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Monika Felten

Geheimnisvolle Reiterin

Band 5:
Die Rückkehr der Mondpriesterin

Roman

hockebooks

Verborgene Erinnerungen

Niemals hätte es Fion für möglich gehalten, dass ihn der Anblick seiner Heimat derart überwältigen würde.

Nun stand er, zu Tränen gerührt, auf der letzten Anhöhe vor dem Tal, das er viele Monate zuvor verlassen hatte. In tiefen Zügen atmete er die vertrauten Düfte ein, die ihn bis zu seiner Ernennung zum Pferdehüter wie selbstverständlich begleitet hatten, und blickte voller Ehrfurcht auf die fünfundzwanzig Wohnhäuser aus hellem Gestein, die sich wenig entfernt an eine steil aufragende Felswand schmiegten. Die schlanken Gebäude waren durch Bogengänge und steinerne Brücken mit kunstvollen Balustraden miteinander verbunden, auf denen sich in den unzähligen Sommern Farne, moosartige Gewächse und kräftige Rankpflanzen festgesetzt hatten.

Die Elfen störte das üppig wuchernde Grün nicht. Im Gegenteil. Sie hießen es als Teil der Natur willkommen und geboten ihm nur dort Einhalt, wo Wurzeln und Astwerk das tägliche Leben zu behindern drohten. So fügten sich das von Elfenhand Geschaffene und die Pflanzen nach und nach zu einem harmonischen Ganzen.

Niemals zuvor war Fion dies so bewusst geworden wie in diesem Augenblick, da er von der Anhöhe aus beobachtete, wie die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne die Häuser streiften und ganze Schwärme schillernder Vögel von ihren nächtlichen Ruheplätzen in den mächtigen Efeuranken aufstiegen.

»Das ist wunderschön!« Eanna, die ihr Pferd neben Fion gezügelt hatte, blickte voller Bewunderung auf die kleine Elfensiedlung. Obwohl es im Mondtempel mit seinen gepflegten und kunstvoll angelegten Gärten keinen Raum für wild wachsende Pflanzen gab, berührte auch sie die urwüchsige Schönheit. »Ich wusste, dass es Orte gibt, an denen die Elfen so naturverbunden leben«, sagte sie leise. »Aber ich hatte keine Vorstellung davon, wie es aussehen könnte.«

»Du meinst eine Siedlung ohne schnurgerade Wege zwischen fein säuberlich angelegten Blumenbeeten und ohne gepflegte Kräutergärten, in denen keine andere Pflanze geduldet wird?« Fion lächelte. »Wenn du mich fragst, ich finde, die Natur ist immer noch der beste Gärtner.«

»Nun, zumindest ist ihr hier ein Meisterwerk gelungen«, pflichtete Eanna ihm bei. »Sieh nur den Wasserfall!« Sie deutete weit ins Tal hinein, wo sich Wasser schäumend von den Bergen ins Tal ergoss und seinen Weg als tosender Wildbach fortsetzte. »Ich hab noch niemals einen echten Wasserfall dieser Größe gesehen.«

»An seinem Fuße gibt es einen stillen, klaren See«, erklärte Fion. »Dort habe ich mit meinen beiden Schwestern früher oft gebadet.« Noch während er das sagte, spürte Fion, dass er Heimweh bekam. Plötzlich hatte er es sehr eilig, nach Hause zu kommen. Er sehnte sich danach, seine Eltern und Geschwister endlich wieder in die Arme zu schließen. »Komm mit«, forderte er Eanna auf und ließ Ninim antraben. »Gleich lernst du sie kennen.«

Die Begrüßung in Fions Elternhaus war mehr als herzlich. Überrascht und glücklich, ihren Sohn so unerwartet wieder zu sehen, tischte Fions Mutter ein üppiges Frühstück auf. Während der Mahlzeit ließen Fions jüngere Schwestern ihre Eltern kaum zu Wort kommen und löcherten sowohl Fion als auch Eanna mit unzähligen Fragen über den Mondtempel und das Leben am Hof des Königs. Sie alle zu beantworten war schier unmöglich und schließlich schickte Fions Mutter die beiden Mädchen mit der Begründung fort, dass Fion auch mal Luft holen müsse.

