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Ammianus-Verlag

Michael Kuhn M.A.

Jahrgang 1955, studierte in Aachen Geschichte und Politische Wissenschaften. Im Anschluss war er in unterschiedliche historische Projekte involviert und organisierte im eigenen Unternehmen geschichtliche Veranstaltungen.

Das Anliegen, bei seinen Mitmenschen Interesse und Verständnis für Geschichte mit all ihren Facetten zu wecken, durchzieht seine bisherige Vita wie ein roter Faden. Michael Kuhn erarbeitete 1995 in seiner Tätigkeit als Historiker für die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. eine Sammlung der historischen Dokumente und der belegten Zeugenaussagen in der Dokumentation »Und wir waren noch so jung«. Aus diesen Texten entstand die fiktive Geschichte von Jakob und Annie, die im Anhang mit den Zeugenaussagen, Fotos und Dokumenten von Jennifer Riemek exem­plarisch dokumentiert wird.

Jennifer Riemek

Die Tochter von Michael Kuhn, geboren 1994, studiert in Köln Geschichte und Niederlandistik. Sie gab den entscheidenden Anstoß, die Zeitgeschichte des Aachener Judentums zur Zeit des Dritten Reichs zu dokumentieren.

Inhalt

Aachen zur Zeit des Nationalsozialismus: Jakob Bergmann wächst in einem scheinbar behüteten bürgerlichen Umfeld auf. Nachdem 1933 die Nazis an die Macht gelangt sind, nehmen die Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung stetig zu. Die Verdrängung aus dem öffentlichen Leben sowie die Verfolgung seiner Landsleute werden für den Heranwachsenden zum grausamen Alltag. Einzig die Liebe zu Annie und eine alte Münze seines Großvaters ermöglichen es ihm, den Glauben an eine Zukunft nicht zu verlieren …

Michael Kuhn und Jennifer Riemek

Wir waren doch so jung

Roman & Dokumentation

Impressum

Erste Auflage Mai 2016

© 2016 Ammianus GbR Aachen

Alle Rechte vorbehalten. Der Druck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und Verbreitung des Werks in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf digitalem oder sonstigem Wege sowie die Verbreitung und Nutzung im Internet dürfen nur mit ausdrücklicher und schriftlicher Genehmigung des Verlags erfolgen. Jede unerlaubte Verwertung ist unzulässig und strafbar.

Alle in der Spurensuche verwendeten Dokumente wurden von der
Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. Aachen
zur Verfügung gestellt.

Umschlaggestaltung: Thomas Kuhn
Lektorat:
Melanie Kaesler
Korrektorat: Philipp Mattes

Satz: Michael Mingers
Druck: tz-verlag

Printausgabe-ISBN: 978-3-945025-43-7
Ebook-ISBN:
978-3-945025-44-4

www.ammianus.eu
www.facebook.com/AmmianusVerlag

Vertrieben

Vor fünfzig Jahren, da hieß man roh uns gehn

Doch keiner von Allen, wer konnt es verstehn?

Keiner von Allen war zur Vertreibung geboren,

So hatten wir Heimat und die Jugend verloren.

Es begannen die Jahre voller Hass und Grauen

So viele starben, Kinder, Männer und die Frauen.

Das Volk der Dichter tat das Denken verlieren,

Brüllend und mordend, gleich den wilden Tieren.

Was der Mensch Verstand nie konnte alleine ersinnen,

Sie schafften Höllenschrecken auf die Erde zu bringen.

Tempel und Häuser brannten hell rot als Glutengarten,

Es kam der Krieg, schlug unsre Welt mit Narben, so harten.

Fünfzig Jahre, rasch vergessen, sind sie daher gegangen,

Das böse Grauen der Lüge, schon hat es wieder angefangen.

Grell beschmieren sie Wände mit den alten, den Hassparolen

Vergessen, dass irrer Wahn Millionen das Leben gestohlen.

»Doch diesmal Ihr Menschen mit klarem Verstand,

Wacht auf noch bei Zeiten, gebt nicht Eure Hand,

Nicht duldet Mord in Eurem, dem deutschen Namen,

Handelt, verhindert neuer, unschuldiger Klagen.«

Ernst Elsbach

Vorwort

»Adle uns und dich! Stell die Würde des Menschen wieder her, die Herrschaft Gottes, verdreht und entwürdigt durch menschlichen Wahn.« (Rabbiner Davin Schönberger, 1897-1989)

»Und wir waren noch so jung« – so heißt die Dokumentation, die von Michael Kuhn verfasst und 1995 von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Aachen e.V. herausgegeben wurde. Sie umfasst Erlebnisse und Erinnerungen Überlebender, die zur Zeit des sogenannten „1000-jährigen Reiches“ Kinder und Jugendliche waren.

