Jerry Kennet

Die Grünbarts

Ein Hamster dreht am Rad

Aus dem amerikanischen Englisch von Petra Koob-Pawis

Bilder von Der Anton

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Jerry Kennets
Familie stammt zwar nicht aus unterschiedlichen
Epochen, aber wenn Jerry es sich aussuchen könnte, würde
er am liebsten zur Zeit der englischen Renaissance leben –
als Hofnarr, natürlich. Er hat leider keine geniale Zeitreisemaschine
erfunden, sondern nur Politikwissenschaft
studiert. Jerry lebt mit seiner Familie in Washington und
arbeitet als Journalist. Die Grünbarts ist seine
erste Reihe für Kinder.

Außerdem von Jerry Kennet im Arena Verlag erschienen:
Die Grünbarts. Auf Zeitreisen ist nicht gut Pizza essen
Die Grünbarts. Zusammen klebt man besser als allein

Die gleichnamigen Hörbücher sind bei
Arena Audio erschienen.

Der Anton
lebt in Köln, wo er alles bemalt, was halbwegs stillhält:
Zimmerwände, Klassenarbeiten, Autos … Seit 1989 arbeitet
er freiberuflich als Illustrator, Designer und Regisseur
für verschiedene Fernsehsender, Verlage, Produktionsfirmen
und Design-Agenturen. 1999 gründete er mit
Freunden die FEEDMEE Design GmbH und heimste
allerhand Preise ein.

 

 

Mit besonderem Dank an Jan Gangsei

 

 

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1. Auflage 2016
© 2016 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2016 by Working Partners Limited
Series created by Working Partners Limited
Aus dem amerikanischen Englisch von Petra Koob-Pawis
Covergestaltung und Innenillustrationen: Der Anton
Die Illustrationen in diesem Werk wurden vermittelt durch die Literarische
Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Vorsatz- und Nachsatzhintergrund: © RomanYa/Shutterstock
ISBN 978-3-401-80556-6

www.arena-verlag.de

Die Grünbarts

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Jack Grover-Grünbart: Pirat aus dem 18. Jahrhundert, besegelte die sieben Weltmeere (ist leider seekrank, daher im vorzeitigen Ruhestand im 21. Jahrhundert) und surft heutzutage gerne im Internet

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Emily Grover-Grünbart: geboren vor ca. 162 Jahren im viktorianischen London, geniale Erfinderin u. a. des Schrumpfinators, Schmutzinhalierers und eines Zeitreise-Wohnmobils

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Fussel: unser Haustier, ein Mini-T-Rex … frag lieber nicht, wie der bei uns gelandet ist!

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Hojo: 11 Jahre alt, japanische Samurai-Schülerin aus dem 14. Jahrhundert, liebt Waffen und alle Tiere, aber vor allem die mit spitzen Zähnen

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Grog: 17 Jahre alt, stammt aus dem alten Rom, besitzt übermäßigen Appetit auf Mammutfleisch und hat schlechte Tischmanieren (kurz: benimmt sich wie ein Höhlenmensch)

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Zack: Das bin ich: 10 Jahre alt, ein hundertprozentiges Produkt des 21. Jahrhunderts – und der einzig Normale in einer komplett verrückten Familie

Kapitel 1

Ah, der frische Frühlingsduft, der durchs offene Fenster hereinweht … Das Kratzen meines Stifts auf dem Blatt, während ich mein neuestes Meisterwerk zu Papier bringe … Die

Wumm! Peng! Wusch!

Etwas Kleines und Grünes segelte an meinem Kopf vorbei, während der Bus um die Ecke bog. Ich hätte es besser wissen müssen, als ausgerechnet in einem Schulbus auf ein paar Sekunden Ruhe zu hoffen! Das kleine grüne, nicht identifizierbare Flugobjekt schoss auf sein Ziel zu – das zur Abwechslung einmal nicht ich war –, verfehlte aber um Haaresbreite das ziemlich große Ohr meines Klassenkameraden Dave. Oder Dumbo Dave, wie er auch genannt wird. Ja genau, nach Dumbo, dem Elefanten. (Und nein, natürlich habe nicht ich ihm den Namen verpasst. Aber ich wette, du errätst sofort, wer sich den Namen ausgedacht hat.)

Erneut sauste ein grünes Etwas an meinem Kopf vorbei und vom Sitzplatz hinter mir erklang ein vertrautes Kichern.

»Nicht schlecht, Sam-O!« Schnaub. Lach. »Du hast ihn fast getroffen!«

»Bessten Dank!«, lispelte Sam. »Jetzt bisst du an der Reihe!«

Hinter mir war lautes Rutschen, Poltern und Grunzen zu hören, aber zum Glück folgten keine weiteren Geschosse mehr. Gut. Vielleicht ließen sie es für heute sein.

Natürlich ließen sie es nicht. Wir reden hier schließlich von Sam und Craig. Du weißt schon, unseren berüchtigten Schulrabauken, die in der menschlichen Evolution sogar noch eine Stufe unter den Neandertalern angesiedelt sind (und glaub mir, ich weiß, wovon ich rede – ich bin schon echten Neandertalern begegnet).