»Nun, was führt dich und deine Begleitung eigentlich hierher?«, fragte sie lächelnd, als die Mädchen den Raum verlassen hatten und endlich Ruhe einkehrte. »Ich spüre doch, dass du in Eile bist.«

»Das bin ich.« Fion nickte und erzählte seinen Eltern in knappen Worten von dem Auftrag, der ihm erteilt worden war. Den wahren Grund seiner Reise verschwieg er jedoch. »Ich mache mir wirklich große Sorgen um Mailin und hoffe, dass der Heiler uns wertvolle Hinweise geben kann«, schloss er schließlich seinen Bericht und machte ein bekümmertes Gesicht. »Es tut mir sehr leid, dass ich nicht länger bei euch verweilen kann, aber die Angelegenheit duldet keinen Aufschub.«

»Das verstehen wir gut.« Fions Vater legte seinem Sohn mitfühlend die Hand auf die Schulter. »Kommt mit, ich werde euch zum Heiler führen und für euch sprechen.« Er lächelte entschuldigend. »Wer so viele hundert Sommer gesehen hat, mag bisweilen etwas sonderbar erscheinen. Aber keine Sorge, ich bin sicher, er wird euch helfen.«

Gemeinsam verabschiedeten sie sich von Fions Mutter und dessen Schwestern, die todunglücklich waren, dass ihr Bruder und die Priesterin so schnell wieder aufbrechen mussten. Erst als Fion ihnen versprach schon bald für längere Zeit nach Hause zu kommen ließen die Mädchen ihren Bruder gehen. Die drei machten sich sogleich auf den Weg ins obere Tal, um den abgeschieden lebenden Heiler mit den außergewöhnlichen Fähigkeiten zu besuchen.

*

Julias Sorge um White Lady rückte sogar das Rätsel um die geheimnisvollen Telefonate ihrer Mutter und die ungeklärte Frage, was Frau Meinert mit ihr so Wichtiges zu besprechen hatte, für eine Weile in den Hintergrund. In den folgenden Tagen versuchte Julia möglichst unauffällig herauszufinden, wohin der Therapeut Anitas Stute gebracht haben könnte.

Sie ärgerte sich maßlos darüber, dass sie die Aufschrift auf dem Wagen des Pferdeflüsterers nicht genauer gelesen hatte. Nicht einmal an den Namen des Mannes konnte sie sich erinnern. Wie sich schon bald herausstellte, stand sie mit dieser Unwissenheit nicht allein da. Weder Svea noch Carolin konnten sich erinnern und auch die anderen Reiterhofmädchen, die White Ladys Abtransport beobachtet hatten, zuckten nur bedauernd mit den Schultern, als Julia sie danach fragte.

Tag um Tag verstrich, ohne dass Julia auch nur einen Schritt weiterkam. In ihrer Verzweiflung hätte Julia sogar Anita gefragt, doch die hatte sich seit dem Vorfall nicht mehr auf der Danauer Mühle sehen lassen. Selbst Moni, die durch ihre Mutter immer für Neuigkeiten über die von der Heydes gut war, wusste nichts Neues zu berichten.

»Meine Mutter schneidet Frau von der Heyde nur alle vierzehn Tage die Haare«, erklärte sie, als Julia sie direkt auf White Ladys Befinden ansprach, versicherte aber, ihre Mutter zu bitten, sich beim nächsten Mal nach Anitas Pferd zu erkundigen.

Mailin wurde immer ungeduldiger. Jedes Mal wenn Julia sie besuchte, fragte sie zuerst nach White Lady – nur um dann enttäuscht zu hören, dass Julia noch immer nichts Neues zu berichten hatte.

Die quälende Ungewissheit war für das Elfenmädchen nur schwer zu ertragen. Nichts zu hören bedeutete schließlich nicht, dass es der Stute gut ging. Ebenso gut konnte sie längst eingeschläfert worden sein – eine Möglichkeit, an die Julia und Mailin nicht einmal zu denken wagten.

An einem späten Freitagnachmittag, kaum zehn Tage nachdem Moni Julia davon erzählt hatte, dass White Lady möglicherweise eingeschläfert werden solle, klingelte bei Julia das Telefon.

»Julia Wiegand … Hallo Moni! … Neuigkeiten? Ja, schieß los!« Atemlos lauschte Julia dem, was Moni ihr am anderen Ende der Leitung erzählte. »Echt? Mann, da bin ich aber froh … Wohin? … Zurück? Na, super … Was? Heißt das, sie wollen ihr noch eine letzte Chance geben? Du meinst doch nicht etwa, dass sie … Wirklich? Echt? Oh nein. Wie lange Zeit geben sie ihr denn noch? … Nur zwei oder drei Wochen? Du meine Güte, das ist ja furchtbar … Ja, das finde ich auch. Danke, dass du mich angerufen hast. Bye.«

Schwungvoll stellte Julia das Mobilteil zurück in die Station, schnappte sich ihre Jacke und griff nach ihrem Fahrradhelm.