In der Einleitung wurde damals formuliert:

»Der Grundgedanke, der zu dieser Dokumentation führte, die das dunkelste Kapitel Aachener Stadtgeschichte behandelt, war zum einen, ein Bewusstsein gegen wiederaufkommende rechtsradikale Strömungen wachzuhalten und zum anderen, Zeitzeugen das Wort zu geben, die durch ihre Erziehung mit der deutschen Kultur verbunden waren, sich als deutsche Staatsbürger fühlten und ihre Heimat liebten.«

21 Jahre später, das ist umso bemerkenswerter, erscheint dieses Buch in stark überarbeiteter Form erneut. In eine Romanhandlung fiktiver Protagonisten gekleidet, deren Erlebnisse immer wieder mit realen Erfahrungen, die von Zeitzeugen geschildert werden, in Beziehung stehen (der Dokumentationsanhang macht das deutlich), wird der heutige Leser hineingezogen in den Überlebenskampf von Jakob Bergmann und Annie Vries.

21 Jahre später ist es immer schwieriger geworden, noch mit Zeitzeugen ins Gespräch zu kommen. Punktuell zwar noch möglich, bleibt aber gerade für jüngere Menschen nur noch der Zugang über Buch und andere Medien zu den Erlebnissen der Zeitzeugen. Umso wichtiger ist es, den Zeitzeugen im Jahr 2016 erneut eine Stimme zu geben und dies auf zugleich spannende und sensible Weise heutigen Lesern zu vermitteln.

21 Jahre später scheinen aber auch die damals angesprochenen wiederaufkommenden rechtsradikalen Strömungen wieder salonfähig zu sein. Mit Berufung auf ein ‚christliches Abendland’ werden Grenzzäune, Kontingente, Lager, Flucht, Abschiebung, Bedrohung Andersdenkender, Menschenjagd, Mord und vieles andere in Europa wieder Teil des täglichen Lebens.

21 Jahre später begegnen wir in Deutschland wieder immer mehr Menschen, die wie Jakob Bergmann und Annie Vries Fluchtgeschichten überlebt haben. Für uns, aber auch für sie ist es unerlässlich, immer wieder mit diesem Teil der Geschichte des christlichen Abendlandes und unserer Kultur in Berührung zu kommen und vielleicht sogar die eigene Geschichte in der von Jakob und Annie wiederzufinden.

Als Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Aachen e.V. freuen wir uns, dass dieses Buch erscheint und danken an dieser Stelle Michael Kuhn und Jennifer Riemek ganz ausdrücklich.

Für den Vorstand der Gesellschaft für
Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Aachen e.V.

Pfarrer Ruprecht van de Weyer

Geschäftsführender Vorsitzender

Danksagung

Unser besonderer Dank gilt der
Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. Aachen
für die zur Verfügung gestellten Dokumente und Zeugenaussagen.

Prolog

Die Unentschlossenheit war dem älteren Herrn anzusehen, der sich dem Eingang des Hotels in der Innenstadt näherte.

Jakob Bergmann war am frühen Morgen in Amsterdam aufgebrochen. Um die Mittagszeit hatte er Aachen erreicht und in einem etwas außerhalb gelegenen Hotel eingecheckt.

Ein halbes Jahr zuvor hatte er von dem Projekt seiner Geburtsstadt Kenntnis erhalten.

Sosehr ihn die Aussicht gereizt hatte, die alte Heimat und möglicherweise viele frühere Freunde wiederzusehen, zögerte er. Unschlüssig hatte er die Entscheidung vor sich hergeschoben, bis der Zeitpunkt zur Zusage verstrichen war. Trotzdem war ihm die Sache nicht aus dem Kopf gegangen und je näher der Tag rückte, desto mehr wuchs seine Neugier.

Als er an diesem Morgen wach wurde, wusste er, was zu tun war. Er duschte, warf einige Sachen in seine Reisetasche, frühstückte hastig und warf die Haustüre hinter sich zu. Wenig später lenkte er seinen Wagen aus der Garage des Amsterdamer Vorortes und steuerte die nahe Autobahn an. Obwohl er seit mehr als vierzig Jahren nicht mehr in Aachen gewesen war, kannte er die Strecke in- und auswendig. Er war beruflich viel in Köln und Frankfurt gewesen. Der Versuchung, seiner Heimatstadt dabei einen Besuch abzustatten, hatte er jedoch bisher immer widerstanden. Entweder war er zu eilig oder zu müde gewesen. »Das nächste Mal, später«, hatte er dann gemurmelt und war weitergefahren.

