den Fehler, seine Schwester Ida zu benachrichtigen, die wiederum alarmierte die übrigen noch lebenden Verwandten. Sie reisten alle am nächsten Tag an und wollten nicht begreifen, daß der ganze schöne Besitz dahin war, unwiderruflich dahin, für wertlose Papierfetzen an einen cleveren Spekulanten.

Sie jammerten und rangen die Hände und schimpften auf Wilhelm im Backenstuhl nieder. Ein Referendar aus Wolfenbüttel sagte: »Oh, hätten wir Onkel doch rechtzeitig entmündigen lassen!«

Mißtrauisch-verstört, wie verhagelt, hockte er da, langsam begreifend, daß mit seinem Billionengeschäft etwas faul sein mußte. Das volle Ausmaß seiner Wahnsinnstat erreichte sein Bewußtsein nicht, und das war gut so. In seinem zweiundneunzigjährigen, mit Hypotheken und Mißernten belasteten Landwirtsleben hatte er sich zum erstenmal zwei Monate lang als sorgenfreier Mann gefühlt. Bedürfnisse hatte er keine mehr, es genügte ihm, einmal pro Nacht sein Unterbett zu lupfen, die Billionen zu kontrollieren und sich an seinem immensen Reichtum zu freuen.

»Aber die Elbwiesen müssen doch noch da sein«, fiel Tante Ida ein. »Die gehörten ja nicht zum Gut.«

»Die Elbwiesen«, überlegte Onkel Wilhelm, »ja, die sind wohl in der Summe mit drin.«

Idas Mann, der Professor, erlitt einen Herzanfall, den nur meine naive Mutter ernst nahm.

Das Erbe war futsch. Nur der Erbonkel war noch da. Wohin mit Onkel Wilhelm? Wo fand man so schnell für ihn einen Platz im Altersheim? Und wo sollte er inzwischen aufbewahrt werden? Der Gastwirt lehnte ab, die Verwandten lehnten ab. Niemand wollte den alten Mann.

Einzig mein Vater erinnerte sich noch an seine Jugend voller Freiheit und Abenteuer auf Mayden.

Meine Eltern holten ihre Hochzeitsnacht in knarrenden, durchgelegenen Gasthofbetten nach. Eine Hochzeitsnacht zu dritt, denn Erbonkel Wilhelm lag die ganze Zeit dabei auf ihrem Gewissen herum.

»Liebe Charlotte«, sagte mein Vater endlich im Dunkeln. »Wo es mir doch gelungen ist, eine Bleibe für uns im Grunewald zu finden – es wäre ja auch nur vorübergehend … aber wenn du nicht willst …«

Meine Mutter kam ihm zu Hilfe. »Ja, Franz, wir nehmen ihn mit.«

Immer die Anständigen sind die Dummen.

Mein Vater zahlte Onkel Wilhelms Schulden und die Renovierung seines Gasthof Zimmers. Meine Mutter packte indessen Onkels Habseligkeiten, die noch zum Mitnehmen lohnten, in seine schäbige Reisetruhe. Dazu gehörten sein Jagdanzug, genauso bekleckert wie der Bratenrock, zwei Paar zerknitterte Zugstiefel, Familienbilder, sieben bleischwere Bücher über Otto von Bismarck, eine KPM-Fischschüssel, groß genug für einen mittleren Hai, zwei Zinnkrüge, die Biedermeier-Kakaokanne, seinen Säbel mit Portepee und natürlich die Billionen. Von denen wollte er sich partout nicht trennen. Wer weiß, vielleicht würden sie eines Tages wieder aufgewertet.

Auf der Fahrt nach Berlin, als der Zug in Neuruppin hielt, betrachtete meine Mutter beklommen das Mitbringsel von ihrer idyllischen Hochzeitsreise: Onkel Wilhelm. Er schnarchte hinter der braunen Fenstergardine, die er über seinen Schlaf gezogen hatte.

»Was machen wir mit ihm, wenn die Geheimrätin, bei der du gemietet hast, kündigt, weil sie den Onkel in ihrer Wohnung nicht haben will?« fragte sie meinen Vater.

Er wußte es auch nicht.

Die Wohnungsnot damals war katastrophal. Eigene, abgeschlossene vier Wände konnten sich nur Kapitalisten leisten. Mein Vater war kein Kapitalist. Er konnte sich schon gar nicht einen Erbonkel leisten. Ihm blieb nur die Untermiete in ehemaligen Herrschaftswohnungen übrig, deren Besitzer patriotischen Sinnes ihr Vermögen in Kriegsanleihen angelegt, ihr »Gold für Eisen« gegeben und den Rest in der Inflation verloren hatten. Nun ließen sie ihre Untermieter täglich dafür leiden, daß sie untervermieten mußten.