»Nanu? Willst du noch mal weg?«, erkundigte sich ihre Mutter verwundert, die gerade in der Küche den Wochenendeinkauf sortierte.

»Ja, ich will noch ein Stück Rad fahren«, erwiderte Julia leichthin.

»Hat es etwas mit Monis Anruf zu tun?«, wollte ihre Mutter wissen. »Das klang irgendwie gar nicht gut.«

»Man belauscht keine Telefongespräche«, belehrte Julia ihre Mutter, ohne auf deren Frage einzugehen.

»Hatte ich gar nicht nötig.« Anette Wiegand grinste. »Du hast so laut gesprochen, dass ich gar nicht weghören konnte – nicht mal, wenn ich es gewollt hätte.« Sie stellte die Milch in den Kühlschrank und trat in den Flur. »Also, wo willst du hin?«

»Nirgendwo«, beharrte Julia, »ich fahr nur noch mal ein bisschen mit dem Rad rum. Das ist alles. Das Wetter ist doch viel zu schön, um drinnen zu hocken.«

»Du weißt, dass ich es nicht gern sehe, wenn du allein durch den Danauer Forst radelst.« In der Stimme ihrer Mutter schwang aufrichtige Sorge mit. »Könntest du nicht wenigstens mit Svea …?«

»Nein, kann ich nicht.« Julia schloss den Gurt ihres Fahrradhelms. »Die fährt mir viel zu langsam. Dann schaffe ich mein Pensum nicht.«

»Oh, so ist das.« Ihre Mutter lächelte vielsagend. »Ist Madam neuerdings etwa auf dem Fitnesstrip?«

»Na ja.« Dass ihre Mutter ihr diese Brücke baute, kam Julia sehr gelegen. Mit zwei Fingern zauberte sie tatsächlich eine kleine Speckfalte am Bauch hervor. »Zwei Kilo könnten schon runter. Findest du nicht?« Sie zwinkerte ihrer Mutter schmunzelnd zu. »Außerdem: Sport ist gesund – sagt Vati auch immer.«

»Trotzdem wäre es mit lieber, du würdest nicht allein fahren.«

»Ich bin nicht allein.« Julia schlüpfte in ihre Sneakers und griff nach der Türklinke. »Du glaubst ja gar nicht, was bei so schönem Wetter im Danauer Forst los ist. Mach dir keine Sorgen. Ich dreh eine schnelle Runde. In spätestens zwei Stunden bin ich wieder da. Ich nehme auch mein Handy mit.« Ohne die Antwort ihrer Mutter abzuwarten, ging sie nach draußen und schwang sich aufs Rad. Ein letztes Winken, dann sauste sie auch schon die Auffahrt hinab und verschwand in Richtung Danauer Forst.

Eine knappe halbe Stunde später erreichte Julia verschwitzt und völlig außer Atem den alten Bahnhof. Von Mailin und Gohin war weit und breit nichts zu sehen. Dafür nutzte eine Gruppe von fünf Rentnerinnen die Bank nahe des alten Bahnsteigs für ein Päuschen. Ihre Damenräder, allesamt antiquierte Modelle, lehnten an der Wand des Bahnhofs. Julia stieg ab, schob ihr Rad auf das Bahnhofsgelände und schlenderte auf die Eingangstür zu.

»Hallo Mädchen, da würde ich an deiner Stelle lieber nicht reingehen«, rief ihr eine der Frauen zu, als sie sich der morschen Tür näherte. »Sieht ganz so aus, als hätten da drinnen Reiter campiert.«

»Wirklich?« Julia tat entsetzt.

»Ja! Da liegt lauter Müll und Pferdedreck rum«, ereiferte sich die Frau. »Ich werde den Förster informieren, damit er sich darum kümmert.«

Julia ging nicht darauf ein. Sie wünschte den Frauen noch eine gute Fahrt. Dann schwang sie sich wieder aufs Rad und fuhr langsam los, während sie krampfhaft überlegte, welche Folgen der Plan der alten Dame für Mailin haben konnte.