Eine fleischige Hand schoss hinter der Lehne hervor, legte sich auf meinen Kopf und drückte mich fünf Zentimeter tiefer in den Sitz. »Hey, Blödba…?«, rief Craig. »Ich meine natürlich Superbart, Superbart! Wieso bringe ich das immer durcheinander?«

Hm … Keine Ahnung. Vielleicht, weil Sams und Craigs Spitzname für mich noch vor ein paar Monaten »Blödbart« und ich ihr Lieblingsopfer gewesen war? Sie konnten mich inzwischen nur deshalb etwas besser leiden, weil mein »Cousin« Waldi (in Wahrheit ein verrückter Kerl, der heimlich mit uns aus der Wikingerzeit in die Gegenwart gereist war) ihnen eins auf die Nase verpasst hatte und zu Internetruhm gelangt war, weil er sage und schreibe fünfzig Knabberstangen auf einmal verputzt hatte. Ist eine lange Geschichte, aber Ehrenwort, damals gab es gute Gründe dafür.

»Ja?« Ich drehte mich langsam um und spähte über die Lehne. Craig, der die Augen unter seinem zerzausten roten Schopf zusammengekniffen hatte, musterte mich. Sam brachte seine blonden Stachelhaare in Form und sah mich mit einem Zahnlückengrinsen an.

»Du bisst dran«, lispelte er.

»Woran denn?«, fragte ich zurück.

Sam gab keine Antwort. Er blickte zu Craig, der daraufhin eine Hand zur Faust ballte und sie erst direkt vor meiner Nase wieder öffnete. In seiner Hand pappte ein Klumpen klebrig-feuchter Wasabi-Erbsen – im Ernst, ich hoffe sehr, es waren Wasabi-Erbsen und nicht irgendwas anderes.

Misstrauisch beäugte ich Craigs Nase, an der ein grüner Popel hing, ehe mein Blick wieder zu seiner ausgestreckten Hand glitt. Craig schüttelte sie kurz, dann steckte er sich eines der grünen Kügelchen in den Mund. Ich schauderte.

»Du bist näher dran, Superbart«, sagte Craig und schnaubte dabei in Daves Richtung. »Versuch mal, ob du ihn triffst!« Ich drehte den Kopf. Dave saß etwa fünf Reihen weiter vorne. Seine Segelohren standen von seinem Kopf ab wie zwei geöffnete Fahrzeugtüren. Er blickte zu Boden, anscheinend versuchte er, auf diese Weise Sams und Craigs Angriffen zu entgehen.

Ich kannte das nur zu gut. Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte ich die gleiche Strategie verfolgt.

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Natürlich wäre das der richtige Zeitpunkt gewesen, um Sam und Craig klarzumachen, dass sie Dave in Ruhe lassen sollten. Zu meiner Verteidigung kann ich nur anführen: Wenn du Sam und Craig je begegnet wärst, wüsstest du genau, dass sie weder für eine freundliche Gesinnung noch für eine edelmütige Geisteshaltung bekannt waren. Tatsächlich waren sie bekannt für die Kloschüsseltortur und die Hosenschnalzfolter.

Ich beobachtete, wie Craig die Wasabi-Erbsenpopel in seiner Hand hin und her rollte, und hielt lieber den Mund. Ein verkehrtes Wort und er würde mir die Dinger in die Nase stopfen. Zurzeit waren Sam und Craig mir gegenüber zwar die Liebenswürdigkeit in Person, aber ich wusste genau: Bei der ersten falschen Bewegung bekäme ich eine Portion Hosenschnalzer verpasst.

Also versuchte ich, Zeit zu schinden.

»Kann jetzt nicht«, murmelte ich. »Bin gerade sehr beschäftigt.« Zum Beweis hielt ich Macks Welt, meine neueste Graphic Novel, hoch. Craig zerbiss noch einen Erbsenpopel, den er sich in den Mund gesteckt hatte, und beäugte das Heft.

»Was ist das?«, fragte er. »Ein Malbuch?«

»Ich liebe Malbücher über alless!«, begeisterte sich Sam. »Gib mal her!«

Bevor ich protestieren konnte, hatte er sich meine Graphic Novel geschnappt. Er und Craig ließen sich wieder auf die Sitze fallen und blätterten in den Seiten. Ich streckte den Kopf über die Lehne.

»Genau genommen ist es meine neue Graphic Novel«, erklärte ich.

»Isst dass eine Gesshichte?« Sam schüttelte sich. »Ich hasse Gesshichten. Wörter machen mich nervöss.«

»Aber die Bilder sind cool.« Craig schlug die Seite auf, an der ich gerade gezeichnet hatte. Die Seite, auf der zwei Idioten namens »Steve« und »Chris« in Erscheinung treten. Zwei Idioten, die zufälligerweise einen bedauernswerten Jungen namens »Dan« piesacken, der viel zu große Ohren hat …

Craig starrte seinen Doppelgänger an. Er öffnete und schloss seine Faust, in der immer noch matschige Wasabi-Popel klebten. Sam rümpfte die Nase. Da deutete Craig auf die Comicfigur mit der blonden Stachelfrisur, den schielenden Augen und der Spucke im Mundwinkel. Ich erstarrte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, ihnen mein Zeichenheft zu zeigen …

»Sam, der Typ sieht aus wie du«, meinte Craig und zeigte auf das Blatt.