Die Räume, die mein Vater bei der Geheimratswitwe im Grunewald gefunden hatte, bestanden aus einem Speisezimmer 6x10 Meter im Ritterstil der Makartzeit, ein knarrender Alptraum für 24 Gäste, wenn man die Tafel auszog. Der Spiegelaufsatz des Buffets wurde rechts und links von kastellartigen Gläserschränken mit vorspringenden Altanen für Nippes gestützt. Neuschwanstein war schlicht dagegen. Jedesmal, wenn die Straßenbahn 76, vom Roseneck kommend, Richtung Wittenbergplatz und retour am Haus vorüberfuhr, entstand eine Erschütterung, die ausreichte, um das ebenso trutzige wie blödsinnige Buffet in klirrende Hysterie zu versetzen. Das Parkett ächzte bei jedem Schritt, die Stühle knarrten. Hinter der mit einem Bucharateppich verhängten Schiebetür zum angrenzenden Herrenzimmer hörte man die Geheimrätin rumoren. Unterhaltungen fanden deshalb im Flüsterton statt. In dieser anheimelnden Umgebung – auf Notbetten hinter einem chinesischen Lackparavant, der das Schlafabteil vom Rittertum trennte – begann der Honigmond meiner Eltern.

Onkel Wilhelm wurde im zweiten gemieteten Zimmer untergebracht, einem Biedermeiersalon. Die Geheimratswitwe hatte wider alle Befürchtungen den Onkel in ihrer Wohnung akzeptiert, weil er ein Herr von Stand war, ein Rittergutsbesitzer a. D., den sie zum Tee bitten und ihm dabei von den Glanzpunkten ihres Lebens erzählen konnte. Sogar bei Hofe hatte sie verkehrt.

Meist schlief Onkel Wilhelm, pfeifend und sägend, über ihren langatmigen Erinnerungen ein, aber das kränkte die Geheimrätin nicht. Wenn er nur dasaß – inzwischen leidlich sauber, mit geputzten Stiefeln, In ihrer beider Alter führte man sowieso keine gehaltvollen Gespräche mehr, sondern hielt Monologe über die eigene Vergangenheit. Zwischendurch tranken sie Tee, mümmelten eingeweichten Zwieback und hatten beide persönlich den Eisernen Kanzler gekannt.

Wenn ich mir diese Flitterwochen in einem Ritterzimmer mit einem soviel älteren Mann, Tür an Tür mit einer achtundachtzigjährigen Geheimrätin und einem zweiundneunzigjährigen Erbonkel, vorstelle … spätestens nach drei Tagen wäre ich davongelaufen. Nicht so meine Mutter. In ihr war kein Aufruhr. Sie hatte meinen Vater geheiratet, weil sie ihn von Herzen liebte, und nahm die Umständlichkeiten, die er ihr präsentierte, sanften Gemütes hin. Sie wollte ihre gutbürgerliche Ehe, und dafür war sie duldsam bis zur Selbstaufgabe.

***

Dann wurde sie schwanger in diesem Altersheim. Und dachte immer zielstrebiger an das Biedermeierzimmer mit der lila-gestreiften Tapete und den weißen Scheitelgardinen, das Onkel Wilhelm ramponierte.

Zum erstenmal erwachte Egoismus in ihr für das werdende Kind. Ihr Kind durfte nicht in dieser Umgebung sein Dasein beginnen. Das Kind würde sich dort einen lebenslänglichen Ritterschaden holen.

»Entweder Onkel Wilhelm zieht aus, oder wir müssen uns was anderes suchen, Franz«, sagte sie zu meinem Vater und erlebte zum erstenmal seine Begabung, sich vor Entscheidungen zu drücken: Er versprach »Jaja« und begab sich auf Geschäftsreise. Im Verlaufe ihrer achtzehnjährigen Ehe würde er nie da sein, wenn dringend gebraucht. Meine Mutter mußte alle Entscheidungen allein treffen. Aber das hatte auch einen Vorteil: Sie bildete sich dadurch frühzeitig zur selbständigen Witwe.

Mein Vater ging also auf Reisen, meine Mutter ging auf Wohnungssuche. Ihr Kind sollte es sonnig und freundlich haben. Ich habe es sonnig und freundlich gekriegt. Dafür sorgte Onkel Wilhelm.

Eines Morgens, an einem 1. April, als sie auf den Markt gegangen war, legte er seinen Jagdanzug an und bat die Geheimrätin um ein Kursbuch der Eisenbahn. Nach langem Suchen fand sie eins aus dem Jahre 1912, aber das störte unseren Onkel nicht. Preußische Abfahrts- und Ankunftszeiten änderten sich seiner Meinung nach nicht, auch wenn inzwischen ein Weltkrieg stattgefunden hatte. Selbigen hatte Onkel längst aus seinem Gedächtnis verdrängt. Er wollte nach Friedrichsruh fahren, um seinem Kanzler eigenhändig zum Geburtstag zu gratulieren, wühlte im Kursbuch herum, notierte sich einen Zug, verabschiedete sich formvollendet von der Geheimrätin mit der Versicherung, übermorgen zur gemeinsamen Teestunde wieder zurückzusein. Ehe die alte Dame, in ihre Korrespondenz vertieft, sein absurdes Vorhaben begriffen hatte, war es bereits zu spät, ihm nachzueilen und ihn einzufangen.

Onkel Wilhelm trottete zielbewußt auf sein Lebensende zu. Nach Aussagen des Chauffeurs, dessen Taxi er am Roseneck bestieg, wollte er zum Bahnhof gefahren werden.

»Zu welchem, Opa, wir haben ’ne janze Menge in Berlin.«

Onkel Wilhelm soll darauf ratlos geblickt haben, In Ludwigslust, wo er die meiste Zeit seines Lebens in Züge gestiegen war, hatte es ja bloß einen gegeben.