Als der Bahnhof außer Sichtweite war, hielt sie an und pirschte so weit durch das Gebüsch zurück, bis sie die Rentnerinnen aus sicherer Entfernung beobachten konnte. Solange die sich dort aufhielten, würde Mailin gewiss nicht zurückkommen – so viel war sicher.

Julia seufzte und ließ sich ins Gras plumpsen. Mit der schnellen Bahnhof-und-zurück-Runde würde es wohl nichts werden. Alles, was sie tun konnte, war warten.

Fünfzehn Minuten später hatten die Frauen ihre Rast beendet und fuhren weiter. Julia rappelte sich auf und schob ihr Rad langsam zum Bahnhof zurück. Dabei lauschte sie immer wieder auf Geräusche von weiteren Wanderern oder Radfahrern, doch alles blieb ruhig. Außer den zwitschernden Vögeln war nichts zu hören. Julia brauchte nicht lange zu warten. Kaum hatte sie den Bahnhof erreicht, tauchte auch Mailin wie aus dem Nichts unter den Bäumen auf. Sie führte Gohin am Zügel und war erfreut, Julia an diesem Tag noch einmal zu sehen.

»Hallo Julia! Schon wieder hier?«, fragte sie lachend und wurde dann abrupt ernst. »Hast du etwa Neuigkeiten von Ninim?«

»Das auch.« Julia nickte. »Aber das erzähle ich dir später. Zuerst müssen wir hier aufräumen. Es gibt nämlich noch ein Problem …« Mit wenigen Worten erzählte sie Mailin von den Plänen der alten Dame. »Bei Frau Deller haben auch schon Leute angerufen, die Gohin hier gesehen haben wollen. Die dachten, er sei von der Danauer Mühle ausgerissen. Frau Deller nimmt das Ganze nicht wirklich ernst, aber wenn die Damen dem Förster Bescheid sagen, wird es brenzlig. Besser du verschwindest sofort von hier.«

»Aber wo soll ich denn hin?« Mailin machte eine hilflose Geste.

»Das lass mal meine Sorge sein.« Julia grinste. »Ich hab schon eine Idee.«

Ein Aufbruch und ein Wiedersehen

Mailins wenige Habseligkeiten waren schnell zusammengesucht. Während das Elfenmädchen mit einem Bündel dünner Zweige den Pferdedreck aus dem ehemaligen Warteraum kehrte, sammelte Julia den Verpackungsmüll, den Schlafsack und die Isomatte ein. »Puh!« Julia zog die Nase kraus, als sie den Mumienschlafsack in eine Plastiktüte stopfte.

Der Schlafsack hatte schon ziemlich gelitten. Der dunkelrote Stoff wies etliche Flecken auf und war an einigen Stellen eingerissen.

Den kann ich wohl wegschmeißen, dachte Julia und überlegte, wo sie wohl einen neuen für Mailin auftreiben konnte, wenn dieser hier nicht mehr zu gebrauchen war. Immerhin war es gut möglich, dass sie Mailin noch weit bis in den Sommer hinein verstecken musste. Geübt rollte sie die Isomatte zusammen und zog die Klettbänder fest, dann klemmte sie sich beides unter den Arm und ging zu Mailin, die Gohins Unterkunft schon weitgehend gesäubert hatte.

»Alle Spuren lassen sich leider nicht verwischen«, sagte das Elfenmädchen, als Julia in den großen Warteraum trat und hörbar schnupperte. »Hier drinnen riecht es bestimmt noch wochenlang nach Pferd.«

»Halb so wild. Hauptsache, es gibt hier keine Hinweise mehr auf dich.« Julia lachte. »Die können ruhig glauben, dass hier Reiter campiert haben!« Sie deutete auf die Plastiktüte mit den beiden leeren Tetrapacks und der zerknüllten Keksschachtel. »Das entsorge ich gleich in der Mülltonne beim Waldgrillplatz«, sagte sie. »Da fällt es nicht auf.« Sie machte ein paar Schritte auf die Tür zu, hielt dann aber abrupt inne. »Der Grillplatz!«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Das ist die Idee.« Schwungvoll legte sie alles, was sie im Arm hielt, auf dem Boden ab und kramte ihr Handy hervor.

»Was tust du da?«, fragte Mailin.

»Ich rufe meine Mutter an.« Flink gab Julia eine Nummer ein, hielt das Handy ans Ohr und wartete.

