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Über dieses Buch:

Eigentlich sind Menschen sein Metier – doch sein neuer Fall führt Privatdetektiv Jeremias Voss in tierische Gefilde. Ein hochversicherter Zuchthengst ist bei einem Brand getötet worden – tragischer Unfall oder kalkulierte Brandstiftung? Die Versicherungsgesellschaft vermutet Betrug und beauftragt Voss mit den Ermittlungen. Zeitgleich verschwindet auch der zuständige Tierarzt spurlos. Hat er etwas mit dem Brand zu tun – oder ist er ein weiteres Opfer der Betrüger? Jeremias Voss macht sich auf Spurensuche …

Ein Privatdetektiv der alten Schule – begleiten Sie Jeremias Voss bei seinem zweiten Fall!

Über den Autor:

Ole Hansen, geboren in Wedel, ist das Pseudonym des Autors Dr. Dr. Herbert W. Rhein. Er trat nach einer Ausbildung zum Feinmechaniker in die Bundeswehr ein. Dort diente er 30 Jahre als Luftwaffenoffizier und arbeitete unter anderem als Lehrer und Vertreter des Verteidigungsministers in den USA. Neben seiner Tätigkeit als Soldat studierte er Chinesisch, Arabisch und das Schreiben. Nachdem er aus dem aktiven Dienst als Oberstleutnant ausschied, widmete er sich ganz seiner Tätigkeit als Autor. Dabei faszinierte ihn vor allem die Forensik – ein Themengebiet, in dem er durch intensive Studien zum ausgewiesenen Experten wurde.

Heute wohnt der Autor in Oldenburg an der Ostsee.

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Der Autor im Internet: www.herbert-rhein-bestseller.de/


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Originalausgabe Mai 2016

Copyright © 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele schütz Design unter Verwendung von shutterstock/powell’sPoint

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-496-2

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Ole Hansen

Jeremias Voss und der tote Hengst

Der zweite Fall

dotbooks.

Kapitel 1

Dr. Bertram Rusinski betrat das neue Stallgebäude auf Schloss Rotbuchen. Obwohl er der einzige Tierarzt in Nettelbach und Umgebung war, sah er es heute zum ersten Mal von innen. Umso neugieriger betrachtete er alles.

Die anderen fünf Pferdeställe kannte er noch aus der Zeit, als er die Tiere des Schlosses ärztlich betreut hatte. An den alten Ställen war manches verbesserungswürdig gewesen, doch Bernd Graf von Mückelsburg, Schlossherr und Pferdezüchter, hatte kein Geld, und so wurde jede Reparatur hinausgeschoben, bis die Ställe so weit heruntergekommen waren, dass sie eigentlich nur noch hätten abgerissen werden können. Die Pferdezucht, die die Mückelsburgs schon seit Generationen betrieben, hatte damals vor dem Ende gestanden, was vor allem am Grafen selbst lag – wie dieser sehr wohl wusste. Er war weder Landwirt noch Geschäftsmann, sondern ein Büchernarr, der sein Geld lieber in teure Folianten steckte als in die Dächer seiner Stallungen. Nur einmal hatte er eine richtige Entscheidung getroffen, nämlich als er dem Rat seines Freundes Dr. Rusinski gefolgt und einen Manager für die Pferdezucht eingestellt hatte. Es war ein Glücksgriff gewesen, denn über Nacht war der Betrieb rentabel geworden und hatte Gewinne abgeworfen. Was für den Grafen ein Glücksgriff war, war für die Gemeinde Nettelbach ein Unglück. Der neue Manager entließ nach und nach alle deutschen Arbeiter und ersetzte sie durch ausländische Kräfte. Der Trainer und gleichzeitig Vorarbeiter war ein Araber, der Stallmeister ein Ire, und die Hilfskräfte waren Marokkaner. Rusinski hatte der Manager ebenfalls durch einen Iren ersetzt. Graf Mückelsburg hatte sich für das Verbleiben seines Freundes eingesetzt, doch er hatte keinen Einfluss mehr auf die Führung seines Betriebs und konnte seine Forderung nicht durchsetzen.

»Mir geht es jetzt zwar finanziell gut, doch auf meinem Schloss bin ich nur noch eine Strohpuppe. Werner Bartelsmann, der sogenannte Manager, hat jetzt das Sagen. Es tut mir leid, aber ich kann nichts mehr für dich tun. Ich habe alles versucht, aber …«, hatte er die neue Situation erklärt.

»Mach dir deswegen keine Sorgen«, hatte ihn Dr. Rusinski beruhigt. »Ich habe auch so genug zu tun, dass ich es allein kaum schaffe.«

Die neue Situation hatte für den Grafen zwar positive finanzielle Auswirkungen, in der Gemeinde Nettelbach und den angrenzenden Gemeinden verlor er jedoch an Ansehen. War er früher in den Vorständen der Jägerschaft, der Feuerwehr, des Wasser- und Bodenverbands, des Heimatvereins, des Schützenvereins und des Sportvereins vertreten, so verlor er nach und nach all seine Posten. Niemand wählte ihn mehr. Das Ergebnis war, dass der ohnehin etwas eigenbrötlerisch veranlagte Bernd von Mückelsburg sich ganz in die Welt seiner Bücher zurückzog. Alles Geschäftliche überließ er dem Manager. War seine Unterschrift für irgendein Dokument erforderlich, unterschrieb er, ohne es zu lesen. Für Dr. Rusinski war das eine unakzeptable Situation, und er versuchte bei fast all seinen Besuchen im Schloss, den Freund aus seiner geschäftlichen Lethargie zu reißen. Der Graf stimmte ihm zwar zu, aber es geschah nichts. Für Rusinski stimmte dieses Verhalten des zugegebenermaßen weltfremden Grafen nicht mit seinem Charakter überein. Er versuchte, ihn zu einer Erklärung zu bewegen, doch er wich einer präzisen Antwort jedes Mal aus.

