Über Helmut Schmidt

Helmut Schmidt, Bundeskanzler von 1974 bis 1982, wurde 1918 in Hamburg geboren. Nach seinem Abschied aus der aktiven Politik kam er 1983 zur ZEIT, deren Mitherausgeber er bis zu seinem Tod war. Neben seinen Beiträgen für die ZEIT veröffentlichte er zahlreiche Bücher, bei Hoffmann und Campe erschienen Einmischungen. Ausgewählte Zeitartikel von 1983 bis heute (2010), Zug um Zug (mit Peer Steinbrück, 2011), Mein Europa (2013) und zuletzt Dann wäre ich Hafendirektor geworden (2015). Helmut Schmidt starb am 10. November 2015 in seiner Heimatstadt.

Zunächst möchte ich mich bei Ihnen, lieber Hans Küng, bedanken. Ich bin der Einladung gern gefolgt, denn ich habe seit Beginn der 1990er Jahre das »Projekt Weltethos« mit großer Sympathie verfolgt. Das Wort »Weltethos« mag zwar manchem als zu anspruchsvoll erscheinen, aber die zu lösende Aufgabe ist tatsächlich und zwangsläufig sehr anspruchsvoll. Vielleicht darf ich hier einflechten, dass eine Reihe von früheren Staats- und Regierungschefs aus allen fünf Erdteilen sich als »InterAction Council« seit 1987 ein durchaus vergleichbares Ziel gesetzt haben; unsere Arbeit hat allerdings bisher nur relativ geringen Erfolg erreicht. Dagegen ragt die Leistung Hans Küngs und seiner Freunde weit heraus.

 

Ich selbst verdanke meine ersten Anstöße, über die den großen Religionen gemeinsamen moralischen Gebote nachzudenken, einem gläubigen Muslim. Es liegt mehr als ein Vierteljahrhundert zurück, dass der damalige ägyptische Staatspräsident Anwar as-Sadat mir die gemeinsamen Wurzeln der drei abrahamischen Religionen erklärt hat, ebenso die vielerlei Übereinstimmungen und insbesondere die übereinstimmenden moralischen Gebote. Er wusste von dem gemeinsamen Friedensgebot, zum Beispiel in den Psalmen des jüdischen Alten Testaments, zum Beispiel in der christlichen Bergpredigt oder in der vierten Sure des muslimischen Koran.

Wenn doch nur auch die Völker Kenntnis von dieser Übereinstimmung hätten, wenn wenigstens doch die politischen Führer der Völker sich dieser ethischen Übereinstimmung ihrer Religionen bewusst würden, dann würde ein dauerhafter Friede möglich sein. Dies war seine tiefe Überzeugung. Einige Jahre später zog er als Staatspräsident die politische Konsequenz aus seiner Überzeugung und besuchte die Hauptstadt und das Parlament des Staates Israel, der vorher in vier Kriegen sein Feind gewesen war, um Frieden anzubieten und zu schließen.

In meinem hohen Alter hat man den Tod der eigenen Eltern und Geschwister und vieler Freunde erlebt; aber die Ermordung Sadats durch religiöse Eiferer hat mich tiefer erschüttert als andere Verluste. Mein Freund Sadat wurde umgebracht, weil er dem Friedensgebot gehorsam war.

Ich will auf das Friedensgebot sogleich zurückkommen, vorweg aber eine Einschränkung: Ein einziger Vortrag, zumal im Umfang auf weniger als eine Stunde begrenzt, kann das Thema vom Ethos des Politikers nicht entfernt ausschöpfen. Deshalb muss ich mich heute auf einige Bemerkungen konzentrieren, nämlich zum Verhältnis von Politik und Religion, dann zur Rolle der Vernunft und des Gewissens in der Politik, sodann zur Notwendigkeit des Kompromisses und zum deshalb unvermeidlichen Verlust an Stringenz und Konsequenz.

I.

Nun aber zurück zum Friedensgebot. Die Maxime des Friedens ist ein unentbehrlicher Teil der Ethik oder der Moral, die von einem Politiker verlangt werden muss. Sie gilt gleicherweise für die Politik im Innern eines Staates und seiner Gesellschaft wie ebenso nach außen. Daneben stehen sodann weitere Gebote und Maximen. Dazu gehört selbstverständlich die in allen Weltreligionen gelehrte und verlangte »Goldene Regel«, die Immanuel Kant in seinem kategorischen Imperativ lediglich neu formuliert und die der deutsche Volksmund in den Merkvers verdichtet hat: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu.« Die Goldene Regel gilt für jedermann. Ich glaube nicht, dass für Politiker andere moralische Grundregeln gelten als für jedermann.