Als er die Grenzstation Vetschau passierte, wusste er, dass es heute keine Ausrede gab. Viel zu schnell kam die Abfahrt Laurensberg; der kürzeste Weg in die Stadt.

»Feigling«, fluchte er, als er vorbeigefahren war. »Aachen Mitte« stand auf dem nächsten Schild. Er setzte den Blinker und nahm die Abfahrt. Am Ende der Kurve musste er an der roten Ampel halten und atmete tief durch. »Na also«, brummte er. Er brauchte nur noch die Krefelder Straße, vorbei am Fußballstadion Tivoli, hinunterzufahren. Dann sah er auch schon das moderne Gebäude mit der Aufschrift »Hotel Lousberg«, das ihm ein Freund empfohlen hatte.

Einige Stunden später hatte er sich frisch gemacht und in einem nahen griechischen Imbiss etwas gegessen. Die Sonne schien, es war ein schöner Tag im Mai, und er hatte noch etwas Zeit bis zum feierlichen Begrüßungsbankett. Er machte sich keine Gedanken darüber, ob er willkommen wäre. Man würde ihm, obwohl unangemeldet, den Zugang zur Feierlichkeit nicht verwehren können. Auf eine Person mehr oder weniger kam es wirklich nicht an. Um die Zeit zu nutzen, beschloss er, einen ausgedehnten Rundgang durch die Stadt zu machen.

Wie schön die Stadt doch geworden war. Bis auf einen Hochbunker und einige wenige kaschierte Lücken, die der Bombenkrieg in den Häuserzeilen hinterlassen hatte, erinnerte nichts mehr an das Trümmerfeld, das er einst verlassen hatte. Alles wirkte gepflegt, bunt und sauber. Er fühlte Wärme und Geborgenheit, als er Fassaden und Sehenswürdigkeiten wiedererkannte. Dazwischen mischte sich jedoch die Wehmut, etwas Unersetzliches verloren zu haben. Die vertrauten Töne des Dialekts trieben ihm Tränen in die Augen. Gleichzeitig regten sich jedoch Angst und Misstrauen. Vor allem die Älteren bedienten sich des heimatlichen Idioms. Er forschte in den Gesichtern. Waren sie alt genug, Bekannte, Täter oder Mitläufer von damals sein zu können? Den Blicken der Jungen begegnete er mit Offenheit und erwiderte freundlich ihre Grüße. Sie konnten nichts für den Hass und die Feindseligkeit der Großeltern.

Hotmannspief, Rathaus, Dom, Elisenbrunnen – er konnte sich nicht sattsehen an den Stationen von Kindheit und Jugend. Als seine Füße müde wurden, setzte er sich in eines der Straßencafés, bestellte Tee, rauchte und lauschte den Gesprächen an den Nachbartischen.

Erholt streifte er weiter umher. Vor einem Antiquitätengeschäft blieb er stehen und betrachtete sein Spiegelbild in der Scheibe. Er sah einen gealterten Mann, in dessen Gesicht das Schicksal tiefe Spuren hinterlassen hatte. Das einst kastanienbraune Haar war weiß geworden. Einzig die dunklen Augen hatten sich nicht verändert. Er lächelte. Für einen Mann von Anfang siebzig sah er noch ganz passabel aus.

Vor dem Theater erinnerte er sich an die einzige Vorführung, der er als Kind beigewohnt hatte. Die Mutter hatte ihn und seinen Freund Hans Köster zur Weihnachtsaufführung von Hänsel und Gretel mitgenommen. Es hatte ihm gegraust, als die Hexe von Gretel in den Ofen gestoßen wurde und jämmerlich verbrannte. Eine Szene, die ihm im Nachhinein wie ein Fanal erschienen war.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass der Abend nahte und er die Zeit vergessen hatte. Selbst wenn er sich beeilte, würde er es nicht mehr pünktlich zum Bankett schaffen. Er beschleunigte seine Schritte.

Wenig später stand er vor dem Eingangsportal des vornehmen Hotels, in dessen Speiseraum die Feierlichkeiten bereits begonnen hatten. Die unauffällige Präsenz der Polizei im Hintergrund musste seine Zweifel beseitigen. Das Präsidium hatte zwei Streifenwagen und einen Mannschaftsbus zum Schutz der Gäste aufgeboten. Trotzdem zog er das verknitterte Anschreiben aus der Innentasche seines Jacketts und glich die Daten ab. Er war zur angegebenen Zeit am richtigen Ort. Wie in vielen anderen deutschen Städten auch hatte der Rat der Stadt einen Beschluss umgesetzt, seine ehemaligen jüdischen Mitbürger einzuladen.