Bertram Rusinski machte der Verlust seiner Stellung als gräflicher Tierarzt in der Tat nichts aus. Er hatte genug mit den sich ständig erweiternden Milchbetrieben zu tun. Außerdem erforderten die zusätzlichen Kontrollen der Viehbestände seit den BSE-Skandalen viel Zeit. Hinzu kamen die sich ständig ändernden EU-Richtlinien. Angesichts des Bergs an Arbeit wünschte er sich, dass seine Tochter, ebenfalls Tierärztin, aus Köln zurückkommen würde, um ihm bei der Arbeit zu helfen. Später sollte sie die Praxis übernehmen. Sie hatte ihren Besuch angekündigt und plante einen Abstecher nach Nettelbach, weil sie in Hamburg gerade an einem Kongress teilnahm. Er hatte sich über die Ankündigung sehr gefreut.

Dr. Rusinski sah sich im Stall um. Er konnte kaum glauben, was er sah, und nahm im Geiste den Hut ab vor dem Management und den ausländischen Arbeitern. Es sah wie geleckt aus. Kein Stroh oder Heu lag auf dem Boden, die Boxen glänzten, keine abgeplatzte Farbe, das Ledergeschirr und die Sättel hingen sauber aufgehängt an ihren Plätzen. In den Steigbügeln spiegelte sich das Licht. Kurz: Es sah aus, als würden hier gar keine Pferde stehen. Und doch waren von den 28 Boxen 26 besetzt. Der Wert der Pferde ging in den zweistelligen Millionenbereich, wobei der Hengstrappe in der letzten Box allein die Hälfte des Werts ausmachte. Von den vielen erstklassigen Tieren, für die das Schloss berühmt war, standen die edelsten und teuersten in diesem Stall.

Dr. Rusinskis Ziel war die letzte Box auf der rechten Seite. Hier stand sein Schützling, den er im Auftrag einer Versicherung wie seinen Augapfel hüten sollte. Das Schloss hatte die Gesundheit des Tieres für eine astronomische Summe versichert. Der Hengst war von einem steinreichen pakistanischen Pferdenarr gekauft worden, der das Ausnahmepferd für seine Zucht haben wollte. Da die Hälfte des Kaufpreises bei Vertragsabschluss gezahlt worden war, hatte der Käufer verlangt, dass der Hengst versichert wurde. Die Police galt nur für den Zeitraum zwischen Kauf und Übernahme in Pakistan. Versichert waren Gesundheit und Zeugungsfähigkeit.

Sobald Dr. Rusinski den Stall betreten hatte, kam aus der letzten Box auf der rechten Seite ein mittelgroßer, breitschultriger Mann, dessen Gesicht eine Narbe verunstaltete. Sie verlief von der Stirn über die rechte Wange bis zum Kiefer. Er ging auf den Ankömmling zu, und die beiden Männer trafen sich in der Mitte des Stalls.

»Dr. Rusinski?«, fragte er mit einem starken Akzent, so dass Rusinski kaum seinen eigenen Namen verstand.

»Ja«, antwortete er und musterte den anderen, der gut als Bodyguard hätte fungieren können.

»Ich Dr. O’Heatherby, the Vet.« Der Mann hatte offenbar Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache.

»Der was?«, fragte Rusinski, der nicht mehr als den Namen verstanden hatte.

»Veterinarian, verstehen?«

»O ja, entschuldigen Sie, Tierarzt.«

»Yes, Tierarzt. Ich hören, Sie heute kommen. Was wollen?«

»Ich möchte mir den Hengst ansehen und ihn untersuchen. Sie wissen, dass ich im Auftrag der Versicherung komme?«

»Yes, yes, ich weiß. Kommen mit. Ich zeige Hengst.«

Er drehte sich um und ging zur letzten Box auf der rechten Seite. Dr. Rusinski folgte ihm ein wenig irritiert. Die Begrüßung hatte er sich kollegialer vorgestellt.

Der Rappe, der auf den Namen Morning Lightning hörte, war sich seines Werts offensichtlich nicht bewusst. Er stand gelassen in der Box und kaute auf Strohhalmen. Den Kopf hatte er nach hinten gewandt. Er drehte ihn auch nicht um, als die beiden Ärzte die Box betraten. Dr. Rusinski erkannte den Grund für sein Verhalten: In der linken Ecke der Box lehnte Manfred, der Pfleger. Rusinski hatte in der Dorfkneipe gehört, dass zwischen Pfleger und Hengst eine enge Bindung bestand, denn Manfred betreute ihn seit seiner Geburt. Der Hengst war während eines starken Gewitters zur Welt gekommen, daher auch der ungewöhnliche Name.

Rusinski blickte Manfred an. Sein verkniffener Gesichtsausdruck zeigte, dass der Pfleger um Morning Lightning trauerte. Der Hengst würde in vier Wochen Rotbuchen für immer verlassen.

»Moin, Manfred«, begrüßte ihn Rusinski.

Manfred erwiderte nichts, sondern sah ihn nur feindselig an. Rusinski nahm keine weitere Notiz von ihm. Er wusste, dass Manfred ihn hasste. Aus seiner Sicht grundlos, doch davon hatte er ihn nie überzeugen können. Bei der Behandlung einer trächtigen Stute hatte sich das Pferd plötzlich aufgebäumt und mit den Hufen Manfreds rechtes Bein zertrümmert. Er hatte lange im Krankenhaus gelegen; das Bein war steif geblieben. Er beschuldigte den Doktor, es sei seine Schuld gewesen, dass das Pferd ausgeschlagen hatte. Eine amtliche Untersuchung hatte Dr. Rusinski von allen Vorwürfen freigesprochen, was Manfreds Hass auf ihn aber nur weiter gesteigert hatte.

Manfred stand auf und verließ mit einem giftigen Blick hinkend die Box. Morning Lightning folgte ihm mit den Augen.

Während Rusinski den Hengst begutachtete, hörte er, wie Manfred mit schleifenden Schritten über die Backsteinziegel zum Ausgang ging. Der Tierarzt konnte also nichts anderes tun, als ihn nur im Geiste zu loben. Das Tier glänzte wie der Stall. Von den Hufen bis zur Mähne war alles super gepflegt. Er hätte es dem Pfleger gern gesagt, doch dessen Voreingenommenheit ihm gegenüber verhinderte das. Auch physisch schien der Hengst in bester Verfassung zu sein. Er wirkte ruhiger und ausgeglichener als vergleichbare Zuchthengste. Als letzten Akt der Untersuchung öffnete Rusinski seinen Arztkoffer und entnahm ihm eine Kanüle zum Blutabnehmen.