»Hallo Mum. Ich bin’s … Nee, keine Sorge. Es ist alles in Ordnung … Wie? … Ja, ich bin noch im Danauer Forst! Deshalb rufe ich dich ja an. Ich habe hier am Grillplatz ein paar Mädchen vom Reiterhof getroffen und wollte dir nur Bescheid sagen, dass es doch etwas später wird … Ja, klar bin ich zurück, ehe es dunkel wird … Mach ich … Jaaaa … Na klar … Jaha! He, ich bin im Danauer Forst und nicht in den Rocky Mountains. Also dann Tschüss, bis nachher.«

»Mütter!« Julia schüttelte den Kopf, schaltete das Handy aus und steckte es wieder ein.

»Hast du eben wirklich mit deiner Mutter gesprochen?« Mailin staunte. »Mit dem kleinen Ding da? Einfach so?«

»Nun ja, einfach so geht das natürlich nicht.« Julia schmunzelte. »Da steckt schon eine ganze Menge Technik dahinter, die sich schlaue Leute ausgedacht haben, die ich dir aber nicht erklären kann. Auf jeden Fall ist das Telefonieren damit ganz einfach. Vorausgesetzt natürlich, dass der, den ich sprechen will, auch ein Telefon oder Handy hat und ich seine Nummer kenne.«

»Diese Technik muss eine sehr mächtige Magie sein«, meinte Mailin bewundernd. »Und jeder hier darf sie benutzen?« Sie seufzte. »Ich wünschte, wir hätten auch so ein Hand-i, dann könnte ich auch mal mit meiner Mutter …« Sie verstummte und blickte traurig zu Boden.

»Oje, habe ich dich jetzt etwa traurig gemacht? Das wollte ich nicht. Tut mir leid. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du Heimweh bekommst, nur weil ich mit meiner Mutter spreche.« Julia trat neben Mailin und legte ihr den Arm um die Schultern. »Mach dir keine Sorgen. Das Tor wird sich sicher bald wieder für dich öffnen«, sagte sie zuversichtlich. »Und dann kannst du wieder heim.«

»Nicht ohne Ninim!« Der schmerzliche Ausdruck in Mailins Gesicht vertiefte sich. »Wenn man sie tötet, ist das ganz allein meine Schuld. Damit könnte ich nicht weiterleben. Ich muss sie irgendwie finden und …«

»Kein Problem!« Julia lächelte geheimnisvoll. »Ich weiß, wo Ninim ist. Und genau da bringe ich dich jetzt hin.« Sie hob die Sachen auf und machte ein paar Schritte auf die Tür zu. »Komm mit!«

Eine gute Stunde später hatten sie ihr Ziel fast erreicht. Obwohl Mailin Julia immer wieder nach Ninim fragte, verriet diese ihr nur, dass Ninim wohlauf sei. Mailin wurde immer ungeduldiger, zumal sie Gohin nur im Schritt gehen lassen konnte, weil Julia mit dem Fahrrad unterwegs war.

»Sag mal, wohin führst du mich eigentlich?«, fragte Mailin, als Julia ganz unvermittelt vom Hauptweg auf einen schmalen Pfad einbog.

»Ahnst du es noch nicht?«, fragte Julia.

»Ahnen?« Mailins Stimme klang fast ein wenig verärgert. »Wieso sollte ich etwas ahnen? Ich war zwar schon ein paar Mal bei dir, aber deshalb kenne ich hier noch längst nicht jeden Flecken … Moment mal!« Mailin reckte sich im Sattel und spähte voraus. »Der weiße Lattenzaun da vorn kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Richtig!« Julia grinste. »Es ist zwar schon ein paar Jahre her, aber wir waren schon mal hier.«

»Jahre?« Mailin legte die Stirn in Falten. »Nein, so lange ist das noch nicht her.«

»Natürlich nicht.« Julia lachte. »Bei euch vergeht die Zeit ja auch viel langsamer.« Sie hielt an und stieg vom Rad. »Das ist das Anwesen der von der Heydes. Hier wohnt Anita. Ihre Mutter hat es noch nicht übers Herz gebracht, White Lady einschläfern zu lassen, obwohl ihr auch der Pferdeflüsterer nicht helfen konnte. Wie ich gehört habe, will sie White Lady in den kommenden Wochen hier auf dem Hof behalten, weil sie hofft, dass sich ihr Gemütszustand wieder bessert. Wir haben also noch etwas Zeit.«

Julia hatte mit der ihnen verbleibenden Zeit absichtlich ein wenig übertrieben, denn sie wollte Mailin nicht noch mehr belasten.