Durch die milchige Scheibe sah er Schemen, die sich im Innern bewegten. Tat er gut daran, den Schatten der Vergangenheit zu begegnen? Was war mit seinem Schmerz und seiner Trauer, die er all die Jahre tief in seinem Innersten verschlossen hatte?

Er ließ die Hand sinken, mit der er die Tür hatte aufstoßen wollen.

Aus den Augenwinkeln bemerkte er die Sitzbank auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er machte die wenigen Schritte zurück, setzte sich und fingerte eine Zigarette aus der Packung. Das Feuerzeug wollte zuerst nicht zünden, dann gelang es. Er zog den Rauch ein und seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit.

1934

Das Kreischen und Gejohle der Schüler wurde von den kachelgeschmückten Wänden zurückgeworfen und stieg bis ins Gewölbe des Jugendstilbades. Die Jungen der Untertertia pflügten durch das Wasser und versuchten den Ball zu erreichen, den ihr Lehrer in die Nähe des Neptunbrunnens geworfen hatte. Ein kräftiger Junge mit braunem Haar hatte sich um eine Körperlänge von seinen Kameraden abgesetzt und hob den Arm weit aus dem Wasser, um als Erster nach der Beute zu greifen. Die Bewegung verlangsamte seine Geschwindigkeit so weit, dass die anderen ihn sofort eingeholt hatten.

»Sauf ab, Jude!«, schrie der erste Verfolger und drückte Jakob Bergmann unter Wasser.

Jakob ließ den Ball los und versuchte, die ihn unter Wasser drückende Hand mit einer Körperdrehung abzuschütteln. Sein Kopf durchbrach die Oberfläche und wurde im gleichen Moment von mehreren Armen wieder herabgedrückt. Er kämpfte, schluckte Wasser und riss verzweifelt die Augen auf. Durch das Gewirr der Körper und Gliedmaßen sah er die (durch die Oberflächenbrechung) verzerrte Skulptur des Neptuns auf seinem Sockel. Er schrie und Wasser drang in seine Lunge. Voller Panik zu ertrinken, schlug er wild um sich.

Plötzlich war er frei. Eine starke Hand packte ihn am Arm und zog ihn an die Oberfläche. Er holte Luft, schwamm in wenigen Zügen zum Beckenrand, stützte sich auf und rollte sich auf die Fliesen. Jakob hustete und spuckte Wasser. Er schaute sich nach seinem Retter um, der ihm zum Beckenrand gefolgt war.

»Danke, Hans, das war knapp.«

»Jetzt übertreib nicht«, wiegelte Hans Köster ab. Vor den anderen war ihm die Situation sichtlich peinlich. »Wenn du das Schwimmen verlernt hast, solltest du deinen Freischwimmer noch einmal machen.«

»Seid ihr wahnsinnig«, brüllte der Bademeister. »Wolltet ihr ihn umbringen? Ich habe alles genau gesehen.«

»Was haben Sie gesehen?«, mischte sich der Lehrer ein, der zu Jakob getreten war, der sich immer noch auf den Fliesen wand. »Da war doch nichts. Das sind Jungs.«

»Aber …«, versuchte sich der städtische Angestellte der Respektperson zu widersetzen. »Das ging zu weit!«

»Wollen Sie mir widersprechen?« Die scharfe Stimme des Lehrers ließ den Bademeister erbleichen.

»Nein, Herr Oberstudienrat. Ich dachte ja nur, dass …« Er drehte sich um und entfernte sich mit schleppenden Schritten.

»Überlassen Sie das Denken in Zukunft denen, die dafür bezahlt werden«, rief ihm der Lehrer unter dem Gejohle seiner Mitschüler hinterher.

»Ruhe!«, brüllte der Oberstudienrat und Weltkriegshauptmann. »Ende der Veranstaltung. Ab unter die Duschen!«

»Ich dusche nicht mit einem Juden.« Einer der Jungen wies auf Jakob, der sich inzwischen aufgerappelt hatte.