Der Taxifahrer zählte ihm geduldig einige zur Auswahl vor: »Anhalter, Lehrter, Stettiner, Schlesischer – und wie wär’s mit dem Bahnhof Zoo?«

»Fahren Sie zum Zoo«, entschied Onkel Wilhelm, »aber’n bißchen Trab! Der Kanzler wartet.«

Nun wundert sich ein Berliner Taxichauffeur schon seit der Zeit, als er noch Pferdedroschke fuhr, so ziemlich über gar nichts mehr. Hauptsache, der Kunde verunreinigt die Polster nicht und zahlt.

Onkel Wilhelm wollte am Bahnhof Zoo mit Inflationsgeld zahlen, von dem er ein dickes Bündel aus seiner Manteltasche zog, aber der Chauffeur war damit nicht einverstanden.

»Opa, wenn Se mir verscheißern wollen, uff die Tour nich.« Und hielt ihn sicherheitshalber am Ärmel fest, als er verstört enteilen wollte.

Onkel ließ den Mantel sausen, es war ihm ja jedes Kleidungsstück fast drei Nummern zu weit. Der Chauffeur hielt den Ärmel in der Hand und konnte es nicht verhindern, daß Onkel Wilhelm geradewegs in den Stadtverkehr hineinflüchtete.

Ein Lieferwagen konnte leider nicht mehr bremsen.

Am nächsten Tag stand es in der BZ und im 12-Uhr- Blatt.

Der Taxifahrer drückte meiner Mutter sein Bedauern aus: »Ick hab ja schon beim Einsteigen jemerkt, daß der olle Krauter ’n bißken plemplem is. Aber wer ahnt denn so wat!«

Onkel Wilhelm starb zwei Tage später im Krankenhaus, bis zuletzt bei vollem Bewußtsein und in großer Sorge, der Kanzler könnte ihm übelnehmen, daß er, wenn er schon keine Kiebitzeier schickte, nicht persönlich zu seinem Geburtstag in Friedrichsruh angetreten war.

Meine Mutter, an seinem Krankenbett geduldig ausharrend, beruhigte ihn: »Bismarck ist dir bestimmt nicht böse. Der Kanzler ist doch lange tot.«

»So«, wunderte sich Onkel Wilhelm. »Ist er also gestorben. Wann war denn das?«

»Am 30. Juli 1898, abends zehn Uhr.« Was ihr einmal in der Schule eingedrillt worden war, das saß in ihrem Gedächtnis auf Abruf parat.

Onkel Wilhelm erschütterte diese Mitteilung sehr. Er drehte sich zur Wand. »Ich bin müde, Charlotte. Geh nach Haus.« Und als sie sich entfernte, nuschelte er hinter ihr her: »Aber bring es der Geheimrätin schonend bei.«

Die Geheimrätin erschütterte Bismarcks Tod im Jahre 1898 weit weniger als das Ableben Onkel Wilhelms.

Schließlich hatte er ihre lang verwelkte Weiblichkeit zu einer Spätblüte angeregt.

Ihr lieber teurer Freund, der Rittergutsbesitzer a.D., war viel zu früh (dreiundneunzigjährig) von ihr gegangen und mit ihm der letzte Handkuß eines Kavaliers der alten Schule. Nun war sie auch lebensabendmüde und voller Sehnsucht nach einem stillen Damenstift.

Sie bot meinen Eltern an, ihre Fünfeinhalbzimmerwohnung zu übernehmen, sofern sie bereit waren, die Einrichtung derselben käuflich zu erwerben.

Was blieb meinem Vater anderes übrig, als einen Kredit aufzunehmen, um all die bombastischen Alpträume aus Kirschholz, Eiche und Mahagoni zu kaufen, die im Jahre 1879 für die Aussteuer der Geheimrätin von Hand angefertigt worden waren. Dazu der von ihren Großeltern ererbte Biedermeiersalon.

Nun war mein Vater zwar verschuldet, aber Hauptmieter einer geräumigen Wohnung im Grünewald, in der sich seine Lotte in Ruhe, mit zwei Stiefmütterchenbalkonen, auf ihre wichtigste Lebensaufgabe vorbereiten konnte: Mutter zu werden. Meine Mutter.

Zweites Kapitel

Alma Schippke: 24 Jahre, schwerknochig, untersetzt, ein grobes, aggressives Gesicht, die dünnen Haare im Dutt zusammengezurrt. In all ihren Zeugnissen wurde ihre Kinderliebe hervorgehoben. Das gab den Ausschlag für ihre Einstellung. Monatsgehalt 80 Mark. Das halbe Zimmer unserer Fünfeinhalbzimmerwohnung war die Mädchenkammer neben der Küche.

Alma besaß ein Kleid und einen roten Barchentunterrock, als sie zu uns kam. Meine Mutter kaufte ihr zwei blaue Hauskleider, einen Mantel und ein schwarzes Servierkleid mit weißer Rüschenschürze und passendem Häubchen. (Alma in Rüschen sah eher nach Kostümfest aus als nach Bedienung.)

Außer ihr wurde nach meiner Geburt noch eine Säuglingsschwester engagiert. Sie hielt es nur vierzehn Tage mit Alma aus. Auch die nachfolgenden jungen Mädchen, Haustöchter genannt, vergraulte sie rigoros.

