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Über dieses Buch:

Nichts als Ärger mit den Männern! Das weiß auch Marlene, die ihren Ehemann Georg aus dem gemeinsamen Schlafzimmer verbannt hat. Nun träumt sie allein in ihrem Himmelbett … zumindest von Donnerstag bis Dienstag, denn jeden Mittwoch kommt Simon – sympathisch, leidenschaftlich und etwas verrückt. Er weiß das Feuer, das Marlene so lange vermisst hat, neu zu entfachen. Auf einer gemeinsamen Reise wird es Marlene jedoch zu heiß …

Ein witziger und berührender Roman über eine Frau, die den richtigen Mann sucht … und sich selbst findet.


Über die Autorin:

Annegrit Arens hat Psychologie, Männer und das Leben in all seiner Vielfalt studiert und wird deshalb von der Presse immer wieder zur Beziehungsexpertin gekürt. Seit 1993 schreibt die Kölner Bestsellerautorin Romane, Kurzgeschichten und Drehbücher. Fünf ihrer Werke wurden für die ARD und das ZDF verfilmt.

Annegrit Arens veröffentlichte bei dotbooks bereits folgende Romane: »Der Therapeut auf meiner Couch«, »Die Macht der Küchenfee«, »Aus lauter Liebe zu dir«, »Die Schokoladenkönigin«, »Die helle Seite der Nacht«, »Ich liebe alle meine Männer«, »Wenn die Liebe Falten wirft«, »Bella Rosa«, »Weit weg ist ganz nah«, »Der etwas andere Himmel«, »Der geteilte Liebhaber«, »Wer hat Hänsel wachgeküsst«, »Venus trifft Mars«, »Süße Zitronen«, »Karrieregeflüster«, »Wer liebt schon seinen Ehemann?«, »Suche Hose, biete Rock«, »Kussecht muss er sein«, »Liebe im Doppelpack«, »Lea lernt fliegen«, »Lea küsst wie keine andere«, »Väter und andere Helden«, »Herz oder Knete«, »Verlieben für Anfänger«, »Liebesgöttin zum halben Preis«, »Schmusekatze auf Abwegen«, »Katzenjammer deluxe«, »Ein Pinguin zum Verlieben«, »Absoluter Affentanz«, »Rosarote Hundstage«, »Die Liebesformel: Ann-Sophie und der Schokoladenmann«, »Die Liebesformel: Anja und der Grüntee-Prinz«, »Die Liebesformel: Tamara und der Mann mit der Peitsche«, »Die Liebesformel: Susan und der Gentleman mit dem Veilchen«, »Die Liebesformel: Antonia und der Mode-Zar« und »Die Liebesformel: Ann-Sophie und il grande amore«.

Die Autorin im Internet: www.annegritarens.de

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eBook-Neuausgabe April 2016

Dieses Buch erschien bereits 1995 unter dem Titel »Der Mann in meinem Bett« im Scherz Verlag

Copyright © der Originalausgabe Copyright 1995 Scherz Verlag, Bern und München
Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Olga Danylenko

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-617-1

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Annegrit Arens

Mittwochsküsse

Roman

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Im Himmelbett

Marlene blinzelte, strich sich den dunklen Haarwuschel aus dem Gesicht und sah auf den weißen Stoff. Viele Meter von diesem durchscheinenden weißen Stoff hüllten sie ein, nach unten hin fiel er locker auseinander, und zur Zimmerdecke hin kräuselte er sich immer dichter. Der Anblick ihres Betthimmels besänftigte Marlene. Sie legte sich in ihr Kissen zurück und schloß erneut die Augen. Nun war das monotone Tack-tack-tack unter ihr wieder zu hören. Georg saß wie immer in aller Herrgottsfrühe im Keller auf seinem Heimtrainer und keuchte sich die Seele aus dem Leib, bis er seine zwanzig Kilometer voll hatte. Dieses Tack-tack-tack, wenn die Pedale den tiefsten Punkt überwanden, hatte sie wieder einmal geweckt. Das und ihre Blase.

Marlene schlug die Bettdecke zurück und tastete sich aus dem Bett. Zum Glück hatte sie es nicht weit bis zum Klo. Ihrem eigenen Klo! Sie drehte den Knauf an der Tapetentür nach rechts, tat einen Sprung über die kalten Fliesen auf die Badematte und klappte den Klodeckel hoch. Er tippte gegen die Kacheln, sie sah auf den Druckspüler und dann auf die Klopapierhalterung. Die Chromstange war leer. Schiet!

Die Tür zu Georgs Zimmer stand offen. Die Rollläden waren hochgezogen. Über das schmale Einzelbett spannte sich nur noch das Laken. Das Bettzeug war ordentlich über einem Stuhl zum Lüften ausgelegt. Marlene stieß die Tür zu Georgs Bad auf. Natürlich gab es bei ihm Klopapier, sogar eine Reserverolle. Die konnte sie ihm nachher entführen.

Im Hinausgehen streifte Marlene gegen Georgs Bademantel. Frottee. Weißes Frottee. Eine Topqualität. Marlene hatte ihm den Bademantel selbst geschenkt, damit er nicht ständig seinen heimtrainergestylten Body nackt zur Schau stellte. Das war ein Überbleibsel aus den Tagen des wilden Georgs. Eins, das Marlene verrückt gemacht hatte. Schließlich wußte sie nach so vielen Ehejahren, wie ein nackter Mann aussah. Außerdem machte es null Bock, im Haus ständig dieser nackt baumelnden Männlichkeit zu begegnen.

Sie ging in ihr eigenes Zimmer zurück, schlüpfte zwischen zwei Stoffbahnen ihres Himmels und kuschelte sich in die Wärme zurück, die ihr eigener Körper hinterlassen hatte. Sie hatte noch reichlich Zeit zum Träumen. Die seltsam gezwirbelten Stahlrohrbeine ihres Schreibtischs, das warme Rotbraun des alten Kleiderschranks und der massive Messingfuß der Lampe auf dem Glastisch neben ihr rückten weit weg. Ob Simon jetzt auch an sie dachte? Marlene versuchte sich vorzustellen, wie es daheim bei ihm aussah. Er und seine Frau hatten ein gemeinsames Schlafzimmer, soviel wußte sie. Marlene sah ein Ehebett vor sich, eins mit Besucherritze, so wie sie und Georg es vor vielen Jahren auch gehabt hatten. Die Ritze war allerdings kein Problem gewesen, weil eine Betthälfte ihnen beiden gereicht hatte. Falls Georg nicht gerade wieder einen Filmstar in Berlin oder in München synchronisierte. Damals hing an jedem Aufnahmetermin eine heiße Nummer dran Manchmal hätte sie ihn umbringen können. Ihn, sich, seine Tussis. Sie hatte gekreischt und gebettelt, bis diese eine gemeinsame Betthälfte sie wieder eingeholt hatte. Die Versöhnung mit Georg war der Himmel gewesen.

Ein paar Sekunden Himmel für viele Stunden Hölle?

Marlene kniff die Augen zusammen. Es war schon zu hell im Zimmer, um in wohliges Träumen abzusinken. Kurzerhand warf sie sich auf den Bauch, grub den Kopf in ihr Kissen, spürte ihren Atem flach werden und dämmerte weg.

»Der Tee, Mylady!« sagte eine Stimme neben ihr. Natürlich war es Georg.