Oberstudienrat Großmann überlegte kurz, ob er diese Aufsässigkeit ahnden sollte. Er wandte sich an Jakob. »Zieh dich an und sag deinem Vater, dass er morgen zu mir in die Schule kommen soll.«

Jakob wartete lange in der Nähe der Elisabethhalle auf Hans Köster. Er wollte ihm danken und auf die unerwartete Attacke der Klassenkameraden ansprechen. Als Hans endlich am Eingang erschien, war er in Begleitung der Kameraden, die ihn unter Wasser gedrückt hatten. Es versetzte Jakob einen Stich, als er sie lachen und scherzen hörte. Sie gingen an ihm vorbei. Er hatte gehofft, dass sich Hans nach ihm umschauen würde. Doch dieser war derart in das Gespräch mit seinen Freunden vertieft, dass er ihn gar nicht zu bemerken schien.

Während des Heimwegs fragte sich Jakob, ob Hans ihn bewusst übersehen hatte. Er hatte seit Wochen das Gefühl, dass sein Freund ihm aus dem Weg ging. Sie kannten sich bereits seit der Volksschule. Als sie beide auf das Kaiser-Karls-Gymnasium gekommen waren, hatten sie sich angefreundet. Nach der Schule lernten sie gemeinsam und trieben danach an der frischen Luft Sport.

Jakob fuhr sich mit der Zungenspitze über den eingerissenen Mundwinkel und tastete mit der Hand nach der schmerzenden Stelle am Hals. »Das gibt einen fetten, blauen Fleck«, murmelte er. Er fragte sich, wie er das den Eltern erklären sollte. Insgeheim hatte er längst beschlossen, den Vorfall nicht zu erwähnen. Seine Mutter würde sich nur unnötige Sorgen machen. Seine Eltern hatten genug eigene Probleme. Es reichte, wenn er dem Vater die Aufforderung des Lehrers überbrachte.

Er hatte Gesprächen entnommen, dass es um den elterlichen Schreibwarenladen im Erdgeschoss nicht zum Besten stand. Der Großvater, der vor Jahren in die kleine Dachwohnung gezogen war, hatte das Haus lange vor dem Weltkrieg gekauft. Seinen gut gehenden Schreibwarenladen hatte der Vater vor zehn Jahren übernommen. Obwohl sich viele Stammkunden noch vor einem Jahr über den Boykott der jüdischen Geschäfte aufgeregt hatten, blieb im Laufe der Zeit einer nach dem anderen fern.

Jakob legte sich seine Worte zurecht. Er wartete, bis er die Eltern aus dem Schreibwarengeschäft die Holztreppe nach oben kommen hörte.

Sein Vater, ein untersetzter, freundlicher Mann in den Vierzigern, nahm die Nachricht von Herrn Großmann mit steinernem Gesicht zur Kenntnis. Er sah seinem Sohn forschend ins Gesicht. »Du hast dich geschlagen?«

Jakob verneinte.

»Was willst du mir erzählen? Haben deine Verletzungen etwa nichts mit der Zitierung des Oberlehrers zu tun?«

Jakob druckste herum und gestand schließlich den Vorfall in der Schwimmhalle.

Paul Bergmann schüttelte den Kopf und machte ein besorgtes Gesicht.

Maria Bergmann stöhnte gequält, erhob sich von ihrem Stuhl und schloss den Sohn in die Arme. Sie schaute ihren Mann an. »Paul, du musst dem Lehrer sagen, dass du einen weiteren Angriff zur Anzeige bringen wirst.«

Wenn Paul Bergmann etwas an seiner Frau bewunderte, dann war es ihr resolutes Auftreten, wenn es um die Familie oder das Geschäft ging. Insgeheim hatte er sich oft gefragt, womit er die zerbrechlich wirkende, immer noch schöne Frau verdient hatte. Dieses Mal schüttelte er jedoch energisch den Kopf. »Ich glaube es nicht. Das bringt nichts«, sagte er mit leiser Stimme.

»Du steckst dir dein Eisernes Kreuz ans Revers, wenn du zur Schule gehst«, antwortete Maria. »Der Großmann war Major. Er weiß, wie man einem Frontkämpfer mit Achtung begegnet.«

»Und du hältst dich an deinen Freund Hans«, ermahnte die Mutter ihren Sohn. »Ist das nicht der Junge, bei dem du früher zu Weihnachten warst und der mit uns Chanukka gefeiert hat?«

Jakob nickte.