Sie wurde zur Bestie, sobald jemand in mein Kinderbett griff. Gerade meine Mutter ließ sie noch an mich heran. Sieben Jahre sollte ich unter ihrer Fuchtel leiden, unter ihrem brachliegenden Gluckentrieb. Ich war der Ersatz für ihre beiden unehelichen Kinder. Den Jungen hatte ein Fischer auf der Insel Rügen adoptiert. Almas Tochter war ein halbes Jahr älter als ich, aber kleiner, weshalb sie meine Kleider erben konnte. Sie hieß Hedwig und lebte gegen Kostgeld bei der Obstpflückerin Frau Martha Böckmann in Werder.

Zur Knubberkirschenzeit nahm mich Alma mit, wenn sie Hedwig besuchte. Bereits mit vier Jahren entwickelte sich mein Suchtverhältnis zu dieser Frucht. Ich fing an und konnte nicht mehr aufhören, Kirschen in mich hineinzuschaufeln. Anschließend führte mich Alma schnauzend zum Plumpsklo im Hof, gefolgt von Frau Böckmann mit einer Rolle Toilettenpapier. Davon zählte sie drei Blatt für mich ab, weil ich »besserer Leute Kind und das so gewohnt war«. Weniger gute Leute als ich mußten sich mit Zeitungspapier, in kleine Quadrate gerissen, auf einen krummen Nagel gespießt, begnügen.

Anhand des Werderschen Klopapiers wurde mir zum erstenmal bewußt, daß es soziale Unterschiede gibt. Bisher hatte ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht.

***

Ich kriegte keine Geschwister mehr. Der Arzt hatte es meiner Mutter verboten. Somit hatten sie und Alma kein anderes Spielzeug als mich. Habe ich Alma oft gefragt, ob sie sich nicht mal mit jemand anderem beschäftigen könnte als nur mit mir, ich wollte ja schließlich auch mal meine Ruhe haben, aber nein, nichts zu machen.

Wenn schon keine Geschwister, dann wollte ich wenigstens einen Hund. Mein Vater hätte auch gern einen gehabt, er hatte früher immer einen, aber meine Mutter sagte »Gotteswillen«. Aus hygienischen Gründen.

Wenn schon keinen Hund, dann wünschte ich mir wenigstens einen Laubfrosch im Glas. Wieso einen Laubfrosch, fragte meine Mutter, warum nicht einen Kanarienvogel oder eine Schildkröte?

Weil Kanaries und Schildkröten keine Kronen wuchsen, darum. Kronen wuchsen nur Fröschen, sofern sie verwunschene Prinzen waren.

Es war der Einfluß von Grimms Märchen, die meine Mutter schon damals als Lektüre für ihr Töchterchen ablehnte, weil sie so grausam waren. Sie kaufte mir unendlich geschmackvolle, künstlerisch wertvoll illustrierte Kinderbücher mit erzieherischem Wert. Ich blätterte sie höflich durch und legte sie beiseite. Was sollte ich mit dem harmlosen Kram? Kaum hatte sie das Haus verlassen – sie war Gott sei Dank recht oft unterwegs mußte Alma die fettfleckigen, eselsohrigen Brüder Grimm aus ihrem Versteck holen und las – ihr rissiger Zeigefingernagel hielt dabei die Zeile – mit leiernder, über schwierige Worte stolpernder Stimme den »Froschkönig« vor, »Aschenputtel«, »Die Gänsemagd« – das Märchen mit dem abgeschnittenen Pferdekopf, der sprechen konnte. Oh, du Falada, da du hangest …

Am liebsten hatten wir »Die Sterntaler« – »von wegen den Villen Zaster, wo dem armen Jör vom Himmel in sein uffjehaltnes Hemde klickert. Stell dir ma vor, Mulleken, so ville Jeld wie Sterne am Himmel!«

Geld sagte mir damals gar nichts. Trotzdem stand ich mit Alma an sternklaren Abenden auf dem Balkon, wir hielten unsere Schürzen auf, aber es rührte sich nichts am Himmel. Die Sterne klebten irgendwie fest. Und meinem Laubfrosch wuchs auch keine Krone. Mal saß er oben auf der Leiter, mal unten im Glas und zweimal täglich in Almas abgearbeiteter, roter Hand, wenn sie lebende Mehlwürmer in ihn hineinstopfte.

»Bei solchem Fraß kann ja keinem Frosch eine Krone wachsen«, sagte ich, aber Alma meinte: »Von irgendwat muß det Luder doch leben.«

Einmal las sie mir Andersens »Mädchen mit den Schwefelhölzern« vor und fing an zu schimpfen: »Det soll nun ’n Märchen sind? Det is jenau wie damals bei uns ßu Hause.

Wir Jören mußten ooch bei Wind und Wetter Schnürsenkel vakoofen, und wenn det nich klappte, mußte wa betteln oder lange Finger machen, wir konnten ja nich mit leere Hände nach Hause kommen. Sonst setzte es Keile. Stücker neun warn wa, Mulleken, von fünf vaschiedene Väta, allet Suffköppe det, und alle hamse sich französisch vadrückt und ham Muttan und uns Bälger sitzenjelassen. Und imma ham wa Kohldampf jeschoben. Nee, det is keen Märchen, det.«

Alma liebte Märchen wie »Aschenputtel«: vom Küchenherd zum Königsthron.

