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In the beginner’s mind there are many possibilities,
but in the expert’s mind there are few.

 

—Sunryu Suzuki, Zen Mind, Beginner’s Mind

Morgendämmerung

Ich war schon vor den anderen auf, vor den Vögeln, vor der Sonne. Ich trank einen Kaffee, schlang ein Stück Toast herunter, zog meine Shorts und mein Sweatshirt an, und schnürte mir meine grünen Laufschuhe. Dann schlüpfte ich leise durch die Hintertür.

Ich dehnte meine Beine, meine Oberschenkel, meinen Rücken, und ich stöhnte, als ich widerwillig die ersten Schritte machte, auf der kalten Straße in den Nebel hinein. Warum ist es immer so schwer, in die Gänge zu kommen?

Es fuhren keine Autos, kein Mensch war zu sehen, auch sonst gab es kein Lebenszeichen. Ich war ganz allein, hatte die Welt ganz für mich – obwohl die Bäume mich kurioserweise wahrzunehmen schienen. Gewiss, dies hier war Oregon. Die Bäume schienen hier immer alles zu wissen. Die Bäume hielten einem immer den Rücken frei.

Aus welch einem wunderschönen Ort ich doch stammte, dachte ich bei mir, als ich mich umschaute. Ruhig, grün, beschaulich – ich war stolz darauf, dass Oregon meine Heimat war, stolz auch auf das kleine Portland als meine Geburtsstadt. Aber etwas bekümmerte mich: Oregon mochte schön sein, aber nicht wenigen Menschen schien dies ein Ort, an dem nie etwas Außergewöhnliches passiert war, geschweige denn passieren würde. Wenn wir Menschen aus Oregon für irgendetwas berühmt waren, dann für einen uralten Trail, auf dem die ersten Siedler hierher gefunden hatten. Seitdem war Ruhe eingekehrt.

Der beste Lehrer, den ich je hatte, einer der prächtigsten Menschen, dem ich jemals begegnet war, sprach oft von diesem Trail. »Das ist unser Geburtsrecht«, brummte er, »unser Charakter, unser Schicksal – unsere DNA. Wer sich nicht traute, brach erst gar nicht auf. Die Schwachen starben unterwegs – und wir blieben übrig.«

Wir. Irgendeine seltene Form von Pioniergeist war auf diesem Trail entstanden, glaubte mein Lehrer, ein übergroßes Gespür für all das, was möglich war, gepaart mit einer gewissen Unfähigkeit, Pessimismus zu entwickeln – es sei unsere Aufgabe als Einheimische, diesen Geist aufrechtzuhalten.

Ich nickte, zollte ihm so meine Hochachtung, denn ich liebte diesen Kerl. Aber als ich fortging, dachte ich bei mir: Gott, das ist doch nur ein Feldweg.

An jenem nebligen Morgen, einem folgenschweren Morgen im Jahr 1962, hatte ich gerade meinen eigenen Trail freigeschlagen – zurück nach Hause, nach sieben langen Jahren der Abwesenheit. Es war komisch, wieder zu Hause zu sein, komisch, wieder dem täglichen Regen ausgesetzt zu sein. Noch merkwürdiger war es, wieder bei den Eltern und mit den Zwillingsschwestern zu leben und wieder in dem Bett meiner Kindheit zu schlafen. Spät nachts lag ich wach auf dem Rücken, starrte auf meine College-Lehrbücher, auf die Highschool-Trophäen und blauen Siegerschleifen. Bin ich das? Immer noch?

Ich lief jetzt schneller die Straße runter. Mein Atem formte rundliche, frostige Wölkchen, die sich im Nebel verflüchtigten. Ich genoss dieses erste körperliche Erwachen, diesen wunderbaren Moment, in dem der Verstand noch nicht ganz klar ist, wenn die Muskeln und Sehnen langsam locker werden und der Körper geschmeidig wird. Alles kam in Fluss.

Schneller, sagte ich mir. Schneller.

Theoretisch, so überlegte ich mir, bin ich ein Erwachsener. Mit einem Abschluss an einem guten College – der Universität von Oregon. Mit einem Master in Wirtschaftswissenschaften an einer der besten Hochschulen – Stanford. Mit einem Jahr in der US-Armee hinter mir – Fort Lewis und Fort Eustis. In meinem Lebenslauf hieß es, ich sei ein gut ausgebildeter, versierter Soldat, ein 24-jähriger gestandener Mann ... Warum in aller Welt fühlte ich mich noch immer wie ein Kind?