»Das ist ein anständiger Kerl. Der Vater ist auch ein feiner Mann. Der ist beim Hauptzollamt und hat Einfluss.«

Paul Bergmann wiegte den Kopf. »Wenn du meinst.« Er schaute auf den dunklen Bilderrahmen mit der Urkunde des Jüdischen Frontkämpferbundes. Sie war ihm nachträglich zu seiner Kriegsauszeichnung ausgehändigt worden. »Vielleicht hast du Recht, Maria. Schließlich habe ich für den Kaiser im Schützengraben die Knochen hingehalten. Aber der Mann ist ein Nazi der ersten Stunde.«

»Morgen, Hans«, begrüßte Jakob seinen Freund, als dieser in die zum Marktplatz hochführende Straße einbog. Diese Stelle war ihr gemeinsamer Treffpunkt, von dem aus sie ihren Schulweg gemeinsam fortzusetzen pflegten.

»Morgen«, grüßte Hans knapp und kniff die Lippen zusammen.

Sie schwiegen, bis sie den Markt erreicht hatten und Jakob es nicht mehr aushielt. »Ist etwas mit dir, Hans?«

»Mein Vater hat gesagt, dass ich mich von dir fernhalten soll. Ich bin seit drei Wochen bei der HJ und darf mich nicht mit einem Juden blicken lassen.«

»Aber…«, begehrte Jakob auf. » Wir sind doch Freunde.«

»Nicht mehr«, erwiderte Hans. »Es tut mir leid. Ich darf nicht.«

In der großen Pause, die er zum ersten Mal getrennt von seinen Freunden in einer ruhigen Ecke des Schulhofes verbrachte, sah er seinen Vater von weitem dem Haupteingang zustreben. Paul Bergmann trug seinen seinen besten Anzug, den schwarzen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er das Gebäude wieder verließ. Als beschwere ihn eine große Last, hatte er die Schultern eingezogen und schlurfte vom Gelände des Kaiser-Karls-Gymnasiums.

Es klingelte und Jakob stieg allein die steinerne Treppe ins erste Geschoss empor. Am Ende des Flures betrat er seinen Klassenraum und bemerkte sofort, dass der Platz neben ihm verwaist war. Hans hatte die Pause dazu genutzt, seine Sachen zu packen und sich neben einen seiner neuen HJ-Freunde zu setzen. Jakob fühlte zum ersten Mal an diesem Tag ein würgendes Gefühl im Hals, und es kostete ihn Mühe, dem Unterricht von Herrn Deuber zu folgen. Dabei war Geschichte immer sein Lieblingsfach gewesen.

Als die Hälfte der Stunde herum war, öffnete sich plötzlich die Tür und Oberstudienrat Großmann trat ein. An seinem Rock prangte unübersehbar das Parteiabzeichen der NSDAP.

»Bergmann, rauskommen«, brüllte er in die Klasse. »Wird’s wohl«, forderte er Jakob noch einmal scharf auf.

»Was hat Bergmann denn angestellt?«, fragte Herr Deuber in ruhigem Ton.

»Das geht Sie nichts an«, wies ihn Großmann zurecht. »Hier wird nicht getrödelt. Wir sind nicht in einer Judenschule.«

Herr Deuber kniff die Lippen zusammen und schaute aus dem Fenster.

Jakob war inzwischen an Oberstudienrat Großmann vorbeigeschlüpft, der die Tür hinter sich zuzog. Schüler und Lehrer standen sich auf dem Flur gegenüber.

»Du bist an dieser arischen Schule nicht mehr erwünscht, Bergmann. Hast du das verstanden?«

Jakob nickte, und konnte nicht verhindern, dass ihm dabei die Tränen in die Augen schossen. Er schaute zu Boden, um sich keine Blöße zu geben.

»Schaust du mich wohl an?«, wies ihn Großmann zurecht.

Jakob blickte trotzig auf.

»Ich habe deinem Vater gesagt, dass er dich von der Schule nehmen soll. Für Juden ist hier kein Platz mehr. Geh und hol deine Sachen. Du brauchst nicht mehr zu kommen. Ich habe dem Oberschulrat bereits geschrieben, dass dein weiterer Verbleib am Kaiser-Karl-Gymnasium nicht mehr zu rechtfertigen ist.«

Als Jakob während der nächsten Pause das Schulgelände verließ, folgte ihm eine Schar Sextaner über den Schulhof.

»Jüd, Jüd, Jüd, hepp, hepp, hepp, steck die Nas in die Wasserschäpp.«

Ihm liefen die Tränen herunter, als er nach Hause rannte.