»Hör auf mit dem Quatsch!« grummelte sie und drückte sich die beiden oberen Kissenzipfel gegen die Ohren.

»Also kein Tee heute?« fragte Georg. Es klirrte, als er den Teebecher auf dem Glastisch neben ihrem Bett absetzte.

Der würzige Duft von »Sir Winston Earl Grey« zog zu ihr ins Bett. Sie richtete sich auf und schüttelte ihre halblangen Haare zurück, die sehr dicht und ein bißchen störrisch waren. »Natürlich will ich Tee!« Obwohl die Haarzotteln ihr nun nicht länger in die Augen hingen, sah sie kaum etwas. Ohne ihre Kontaktlinsen war sie blind wie ein Maulwurf.

»Hier, du Blindschleiche!« Georg schob ihr den Henkel der Bechertasse zwischen die Finger. Sie ersparte sich eine Antwort. Der aufsteigende Dampf und der Duft belebten sie. Zuerst trank sie in winzigen Schlucken und dann immer gieriger. Ihre Augen wurden klarer, sie verspürte sogar einen Anflug von guter Laune, obwohl sie ein ausgesprochener Morgenmuffel war. Georg war ein Schatz. Jeden Morgen brachte er ihr den Tee ans Bett. Über den Rand ihrer fast leeren Tasse hinweg fixierte sie ihn. Sein Gesicht wirkte seltsam verschwommen, was aber diesmal nicht an ihrer Kurzsichtigkeit lag. »Bist du in den Bohnen?« fragte sie.

»Bohnen?« wiederholte Georg nachdenklich. Seine intensiv blauen Augen erschienen Marlene wäßrig, sie folgte seiner Blickrichtung, doch die führte ins Nichts. »Es ist nur dieser Arsch«, sagte er endlich.

»Welcher Arsch?« Marlene sah sich um, obwohl ihr klar war, daß sie beide allein waren. Nur das Radio dudelte. Es war das falsche Programm. Sie hatte frühmorgens keinen Nerv für Klassik. »Du hast mir wieder mein Radio verstellt«, sagte sie.

»Hör dir diesen Arsch an«, antwortete Georg. »Kriegt nicht mal mehr ’ne vernünftige Ansage zustande. Das ist Tschaikowsky, Klavierkonzert No. 1, Piano Concerto. Der Typ wirft alles durcheinander, demnächst sagt er noch in unserem Klassikprogramm seine nächste Ficknummer an.«

»Kennst du ihn?« fragte Marlene und versuchte, die Stimme des Sprechers mit einem von seinen Kollegen vom Sender in Einklang zu bringen. Georg hatte vor fast dreißig Jahren als Rundfunksprecher beim Westdeutschen Rundfunk angefangen, und die meisten Kollegen aus jener Ära kannte sie.

»Hans Pfaff«, sagte Georg, »Rammler, Säufer und ständig auf der Hatz.«

»So ’n Ärger, daß du nicht mehr mit von der Partie bist, wie?« Marlene hielt Georg ihre leere Tasse hin.

»Dafür ist dein Tee Spitzenklasse. Du bist der beste Teekocher aller Zeiten.«

»Laß mich nachdenken!« Georg zog die Stirn in Falten. Er hatte eine sehr hohe Stirn und einen gelichteten Haaransatz. In dieser Pose glich er der Karikatur eines Philosophen. Monumentaler Kopf, und unter der Brust hörte er auf. »Mir fällt nichts ein«, fuhr er fort. »Sag mir doch mal, worin du top bist!«

»Arschgeige!« Marlene schnellte hoch. Sie griff nach ihrer Nackenrolle und hob den Arm.

Georg duckte sich, lässig, er hatte ihre Armbewegung richtig gedeutet und trat aus der Flugbahn. »Lausiger Wurf!« Er bückte sich und kam mit der Rolle in der Hand hoch.

»Ich werd’s üben.« Marlene grinste ihn an. »Mit deinen Ostereiern«, fuhr sie fort. Sie meinte die handbemalten Porzellaneier, die Georg sammelte. Es waren sehr kostbare Stücke darunter. Sie mochte diese Eier nicht.

»Besser nicht!« Georg machte kehrt. Mit ihrer leeren Tasse verließ er das Zimmer. Wenig später hörte sie ihn in der Küche klappern. Zwei Scheiben Vollkornbrot, zwei Butterkleckse, ein weichgekochtes Ei, eine Multivitaminpille und drei Tassen Kaffee. Sie konnte seine Frühstückskomposition singen. Schon bei dem Gedanken an dieses allmorgendliche Zermalmen gesunder Körner wurde ihr speiübel. Sie haßte es zu frühstücken. Vielleicht sollte sie wirklich mal eine Wurfübung mit seinen Porzellaneiern starten. Seine Flucht in die Küche signalisierte ihr, daß er ihr das zutraute. Marlene grinste und schwang sich aus dem Bett.

Eine Viertelstunde später nahm sie im Wohnzimmer auf ihrem Sofa Platz. Blick auf den Eßtisch, wo Georg an seinem Set saß, eingerahmt von seinen morgendlichen fünfhundert Kalorien plus Vitaminstoß plus Zeitung.

»Kaffee, Mylady?« Georg sah von der Zeitung hoch.

»Plus Kultur«, antwortete Marlene.

»Heute ist nicht Samstag«, erinnerte Georg.

»Na und?« fragte Marlene.

»Na hör mal! Seit fünfzehn Jahren liest du von montags bis freitags zuerst ›Quer durch Köln‹, und nur am Wochenende startest du mit dem Kulturteil, also ...«

»Kleingeist!« Marlene sprang auf, ging zum Radio und drückte die Reihe blinkender Tasten durch, bis sie Radio Köln gefunden hatte. Ihr war nach Popmusik.

Georg grinste. Dann hielt er ihr den Kulturteil der Zeitung hin. »Eigentlich toll«, sagte er. »Ich laß dir deine kölschen Töne, deinen Morgenmuffel und heute sogar Kultur statt Klatsch außer der Reihe, ist das etwa nichts?«

»Hm.« Marlene wippte im Takt des neuen BAP-Songs. Georg liebte Klassik, sie liebte kölschen Pop, und zusammen konnten sie über alles reden. Über fast alles... Marlene strich sich über ihre Hüften, die schlank und doch gerundet waren. Weibliche Hüften. Die meisten Männer mochten das. Simons Finger verrieten die Liebe zu gutem Material. Er liebte es, über ein Blütenblatt oder das Zirbelholz ihrer Kommode oder über Haut zu streicheln. Über ihre Haut.

»Hast du was vor?«

»Wie?« Marlene sah auf.

»Du siehst so aufgekratzt aus.« Georg zeigte auf Marlenes Hüften, die noch immer wippten.

»Der Briefträger.« Marlene ließ ihr Becken kreisen. »Mußt du nicht endlich los?«

»Leider!« Georg stand auf. »Geht er nicht bald in Rente mit seiner Gicht?«

»Vielleicht haben wir ja schon ’nen neuen Briefträger.«

Georg grinste. »Oder eine Briefträgerin.« Er schlüpfte in sein Sakko und ging hinaus. »Salut!«

»Denk an die Pastetchen«, rief Marlene ihm hinterher. Sie hatten gestern darüber gesprochen, daß sie mal wieder Pastetchen mit Ragout fin essen könnten.