Der irische Tierarzt hatte gelangweilt am Tor zur Box gelehnt, hatte aber unter seinen halb gesenkten Augenlidern jeden Handgriff scharf beobachtet. Als er sah, dass Rusinski die Arzttasche öffnete und eine Kanüle herausholte, kam Leben in seine Gestalt. Er griff in einen Holzkasten neben der Tür und zog einen Schnellhefter heraus.

»Nicht nötig.« Dr. O’Heatherby deutete auf die Kanüle und schüttelte zur Verstärkung seiner Worte den Kopf. »Hier alle Daten – Untersuchung Montag – alles okay.« Er reichte Rusinski die Akte.

»Danke.« Er nahm sie und schlug sie auf. Tatsächlich hatte man erst vor drei Tagen eine große Blutuntersuchung durchgeführt, und alle Werte lagen innerhalb der Toleranzen.

»Sieht sehr gut aus«, sagte Rusinski und gab den Ordner zurück. »Ich werde trotzdem eine Blutprobe nehmen. Nur zur Bestätigung für die Versicherung, dass alles in Ordnung ist.« Er nahm die Kanüle auf und drehte sich zum Hengst um.

»Damned Germans, don’t trust anybody«, murmelte O’Heatherby wütend.

Rusinski hatte den verbalen, unter Kollegen unüblichen Gefühlsausbruch gehört, ließ sich aber in seiner Arbeit nicht stören. Er konnte nicht verstehen, warum der Ire so aggressiv reagierte.

Nachdem er das Blut abgenommen und verpackt hatte, nickte er dem anderen zum Abschied zu und ging zurück zu seinem Auto.

Zu Hause im Labor begann er mit der Untersuchung des Blutes. Das Labor war von seiner Tochter eingerichtet worden und hatte eine Stange Geld gekostet. Sie hatte hier die Forschungen für ihre Doktorarbeit durchgeführt und dafür gesorgt, dass alles auf dem neuesten Stand war. Inzwischen war das Labor auch für ihn sehr nützlich und begann, sich zu amortisieren. Kollegen aus der weiteren Umgebung kamen zu ihm, um ihre Proben selbst auszuwerten.

Gegen acht Uhr abends war er fertig. Bis zehn Uhr brütete er über den Ergebnissen und prüfte wieder und wieder, ob ihm auch kein Fehler unterlaufen war. Er konnte keinen finden. Am nächsten Tag wollte er noch eine Blutprobe nehmen, um eine Kontrolluntersuchung durchzuführen. Trotzdem hielt er es für geboten, schon jetzt seinen Freund, den Grafen, zu informieren. Er rief ihn an und kündigte für elf Uhr abends seinen Besuch an.

***

Gegen ein Uhr morgens hatte der örtliche Hegering seine Jagdversammlung beendet. Die letzten Mitglieder verließen um zwei Uhr den Dorfkrug in Nettelbach. Erst jetzt konnten der Wirt und Susi, seine Hilfe, richtig aufräumen. Eine Stunde später waren sie fertig. Der Wirt brachte Susi zur Tür, um hinter ihr abzuschließen.

»Komm gut nach Hause.«

Susi wollte gerade etwas sagen, als sie in der Ferne einen hellen Schein sah.

»Was ist denn da los?«, fragte sie erstaunt.

»Wo?«

»Da!« Sie zeigte mit den Fingern zu dem hellen, unruhigen Schein.

Hauke Krücke, der Wirt, schaute in die Richtung. »Sieht aus, als wäre es beim Schloss.«

»Dann haben die aber ein riesiges Lagerfeuer gemacht. Wir haben doch nicht Ostern, oder habe ich was nicht mitbekommen?«

Der Wirt starrte unverwandt auf den hellen Schein. »Deern, das ist kein Lagerfeuer, da brennt’s. Hast du heute Nacht die Feuerwehr gehört?«

»Nee, ich hab nichts gehört. Bei dem Lärm, den die Jäger mal wieder hier drinnen gemacht haben, konnte man auch nichts hören.«

»Ich auch nicht. Irgendetwas stimmt da nicht. Ich ruf bei der Feuerwehr an.«

Krücke ging ins Lokal zurück. Susi folgte ihm. Sie hörte ihn im Flur reden. Nach einer Minute kam er zurück.

»Die wissen von nichts«, sagte er.

Er ging mit ihr wieder vor die Tür. Im selben Moment begann die Sirene auf dem Dach der Feuerwehr zu heulen. Keine Viertelstunde später rasten die drei Wagen der Freiwilligen Feuerwehr an ihnen vorbei.

Kapitel 2

Dr. Nele Rusinski verließ Hamburg am Sonnabend. Sie hatte auf dem Tierärztekongress im Kongresszentrum am Dammtorbahnhof ein Referat gehalten. Der Vortrag über ihre Forschung bezüglich des Fortpflanzungsverhaltens bei Hochleistungspferden war bei den Teilnehmern gut angekommen. Befremdlich fanden sie allerdings, dass die Referentin sofort nach dem Vortrag abreiste und für eine Diskussion nicht mehr zu Verfügung stand.

Natürlich wusste Dr. Nele Rusinski, dass ihr Verhalten ein Verstoß gegen die ungeschriebenen Konferenzregeln war. Doch ihre Gedanken waren so abgelenkt, dass sie sich nicht auf die Fragen der Teilnehmer hätte konzentrieren können. Sie hatte deswegen ihren Professor gebeten, die Diskussion an ihrer Stelle zu leiten. Dann war sie ins Hotel gelaufen, hatte ihre Sachen gepackt und war in die Hotelgarage geeilt. Dort hatte sie das Gepäck in den alten, aber immer noch zuverlässigen Jeep geworfen und befand sich wenig später auf dem Weg nach Nettelbach. Sie musste sich zwingen, nicht zu schnell zu fahren, denn ihr Verkehrssünderregister in Flensburg wies schon bedenklich viele Punkte auf.