»Also, Jakob. Wie entscheidest du dich?«

»Gib dem Jungen doch etwas Zeit.« Maria Bergmann sah ihren Mann entrüstet an. Paul Bergmann war erst am Nachmittag zurückgekommen. Nach dem Gespräch mit Großmann war er direkt zu Herrn Dublon, dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde, gegangen. Dann hatte er seine Frau im Laden abgelöst und für den Abend den Familienrat einberufen. Er hatte darauf bestanden, dass sein Vater ebenfalls teilnehmen sollte. Dieser entschuldigte sich jedoch und bat Jakob darum, später zu ihm hinaufzukommen. Er wollte seinen arthritischen Knien nicht zumuten, zwei Stockwerke hinunter- und wieder hinaufzusteigen. Das ging nun schon zwei Jahre so. Maria Bergmann machte aus ihrer Meinung keinen Hehl, dass er seine Wohnung nur noch einmal, und zwar zu seiner Beerdigung, verlassen würde.

»Ich will nicht nach Holland oder nach Belgien auf die Schule«, platzte Jakob heraus. »Die Juden gelten dort auch nicht viel. Ich will nicht von Patern oder Nonnen verprügelt werden.«

»Na, na«, tadelte der Vater. »Das hat keiner gesagt. Du sollst nicht auf ein katholisches Internat.«

»Was ist denn mit England?«, lockte die Mutter. »Deine Cousine Emmy ist seit einem Jahr dort, und es geht ihr gut. Unsere Ersparnisse reichen aus, dich bei einer Hilfsorganisation unterzubringen. Du kannst dort eine Ausbildung machen oder eine gute Schule besuchen. Nelly ist in Haslemere in Surrey.«

»Ich will auch nicht nach England«, beharrte Jakob. »Ich will gar nicht aus Aachen weg.« Er sah seinen Vater an. »Du hast immer gesagt, die Nazis werden sich nicht lange halten und dass alles wieder gut wird.«

»Dein Wort in Gottes Ohr.« Maria Bergmann gab es auf, ihren Sohn weiter zu bedrängen.

»Dann bleibt es bei dem Rat von Herrn Dublon«, entschied der Vater. »Du machst deinen Abschluss in der Jüdischen Volksschule am Bergdriesch und beginnst danach eine Lehre.«

Mit einer Kiste Zigarren und einem Henkelmann voll warmer Suppe stieg Jakob wenig später die Stiegen zu seinem Großvater empor. Als er im zweiten Stock die Wohnung von Herrn Glock erreichte, bemühte er sich, besonders leise aufzutreten. Er mochte den alleinstehenden Mieter nicht, der vor acht Jahren eingezogen war. Als Herr Glock ohne Arbeit gewesen war, hatte er eine Zeitlang im Laden seiner Eltern ausgeholfen. Sein Vater hatte von Beginn an den Verdacht gehabt, dass er hin und wieder in die Kasse greifen würde. Als er dann auch noch begonnen hatte, Frau Bergmann nachzustellen, hatte sein Vater ihn entlassen müssen. Die Wohnung konnte er ihm nicht kündigen, weil er pünktlich die Miete zahlte und in die Partei eingetreten war.

Jakob atmete durch, als er den Aufgang zur Dachwohnung erreicht hatte. Er fingerte den Schlüssel aus der Hosentasche und steckte ihn ins Schloss. »Ich bin es, Opa«, rief er in den erleuchteten Flur und schob die Tür mit dem Fuß zu.

»Komm rein, Junge«, erklang es hinter der nächsten Tür. »Ich bin im Wohnzimmer.«

Jakob trat ein, stellte die Sachen auf den Tisch und begrüßte den Großvater. Die Wohnung war gänzlich anders eingerichtet als die seiner Eltern. Bis auf die unvermeidliche Menorah legte sein Vater keinen großen Wert auf Dinge, die seine jüdische Identität unterstrichen. Er und auch die Mutter fühlten sich zuallererst als Deutsche, die einem dem Christentum nahestehenden Glauben angehörten. Ihre Religiosität erschöpfte sich in der Begehung der hohen Festtage wie Pessach, Sukkot und Chanukka. Selbstverständlich fehlte er nicht beim (jüdischen) Versöhnungsfest, an dem der jüdischen Gefallenen des Krieges gedacht wurde. Neben dem Oberbürgermeister wohnten auch andere christliche Repräsentanten der Feier bei. Beide Eltern schätzten mehr das kulturelle Angebot der Gemeinde als die religiösen Inhalte. Weshalb man Herr und Frau Bergmann selten in der Synagoge antraf. Trotzdem pflegte Vater Bergmann einen engen Kontakt zu den Vorstehern der jüdischen Reformgemeinde wie Herrn Dublon, dem Rabbiner Dr. Schönberger und dem Kantor Herrn Stiebel.