»Laß sie dir mit der Post schicken.« Georg drehte sich noch einmal zu ihr um. »Dann ist unser Otto inklusive.« Er lachte wie über einen guten Witz.

Marlene kickte mit dem Absatz die Küchentür zwischen sich und ihm zu. Otto war der Briefträger, der ihnen seit fünfzehn Jahren die Post brachte. So lange wohnten sie schon hier im Grünen, in der Idylle, das Haus stand unter Denkmalschutz. Sie und Georg hatten sich beide auf Anhieb in dieses alte Haus verliebt. Otto war ein Mickerling. Marlene nahm den Glaskrug von der Kaffeemaschine, er fühlte sich nur noch lauwarm an. Wütend tippte sie gegen den Schalter. Georg trank seine drei Tassen, und dann schaltete er das Gerät aus, weil es sicherer war. Die Prophylaxe gegen einen Schwelbrand war ihm wichtiger als Marlenes zweite Tasse Kaffee, die sie immer erst trank, wenn er das Haus verlassen hatte.

Die Küchentür schwang auf. »Ich bring sie mit«, sagte Georg, »okay?«,

»Wie?« Marlene zuckte zusammen. Wieso war er noch da?

»Ich bring die Scheißdinger mit«, sagte Georg, »die Pasteten.«

»Pasteten«, wiederholte Marlene und dachte, daß es wieder einmal typisch für ihn war, sich an diese Blätterteigtaschen zu erinnern, die sein Abendbrot bereichern sollten. Eigentlich mochte sie keine Pasteten. Die machten nur dick. »Für mich nicht!«

»Weiber!« Diesmal knallte die Tür sehr heftig hinter Georg zu.

Himmelgespinste

Marlene rückte mit dem Gesicht näher an die Hi-Fi-Anlage. Die fünf lose übereinandergetürmten Blöcke in mattem Chrom irritierten sie noch immer, obwohl sie nun schon seit fast einem Jahr im Haus waren. Anfangs hatte sie sich wie in einem Konzertsaal gefühlt, wenn die Töne aus den gewaltigen Verstärkern quollen. Monatelang hatte sie ihren eigenen simplen Recorder mit durch das Haus geschleppt und es Georg überlassen, mit diesen unzähligen Schiebern und Tasten klarzukommen. Georg hatte sich über sie lustig gemacht. Ihre Tochter Antonia auch. Die beiden verstanden nicht, daß sie nicht wirklich Probleme mit ein paar neuen Bedienungselementen hatte, jeder Idiot bewältigte die mit einer ordentlichen Anleitung. Sie sperrte sich gegen den Fremdkörper in ihrem Haus. Sie liebte Musik, und sie liebte dieses Haus, es war nicht nötig, daraus ein Studio zu machen. Studios waren Georgs Welt.

Marlene schaltete von Tuner auf CD um, dann legte sie die CD-Scheibe ein und drückte auf den Schnelllauf. Bei der Zahl elf nahm sie den Daumen von der Taste. Nr. 11 war ihr Lieblingslied: »Met Wolke schwaade«. Das kölsche Wort »schwaade« für »schwätzen« kuschelte sich in ihr Herz. Es war ein wunderschönes Bild, mit diesen luftigen Wolkengebilden über sich schwätzen zu können. Als könnte man einen Traum anpacken. Marlene mußte an Simon denken. Er hatte ihr vor ein paar Wochen die neue BAP-Scheibe geschenkt. Sie legte sie nur auf, wenn sie allein oder mit Simon zusammen war. Sie stellte sie auch nicht zu den anderen Disks, obwohl es keinen vernünftigen Grund dafür gab. Garantiert hätte dieses Lied Georg auch gefallen, und mit ihm zusammen konnte man wunderbar Musik hören. Er hörte mit dem Kopf und mit dem Bauch und keineswegs nur Klassik. Aber es hätte sie durcheinandergebracht. Die Wolkenschwätzereien gehörten zu Simon.

Als das Telefon klingelte, wußte Marlene sofort, daß er es war. Von ihrem Haus bis zu seinem Antiquitätengeschäft brauchte er eine gute halbe Stunde.

»Hi?« meldete sie sich.

»Du müßtest deine Stimme hören«, sagte er.

»Wieso?« Marlene räusperte sich. Wenn er bei ihr gewesen war, wenn seine Wärme noch an ihr haftete, fiel es ihr manchmal schwer, die Worte klar aus sich herauszulassen. Sonst hatte sie das nie.

»Du hörst dich unglaublich aufregend an, deshalb.«

»Ich habe nur hi gesagt«, protestierte Marlene.

»Bei dir hört es sich an wie die schönste Ferkelei...«

Und schon hatte Marlene wieder dieses Bild vor Augen, sie zusammen mit Simon. Eigentlich war es eher ein komisches Bild. Simon war kein Jüngling mehr, er war sogar älter als Georg, vier Jahre älter. Und sie selbst war auch schon neunundvierzig. Aber seltsamerweise hatte sie sich vor fünfzehn Jahren eher vorstellen können, auf ihre Körperlichkeit zu verzichten. Damals war alles an ihr straff gewesen. Ihre Kleidergröße hatte sich bis heute nicht geändert, sie war noch immer schlank und auch muskulös, trotzdem war es anders. Ihre Haut hatte eine andere Struktur bekommen, sie paßte sich dem Licht und der Stimmung an. In Simons Armen wurde Marlene sehr weich. Sie hätte nie geglaubt, daß sie so sein könnte. Eigentlich war sie ein eher kühler Typ. »Eisprinzessin« hatte Georg sie früher genannt. Bei dem Gedanken an Georg rubbelte sie sich über die Augen, sie juckten.

»Hallo«, kam es vom anderen Ende. »Gibt es dich noch?«

»Ja«, antwortete Marlene, »natürlich.« Ihre Stimme war nun nicht mehr belegt. Sie mußte unbedingt daran denken, Augentropfen und eine neue Flasche Desinfektionsmittel für ihre Kontaktlinsen zu besorgen.

»Ist met Wolke schwaade vorbei?« fragte Simon.

»Für diese Woche ist es vorbei«, antwortete Marlene. Sie meinten beide nicht die Musik im Hintergrund, die nun abgelaufen war. Im Grunde lebten sie beide in Welten, in denen kein Platz für solche Himmelsgespinste blieb. Simon war auch verheiratet, allerdings hatte Marlene mehr Glück mit ihrer Ehe als er. Der zweite Anlauf hatte sich gelohnt fand sie. Sie und Georg waren Realisten. Sie hatten ihrer Ehe Schalldämpfer verpaßt, und so wie’s aussah, wurde der wilde Georg immer zahmer. Ganz von selbst. Nur komisch, daß sie selbst plötzlich mit dem Feuer spielte. Einmal die Woche, nicht öfter. Sie wußte schließlich, was passierte, wenn sie sich voll erwischen ließe. Liebe rundum war eine Quälerei und die Hölle. Einmal die Woche war okay. »Am Samstag beginnt die Ausstellung von Walter Dick«, sagte Simon. Seine Stimmlage hatte sich nicht geändert. So, als hätten die Fotos einer Trümmerstadt kurz nach Kriegsende etwas Romantisches. Marlene mochte es nicht, wenn Simon die Dinge durcheinanderbrachte.

»Ich weiß«, sagte sie.