Ihr Schicksal waren leider keine Königssöhne, sondern die Hausierer mit Bürsten und Ansichtskarten, die über die hintere Wendeltreppe – »Dienstbotenaufgang« – in ihr Leben wendelten und, wenn meine Eltern nicht zu Hause waren, auch in unsere Küche. Sie kriegten Klappstullen und einen Topf Kaffee und zwickten Alma zum Dank in die Röcke. Dann kreischte sie froh.

Ich wußte von Almas Hintertreppenverhältnissen, auch von den Knutschereien, wobei der Hausierer unsere Alma rückwärts über den großen, frei im Raum stehenden Küchenherd schmiß, aber ich erzählte meinen Eltern nichts davon. Ich hatte es ja gut, wenn Alma mit einem Hausierer ging, dann war sie weniger hinter meiner Sauberkeit her. Dann schrumpfte das abendliche Bad zur Katzenwäsche, weil sie nicht schnell genug zu ihrem »Rangdewuh« kommen konnte. Meistens dauerte ihre Seligkeit nicht lange. Der Bräutigam ließ sie sitzen, sobald er ihren Monatslohn in Form von Präsenten kassiert hatte und ihre Hingabe und ihr Drängen nach »Ehrlichmachen« leid war.

Er zog weiter zur nächsten einsamen Köchin und raspelte ihr dasselbe Süßholz vor, auf das schon Alma hereingefallen war. Schlimm war die Zeit nach so einem verdufteten Freier. Alma scherbeite das Meißen beim Abwaschen entzwei und giftete um sich herum.

Mein Vater meinte, nun wäre es aber genug. Man könnte sich von diesem Frauenzimmer nicht alles bieten lassen, es würde ja immer schlimmer mit ihr, und außerdem würde ich niemals anständige deutsche Grammatik lernen, solange Alma im Hause war.

Meine Mutter telefonierte darauf mit dem Arbeitsamt. An Almas freiem Mittwochnachmittag stellten sich diverse Nachfolgerinnen vor. Meine Mutter fand an jeder einen Haken – schon aus Sorge, Alma zu verlieren, denn sie war inzwischen perfekt in Haushalt und Küche und hielt ihr den Kopf, wenn sie ihre schweren Migränen hatte, sie hütete mich wie ihren Augapfel, und sie war treu. Alma blieb.

***

Ich mochte keine Puppen. Sie waren mir zu niedlich und zu ausdruckslos mit ihren Klappaugen und den zwei Hasenzähnchen im leicht geöffneten Puppenmund. Selbst wenn ich sie verprügelte, um ihren Widerstand herauszufordern, schauten sie süß und dumm. Ich drosch auf ihre rosa Zelluloidpopos ein, bis mir die Hand weh tat. Der Puppe Ulla stopfte ich alte Münzen in den Mund, davon ging er kaputt. Ulla kam in die Puppenklinik und kriegte einen neuen Kopf. Zu jedem Fest schnitt ich ihnen die Haare ab aus Rache dafür, daß man mich zum Friseur geschleift hatte. Darauf verdrosch mich meine Mutter und Alma anschließend noch einmal. Dann bekamen die Puppen neue Perücken und neue Kleidchen mit passenden Höschen und saßen schon wieder unterm Weihnachtsbaum.

Heute wäre man gewiß mit mir zum Kinderpsychologen geeilt und hätte meine sadistischen Triebe unters Mikroskop geschoben und nach ihren Ursprüngen geforscht.

Dabei war es doch so einfach: Ich mochte keine Puppen, und ich mochte schon gar nicht eine liebe Puppenmutti sein. Als man das endlich einsah und die Ärgernisse an Hedwig verschenkt wurden, versiegte abrupt meine brutale Ader. Ich habe auch nie wieder versucht, jemandem den Mund gewaltsam mit Münzen vollzustopfen.

***

Almas Einfluß blieb lange Zeit stärker als der schöngeistige meiner Mutter.

Ich lernte nicht nur Küchendeutsch, sondern auch Küchengeschmack, Küchenphantasie und Küchenmelancholie.

Almas Lieder, beim Abwasch mit schriller, zittriger Stimme gesungen, gingen mir mehr ans Herz als jedes Kinderlied. »Waldesluhuhust, Waldesluhuhust, o wie einsam schlägt die Brust! Meinen Vater kenn ich nich, meine Mutter liebt mich nich, und sterben mag ich nich, bin noch so jung!«

Meistens handelten die Lieder von der Ausweglosigkeit armer, geschändeter, verjagter Dienstmädchen. Ich begriff die Texte nicht so recht, wohl aber die Schwermut in ihnen und die Einsamkeit. In einem hieß es: »Ich weiß nicht, was ich will. Ich möcht am liebsten sterben, dann wär’s auf einmal still.« Das war richtig zum Weinen.

***

Mindestens einmal im Jahr kam Alma von ihrem Mittwochnachmittagsausflug frühzeitig nach Hause und legte sich sofort aufs Bett.

Ihr Stöhnen hörte man auf dem Flur, manchmal sogar bis in seinen vorderen Teil, der sich ausweitete wie eine Schlange mit einem Karnickel im Bauch und als Diele tituliert wurde. Dort hing auch das Telefon.

»Fräulein, bitte geben Sie mir sofort Hubertus 243579«,

rief meine Mutter hinein. Das war die Nummer unseres Hausarztes.