Seit sie aus Köln abgefahren war, hatte sie versucht, ihren Vater zu erreichen – vergeblich; er ging weder ans Handy noch zu Hause ans Festnetz. Auch seine Sprechstundenhilfe, Lisbeth Beringer, war nicht zu erreichen. Beide waren wie vom Erdboden verschluckt. In ihrer Verzweiflung hatte sie am Morgen, bevor sie ihr Referat halten musste, Tine Hennigs angerufen, aber auch sie ging nicht ans Telefon. Das bedeutete zwar nichts, denn Tine war viel unterwegs. Mutter Tine, wie sie gewöhnlich genannt wurde, war die Kräuterfrau im Dorf und machte mit ihren Kräutern, Tees und selbst hergestellten Salben und Tinkturen dem Arzt Konkurrenz. Ihr Kundenkreis ging weit über Nettelbach hinaus. Und da sie keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier machte, war sie vielbeschäftigt. Selbst Neles Vater scheute sich nicht, ihre pflanzlichen Arzneimittel zu kaufen, wenn seine chemischen Medikamente nicht anschlugen. Böse Zungen behaupteten, dass Tine auch mancherlei Beschwörungen vornähme, was allerdings niemand bezeugen konnte. Da Tine dazu nichts sagte und die Betroffenen schwiegen, blieb alles nur ein Gerücht. Genaugenommen störte sich außer dem Pfarrer niemand daran. Für ihn war Mutter Tine eine fleischgewordene Bedrohung der Gemeinde. Diese Auffassung wurde von seinem katholischen Amtsbruder geteilt. Doch so sehr sie auch von den Kanzeln in Lütjenburg gegen Tine wetterten, die Bürger von Nettelbach und Umgebung ließ es kalt.

Sobald Nele Hamburg verlassen hatte und der Verkehr übersichtlicher wurde, griff sie zum Handy und rief im Dorfkrug von Nettelbach an. Hier hatte sie endlich Glück. Hauke Krücke, der Wirt vom Krug, eigentlich Lindenkrug, meldete sich nach dreimaligem Klingeln.

»Hallo, Hauke, hier ist Nele. Kennst du mich noch?«

Es dauerte einige Augenblicke, bis Hauke antwortete. Offenbar brauchte er etwas Zeit, um zu registrieren, wer die Anruferin war. Doch dann antwortete er freudig: »Mensch, Nele, ich glaub’s kaum. Soll ich ein Flens öffnen, oder bist du ganz auf Kölsch umgestiegen?«

»Nee, so weit ist es noch nicht. Ich sehne mich nach einem heimischen Tropfen, kühl und vom Fass gezapft. Ich rufe vom Auto aus an und muss mich kurzfassen. Hauke, ich kann meinen Vater seit Freitag nicht erreichen. Weißt du, wo er ist?«

»Tut mir leid, Nele, ich habe ihn nicht gesehen.«

»Lisbeth kann ich auch nicht erreichen.«

»Kein Wunder. Die ist seit einer Woche auf Mallorca.«

»Und Tine?«

»Die alte Kräuterhexe ist da. Die bewegt sich doch nur aus Nettelbach weg, wenn sie ein neues Opfer für ihren Hokuspokuskram gefunden hat. Du kannst sie sicher am Abend erreichen, wenn sie mit ihren Hühnern zusammen auf die Stange geht.«

»Und von Vater weißt du nichts?«

»Tut mir leid, Nele, mehr als ich dir gesagt habe, weiß ich nicht. Er ist am Freitag nicht zum Stammtisch gekommen – Moment.«

Nele hörte, wie er nach hinten rief: »Was hast du gesagt, Volker?«

»Den hepp wie seit dem Brand nicht mehr gesehen«, rief Volker zurück.

»Volker sagt, dass er …«

»Schon gut, Hauke, ich hab mitgehört. Was war denn das für ein Brand?«

»Ja, sag mal, Nele, wo lebst du denn? Das kam doch sogar im Fernsehen. Die …«

»Ich muss Schluss machen«, rief sie, stellte das Handy aus und verstaute es im Handschuhfach. Ein Polizeiauto kam ihr entgegen. »Puh«, sagte sie, als es vorbeifuhr, ohne sie zum Anhalten aufzufordern. Ein Strafmandat wegen Telefonierens während der Fahrt hätte ihr gerade noch gefehlt. Nachdem dieser Augenblick des Schreckens vorüber war, wurde ihr erst richtig bewusst, was Hauke gesagt hatte. Er hatte ihren Vater nicht gesehen. Das war eigentlich kein Grund, sich Sorgen zu machen, wäre da nicht auch der Hinweis, dass er den Stammtisch versäumt hatte. Das war nicht seine Art, denn sie wusste, wie sehr er den liebte. Es war für ihn die Informationsbörse. Alles, was in Nettelbach und Umgebung passierte, kam hier auf den Tisch und wurde durchgehechelt. Wenn sie ihren Vater ärgern wollte, dann brauchte sie ihm nur zu sagen, dass er durch seine Stammtischbrüder eher über die Absichten seiner Kunden Bescheid wusste als diese selbst. Er konterte dann meist damit, dass er eben auch erfuhr, wann wer was verkauft hatte und er seine Rechnungen stellen konnte, wenn bei den Bauern Geld im Haus war. Im Grunde war der Stammtisch seine Erfindung gewesen. Es war keine schlechte Idee, wenn dabei nur nicht so viel getrunken würde. Ihr Vater fand es ganz normal, denn auch er liebte es, einen guten Schluck im Kreise von Freunden zu trinken. Das Übel war nur, dass die Herren danach den Weg nach Hause nur noch schwer fanden. Aber immerhin war Nettelbach so klein, dass die meisten Opfer des Kornkonsums zu Fuß nach Hause gehen konnten, sofern das denn noch möglich war. Als sie ihren Vater – sie war bereits Studentin der Tiermedizin gewesen – einmal fragte, was er an dem Gesöff nur fand, hatte er ihr mit einem Augenzwinkern geantwortet: »Kind, ich trink ihn ja nicht wegen des Geschmacks, sondern wegen der Wirkung.«

Wo mochte er nur stecken? In Gedanken ging sie alle Telefongespräche durch, die sie in letzter Zeit geführt hatten. Sie konnte sich jedoch nicht daran erinnern, dass er erwähnt hätte, die Praxis für einige Zeit zu verlassen. Normalerweise informierte er sie, weil sie ihn dann vertreten sollte. Für sie war das beruflich kein Problem. Im Gegenteil, ihr Professor sah es gern, wenn seine Assistenten Gelegenheit hatten, in der Praxis zu arbeiten. Dadurch verloren sie nicht den Blick für die Arbeit am lebenden Tier, was in der Forschung leicht möglich war. Meistens stimmte sich ihr Vater mit Urlaub und sonstigen Terminen mit ihr ab. Doch diesmal hatte er es nicht getan, da war sie sich sicher. Was also mochte geschehen sein?