»Und? Kommst du? Der Chefredakteur der Rundschau spricht die Einführung. Er ist ein Topmann, er kennt sich aus, Historiker, er hat sogar ein Buch über die Bräuche im Mittelalter geschrieben, sehr anschaulich ...«

»Vielleicht kommen wir«, unterbrach Marlene und betonte das »wir«.

Das Wochenende gehörte ihr und Georg. Früher hatte Georg diese Wochenenden manchmal gekappt. Dienstlich, hatte er gesagt. Von wegen! Ob Simons Frau mitkäme?

»Vielleicht treffen wir euch ja«, Marlene betonte das »euch«.

»Was würdest du machen?« fragte Simon.

»Grüßen«, erwiderte Marlene.

»Und wer wäre ich, wenn dein Mann fragte, wen du da grüßt?«

»Der nette Antiquitätenhändler, bei dem ich endlich die richtigen Messerbänkchen gefunden habe.« Im Grunde hatten diese altmodischen Messerbänkchen sie sogar zu Simon geführt. Georg war scharf auf solche Altertümchen, und Simon führte so etwas in seinem Laden. Genaugenommen war es witzig, daß die beiden Männer in ihrem Leben sich so harmonisch ergänzten, bis hin zu den Messerbänkchen. Marlene gluckste. Es war wirklich komisch. Sie hatte einen zahmen Georg forever und einen Ersatz für den wilden Georg, den es nicht mehr gab. Ihr Wilder hieß Simon, aber bei sich zu Hause war auch er der Zahme.

»Das ist nicht witzig«, sagte Simon, »meine Frau würde sofort spüren, daß etwas im Busch ist.«

»Doch nur mittwochs«, antwortete Marlene, »bis dann.« Sie legte auf. Es war nicht ihr Problem, wie Simon seinen Mittwoch-Fremdgang erklärte. Es reichte, daß er am Telefon zu flüstern begann, sobald seine Frau in den Laden kam.

Es war seine zweite Frau. Gegen ein Uhr holte sie immer die Zwillinge von der Schule ab und kam auf dem Weg bei Simon vorbei. »Sie ist sehr eifersüchtig«, hatte er einmal bemerkt. Sein Gesicht blieb kühl, wenn er sie erwähnte. Sobald er von seinen Töchtern sprach, änderte sich das. Marlene war sich nicht sicher, ob sie ihn in dieser Vaterrolle überhaupt wahrnehmen wollte. Es war Simons Leben und sehr weit weg von ihr, genauso wie ihr Leben mit Georg und Antonia ihn nicht betraf.

Marlene drückte den Telefonhörer fest auf die Gabel. Sie mochte diesen altmodischen Apparat mit der hochgereckten Gabel und der Wählscheibe, die wie ein müdes Auge im Gehäuse saß. Der Elfenbeinton hatte schon Patina bekommen. Das Telefon war nur eines von vielen Dingen, die Marlene liebevoll zusammengetragen hatte. Georg mochte es auch.

Marlene stand auf und nahm die BAP-Disk aus dem Player. Die Lust am Wolkenschwätzen war ihr für heute vergangen. Alles hatte seine Zeit, auch die Wolkenschwätzerei. Nur sehr junge und sehr dumme Menschen ließen sich von ihren Emotionen wegtragen, fand sie.

Marlene hatte kaum die Anlage auf »Radio« gestellt, vielleicht kam ja eine Moderation von Georg, da klingelte schon wieder das Telefon. Diesmal meldete sie sich korrekt mit »Marlene Markscheider«.

»Auch Markscheider«, kam es retour. »Wie war der Briefträger?«

»Eine Sensation«, antwortete Marlene. Sie angelte mit einer Hand nach der BAP-Disk, sie durfte nicht vergessen, die mit in ihr Zimmer zu nehmen.

»Was hast du an?« fragte Georg.

Marlene verspürte ein Kribbeln. Ob er etwas ahnte? »Haut«, sagte sie.

»Zieh was drüber, wir könnten zusammen essen gehen.«

»Holland in Not?« Das Kribbeln in ihr hörte auf. Georg hörte sich nicht gut an.

»Mir ist einfach nach einem vernünftigen Menschen. Im Studio ist heute Vollmond. Kommst du?«

»Okay.« Marlene überlegte, daß sie dann gleich die Augentropfen und Desinfektionslösung kaufen konnte. Und Strumpfhosen. »Antisexfutterale« hatte Georg die genannt, aber das war anno dazumal, als ein nacktes Stück Fleisch zwischen Strumpf und Slip ihn noch auf Hochtouren brachte. Es war keine schlechte Idee, gleich in die Stadt zu fahren. Sie sah auf ihre Armbanduhr, die nächste S-Bahn fuhr in zwanzig Minuten. Sie rechnete eine halbe Stunde Fahrzeit dazu, um zwei konnte sie am Hauptbahnhof sein.

»Ich hole dich um zwei an der Station ab«, sagte Georg.

»Wie ein altes Ehepaar«, sagte Marlene. »Ich denk’s, und du sprichst es aus.«

»Wir sind ein altes Ehepaar«, erwiderte er. »Hi!«

Bei dem »Hi!« zuckte Marlene kurz zusammen. Es war nicht sein Wort. »Bis gleich«, antwortete sie. Dann stand sie auf, ging in ihr Zimmer, sammelte ihre verstreut liegenden Kleider ein und zog sich an. Zuletzt applizierte sie vorsichtig die beiden Kontaktlinsen auf ihren Augen. Diesmal gönnte sie ihrem Spiegelbild in der Diele nur einen flüchtigen Blick. Sie mußte sich beeilen. Georg wartete auf sie.

Ein altes Ehepaar

Die S-Bahn ruckte an, und Marlene ließ sich atemlos auf eine Sitzbank fallen. Sie war die letzten paar Meter gerannt, um den Zug noch zu bekommen. Der Waggon war spärlich besetzt, das würde sich auch so schnell nicht ändern, das Gedränge begann immer erst im Stadtbereich. Marlene hob den Po an und strich sich den Leinenrock gerade, sie hatte nicht viel für Knitterfalten übrig, auch wenn die bei diesem Material angeblich edel wirkten. Als das Wagenfenster in den Schatten der Bäume tauchte, die hier sehr nahe an das Gleis heranrückten, konnte sie sich in der Glasscheibe betrachten: Gut gekleidet, mit Hut, sie konnte gut Hüte tragen, die Haare quollen unter der weichen Krempe hervor. Marlene fuhr sich mit einer Hand unter das Nackenhaar, es fühlte sich dicht und geschmeidig an. Es war ein Glück, daß sie nicht wie manche Frauen plötzlich sprödes und dünnes Haar bekam, obwohl sie nun auch färbte. An den Schläfen hatten sich einzelne graue Fäden zu einem hellen Saum verdichtet, in dunklem Haar fiel das besonders auf. Es hatte sie unnötig alt gemacht.

Marlene beobachtete in der Scheibe neben sich aufmerksam ihren angewinkelten Arm und die Hand, die wieder aus dem Haar glitt. Ihre Brüste reckten sich vor, es waren volle Brüste, und die Taille darunter war fast so schmal wie vor fünfzehn Jahren. Damals, als sie hierher gezogen waren, ins Grüne. Sie hatten dieses wunderschöne alte Haus gefunden und noch einmal von vorn begonnen.