Schlimmer noch: als wäre ich immer noch derselbe scheue, blasse, spindeldürre Junge von damals.

Vielleicht, weil ich noch immer nichts Besonderes im Leben erlebt hatte – nichts Aufregendes, nichts Verführerisches. Ich hatte noch keine Zigarette geraucht, keine Drogen ausprobiert. Ich hatte keine Regel gebrochen, geschweige denn ein Gesetz. Die 1960er waren im vollen Gang, das Zeitalter der Rebellion. Und ich war die einzige Person in Amerika, die noch immer nicht rebelliert hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals aus der Reihe getanzt zu sein oder etwas Unerwartetes gemacht zu haben.

Ich war noch nicht einmal mit einem Mädchen zusammen gewesen.

Warum mir nur in den Sinn kam, was ich alles nicht war, lag auf der Hand. Damit kannte ich mich nun mal aus. Dagegen fand ich es schwierig zu sagen, wer oder was ich genau war oder sein wollte. Wie alle meine Freunde wollte ich erfolgreich sein. Aber im Gegensatz zu meinen Freunden wusste ich nicht so recht, was das bedeuten sollte. Geld? Vielleicht. Eine Frau? Kinder? Ein Haus? Sicherlich, wenn ich Glück hatte. Das waren Ziele, so hatte man mich gelehrt, die man anstreben sollte, und instinktiv strebte ein Teil von mir danach. Aber tief in mir suchte ich nach etwas anderem, nach etwas Bedeutenderem. Ich hatte dieses schmerzhafte Gefühl, dass unsere Zeit hienieden nur von kurzer Dauer ist, viel kürzer, als man annahm, so kurz wie ein Dauerlauf am Morgen, und ich wollte, dass meine Zeit sinnvoll wäre. Zielbewusst. Kreativ. Bedeutsam. Und vor allem ... anders.

Ich wollte auf dieser Welt Spuren hinterlassen.

Ich wollte gewinnen.

Nein, das ist nicht ganz richtig. Ich wollte einfach nicht verlieren.

Und dann passierte es. Während mein junges Herz pochte, sich meine Lungen öffneten wie die Flügel eines Vogels und die Bäume sich in ein grünes Meer verwandelten, sah ich genau vor mir, was ich in meinem Leben machen wollte. Spielen.

Ja, dachte ich, das ist es. Das ist genau das richtige Wort. Der Schlüssel zum Glück. Ich hatte immer vermutet, dass die Essenz von Schönheit oder Wahrheit respektive alles, was wir von beidem wissen müssen, irgendwo in dem Moment verborgen ist, in dem der Ball mitten in der Luft schwebt, in dem beide Boxer das Ende der Runde spüren oder in dem sich die Läufer der Ziellinie nähern und alle Zuschauer sich erheben. Es gibt diese Art von Klarheit, wenn im Bruchteil einer Sekunde über Sieg oder Niederlage entschieden wird. Das – was auch immer das war – wollte ich zu meinem Lebensinhalt machen, Tag für Tag.

Es hatte Zeiten gegeben, da hatte ich mir vorgestellt, ein bedeutender Schriftsteller, Journalist oder Politiker zu werden. Aber der größte Traum war immer geblieben, ein großer Sportler zu werden. Leider hatte mich das Schicksal zwar gut werden lassen, aber eben nicht gut genug. Mit 24 Jahren hatte ich mich damit abgefunden. Ich war an der Universität von Oregon Langstrecke gelaufen und hatte mich gut geschlagen, immerhin war ich in drei von vier Jahren im Auswahlteam. Aber das war es dann auch. Während ich nun alle sechs Minuten eine Meile abhakte und die Sonnenstrahlen durch die Kiefern brachen, fragte ich mich: Gibt es nicht einen Weg, sich so zu fühlen wie ein Spitzensportler, ohne einer zu sein? Die ganze Zeit zu spielen statt zu arbeiten? Sozusagen das Arbeiten so zu genießen, dass es im Grunde dasselbe wäre?

Die Welt litt unter Krieg, Schmerz und Armut, die tägliche Plackerei war strapaziös und nicht selten ungerecht, vielleicht war die einzige mögliche Antwort darauf, so dachte ich, einen großen Traum zu finden, der all das wert ist, der Spaß macht, der richtig gut zu mir passt, den ich mit der bedingungslosen Hingabe eines Sportlers verfolgen konnte. Wie man es dreht und wendet: Das Leben ist ein Spiel. Wer das nicht einsieht, wer einfach nicht an dem Spiel teilnehmen will, wird an den Rand gedrängt. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich wollte auf keinen Fall am Rand stehen müssen.