Anschließend eilte sie in die Mädchenkammer und setzte sich zu Alma, die unter Ächzen auf den »verfluchten Saukerl« schimpfte, »dieses hundsgemeine Mistvieh«. »Spuckt jroße Töne, daß er mir heiraten wird – hat sein Vajnüjen – und wat hab ick? Aba ick doofe Nuß muß ja uff jede Hose rinfallen, gnä Frau, ick werd’ und werd’ nich klüger. Schad ma janischt.«

In den Schatten des Flurschrankes gedrückt, hörte ich die bekümmerte Stimme meiner Mutter »Alma« seufzen, »warum haben Sie mir nichts vorher gesagt? Diese Engelmacherinnen bringen Sie eines Tages noch um.«

Engelmacherinnen – das Wort gefiel mir. Eine Frau, die Engel macht. Mit Flügeln aus Rauschgold?

»Was sind Engelmacherinnen?« fragte ich Alma, als sie zwei Tage später schon wieder die Küche schrubbte.

Alma, den Scheuerlappen mit roten Händen über dem Eimer auswringend, sah mich erschrocken an. »Dumme Jöre, wo haste det Wort her? Haste jelauscht, wa?«

»Kannst du mich zu denen mal mitnehmen, wenn du hingehst?«

Sie schmiß ihr Wischtuch nach mir und drohte: »So wat sachste nie wieda, vastanden? Nie wieda! Sonst dreh ick dir den Kragen um!«

***

Einmal ging es der Alma nach dem Besuch bei einer solchen Engelmacherin so schlecht, daß meine Mutter nicht nur den Hausarzt, sondern derselbe auch noch das nächste Krankenhaus alarmierte.

Zwei Sanitäter kamen und versuchten, sie aus ihrer Mädchenkammer zu tragen, aber der Zwischenraum zwischen Bett und gegenüberliegendem Spind war zu schmal für die Bahre, so daß sie erst in der Diele zusteigen konnte. Ich sah, wie meine Mutter tröstend über Almas Haare strich, diesen dünnen, in blaßbraune Fäden aufgelösten Dutt, und versprach, sie zu besuchen.

Sonst gingen sich die beiden aus dem Wege wie Hündinnen, die eine Beißerei vermeiden möchten. Aber wenn es hart auf hart kam, waren sie ernsthaft umeinander besorgt.

»Sagen Se bloß nischt Herrn Direktor«, wimmerte Alma.

Nein, meine Mutter sagte meinem Vater nichts davon. Häuslichen Ärger hielt sie von ihm fern.

Eine Woche lang blieb Alma im Krankenhaus. Eine Woche lang war ich ihre tyrannische Liebe los. Niemand knutschte mich knallend ab, stopfte mich voll Gemüse und schrubbte mich rot.

Eine sanfte, heitere Woche ganz allein mit meiner Mutter. Ich kam früher vom Spielen heim als sonst und hörte mir ihre neueste Schallplatte aus der Operette »Liselott« an. Gustav Gründgens und Hilde Hildebrand sangen: »Gräfin, wie sind wir beide vornehm, o Gott, wie sind wir vornehm…«

Meine Mutter mußte mir den Inhalt des Stückes erzählen, ich schnitt fotografierte Menschen aus alten Magazinen aus, darunter Mussolini, Geige spielend, und die Tanzkünstlerin La Jana in einem Pyjama aus gelbem Crêpe de Chine und was sonst noch in der Größe zu ihnen paßte, und spielte die Operette mit diesen Figuren auf dem Teppich nach. Gemeinsam mit meiner Mutter schaute ich mir Kunstbücher an. Klassische Malerei. Mich interessierten dabei vor allem die nackten Heiligen.

***

Aus dem Krankenhaus entlassen, erholte sich Alma noch eine Woche in Werder bei ihrer Tochter Hedwig. Beladen mit Obstkörben und düsteren Neuigkeiten kehrte sie zu uns zurück. Zwei davon beeindruckten mich tief. Böckmanns Willy hatte die »Motten«. Er hatte sie nicht im Kleiderschrank wie wir kürzlich, sondern in der Brust, und es handelte sich bei ihnen um Löcher in seiner Lunge.

Alma hatte immer gehofft, aus Willy und ihrer Hedwig würde später mal ein Paar, aber nun war damit wohl nichts. Zweite Nachricht: Was die Kusine von Hedwigs Ziehmutter ist, die kennt den Bräutjam von einem toten Frollein aus Caputh. Und nu kommt’s: Wie die im Grabe lag, ist sie wieder aufgewacht und hat gegen den Sargdeckel gebummert, weil sie nämlich nicht tot, sondern bloß scheintot gewesen war. Auf die Idee zu fragen, woher man denn gewußt hat, daß sie im Grabe wieder aufgewacht ist, wenn keiner ihr Pochen gehört hat, kam ich nicht. Logik lag mir noch fern.

Der Caputher Scheintod belastete fortan meine Phantasie so stark, daß ich nicht mehr ohne Licht einschlafen konnte. Ich kannte ja ländliche Friedhöfe mit ihren schiefen Eisenkreuzen und bröckelnden Steinen im abendlichen Nebel. Da waren sie schon oberhalb der Erde graulig genug. Aber erst unter ihrem Efeu, tief in der Erde ganz allein in einem Sarg –! »Lieber Gott, laß mich nie scheintot sein! Bitte, bitte nicht!«

***

Durch Alma erlebte ich alle größeren Unglücksfälle im Grunewald mit. Wir standen immer in der ersten Reihe der Schaulustigen, um ja nichts zu verpassen.