Dann hatte sie sich jahrelang mehr um dieses Haus und die Einrichtung gekümmert als um sich selbst. Die Fremde dort in der Scheibe gab es erst seit knapp drei Jahren, die gehörte zum Mittwoch und zum Wolkenschwätzen und zum Liebemachen.

Marlene sah sich über den Wühltisch gebeugt stehen, auf dem sich Baumwollenes und Reizwäsche mischten. Der Slip war im Schritt offen gewesen, an der Kasse hatte sie sich umgeschaut, und dann hatte das Dessous ein paar Wochen im Schrank gelegen, weil sie sich vor Simon genierte. Aber Simon hatte nicht gelacht. Mittlerweile kaufte Marlene ihre Dessous im Fachgeschäft, sie genoß die Bewunderung der Verkäuferin und die Vorstellung, daß eine fremde Frau sich ausmalte, wie Marlene es tat. Es gab Wäsche, die trug Frau nur, um das Liebesspiel anzuheizen. Wenn Marlene es sich ausmalte, war es wild und orgiastisch. Die Wirklichkeit war blasser. Ihre Phantasien stockten, sobald der echte Simon pausierte, nicht verstand, auf die Uhr sah. Dann war’s wieder so wie mit Baumwollhöschen und Antisexfutteral. Innendrin war noch viel von der jüngeren Marlene. Von der, die es anderen hübsch macht, Georg und natürlich Antonia.

Es war seltsam, sich vorzustellen, daß aus dem spillerigen Mädchen längst eine erwachsene Frau mit eigenen Abenteuern geworden war. Wenn sie an Antonia dachte, fiel ihr immer zuerst deren Stimme ein, leicht angerauht und mit vielen Zwischentönen. Bei der Stimme hatte sich Georgs Erbgut durchgesetzt.

Als junges Mädchen hatte Marlene sich in diese Stimme verliebt. Dann war sie schwanger geworden, und obwohl sie von einer Karriere als Bühnenbildnerin träumte, hatte sie nicht abtreiben wollen. Georg schon, er hatte praktisch gedacht. Marlene wußte nicht mehr genau, warum sie so hartnäckig geblieben war. Sie war nicht versessen auf Kinder gewesen und aufs Heiraten auch nicht. Georg hatte auf der Heirat bestanden, so wie sie auf dem Kind. Also war sie mit neunzehn Jahren Ehefrau und Mutter geworden. Georg war zwanzig gewesen.

Marlene mußte wieder an seine Bemerkung eben am Telefon denken: »Wir sind ein altes Ehepaar!« Mit Ausrufezeichen in der Stimme, festgeschrieben in alle Ewigkeit, so als ob nie mehr etwas Neues kommen könnte. Sie waren ein altes Ehepaar, okay! Nach fast dreißig Jahren waren sie das wohl. Aber sie waren nicht einbetoniert. Marlene ließ eine Hand über ihre Brüste gleiten, die Nippel richteten sich auf, die Gier erwachte, Gier nach Zärtlichkeit. Sie schlüpfte mit einem Finger in den Spalt zwischen zwei Blusenknöpfen, spürte der Wärme und dem Klopfen nach, es war ein gutes Gefühl. Sie lebte, trotz Fältchen und anderen kleinen Zeichen, die das Fortschreiten der Jahre anzeigten. Eigentlich hatte Marlene ihren Körper noch nie so deutlich gespürt wie jetzt. Sehr lebendig, fordernd, unruhig manchmal, es fiel sogar Georg auf, obwohl Sex zwischen ihnen schon so lange keine Rolle mehr spielte. Marlene war froh gewesen, als es vor etlichen Jahren aufgehört hatte, sie konnte gut auf diese zwanghaften Turnübungen verzichten. Jeder, der behauptete, nach vielen Ehejahren noch den großen Kitzel zu empfinden, log. Sie und Georg hatten Klartext geredet. Das war, als ihre Ehe auf der Kippe stand: Georg, der Karrieremann und Frauenheld, Antonia, eine magersüchtige Pubertierende, und sie selbst, aufgerieben zwischen Eifersucht und Angst. Damals hatte sie die Haare hochgesteckt, und natürlich hatte sie keinen Hut getragen, sie wollte überhaupt nichts Auffälliges. Sie wollte Ruhe und Gleichmaß und einen Partner, keinen Paradiesvogel. Georg war ein Paradiesvogel gewesen, bunt und schillernd und immer auf der Platter.

Sie war in eine Buchhandlung gegangen, wo man sie nicht kannte, in die Abteilung »Ratgeber«. »Darf ich ihnen helfen?« hatte die Buchhändlerin gefragt, aber Marlene hatte dankend abgelehnt, und an der Kasse hatte sie das Buch »Mein Garten« über das andere mit dem Titel »Wege aus der Krise« gelegt. Sie erinnerte sich sogar noch an das Deckblatt des Eheratgebers: zwei Hände, die sich ineinanderhaken, eine Frauenhand und eine Männerhand, der Hintergrund verwaschen blau, ein friedliches Bild. Damals war Marlenes Ehe alles andere als friedlich gewesen. Sie hatte sich viele solcher Bücher gekauft. Heimlich, und dann hatte sie die Ratschläge ausprobiert, so wie ein neues Kochrezept. Lauter kleine, banale Dinge, von den Mahlzeiten übers gemeinsame Hobby bis hin zu den getrennten Ehebetten. Als es funktionierte, hatte sie sich stark gefühlt. Auch ein bißchen überlegen, weil ein Mann wie Georg darauf hereinfiel...

Eben am Telefon hatte er sich wie ein Oberlehrer angehört. Einer im Ruhestand, die Grabstelle schon bezahlt und die Abschiedsworte schon entworfen: Hier ruhen Georg und Marlene, Friede ihren Seelen! Ob er überhaupt noch einen hochbekam? Plötzlich überkam Marlene der Verdacht, daß Georgs Askese nicht das Produkt seiner Selbstbeherrschung, sondern schlicht auf die Macht des Faktischen zurückzuführen war. Er stand ihm nicht mehr! Männer, denen er nicht mehr stand, wurden kauzig und heilig und müffelten wie alte Socken.

Sie tastete nach ihren Strümpfen. Fünfzehn Denier, hauchzarte Gebilde, früher hatte Georg ihr die zerfetzt. Früher waren ein paar Nylons ein kleiner Schatz für sie, und Marlene hatte versucht, ihm die billigen Strümpfe für seine Liebeswut zuzuschanzen. Oder wenigstens die mit dem gezogenen Fädchen, die es sowieso nicht mehr lange machen würden. Aber Georg hatte es gemerkt. Einmal war er sogar aufgesprungen und drei Tage nicht zurückgekommen: »Such dir einen anderen Dummen für deinen Spar-Strumpf-Sex!«

Marlene rubbelte über das dünne Gewebe an ihren Beinen, ein roter Fleck schimmerte durch, die Stelle fühlte sich heiß an. Ihr Ring blieb hängen, und plötzlich hätte sie am liebsten den Strumpf aufgeratscht. Sie versuchte, sich das Geräusch von reißender Strumpfseide vorzustellen, aber es war zu weit weg. Marlene stellte sich ihre eigenen Schenkel nackt zwischen Slip und Strumpfansatz vor. Es kribbelte. Why not? Es gab keinen Grund für sie, sich diese Dinger nicht zu holen. Sie beschloß, sich außer Augentropfen gleich nach dem Treffen mit Georg statt Strumpfhosen halterlose Strümpfe zu kaufen. Der nächste Mittwochnachmittag kam bestimmt. »Met Wolke schwaade« war nicht vorbei. Noch lange nicht. So ein Wolken-Talk war etwas absolut Himmlisches. Sie würde schwarze Nylons nehmen. Schwarz mit Spitzenbordüre.