»Komm mit«, rief sie ihrer Freundin gut gelaunt zu. »Vielleicht sehen wir Ninim da vorn auf der Weide.«

Die beiden hatten Glück. Das Elfenpferd, das White Lady wirklich zum Verwechseln ähnlich sah, stand dösend im Schatten einer ausladenden Rotbuche, während die beiden Haflinger, die man vermutlich als Weidebegleitung mit auf die Wiese gelassen hatte, ganz in der Nähe des weiß gestrichenen Lattenzauns grasten.

»Dahinten ist sie!« Überglücklich schwang sich Mailin von Gohins Rücken, lief zum Zaun und rief mit verhaltener Stimme: »Ninim! Ninim, komm her!«

Julia lehnte ihr Fahrrad an einen Baum, eilte zu ihrer Freundin und legte ihr die Hand warnend auf den Arm. »Bist du verrückt geworden?«, zischte sie flüsternd. »Du kannst sie doch jetzt nicht rufen. Schon gar nicht bei ihrem richtigen Namen.« Mit einem Kopfnicken deutete sie nach links, wo kaum hundert Meter entfernt die roten Backsteinmauern und Ziegeldächer zweier Stallgebäude durch das zarte Grün der Büsche und Bäume schimmerten. »Wenn dich nun jemand hört?«

»Verzeih.« Mailin schaute ihre Freundin beschämt an. »Ich bin so froh, Ninim wiederzusehen. Daran habe ich nicht gedacht.«

»Ist schon okay.« Julia schaute zur Rotbuche hinüber. »Sieh nur, sie kommt!«

Mailin drehte sich um und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Julia hatte den Eindruck, als könne sie sich nur schwer beherrschen, nicht sofort über den Zaun zu klettern und der weißen Stute entgegenzulaufen, um sie in die Arme zu schließen.

Ninim schien das Elfenmädchen sofort zu erkennen. Zutraulich kam sie dicht an den Zaun, streckte Mailin die Nüstern entgegen und schnaubte leise, als das Elfenmädchen die Arme um ihren Hals schlang und das Gesicht in der seidigen Mähne vergrub.

»Ninim!«, murmelte sie mit tränenerstickter Stimme.

»Oh, Ninim, was habe ich dir angetan?« Sie sah der Stute tief in die Augen. »Ich mache es wieder gut!«, schwor sie feierlich. »Ganz bestimmt.« Mailin schniefte und wischte sich mit dem Handrücken eine Träne fort. »Ich hol dich hier raus. Das verspreche ich dir. Sobald das Tor offen ist, bringe ich dich nach Hause.«

»He, ihr da!«, dröhnte in diesem Augenblick eine strenge männliche Stimme über die Weide. Ninim zuckte zusammen, drehte sich um und preschte gehetzt davon, während die Mädchen erschrocken einem Mann in braunem Overall entgegenblickten, der mit großen Schritten auf sie zugestapft kam. »Lasst das Pferd in Ruhe!«, wetterte er erbost. »Das ist hier kein Streichelzoo. Habt ihr das Schild nicht gelesen?«

»Schild?« Julia musste nicht einmal so tun, als sei sie überrascht. Ein Schild hatte sie wirklich nicht gesehen. »Was für ein Schild?« Sie trat einen Schritt zurück und schaute den Zaun entlang. »Hier sind keine Schilder.«

»Natürlich nicht!«, blaffte der Mann sie an. »Es steht ja auch oben an der Straße – groß und breit. Und wisst ihr, was draufsteht? PRIVATWEG – BETRETEN VERBOTEN. Das gilt natürlich auch fürs Befahren und Bereiten. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«

»’tschuldigung, das haben wir wirklich nicht gesehen.« Julia bemühte sich um einen höflichen Ton und verkniff sich jede vorlaute Bemerkung. Der Mann war ihr höchst unsympathisch und sie ärgerte sich, dass sie nicht vorsichtiger gewesen waren.