Nele hatte noch mehr Gewissenbisse als sonst, denn sie hatte sich längere Zeit nicht bei ihm gemeldet. Das war keine Gleichgültigkeit ihm gegenüber. Sie liebte ihn von Herzen, doch sie wusste, wenn sie anrufen würde, käme das Gespräch unweigerlich auf die Tierarztpraxis und was werden würde, wenn er der Aufgabe nicht mehr gewachsen war. Und das konnte schon bald sein, denn seit ihre Mutter vor drei Jahren an Krebs gestorben war, hatte er stark abgebaut. Er wurde mit dem Verlust einfach nicht fertig. Das Problem war, dass Nele nicht wusste, ob und wann sie die Praxis übernehmen würde. Sie war in dieser Frage innerlich zerrissen. Auf der einen Seite liebte sie es, mit Tieren umzugehen, zu sehen, wie sie unter ihren Händen gesund wurden, zu fühlen, wie Pferde, aber auch Rinder an ihr hingen. Das Gefühl, wenn ein Pferd auf sie zukam, wenn sie die Weide betrat, und seine Nüstern an ihrer Schulter rieb, war nicht zu beschreiben. Es setzte einfach Glückshormone frei. Auf der anderen Seite liebte sie ihre Arbeit an der Universität, das Lehren und Forschen, der Umgang mit jungen Menschen, die sich einer Sache verschrieben hatten, die auch sie erfüllte. Sie liebte es, Vorlesungen zu geben, aber Forschen war ihre Leidenschaft. Auf unbekanntes Terrain vorzudringen und Schritt für Schritt die Geheimnisse der Natur zu entschlüsseln, war etwas, was sie mit Stolz erfüllte. Sie war so gut auf diesem Gebiet, dass der Professor angekündigt hatte, sie könne seine Nachfolgerin werden, wenn er sich zur Ruhe setzte. Eine Professur zu bekommen, war ein Traum von ihr, und er war greifbar nahe. Ihr Professor wurde in zwei Jahren 65, hatte damit die Altersgrenze erreicht und musste aus dem aktiven Dienst ausscheiden.

Was aber sollte sie ihrem Vater sagen, der die Praxis aufgebaut hatte und in ihr seinen Lebensinhalt sah? Wenn sie eine Übernahme ablehnte, dann, so befürchtete sie, würde er nicht damit fertig werden. Sie war davon überzeugt, dass nur die Praxis und der Umgang mit den Tieren ihn damals, als seine Frau starb, vor dem Verzweifeln bewahrt hatten. Und dieses Wissen war es, was ihr ein schlechtes Gewissen bereitete.

Sie hatte lange gezögert, von der Tagung aus nach Nettelbach zu fahren. Den Entschluss, es doch zu tun, hatte sie kurzfristig getroffen, und das Motiv dafür war eher emotional als rational.

Für eine kurze Strecke verlief die Straße schnurgerade. Der Wirtschaftweg nach Detersen mündete hier ein. Das Dorf bestand nur aus einigen Häusern, die zum Gut Detersen gehörten. Es war nicht sonderlich groß, jedenfalls jetzt nicht mehr, denn der Besitzer hatte einen großen Teil seiner Ländereien verkauft und nach der Wende dafür die doppelte Menge an Land in Mecklenburg-Vorpommern erstanden.

Nele kannte die Strecke im Schlaf – schließlich war sie nicht weit von hier aufgewachsen – und trat das Gaspedal noch ein Stückchen weiter durch. Das wäre ihr fast zum Verhängnis geworden, denn im gleichen Augenblick bog ein Pritschenwagen von Detersen kommend auf die Kreisstraße nach Nettelbach. Ohne zu bremsen oder sich davon zu überzeugen, dass die Straße frei war, fuhr der Fahrer des Transporters einfach drauflos.

Nele fluchte und trat auf die Bremse. Die Reifen quietschten auf dem Asphalt, aber die Geschwindigkeit ihres Wagens verringerte sich, so dass sie einen Zusammenstoß vermeiden konnte. Der Fahrer des Kleintransporters schien nicht bemerkt zu haben, dass er gerade einem schweren Unfall entgangen war. Er erhöhte das Tempo und fuhr stur weiter.

Nele fluchte und versuchte, den Schock abzubauen. Nachdem sie ein paarmal tief durchgeatmet hatte, wollte sie hinter dem Kleintransporter her jagen, um den Fahrer zur Rede zu stellen, doch dann sah sie die Unsinnigkeit ihres Vorhabens ein. Sie fuhr weiter – nicht unbedingt mit einer den Straßenverhältnissen angemessenen Geschwindigkeit. Sie liebte es nun mal, schnell zu fahren.

Sie bog gerade um eine der vielen nicht einsehbaren Kurven, als sie plötzlich Hohlblocksteine auf der Straße liegen sah. So welche hatten auf dem Kleintransporter gelegen. Zwischen den Steinen war ein dunkler Belag auf der Straße. Das alles registrierte sie in Bruchteilen von Sekunden. Ein Vorbeifahren war nicht möglich, denn die Knicks, die für Norddeutschland typischen Büsche am Straßenrand, reichten auf beiden Seiten fast bis zur Fahrbahn, und auf der lagen die Steine. Geistesgegenwärtig stieg sie auf die Bremse, doch es war zu spät. Mit über 60 Stundenkilometern raste sie auf die Steine zu. Es krachte so laut unter ihr, dass sie dachte, der Wagen fiele auseinander. Stücke der Hohlblocksteine spritzen nach allen Seiten.