»Verzeihung!« sagte eine fremde Stimme neben Marlene. Sie sah hoch, einen Moment lang überlegte sie, was die fremde Frau von ihr wollte. Dann nahm sie die Körper und das Murmeln ringsum wahr, die Bahn hatte sich gefüllt, und diese Frau wartete darauf, daß Marlene den Sitz neben sich freimachte.

»Verzeihung!« sagte nun auch Marlene und stellte die Umhängetasche auf ihren Schoß. Sie sah auf die Uhr an ihrem Handgelenk, es war die Miniaturausgabe einer Bahnhofsuhr, der rote Sekundenzeiger ähnelte einem Stoppschild, es war eine originelle Uhr. Simon hatte sie ihr geschenkt. Simon – halterlose Strümpfe – Augentropfen – Pastetchen – nee, die Pasteten hatte sie gecancelt. Noch fünf Minuten, dann war sie da.

Marlene sah Georg schon von weitem. Obwohl er tüchtig abgespeckt hatte, wirkte er voluminös, das mochte auch an seinem kantigen Kopf und an der Art liegen, wie er sich bewegte. Einer, der durch die Menge pflügt und sich Platz schafft. Nicht aggressiv oder unfreundlich, eher selbstverständlich. Den jungen Gänschen im Studio imponierte das.

»Hallo, Alte!« Georg stand genau an der richtigen Steile, dort, wo die Mitteltür von Marlenes Abteil aufklappte. Er streckte ihr eine Hand entgegen.

Marlene ignorierte die Hand, er hatte nicht gerade geflüstert. Sie übersprang eine Stufe und kam mit einem Hüpfer auf dem Bahnsteig zu stehen. Ohne auf Georg zu warten, steuerte sie den Ausgang an.

»Ist das als Spende gedacht?« fragte Georg neben ihr.

Etwas Weinrotes schob sich in Marlenes Blickfeld. Sie drehte Georg das Gesicht zu, er hielt ihr Portemonnaie in der Hand. Bei ihrem Hüpfer eben mußte ihr das aus der Tasche ihrer Kostümjacke geglitten sein. Vielleicht war sie doch schon zu alt für wilde Sprünge.

»Scheiße!« Sie nahm die Lederbörse und steckte sie weg, diesmal in ihre Umhängetasche, den Reißverschluß zog sie auch zu.

»Bitte!« sagte Georg.

»Danke vielmals! Besonders für das ›Alte‹!«

»Ach so«, sagte er. »Deshalb.« Dann umschloß er mit einer Hand ihren Ellbogen und dirigierte sie durch das Gewühl auf dem Bahnhofsvorplatz. Es war ihr angenehm, sie verlor leicht die Übersicht in solchen Menschenknäueln. Erst als sie in eine ruhigere Seitenstraße abbogen, fragte sie: »Und wohin gehen wir?«

Er ging ihr nicht auf den Leim. »Wohin du willst. Wohin willst du?«

»Ich weiß nicht.«

»Ins ›Fox‹?«

»Meinetwegen.« Das »Fox« wechselte gelegentlich den Besitzer, die Kundschaft blieb dieselbe. Journaille! Eigentlich war ihr nicht nach diesen Wichtigtuern, aber ihr fiel auch nichts Besseres ein.

Das Lokal war als Bistro aufgemacht, eines von der unterkühlten Sorte. Viel Glas und Chrom und die Stühle in Popfarben, ein Stuhlbein rot und das andere gelb, Marlene fand es reichlich gewollt. An den Wänden hingen Filmposter und Pressefotos. »Wo bist du eigentlich drauf?« fragte sie spöttisch.

»Dort.« Die Bedienung hatte mitgehört, sie stellte einen Brotkorb ab, in der anderen Hand hielt sie einen Salatteller. Marlene folgte Georgs ausgestrecktem Finger bis zu dem Foto, auf dem er angeblich abgebildet sein sollte. Sie sah nur das weiße Relief der WDR-Fassade und davor schwarze Striche mit hellen Punkten obenauf, eine Herrenriege, es waren bestimmt ein Dutzend Herren im dunklen Anzug.

Die Bedienung starrte ihn an, den Salatteller noch immer in der Hand.

Marlene griff nach der Karte, sie hatte Hunger. Sie überflog die kunterbunte Palette von Quiche, Crêpe, Pizza, Gyros und Pasta. »Wirklich international! Ich nehme einen Salatteller«, und mit einem Blick auf den servierfertigen Salat: »Einen frischen Salat.«

»Wir haben nur frischen Salat.« Die Bedienung ging weiter, den Salatteller servierte sie einem Herrn am übernächsten Tisch.

Marlene gluckste. »Ist das komisch!«

»Du bist komisch«, grinste Georg, und schließlich mußten sie sich beide von dem Herrn abwenden, der gesittet seinen Salat zu essen begonnen hatte und nun seine Gabel ablegte. Er schien noch im Zweifel zu sein, ob etwas mit seinem Essen oder mit seinem Sakko nicht in Ordnung war. Das Kichern von Marlene und Georg irritierte ihn.

»Darf man mitlachen?«

Marlene sah hoch, noch ein Anzugmensch, das Gesicht kam ihr vage bekannt vor.

»Hans Pfaff«, stellte Georg vor. »Meine Frau.«

»Ich hatte schon einmal das Vergnügen.« Der Radiosprecher beugte sich über Marlenes Hand. Das war doch der von heute früh mit dem geschluderten »concerto«. »Ja«, stimmte Marlene zu, »wir hatten erst heute früh das Vergnügen.«

»Sie haben mein Morgenmagazin gehört?« fragte Georgs Kollege und lächelte breit.

»Sozusagen.« Marlene zwinkerte Georg zu, dann kam ihr Salat. Mit dem Besteck in der Hand nickte sie dem Herrn zwei Tische weiter zu, der seinen Teller fast voll hatte zurückgehen lassen. Sie begann zu essen. Nicht übel!

»Biest!« flüsterte Georg.

»Hat der etwas mit der Vollmondstimmung bei euch im Studio zu tun?« Marlene nickte Richtung Bartheke, wo der Radiosprecher sich mit dem Rücken zu ihnen platziert hatte.

»Hans?« Georg wischte sich über den Mund, ein roter Fussel von der Serviette blieb hängen. Marlene nickte und streckte die Hand aus, um ihn davon zu befreien. Es sah komisch aus.

»Er schludert«, sagte Georg. »Er und ein Dutzend andere. Bei jedem neuen Weiberarsch flippen sie aus.«

»Bei dem pinkgestreiften?« fragte Marlene.

Georg sah sich um. Eigentlich mußte er nur den Hälsen der Männer folgen, die vorne an der Bar saßen. Das Geschöpf, dem die gebündelte Aufmerksamkeit galt, hatte sein bemerkenswertes Eiinterteil in ein Etui aus schwarzem Stretchstoff mit pinkfarbenen Streifen gezwängt, es wippte mit Po und Hüften und Brüsten, nur das sehr junge Gesicht blieb unbewegt.