»Den Haben-wir-nicht-gesehen-Spruch kannst du dir sparen«, knurrte der Mann und kam so nahe an den Zaun heran, dass Julia der Geruch von Motorenöl in die Nase stieg, der von dem fleckigen Overall ausging. »Das sagt nämlich so ziemlich jeder, den ich hier am Zaun erwische. Und jetzt seht zu, dass ihr verschwindet, ehe ich euch beim Chef melde.«

»Wir gehen ja schon. Komm, Kaja.« Julia fasste Mailin am Arm. Aber ihre Freundin rührte sich nicht. Mit finsterem Blick starrte Mailin den Mann an, so als wolle sie ihm jeden Augenblick eine wütende Antwort geben. »K-a-j-a!« Julia sprach den falschen Namen so langsam und überdeutlich aus, dass Mailin sich trotzdem angesprochen fühlen musste. Dabei verstärkte sie den Druck ihrer Hand noch etwas und versuchte die Elfe vom Zaun fortzuziehen. »Sei vernünftig und komm mit«, drängte sie. »Der Mann hat recht. Wenn das hier ein Privatweg ist, hätten wir nicht herkommen dürfen.«

Bange Sekunden lang geschah gar nichts, dann gab Mailin ihren Widerstand auf. Ohne den Mann aus den Augen zu lassen, machte sie ein paar Schritte rückwärts, drehte sich dann um und ging schweigend auf Gohin zu. Julia spürte die brodelnde Wut ihrer Freundin und hoffte inständig, dass Mailin sich noch einen Moment zusammenriss.

Während sie sich auf ihr Fahrrad schwang, entfernte sich der Mann langsam wieder über die Koppel. Offenbar hegte er keinen Zweifel an der einschüchternden Wirkung seiner Worte und begnügte sich damit, zu sehen, dass die Mädchen sich auf den Rückweg machten. Als sie kaum fünf Minuten später wieder auf den Hauptweg einbogen, hielt Julia an und blickte zu Mailin auf, die noch immer mit finsterer Miene vor sich hin starrte.

»Nicht ärgern!«, sagte sie zu ihrer Freundin. »Immerhin wissen wir jetzt, wo wir Ninim finden und dass es ihr gut geht. Das ist doch schon mal was. Außerdem ist es von hier auch nicht so weit bis zum Tor.« Sie zwinkerte Mailin aufmunternd zu. »Den Weg kennst du ja sicher noch vom letzten Mal.«

»Ja schon.« Mailin schaute Julia an. In ihren Augen glänzten Tränen. »Es ist nur … weißt du, ich hätte Ninim gern mehr getröstet. Sie ist zutiefst verängstigt und völlig verwirrt. Ich habe es gespürt, als ich sie berührte. Das ist alles nur meine Schuld.« Mailin seufzte tief. »Ich habe nur an mich gedacht und daran, wie ich mein Ziel erreichen kann. An das, was ich Ninim damit antue, habe ich keinen einzigen Gedanken verschwendet – ich bin wahrlich eine schlechte Pferdehüterin.«

»Das stimmt doch nicht«, versuchte Julia ihre Freundin aufzumuntern. »Du hast nicht nur an dich gedacht. Du hast Ninim hierher gebracht, um Moni und mich zu schützen – und das, obwohl du dich damit selbst in große Gefahr gebracht hast.« Sie lächelte. »Ich bin sicher, nicht jeder hätte für seine Freunde so selbstlos gehandelt. Manchmal sind die Dinge eben so eng miteinander verbunden, dass man gar nicht alles richtig machen kann.«

»Das hätte auch Enid sagen können.« Der Anflug eines Lächelns huschte über Mailins Gesicht. »Es ist lieb von dir, dass du mich trösten willst. Aber ich habe einen Eid geschworen, mit dem ich mich verpflichte, stets zum Wohle der königlichen Pferde zu handeln.« Sie schüttelte betrübt den Kopf »Diesen Eid habe ich gebrochen.«

»Nicht wenn du Ninim gesund wieder nach Hause bringst«, beharrte Julia. »Du wirst sehen, es wird alles gut.«

»Ich wünschte, ich hätte deine Zuversicht.« Mailin schüttelte den Kopf. »Hast du denn auch eine Idee, wo ich mich in den kommenden Tagen verstecken kann?«

»Ja, hab ich!« Julia grinste verschmitzt. »Komm mit, es ist gar nicht so weit von hier.«

»White Ladys« Geheimnis

»Da vorn ist es!« Mit ausgestrecktem Arm deutete Fions Vater auf eine kleine, moosbedeckte Hütte, über deren Esse eine dünne hellgraue Rauchfahne fast senkrecht in die Höhe stieg. »Wir haben Glück. Sieht ganz so aus, als ob der alte Norin daheim ist.«

Er schnalzte mit der Zunge und lenkte sein Pferd im Schritt auf die Hütte zu. Fion und Eanna folgten ihm mit White Lady in kurzem Abstand.