Nele hatte den rechten Fuß aufs Bremspedal gestemmt, doch nichts passierte. Im Gegenteil, sie hatte das Gefühl, dass der Geländewagen beschleunigte. Das Fahrzeug, das noch vor wenigen Minuten bei einer Vollbremsung Spurtreue bewiesen hatte, reagierte nicht auf das Bremsen, sondern brach nach rechts aus. Sie versuchte gegenzusteuern, doch der Jeep reagierte nicht. Er raste frontal in den Knick auf der rechten Seite, wurde zurückgeschleudert und schoss unkontrolliert auf die linke Seite. Nele sah den Knick dort auf sich zukommen, sie riss die Arme schützend vors Gesicht, dann war der Aufprall da. Sie nahm noch wahr, wie sie gegen den Airbag flog, dann wurde es schwarz um sie herum. Sie spürte nicht mehr, wie der Wagen sich aufbäumte, mit dem Dach zuerst in den Knick geschleudert wurde und schließlich auf dem Kühlergrill liegend zum Stillstand kam. Die Zweige des Knicks hatten die Masse der Energie abgefangen. Treibstoff floss auf die Straße.

Kapitel 3

Das tiefe Knurren eines Hundes, gefolgt von einem heiseren Gebell, ließ Professorin Dr. Silke Moorbach auffahren. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Für einen Moment zitterte sie am ganzen Körper, dann war sie wach und hatte den Verursacher der Störung ausgemacht. Sie drehte sich im Bett um und riss mit einem kräftigen Ruck die Bettdecke zur Seite. Die große, sternförmige Narbe über dem Steißbein … Der nackte Körper von Jeremias Voss lag nun unbedeckt in ihrem Bett. Eine Hand fischte nach der Bettdecke und versuchte, sie wieder über den Körper zu ziehen, während das Gebell anhielt.

»Was soll das?«, murmelte er verschlafen, während er an der Bettdecke zerrte.

»Stell dein verdammtes Handy aus!«, fuhr ihn Silke an.

»Mach du es aus«, brummte er schon wieder im Halbschlaf und zog kräftiger an der Decke.

»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich aus dem warmen Bett steige, um dein Handy auszuschalten. Mach es gefälligst selbst und leg dir endlich einen anderen Klingelton zu. Das Gebell ist ja grauslich.«

Demonstrativ ließ sie sich aufs Kopfkissen zurücksinken und wickelte sich in die Bettdecke ein, so dass Jeremias keine Chance hatte, sie wieder über seinen nackten Körper zu ziehen.

Das Knurren und Bellen ging weiter.

»Verdammt, kann man sich nicht einmal erholen von den Strapazen der Nacht?«, grummelte er, richtete sich aber doch auf und stieg aus dem Bett. Er folgte dem Gebell, um seine Hose zu finden. Sie lag in der Tür zum Flur. Er griff in die Hosentasche und drückte auf die grüne Empfangstaste.

»Na endlich«, hörte er die Stimme seiner Assistentin. »Haben Sie so gefeiert, dass Sie nicht mal mehr ans Telefon gehen können?«

»Was ist denn los?« Er gähnte herzhaft und rieb sich mit der freien Hand die Augen. Erst jetzt wurde ihm gewahr, dass er vollkommen nackt war. Sofort fror er.

Das Handy am Ohr, ging er zum Bett zurück und setzte sich auf Silkes Seite nieder. Sie legte ihm fürsorglich die Decke über die Schultern.

»Erstens«, sagte Vera Bornstedt mit vorwurfsvoller Stimme, »ist längst Geschäftsbeginn, und als Chef sollten Sie Ihrer Angestellten ein Vorbild sein.« Bevor er etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: »Und zweitens werden Sie hier dringend gebraucht.«

»Nun mal im Ernst, Vera, weswegen stören Sie mich bei meinen Träumen?«

»Ach so, träumen nennen Sie das«, sagte Vera anzüglich. »Sie müssen sich wohl oder übel von Ihren Träumen losreißen und arbeiten. Die Hamburger-Berliner-Versicherungs-AG hat angerufen. Sie werden gebeten, so schnell wie möglich – auf jeden Fall noch heute –, Dr. Wilfried Hartwig, den Vorstand für Schadensermittlung, aufzusuchen. Seine Sekretärin hat es sehr dringend gemacht.«

»Die Versicherung – interessant. Haben sie gesagt, worum es sich handelt?«

»Nein, Chef, nur dass es sehr dringend ist.«

»Was ist bei den Versicherungsfritzen nicht eilig? Schon gut, schon gut, ich fahre sofort«, fügte er schnell hinzu, als er hörte, dass Vera nochmals die Dringlichkeit betonen wollte. »Wer hat denn angerufen?«

»Die Chefsekretärin des Vorstands.«

»Und wo finde ich diesen Dr. Hartwig?«

»In der Zentrale am Steinhöft. Das ist dieser Glaspalast, der wie eine Kommando…«

»Ich kenne den Glaskasten. Rufen Sie zurück und sagen Sie ihr, dass ich in einer guten Stunde dort sein werde – sagen Sie lieber zwei Stunden. Ich muss mich ja noch umziehen.«

»Wird erledigt. Aber Chef, tun Sie mir einen Gefallen, ziehen Sie nicht das schreckliche Fleecehemd an. Es sieht verboten aus.«

»Ich find es herrlich bequem.«

»Bitte, Chef.«

»Weiber«, knurrte er und legte auf. Dann wandte er sich zu Silke Moorbach um. »Frau Professor haben gehört. Die Pflicht ruft, ich muss an die Arbeit und dich leider verlassen.«

»Das trifft sich gut, denn ich muss auch dringend ins Institut. Du kannst dich duschen. Ich setze inzwischen den Kaffee auf und toaste ein paar Scheiben Brot.«

Sie schlug kurzentschlossen die Bettdecke zurück und krabbelte aus dem Bett. Auch sie war nackt. Sie griff nach ihrem Morgenmantel, doch Voss nahm ihn ihr aus der Hand.

»Meine Liebe, so geht das nicht, auch wenn du nun schon seit fast 24 Stunden Professor bist.«

Er nahm sie in den Arm und küsste sie. Sie erwiderte es und presste ihren Körper gegen seinen. Sofort kam Bewegung in Voss’ Hände. Eine griff nach ihrem Busen, und die andere glitt an ihrem Rücken entlang und streichelte ihren wohlgeformten Po.