Am tiefsten beeindruckte mich die Villa eines Chemikers, die dank seiner Kellerexperimente in die Luft geflogen war. In den Bäumen hingen Betten und Gardinenfetzen. »So was sieht man nicht alle Tage«, versicherte mir Alma.

Als wir eine Woche später eine Frau beschauten, die sich im Ätherrausch wälzte, stand ein Junge mit rötlichen Haaren neben uns, älter als ich, schon mit Mappe. Er gefiel mir. Täglich zweimal radelte er auf seinem Schulweg an unserem Haus vorbei. Manchmal wartete ich ihn ab und produzierte mich, wenn er vorüberfuhr, er sah mich an und durch mich durch: Blöde Gans.

Von Alma, die doppelt so lange Zeit zum Einholen brauchte wie meine Mutter, aber dafür über jede Familie im Umkreis bis ins Schlafzimmer hinein orientiert war, erfuhr ich, daß er der einzige Sohn der reichen Degners war und in der schönen, großen, gelben, von einem Bühnenarchitekten erfundenen Villa wohnte. Da sah ich ihn ab und zu im oberen Stock mit baumelnden Beinen im Fenster sitzen und Papierflieger segeln lassen. Zehn Jahre später, als wir uns liebten, war er bereits auf Jagdmaschinen umgestiegen.

»Sein Vater is’n feiner Mensch«, wußte Alma, »aba seine Mutter is’n Satan. Sie hat den Zaster und die Hosen an, und keiner hält et länger wie’n Vierteljahr bei sie in Stellung aus.«

Hans hieß der Junge. Nach ein paar Wochen stellte ich meine Verehrung für ihn ein, denn es war mir nicht gegeben, langfristig einer Hoffnungslosigkeit nachzuträumen.

***

War ich ein fröhliches Kind? Zumindest hatte ich keinen Grund, nicht fröhlich zu sein.

Es war wohl mein Mitleid, das mir das Leben so traurig machte. Ich litt mit allen – mit Blinden, Kranken, unglücklich Liebenden, mit bettelnden Kindern und herrenlosen Hunden, mit Gartenlokalen an einem verregneten Sonntag, mit der alten Blumenfrau, die ihre Veilchen nicht loswurde, und mit den Veilchen, die keiner haben wollte. Der Tag war mir verdorben, wenn ich einen Kutscher sein Pferd schlagen sah. Ich litt mit der Maus in der Falle und wohl auch darunter, daß ich anders war als meine zahlreichen Spielfreunde. Sie dachten viel blonder und blauäugiger als ich und nicht so kompliziert. Meiner Phantasie konnten sie nicht folgen. Es war wohl auch nicht die Phantasie eines behüteten Mädchens. Grimms Märchen, Almas trostlose Jugend und ihre Schauergeschichten hatten sie tief beeinflußt.

Eines Abends begann ich, Geschichten zu erfinden und mir halblaut vorm Einschlafen zu erzählen, wurde richtig süchtig darauf. Aber es funktionierte nur, wenn es dunkel war. Somit wurde ich wohl zum einzigen Kind im Grunewald, das nicht früh genug ins Bett gehen und das Licht löschen konnte.

***

Und wohl kaum ein Kind hat so schnell schreiben gelernt wie ich. Nun konnte ich meine konfusen Geschichten endlich zu Papier bringen.

Der Versuch, meine Mutter für meine Werke zu erwärmen, blieb ein einmaliger. Sie hatte so einen ganz anderen Geschmack als ich. »Kind, warum denn nur Schauermärchen? Schreib doch mal was Nettes über eine Blume oder ein Tier, zum Beispiel einen Zitronenfalter.«

Ich lehnte ihre Anregung dankend ab. Mich interessierten keine Zitronenfalter, höchstens die Motten in der Lunge eines jungen schönen Grafen.

Vor Alma dagegen hatte ich keine Scheu, meine Dramen vorzutragen. Den geflochtenen Flickenkorb auf ihren breiten, kurzen Schenkeln, Fadengitter in schüttere Sockenhacken über ihrem Stopfpilz ziehend, hörte sie mir aus vollem Herzen zu.

Aus ihren Erzählungen und Küchenliedern kannte ich das Leben außerhalb meiner behüteten, mit rosa Bärchen tapezierten Kinderwelt – zum Beispiel den vierten Hinterhof; Almas wechselnde Väter, die am Freitag die Lohntüte versoffen, wenn Mutter nicht rechtzeitig am Fabriktor stand, um sie ihnen abzunehmen. Brüder, die der Reihe nach in der »Plötze« einsaßen. Mit vierzehn ging Alma bei einem Bäcker in Stellung und hatte zum erstenmal ein eigenes Bett für sich, das sie mit keinen Geschwistern und Schlafburschen, an die es tagsüber für ein paar Groschen vermietet wurde, teilen mußte. Mit sechzehn bekam sie ihr erstes, vaterloses Kind. Rausschmiß aus der Geborgenheit der Bäckerei, herzzerreißende Trennung von ihrem Baby. Und immer diese Sehnsucht nach einem verwunschenen Prinzen, der ihr eine ordentliche, trockene Bleibe mit Wohnküche, Spitzengardinen und Nähmaschine bescheren würde.