»Das ist sie«, sagte Georg. »Die Neuentdeckung des großen Meisters.«

»Sie ist ein appetitlicher Happen.« Marlene lächelte, vor ein paar Jahren hätte sie das nicht so locker gebracht. Georg hatte genau zu denen gehört, an denen solch ein Happen hängenblieb.

»Im Bett mag das stimmen«, sagte Georg, »aber nicht bei einem Film über die Erinnerungen eines Punk-Anarchisten.«

Für Marlenes Geschmack übertrieb Georg. »Du mußt schließlich nur deinen Johnny Rotten synchronisieren«, widersprach sie. Georg hatte sich für die Idee begeistert, dieser Kultfigur aus den Siebzigern seine Stimme zu geben.

»Leider sind noch ein paar andere beteiligt, und die hecheln hinter diesem Pin-up-Girl her und verhunzen den Ton.«

»Pin-up naht.«

»Was ist los?« Georg starrte Marlene an, als ob der Vollmondbazillus sich nun auch in ihr breitgemacht hätte. Dann tauchte er in den Schatten von zwei Brüsten, die sich über ihn beugten. Oben schob sich sonnenbraune Haut aus dem pinkschwarzen Futteral, und noch weiter oben spitzten sich pinkfarben geschminkte Lippen, berührten Georgs Wangen rechts und links und wieder rechts: »Du kommst doch heute abend? Du hast es mir versprochen!«

Georg schob mit einer Hand gegen die Person. »Darf ich dir meine Frau vorstellen«, sagte er.

»Hi!« Ein kurzer Blick flog zu Marlene, dann war die Pinkige wieder voll bei Georg. So, als ob es Marlene gar nicht gäbe. So, als ob es normal wäre, einen verheirateten Mann zwischen zwei Megatitten zu ersticken, während die Ehefrau zuguckte. Die Megatitten glichen Luftballons. Keine Frau hatte in echt solche Ballons, auch nicht mit Anfang Zwanzig. Marlene tippte auf Silikonfüllung.

»Also?« fragte die Pinkige. »Bleibt’s bei tonight?« Die Frage schloß Marlene aus.

»Sony!« Georg schüttelte den Kopf.

Marlene fand dieses »sorry« ausgesprochen affig. »Worum geht’s denn?« fragte sie.

»Rock!« Das Busenwunder kicherte. »Laut! Fetzig! Monumental!«

»Affig!« unterbrach Georg. »So ein Magnetbandfritze sponsert Phil Collins. Rockkonzert mit Empfang in der VIP-Lounge.« Das Wort »VIP-Lounge« sprach Georg mit Fistelstimme, normalerweise hätte Marlene sich darüber amüsiert.

»Himmlisch!« Marlene sah von Georg weg zu der Pinkigen. »Wir lieben Rockkonzerte. Wir kommen.«

»Oh!« Und als keine Reaktion von Georg kam, »dann bis später mal.« Das pink-schwarz gestreifte Gift verschwand Richtung Theke.

»Hat dir einer ins Hirn geschissen?« fragte Georg. »Ich denke, wir sind uns einig, was solche Sachen betrifft...«

»Eben.« Marlene stand auf, sie mußte noch Desinfektionslösung für ihre Kontaktlinsen, Augentropfen und halterlose Strümpfe für nächsten Mittwoch besorgen. »Wir sind uns einig!«

Rockkonzert für VIPs

Marlene hörte das Läuten schon, als sie aufschloß. Sie kickte die beiden Einkaufstüten zur Seite, lief ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab: »Markscheider.«

»Ich hab’s schon hundertmal probiert.«

»Ach du bist es!« Marlene hätte darauf wetten mögen, daß es Simon war. Aber es war ihre Tochter.

»Ich brauche Material über Retortenmütter. Kannst du mal eben in meiner Kartei unter Ökofeminismus nachsehen?«

»Ich schaue morgen nach und schick dir, was ich finde.« Marlene überlegte kurz, was Antonia wohl damit wollte. Ihre Magisterarbeit ging über das »Theater der Erfahrung«, damit hatte es jedenfalls nichts zu tun.

»Es ist dringend. Du könntest mir wenigstens die Quellenangaben rüberfaxen.«

»Meine Buschtrommel hat Betriebsferien.« Marlene ärgerte sich, weil dieses bald dreißigjährige Riesenbaby es immer noch mit der Masche: Mutti, kannst du mal ganz schnell, versuchte.

»Bis zum Bahnhof sind es nur fünf Minuten, und dort gibt es ein Faxgerät.«

Fünfzehn Minuten, dachte Marlene, sie kam gerade vom Bahnhof, und die Strecke hatte vier Jahre lang zu Antonias Schulweg gehört. »Tut mir leid, aber ich gehe gleich ins Konzert«, sagte sie.

»Dann könntest du doch in einem ...« schlug Antonia vor.

»Wir fahren mit dem Auto.«

»Seit wann fahrt ihr zur Philharmonie mit dem Auto?«

»Wir besuchen ein Konzert in der Westfalenhalle.«

»IHR geht zu Phil Collins?«

»Exakt!«

»Das ist ein Rockstar.«

»Dein Vater und ich stehn auf Rock. Laut! Fetzig! Monumental!« Den VIP-Empfang verschwieg sie.

»Dann eben nicht.« Antonia legte auf, ziemlich heftig, als wäre dieser Konzertbesuch eine Schikane.

»Viel Spaß, liebe Mami!« knurrte Marlene und überlegte, was sie falsch gemacht hatte. Dann fiel ihr wieder ein, daß es ihr Hauptfehler war, sich die Köpfe ihrer Lieben zu zerbrechen, egal, ob die sie vor einem Busenwunder blamierten oder nicht mal den Anstand besaßen, ihr viel Spaß für den Abend zu wünschen. Viel wichtiger war die Frage, was sie anziehen sollte. Rockig oder VIP-gerecht. Marlene entschied sich fürs Schickmachen. Sie wußte, daß sie in dem neuen schmalen Rock und dem taillenkurzen Oberteil edel aussah. Daneben wirkte jedes pink-schwarze Streifenhörnchen billig.

»Es handelt sich um ein Rockkonzert.« Georg hatte nur dreimal gehupt, und Marlene war hinausgegangen und zu ihm ins Auto gestiegen, jetzt betrachtete er sie abwägend von der Seite, er hätte auch sagen können: Du siehst gut aus!

»Ist mir bekannt!«

»Warum hast du keine Jeans angezogen?«

»Weil mir nicht danach war.« Sie würde ihm nicht auf die Nase binden, daß sie geistig in Wettstreit mit seinem Pin-up-Girl getreten und obendrein dem VIP erlegen war.

»Aber nach Rockmusik ist dir?«

»Genau.«

»Mir ist nach Pastetchen mit Ragout fin und einem ruhigen Abend. So, wie wir es geplant hatten.«

»Es gibt ein VIP-Büfett.«

Georg sagte nichts mehr, statt dessen schaltete er das Radio ein, ziemlich laut. »Na bitte«, sagte er. Die Verkehrsmeldung galt ihnen, sie kamen in einen Stau. Neun Kilometer Stau.