»Halt, halt, so nicht«, rief Silke, »dafür ist jetzt keine Zeit mehr.« Sie drückte sich von seiner muskulösen Brust ab.

Enttäuscht schaute Voss an sich herunter. »Und was mach ich nun mit ihm? Ich kann doch so unmöglich auf die Straße gehen.«

»Dusch dich kalt.«

»Das ist unfair ihm gegenüber. Was hältst du von einem ganz schnellen Quickie?«

»Nein, auch keinen noch so quicken Quickie. Du gehst jetzt ins Bad und ich in die Küche.«

Eine halbe Stunde später befand er sich, gekleidet in einen Smoking, auf dem Weg zu seinem Haus am Mittelweg.

Der Smoking war das am wenigsten getragene Kleidungsstück in seinem Schrank. Normalerweise vermied Voss jede Art von Veranstaltung, für die Abendkleidung verlangt wurde. Er liebte es bequem und leger. Gestern hatte er sich jedoch nicht davor drücken können, und er hätte es auch gar nicht gewollt. Seine langjährige Freundin Dr. Silke Moorbach, Chefin und Besitzerin eines privaten Instituts für forensische Pathologie, war zum Professor für Forensik an der Universität in Hamburg ernannt worden. Nach der feierlichen Einführung in ihr neues Amt waren sie zusammen mit einem Konvoi von Ehrengästen zu ihrem Institut gefahren, wo die Ernennung zusammen mit den Mitarbeitern zünftig gefeiert wurde. So gegen drei Uhr morgens waren beide mit einem Taxi zu Silkes Wohnung gefahren. Die eigenen Wagen zu benutzen, dazu waren sie nicht mehr in der Lage gewesen. Sehr wohl waren sie jedoch in der Lage gewesen, die Feierlichkeiten mit leidenschaftlichem Sex zu beenden. Soweit Voss sich erinnern konnte, waren sie erst nach fünf Uhr erschöpft eingeschlafen.

Obwohl sie immer wieder in unregelmäßigen Abständen miteinander schliefen, waren sie kein Liebespaar. Zu ihrem Glück hatten sie frühzeitig erkannt, dass jeder von ihnen seinen Beruf so liebte, dass eine engere Beziehung das harmonische Verhältnis stören würde. Es machte ihnen nichts aus, wenn einer von ihnen andere sexuelle Beziehungen hatte. Gerade die Freiheit, so leben zu können, wie man wollte, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, hatte ihre Freundschaft erst richtig gestärkt.

Später als erhofft erreichte er seine Jugendstilvilla am Mittelweg.

Er fuhr den Wagen in die Tiefgarage, hastete die Treppe zum Erdgeschoss hoch und gelangte in einen breiten Flur, an dessen Ende sich eine Toilette und der Eingang zum Büro befanden.

Während er durch das Büro, das gleichzeitig Empfangsraum war, eilte, rief er Vera zu: »Ich bin spät dran. Rufen Sie mir bitte ein Taxi, ich ziehe mich nur schnell um.«

Er öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer und stieg die Treppe, die von dort in sein Apartment im ersten Stock führte, immer drei Stufen auf einmal nehmend empor. Hier wurde er von Nero, seinem Hund, stürmisch begrüßt. Es kostete ihn einiges an Kraft, sich der Liebesbekundungen zu erwehren. Da er keine Zeit hatte, ihn zu knuddeln, schob er Nero resolut von sich. Der merkte, dass sein Herrchen in Nöten war, und zog sich beleidigt auf seine Matratze in der Stube zurück. Er bekundete sein Missfallen, indem er Voss die Rückseite zuwandte. Zu seiner Enttäuschung nahm sein Herr von dieser Geste jedoch keine Kenntnis, sondern eilte ins Schlafzimmer, wo er sich den Smoking und die Unterwäsche vom Leib riss und einen grauen, dezent wirkenden Geschäftsanzug anzog. Bei einer Versicherung war es immer von Vorteil, einen seriösen Eindruck zu machen. Als Dekoration nahm er seine Aktentasche aus Büffelleder mit. Sie war immer mit dem Nötigsten ausgestattet.

Als Nero ihn davoneilen sah, hatte er sofort vergessen, dass er eigentlich beleidigt war, und folgte ihm.

Voss blieb kurz an seinem Schreibtisch stehen und überprüfte die E-Mails im Computer. Es war nichts Interessantes dabei, und er ging ins angrenzende Arbeitszimmer, in dem Vera residierte.

Das Büro war einfach, aber zweckmäßig eingerichtet. Die Akten waren in zwei verschließbaren Blechschränken untergebracht. Veras Arbeitsplatz bestand aus einem rechtwinkligen Schreibtisch, auf dem moderne elektronische Bürogeräte standen. Für Besucher gab es eine kleine Sitzecke mit zwei bequemen Cocktailsesseln und einem niedrigen, runden Tisch. Rechts neben ihrem Schreibtisch verbarg eine Falttür eine Küchenzeile.

Vera schaute von ihrem Computer auf und betrachtete ihren Chef anerkennend.

 »Endlich sehen Sie mal wie ein seriöser Geschäftsmann aus«, lobte sie. »Wenn Sie sich jetzt auch noch einen entsprechend hübsch aussehenden Hund anschaffen, dann würde Sie jeder für den perfekten Gentleman halten. Mit Nero an Ihrer Seite wird das jedoch nie der Fall sein.«

Voss streichelte den mächtigen Kopf des Hundes: »Komm, Nero, hier weiß man unsere Qualitäten nicht zu würdigen. Hier urteilt man nur nach Äußerlichkeiten.« Nero sah ihn mit verzehrendem Blick an und wedelte mit dem ganzen Hinterteil, weil er außer einem Stummel keinen Schwanz mehr besaß.

»Das Taxi wartet bereits vor der Tür«, sagte Vera.

»Ich eile.« Zu Nero sagte er: »Du bleibst schön hier. Ich kann dich nicht mitnehmen, aber ich komme gleich wieder. Leg dich auf deinen Platz.«

Enttäuscht zog Nero sich mit hängendem Kopf ins Arbeitszimmer seines Herrn zurück.