»Bald werden wir wissen, wo deine Freundin ist«, wandte sich Eanna tröstend an Fion. »Dann wird alles gut.«

»Möge die heilige Mutter Mongruard deine Worte erhören.« Fions Stimme klang angespannt. Seit sie vom Hof des Königs aufgebrochen waren, verspürte er eine große Unruhe, die allerdings nicht nur von der Sorge um Mailin herrührte. Immer wieder fragte er sich, wie es ihm gelingen konnte, etwas über die Entführung der Stute vor vielen Sommern in Erfahrung zu bringen, ohne dass Eanna etwas davon mitbekam. Bisher hatte er das Problem immer vor sich hergeschoben und darauf gehofft, dass sich irgendwann schon eine Lösung dafür finden würde.

Diese Hoffnung hatte sich nicht erfüllt und nun, da sie ihr Ziel fast erreicht hatten, blieb ihm nichts anderes übrig, als alles auf sich zukommen zu lassen und auf eine glückliche Wendung oder günstige Gelegenheit zu warten.

Mit bangem Herzen beobachtete er, wie sein Vater aus dem Sattel stieg, zur Tür ging und anklopfte.

Endlose Augenblicke lang geschah nichts, dann wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet. Fion sah, dass sich in der Dunkelheit dahinter jemand bewegte, aber er war noch zu weit entfernt, um die leise gesprochenen Worte zu verstehen, die sein Vater mit dem alten Heiler wechselte.

»Was geschieht jetzt?«, flüsterte Eanna ihm zu.

»Ich weiß es nicht«, gab Fion ebenso leise zurück, ohne den Blick von seinem Vater abzuwenden. Das Gespräch zwischen den beiden Männern zog sich quälend in die Länge und schürte seine Ungeduld, bis er kaum noch still im Sattel sitzen konnte. Am liebsten wäre er abgesessen und zu seinem Vater gelaufen, doch dieser hatte ihn zuvor eindringlich ermahnt, so lange zu warten, bis er ihm ein Zeichen gab.

»Heilige Mutter Mongruard, gib, dass er uns hilft«, hörte Fion Eanna leise neben sich murmeln. Sie hatte die Augen geschlossen und die Hände gefaltet.

Und als sei ihr Gebet erhört worden, hob sein Vater in diesem Augenblick den Arm und gab ihnen das Zeichen, näher zu kommen.

Fion und Eanna saßen gleichzeitig ab und gingen mit White Lady auf die Hütte zu, deren Tür nun weit geöffnet war. Dort stand ein alter Elf mit aschgrauen Haaren. Er trug ein schlichtes, helles Gewand, das locker bis zum Boden herabfiel. Die Last der Sommer, die er gesehen hatte und die kaum mehr jemand zu ermessen vermochte, hatte ihm den Rücken gebeugt und tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben. Doch obwohl er vom Alter gezeichnet war, wirkte er keineswegs gebrechlich. Im Gegenteil. Die Zeichen der Zeit trugen vielmehr dazu bei, die Würde und Weisheit zu unterstreichen, die ihn wie eine unsichtbare Hülle umgab.

»Ehrwürdiger!« Fion verneigte sich und machte dabei mit der Hand jene Geste, mit der die Jugend dem Alter Respekt zollt. Eanna tat es ihm gleich.

»Das ist Eanna, Priesterin im Mondtempel am Hofe des Königs und enge Vertraute der ehrwürdigen Mondpriesterin Lavendra.« Fions Vater deutete auf Eanna, die sich noch einmal mit schüchternem Lächeln verneigte.

»Lavendra. So, so.« Der alte Elf erwiderte den Gruß mit einem kurzen Kopfnicken.

»Und dies, ehrwürdiger Norin, ist mein Sohn Fion, Pferdehüter am Hofe des Königs«, fuhr Fions Vater nicht ohne Stolz fort. »Er ist voller Sorge um seine Freundin, die königliche Pferdehüterin Mailin, die nach einem Ritt in den Schweigewald nicht wieder an den Hof zurückkehrte.«

»Fion!« Ein Wiedererkennen blitzte in Norins Augen auf und ein dünnes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Einst sah ich dich oft mit deinen Schwestern am Sturzbach baden. Die Winter sind schnell vergangen. Du bist erwachsen geworden.«