Für Alma erfand ich das Drama von Hulda dem Dienstmädel, das vom schönen, edlen Grafen Joachim von Harenfeld geliebt wurde. Weil aber seine Mutter, die böse Gräfin, dagegen war, flüchteten beide aus dem kalten Osten Richtung Braunschweig, wobei sie von Wölfen verfolgt wurden und sich aus den Augen verloren. Erst sollten die Wölfe das brave Kutschpferd fressen. Weil mir aber das Pferd zu leid tat und weil die Geschichte ja auch traurig enden sollte, machten sich die Wölfe an Hulda ran. Der Graf Joachim von Harenfeld wollte ihr zu Hilfe kommen, brach jedoch im Eise ein und versank tödlich.

Alma hatte mir atemlos zugehört und war zufrieden. Wenn sie schon nicht glücklich miteinander werden konnte, dann lieber alle beide tot, auch der reiche Graf, nicht bloß immer das arme Dienstmädchen. Das war Gerechtigkeit.

»Mach, dasse beede in een Jrab Unterkommen, Mulleken, ja?« verlangte sie von mir und: »Mach, daß seine Mutter, det falsche Aas, ooch krepiert, aber schön langsam, damit se orntlich wat von hat.«

Alma sagte immer »Mach, daß…« zu mir, als ob ich der liebe Gott wäre.

Schicksale erfinden war auch wie Lieber-Gott-Spielen.

Ich schrieb schwarz in schwarz. Die Guten mußten sterben, die Bösen wurden dafür umgebracht. Alles Miese rächt sich im Leben.

So wollte es Alma.

***

Nach der letzten, lebensgefährlichen Abtreibung hatte sie die Hoffnung auf eine Aschenputtelkarriere endgültig aufgegeben und fing an, Heimatlieder zu singen: »Heimat, süße Heimat, wann werden wir uns Wiedersehen?« oder: »Nach der Heimat möcht ich eilen…«

Was war das bloß für eine Heimat? Hatte sich der vierte Hinterhof mit Prügel und Kohldampf in ihrer Erinnerung in ein sonniges, geblümtes Familienheim verklärt? Setzte bei Alma langsam das Gedächtnis aus?

Erst später begriff ich, daß es Sehnsucht war. Alma sehnte sich nach einer ordentlichen Insel in ihrer Vergangenheit, an die sie sich klammern konnte. So schuf sie sich nachträglich »im kühlen Wiesengrunde« die »Bank am Elterngrab«.

***

Während ich für sie Geschichten von der verlorenen goldenen Heimat schuf – was dabei herauskam, muß noch abenteuerlicher gewesen sein als meine Liebesdramen fanden in unserer nächsten Umgebung einschneidende Veränderungen statt.

Innerhalb eines halben Jahres zogen vier Mieter aus. Ohne Krach und Rumoren im großen, mahagonigetäfelten Treppenhaus. Es ging alles sehr gedämpft, fast heimlich vonstatten, als ob die Räumenden die Miete nicht bezahlt oder sonst wie ein schlechtes Gewissen hätten.

Zuerst verschwand Professor Gumkowski mit seiner spindeldürren, seltsamen Frau. Solange ich denken konnte, hatten sie nie ihre vier Wände verlassen. Wir Kinder kannten sie von der Wohnungstür. Manchmal klingelten wir aus einem dummen Grund, nur damit sie öffnete und wir sie ansehen konnten.

Meine Mutter besuchte sie ab und zu. Ich schnappte auf, wie sie zu meinem Vater sagte, Frau Gumkowski sei morphiumsüchtig. Was ist Morphium, wollte ich wissen.

»Ein Mittel gegen Schmerzen, Kind, Frau Gumkowski ist sehr krank«, sagte meine Mutter.

»Eene olle polnische Schlampe isse«, erfuhr ich von Alma.

Wir warfen Kiesel auf ihren Balkon, wenn wir ihren dunklen, gebeugten Kopf über vertrockneten Blumen auftauchen sahen. Ihre morbide, kranke, süchtige Erscheinung reizte unsere gesunden Instinkte zu kleinen Brutalitäten.

Einmal erwischte mich meine Mutter beim Steineschmeißen und schleppte mich zu Frau Gumkowski. Sie mußte mir ihren mageren, vom Spritzen zerstochenen Arm zeigen. Meine Mutter sagte, das wären Wunden von unseren Kieseln, und ich sollte mich gefälligst entschuldigen. Nie wieder habe ich geschmissen, nie wieder. Und die anderen Kinder auch nicht.

Nun hieß es, Gumkowskis seien nach Warschau verzogen.

Horwitzens aus der zweiten Etage waren die nächsten, die unser Haus mit ausländischem Ziel verließen. Mir war es nur recht. Mit ihren Töchtern hatte ich in ständigem Krieg gelebt.

Eines Vormittags stieg dann mein bester Freund Beppo Adler mit seinem Bärchen im Rucksack und vielen, vielen Koffern in eine Taxe. Seine Mutter, eine große, bildschöne Blondine, umarmte meine Mutter zum Abschied. Beide weinten, denn sie waren Freundinnen. Adlers zogen nach Amsterdam.