Womit wir, wie immer, bei meiner »Verrückten Idee« angelangt waren. Vielleicht, dachte ich, vielleicht sollte ich meine Verrückte Idee doch noch einmal in Betracht ziehen. Vielleicht würde meine Verrückte Idee ja ... funktionieren?

Vielleicht.

Nein, nein, dachte ich, und rannte immer schneller und schneller, als ob ich jemanden verfolgen und gleichzeitig verfolgt würde. Es wird funktionieren. Bei Gott, dafür werde ich schon sorgen. Ohne Wenn und Aber.

Plötzlich musste ich lächeln. Beinahe laut auflachen. Schweißgebadet wie ich war, lief ich doch leichtfüßig und mühelos wie immer und sah meine Verrückte Idee förmlich vor mir, wie sie leuchtete, mich lockte und gar nicht mehr so verrückt schien. Sie schien noch nicht einmal mehr eine Idee zu sein, sondern sah eher nach einem Ort aus, nach einer Person, nach etwas Lebendigem, das schon vor mir existiert hatte, unabhängig von mir, aber zugleich Teil war meiner selbst. Das mag ein wenig abgedreht klingen, ein wenig verrückt. Aber genau so empfand ich es damals.

Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht macht meine Erinnerung dieses Aha-Erlebnis größer als es war oder verdichtet verschiedene solcher Momente zu einem. Vielleicht war dieser Moment auch nur ein Runner’s High. Ich weiß es nicht und kann es nicht mehr sagen. Vieles aus jenen Tagen und Monaten, aus denen langsam Jahre wurden, ist ebenso verschwunden wie die frostigen Atemwölkchen. Gesichter, Zahlen und Entscheidungen, von denen man meinte, sie auf ewig und unabänderlich parat zu haben, sind ebenfalls fort.

Was übrig bleibt, ist dieses tröstliche Stück Gewissheit, diese tief verwurzelte Wahrheit, die nie verschwindet. Mit 24 hatte ich diese Verrückte Idee, und unabhängig von Selbstzweifeln, der Existenz- und Zukunftsangst, die jede Frau und jeden Mann in seinen Mittzwanzigern beschleicht, beschloss ich, dass die Welt aus verrückten Ideen besteht. Die Geschichte ist eine endlose Folge von verrückten Ideen. Die Dinge, die ich am meisten liebte – Bücher, Sport, freie Marktwirtschaft –, begannen als verrückte Ideen.

Allerdings gibt es wenige Ideen, die so verrückt sind wie meine Lieblingsbeschäftigung: das Laufen. Es ist hart. Es ist schmerzhaft. Es ist riskant. Der Lohn ist gering und noch nicht einmal garantiert. Wenn du Bahnen läufst oder nur die Straße runter, hast du kein richtiges Ziel. Zumindest keines, das den Aufwand wirklich rechtfertigt. Das Laufen als solches wird zum Ziel. Es gibt nicht nur keine richtige Ziellinie, sondern du selbst legst sie fest. Welchen Genuss oder Gewinn du auch immer aus dem Laufen ziehst, musst du für dich selbst herausfinden. Es hängt davon ab, wie du es selbst gestaltest, wie du es dir am besten verkaufst.

Jeder Läufer weiß das. Du läufst und läufst, Meile um Meile, und du weißt nie wirklich warum. Du sagst dir selbst, du läufst auf ein Ziel zu, jagst dem Kick hinterher, aber in Wirklichkeit läufst du, weil die Alternative, das Stehenbleiben, dir Angst bereitet.

An jenem Morgen im Jahre 1962 sagte ich mir also: Sollen doch alle anderen die Idee für verrückt halten ... ich mache einfach weiter. Ich höre nicht auf. Ich denke noch nicht einmal daran aufzuhören, bis ich ankomme, und verschwende keinen Gedanken darauf, wo das Ziel ist. Was immer kommen mag, ich höre nicht auf.

Das war der frühreife, vorausahnende und dringende Ratschlag, den ich mir aus heiterem Himmel gegeben habe und den ich irgendwie anzunehmen verstand. Ein halbes Jahrhundert später glaubte ich, dass es der beste Ratschlag ist – vielleicht der einzige Ratschlag –, den man überhaupt jemals geben sollte.

 

 

TEIL EINS

Now, here, you see, it takes all the running you can do,

to keep in the same place. If you want to get somewhere

else, you must run at least twice as fast as that.

 

—Lewis Carroll, Through the Looking-Glass