»Ich komme nach meinem Besuch bei der Versicherung zurück. Wenn nicht, rufe ich an.«

»Alles klar, Chef. Bin gespannt, was man von Ihnen will. Wir haben keine Versicherungen bei denen laufen. Ich habe eben noch alles überprüft.«

»Wir werden sehen – tschüss.«

Voss eilte nach draußen, stieg in das wartende Taxi und gab die Versicherung als Zielort an.

»Sie haben 20 Minuten Zeit, mich dorthin zu bringen. Wenn Sie es schaffen, gibt es zehn Euro Trinkgeld«, sagte er zum Fahrer. Der trat aufs Gaspedal.

Er musste quer durch die Innenstadt fahren von Voss’ Haus am Mittelweg im Stadtteil Rotherbaum bis zur Versicherung an der Elbe in der Nähe des Baumwalls. An einem Vormittag war das sehr zeitraubend. Trotzdem schaffte es der Fahrer in 22 Minuten. Voss war großzügig und gab ihm trotzdem die zehn Euro Trinkgeld.

Das Versicherungsgebäude bestand nur aus Glas und Stahl. In luftiger Höhe bemühten sich zwei Fensterputzer in ihrem Korb, den Schmutz der Hansestadt von der Glasfront zu entfernen. Sie schienen eine Daueranstellung zu haben, denn immer wenn er das wie eine Kommandobrücke aussehende Gebäude sah, hing der Korb mit den beiden Männern an irgendeiner Stelle der Fassade. Das Foyer war ein großer, runder Raum, der oben mit einer Glaskuppel abschloss. In dem Raum standen mehrere mobile Stellwände, an denen Hamburger Maler ihre Arbeiten kostenlos ausstellen durften. Alle vier Wochen wechselten die Künstler.

Voss ging zum runden Empfangstresen, hinter dem zwei junge Frauen ihn so breit anlächelten, als hätten sie kaum erwarten können, ihn zu sehen. In ihren uniformartig geschneiderten Kostümen sahen sie aus wie Stewardessen der Lufthansa.

»Ich möchte zu Dr. Wilfried Hartwig. Mein Name ist Jeremias Voss«, sagte er und fügte hinzu: »Dr. Hartwig erwartet mich.«

»Einen Augenblick bitte«, bat eine der Empfangsdamen.

Voss sah, wie sie seinen Namen in den Computer eingab. Dann blickte sie auf und forderte ihn lächelnd auf: »Bitte nehmen Sie dort drüben Platz. Es kommt gleich jemand, der Sie abholt.«

Sie zeigte auf eine hypermoderne Sitzgruppe, die Voss für das Ausstellungsstück eines avantgardistischen Künstlers gehalten hatte. Er verzichte auf den Versuch, Sitzübungen zu machen, und sah sich stattdessen die Bilder an den Stellwänden an.

Er war noch nicht mit der Betrachtung des ersten Bildes fertig, als ein junger Mann auf ihn zutrat. Er war in einen grauen Dreiteiler gekleidet und sah sehr gepflegt aus. Seine Fingernägel waren poliert, wie Voss registrierte.

»Herr Jeremias Voss?«, fragte er, genauso lächelnd wie die Damen am Empfang, allerdings lag sein Lächeln nur auf den Lippen, während die Augen Voss abschätzend musterten.

»Ja.«

»Mein Name ist Thomas Meyer. Ich bin der Assistent von Herrn Dr. Hartwig. Ich habe den Auftrag, Sie zu ihm zu bringen.« Er reichte Voss die Hand zur Begrüßung. Der Händedruck war eher feminin als männlich. »Bitte folgen Sie mir.«

Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in den obersten Stock und gingen zu der gegenüberliegenden Tür. Ein weicher Teppichfußboden schluckte jeden Schritt. Zwei Türen rechts und links des Foyers führten in jeweils einen Gang. Nach Voss’ Schätzung befanden sie sich in dem als Kommandobrücke gestalteten Teil des Gebäudes.

Der Assistent klopfte, wartete auf das »Herein« und öffnete dann die Tür für Voss.

»Bitte treten Sie ein«, forderte er ihn auf und kündigte ihn mit Namen an.

Wie vermutet, befand er sich in der Mitte der »Kommandobrücke«. Die Fenster boten einen fantastischen Blick auf die Elbe und den Hafen. Zu Voss’ Erstaunen saß Dr. Hartwig mit dem Rücken zum Fenster. Er hatte dadurch zwar die Tür im Blick, sah aber nichts von dem Panorama. Die Einrichtung des Büros war genauso modern und stylish wie alles, was er bisher hier gesehen hatte. Der Stil des Hauses samt seiner Einrichtung sollte dem Besucher wohl vermitteln, dass hier alles jung, dynamisch und zukunftsorientiert war.

Bei seinem Eintreten erhob sich der Mann hinter dem Schreibtisch. Er war etwa so groß wie Voss, hatte ein rundes Gesicht und eine Vollglatze. Im Gegensatz zu dem Detektiv, der kein Gramm Fett am Körper hatte, zeigte er einen deutlichen Ansatz zur Korpulenz.

»Herzlich willkommen, Herr Voss. Ich bin Dr. Hartwig, der Vorstand für Schadensregulierungen in der Versicherungs-AG«, begrüßte er ihn. »Ich freue mich, dass Sie so schnell kommen konnten. Lassen Sie uns dort drüben Platz nehmen.«

Dr. Hartwig führte ihn zu einer Sitzgruppe, bei der dem Schöpfer eindeutig die ästhetische Wirkung des Designs mehr am Herzen gelegen hatte als die Bequemlichkeit des Nutzers.

Voss betrachtete die Sitzmöbel skeptisch.

»Keine Sorge, Herr Voss, die Sessel sind zwar unbequem, aber sie halten uns aus«, sagte Hartwig mit einer einladenden Geste. Verschmitzt lächelnd fügte er hinzu: »Das ist der Preis, den wir Mitarbeiter für den Slogan unserer Versicherung zahlen müssen. Sie kennen ihn sicher: kundennah, zuverlässig, dynamisch, zukunftweisend.«

Voss war der humorvolle, ironische Mann auf Anhieb sympathisch.