Ganz anders Großvater Bergmann. Es war für ihn inakzeptabel, dass der Gottesdienst in der Synagoge auf Deutsch abgehalten wurde. Ein weiterer Stein des Anstoßes war für ihn die nur nachlässig betriebene religiöse Erziehung seines Enkels. Deshalb nahm er ihn jeden Freitag zum Schabbat-Gottesdienst mit. Obwohl Jakob seinen Großvater wegen der reichen Zuwendungen liebte, atmete er auf, als die Synagogenbesuche aufgrund der körperlichen Hinfälligkeit des Alten immer seltener wurden.

Die privaten Räume des Großvaters waren angefüllt mit Gegenständen, die seine jüdische Identität unterstrichen. Das fand besonders Ausdruck in seiner Bibliothek. Neben vielen religiösen Werken war Großvater Bergmann ein glühender Verehrer von Theodor Herzl. Er wurde nicht müde, dem Enkel mit glühenden Worten das Vermächtnis des Aktivisten und Wegbereiters eines zukünftigen jüdischen Staates nahezubringen. Eine handsignierte Fotografie des großen Zionisten nahm einen Ehrenplatz im Wohnzimmer ein.

»Wofür hast du dich entschieden, Jakob?« Großvater Bergmann, der seine bestickte Kippa aufgesetzt hatte, war nur undeutlich hinter der entzündeten Menorah zu erkennen.

»Für die jüdische Schule am Bergdriesch und eine anschließende Lehre.« Jakob blinzelte wegen des Kerzenlichts, weshalb der Alte den Leuchter etwas zur Seite schob.

»Besser so. Setz dich zu mir.«

Jakob lächelte dankbar und nahm neben dem Großvater auf dem Sofa Platz.

»Du hast Recht getan, dich für eine jüdische Schule zu entscheiden. Auch wenn es nur die Volksschule ist. Bekenne dich zu deinen jüdischen Wurzeln und zu »Eretz Israel«, unserer Heimat. Dann wirst du deinen Weg finden. Lebe deinen Glauben, lerne fleißig und suche dir später einen Ort, wo Juden in Frieden leben können. Wir haben hier keine Zukunft mehr. Ich werde bald sterben, aber du wirst meinen Traum leben.«

»Du wirst nicht sterben, Opa.« Jakob war entsetzt.

»Lass es gut sein, Junge.« Großvater Bergmann tätschelte den Kopf seines Enkels. »Ich bin alt und habe mein Leben gelebt. Ich kann mich nur noch unter Schmerzen bewegen. Mein Körper ist mir eine Last. Versprich mir, hin und wieder einen Stein auf mein Grab zu legen.«

Jakob nickte beklommen.

»Beug dich zu mir und lass dich segnen.« Opa Bergmann legte seine Hand auf den Scheitel des Jungen und sprach ein hebräisches Gebet. »So ist es gut, Jakob.«

Sie saßen eine Weile still beieinander.

»Tust du mir einen Gefallen?«

Jakob nickte.

»Hol mir das Kästchen.« Er wies auf einen Beistelltisch neben dem Bücherregal.

Jakob erfüllte ihm den Wunsch und setzte sich wieder zu ihm. Großvater Bergmann wühlte in dem Holzkasten und zog ein Behältnis heraus. Es dauerte, bis seine steifen Finger die Schachtel geöffnet hatten. Er nahm etwas Rundes, Glänzendes heraus und hielt es in das Licht der Menorah. Dann legte er die schwere Goldmünze mit dem Bildnis Kaiser Friedrich III. in die Hand seines Enkels.

»Das wird dir helfen, wenn du in Not bist. Du kannst davon viele Wochen leben. Gib sie aber nicht leichtfertig aus.«

Jakob nickte und schloss die Hand um das kühle Metall. So etwas Wertvolles hatte er noch nie besessen. Er stammelte ein »Dankeschön«, was der Großvater mit einer Handbewegung unterband.

»Lass mich jetzt alleine. Ich bin müde.«

Jakob verabschiedete sich von dem alten Mann, dem die Augen zugefallen waren. Als er an der Tür von Herrn Glock vorbeikam, ballte er die Hand, in der er die Münze trug, zur Faust.

Zurück in seinem Zimmer suchte er ein geeignetes Behältnis für seinen Schatz und verbarg ihn an einem geheimen Platz unter einer lockeren Bodendiele. In den folgenden Nächten holte er die Münze häufig aus seinem Versteck und betrachtete sie im Licht des Mondes. Dabei träumte er von einem fernen Land, in dem man ihm nicht wegen seiner Herkunft nachstellte.