Als sie endlich angekommen waren, winkte der Parkwächter ab: »Sie müssen ganz vorne parken, hier ist alles dicht!« Aber als Georg dann seinen Presseausweis vorzeigte, durften sie durchfahren. »Du bist ja richtig wichtig«, sagte Marlene.

»Wolltest du lieber einen Kilometer laufen?« fragte Georg und hielt ihr eine Tür auf. »Wir müssen da lang«, er lotste sie durch einen Trupp sehr lauter und sehr junger Konzertbesucher auf einen schwarzen Bus zu.

»Hallo!« Das Hallo wiederholte sich und galt immer Georg, der vor ihr her die Metallstufen hochkletterte, nickte, Hände schüttelte, Worte wechselte. Marlene wußte nicht, was sie in diesem Bus sollte.

»Ihr Name bitte?« fragte eine junge Dame in Marineblau.

»Markscheider«, antwortete Marlene. Georg stand zwei Meter von ihr entfernt und redete.

»Sie gehören zu Herrn Markscheider?« fragte die Marineblaue.

»Ja«, erwiderte Marlene, »ich bin seine Frau, aber die Witwenverbrennung haben wir schon abgeschafft.«

Das Lächeln vis-à-vis blieb gleich. »Bitte!« Marlene wurde eine Karte mit Ansteckklipp ausgehändigt, darauf stand groß VIP-Paß. »Der Paß ist unverkäuflich«, fügte die Marineblaue hinzu.

»Schade!« sagte Marlene. Wenn Georg nicht gleich kam, platzte sie.

»Alles klar?« Georg kam, kassierte seinen VIP-Paß, und zusammen traten sie hinaus auf die Metalltreppe.

»Bitte lächeln!«

Marlene sah hoch, das Blitzlicht des Fotografen blendete sie, sie kniff die Augen zusammen und stolperte. »Scheiße!« Sie war mit ihren superdünnen Strumpfhosen an dem Metall hängengeblieben, das Loch saß über dem Knöchel, die Laufmasche setzte sich in Bewegung.

»Du hättest wohl doch besser eine Jeans angezogen«, bemerkte Georg.

»Klugscheißer!«

»Soll ich dich als Frau Klugscheißer vorstellen?« Er grinste.

Marlene grinste zurück und tippte auf die VIP-Karte an ihrem Blusenaufschlag: »VIPs scheißen nicht klug, das müßtest du übersetzen.«

» Intelligenzkoter? «

»Das ginge. Ich probier’s mal auf dem Klo mit Seife.« Nagellack wäre besser, aber mit Seife konnte man auch Laufmaschen stoppen.

Das VIP-Klo der Westfalenhalle verfügte über einen großen Schminkraum, rundum Spiegel mit Ablagen und Sesseln davor. Seife gab es allerdings keine, nur Flüssigseifenspender. Marlene tupfte etwas von der cremigen Emulsion auf das Loch in ihrem Strumpf, es würde nichts nutzen. Sie sah sich um. Jede Menge VIP-Ladys in Nappaleder und Ziegenleder und Rauhleder und Glitzer. Bei dem Glitzerzeug hätte sie sowieso nicht mithalten können. Ihre No-name-Jeans waren ohne Straß und Ziernähte, und ihre einzige Lederjacke war ein Blouson, das sie von Georg übernommen hatte.

»Alles klar?« fragte Georg, und ehe Marlene antworten konnte, hatte er sie schon durch die Flügeltür der VIP-Lounge bugsiert. Sie tauchte erneut in Hallos, die nicht ihr galten. Georg schien bekannt zu sein wie ein bunter Hund, obwohl er seit Jahren angeblich häuslich und auf seine Ruhe bedacht war: »Ich habe dieses Rumhexen leid!« Doch die diversen Hexen schienen ihn zu kennen und zu mögen.

»Mein Gott!« Marlene drehte das Bein mit der Laufmasche nach innen. Es war kein Sitzplatz mehr frei, sie mußten stehen, und die Wirkung ihrer sehr langen und schlanken Beine würde verpuffen. Der weiße Hautstrich in dem Anthrazitgrau mußte wie ein Ausrufezeichen wirken.

»Stimmt etwas mit deiner Hüfte nicht?« Georg löffelte Tomatensuppe mit Crevetten in sich hinein. Marlene hätte auch gerne etwas davon genommen, aber sie hatte sich ausgemalt, wie sich zu dem Desaster auf ihrem linken Bein noch eine rote Tröpfelspur auf ihrer Bluse gesellte. Sie aß nichts. Sie haßte es, im Stehen zu essen.

»Was soll mit meiner Hüfte sein?« Marlene beobachtete, wie Georg wieder einen Löffel zum Mund führt. Gelegentlich plätscherte etwas über den Rand des Löffels zurück in die Suppentasse. Es war ein Wunder, daß er sich noch nichts auf sein Hemd gekleckert hatte. Nicht daß sie es ihm wünschte ...

»Es sieht spastisch aus.« Georg führte ihr vor, wie es aussah. Er drehte ein Bein nach innen ab, die Spitze seines braunen Mokassins berührte den Absatz des anderen Schuhs.

Marlene starrte auf den Löffel, den er für diese Demonstration in die fast leere Suppentasse gelegt hatte. Der Löffel ruckte kurz vor und zurück, sie versuchte, die Flugbahn zu berechnen, wenn der Löffel loskäme: Georg würde phantastisch aussehen, nicht spastisch, aber tomatenrot gesprenkelt. Ihre Lippen zuckten. Gleich!

Georg entkordelte sein Bein und brachte gleichzeitig seine Suppentasse in die Gerade. »Sorry!« Er plinkerte ihr zu. »Das nächste Mal tue ich dir den Gefallen und schlabbere mich voll.«

»Sorry!« Marlene plinkerte zurück.

»Ich glaube, ich esse doch etwas.« Marlene überflog das Büfett. Trotz Kontaktlinsen sah sie nur viele bunte Kleckse, sie hätte keinen Pudding von etwas Herzhaftem unterscheiden können. Sie tat ein paar Schritte auf den Tisch zu, zwei Serviergirls verdeckten die Sicht. Als die beiden wieder auseinanderrückten, spannte sich etwas Durchsichtiges zwischen ihnen: Das Büfett wurde abgedeckt. Der VIP-Empfang erster Teil war beendet. Das Rockkonzert begann.

Weil sie VIPs waren, saßen sie ganz vorne. Zwischen ihnen und der Bühne gab es lediglich eine Art Graben, durch den sie zu ihren Plätzen geführt wurden. Eine schwarze Gummimatte deckte Kabel und Strippen und Metallroste ab. Marlene kam auf ihren hohen Absätzen kaum voran, hinter ihr staute es. Die anderen Konzertbesucher trugen Turnschuhe, viele davon mit Propellerschleifen oder Straß oder bunten Steinchen, aber immer mit flachen Gummisohlen. Marlene fühlte sich fehl am Platz.

»Sieht aus wie auf einer Baustelle.« Sie mußte den Kopf zurücklegen, um das Bühnenbild voll zu erfassen.

»Es handelt sich um eine Industriekulisse.« Die Frau links von Georg – Georg hatte sie Marlene vorgestellt, aber sie hatte den Namen vergessen, es war irgendeine Pressetante – beugte sich vor. »Das macht unseren Phil Collins so sympathisch, daß er seine Herkunft nicht verleugnet.«