Sams zusammengewachsene Augenbrauen schossen in die Höhe. »Findesst du?« Er hielt das Heft vor seine Nase – und ich hielt Ausschau nach einem Fluchtweg. Wenn ich die Luft anhielt und mich ganz klein machte, konnte ich mich vielleicht durch eines der halb geöffneten Fenster quetschen …

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Abrupt klappte Sam das Zeichenheft zu und warf es zu mir nach vorn. »Der Typ ssieht mir kein bisshen ähnlich«, stellte er fest. Von seinem Kinn tropfte Spucke. »Ich bin viel hübssher als er.«

»Ja, und außerdem sind Steve und Chris totale Vollidioten!«, fügte Craig hinzu. Er nahm eine Erbse und zielte auf Dave. Die Erbse prallte zuerst von Daves linkem Ohr und danach von der Fensterscheibe ab. »Treffer!« Sam und Craig reckten triumphierend die Arme.

Dave wedelte mit der Hand, als wollte er etwas um seinen Kopf verscheuchen, dann drehte er sich um und ließ den Blick auf der Suche nach dem Übeltäter durch den Bus schweifen. Ich sank tiefer in meinen Sitz und auch Dave setzte sich seufzend wieder hin. Das Zeichenheft lag auf meinem Schoß, die letzte Seite von Macks World war aufgeschlagen. Die Seite, auf der Mack, der Held der Geschichte, unerschrocken für Dan eintritt.

Zu blöd, dass ich außer den wuscheligen blonden Haaren und regelmäßigen Zeitreisen keinerlei Ähnlichkeit mit Mack hatte (Macks Portal in die Vergangenheit befindet sich in der Toilettenkabine Nummer sieben im Hauptbahnhof, wohingegen ich mit dem Winnebago-Wohnmobil meiner Familie durch die Zeit reise).

Schuldbewusst schloss ich das Heft. Noch mehr Erbsen sausten an meinem Kopf vorbei. An der Abzweigung Schöne Allee und Trollgasse kam der Bus langsam und mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Ich stand auf, um hinauszugehen, als sich eine dicke Hand auf meine Schulter legte und mich nach unten drückte.

»Komm mit uns, Superbart!«, rief Craig hinter mir und ließ mich wieder los. Über mein T-Shirt zog sich eine Wasabi-Erbsenpopel-Schleimspur. Ich kämpfte gegen einen Brechreiz an.

»Wohin denn?«, fragte ich.

»Wir sshmeißsen Klopapier auf dass Haus vom Rektor!«, verkündete Sam. Er öffnete seinen Rucksack, in dem sich ein halbes Dutzend nicht sehr saubere Klopapierrollen befanden. Schnell sammelte ich meine Sachen zusammen, während der Würgreiz in meinem Hals nur noch größer wurde.

»Kann nicht«, murmelte ich und rannte zur offenen Tür. »Muss zu Hause ein paar Familiendinge erledigen.« Was nichts anderes bedeutete, als dass eine weitere Zeitreise bevorstand – die dritte innerhalb von drei Monaten. Ein Mädchen und ihr Onkel waren diesmal unsere Kunden. Ich wusste nur, dass beide total musikbegeistert waren. Mit Details rückte Dad nur sehr ungern heraus. (Es sei denn, es ging um Piratenschiffe. Dann konnte er stundenlang ohne Punkt und Komma reden.)

Ich hüpfte aus dem Bus und hörte Sam noch rufen: »Dein Pech, Superbart! Das wird echt gigantisch!« Begleitet wurden seine Worte von einer Rolle Toilettenpapier, die durchs Fenster flog. Sie entrollte sich auf der Straße, während der Bus, eine dicke Abgaswolke auskeuchend, davonfuhr.

Ich machte mich auf den Heimweg. So verrückt die abenteuerlichen Zeitreisen meiner Familie auch waren, sie waren allemal besser, als mit Sam und Craig abzuhängen.

Moment mal … Unser Haus stand ganz am Ende der Straße und auf dem Weg dorthin sah ich schon von Weitem, dass etwa ein Dutzend Fahrzeuge kreuz und quer vor unserem Haus parkten. Die Fahrer waren anscheinend in großer Eile ausgestiegen, ohne ihre Autos ordentlich abzustellen. Ein riesiger Übertragungswagen eines Nachrichtensenders blockierte unsere Einfahrt. Auf dem Dach war eine Satellitenschüssel montiert. Und überall waren Leute. Sie riefen durcheinander, fuchtelten aufgeregt mit den Händen und hielten Smartphones über ihre Köpfe. Ein Blitzlichtgewitter aus Dutzenden von Fotoapparaten entlud sich in unserem Vorgarten. Was um alles in der Welt war hier los?

Okay, womöglich war ich, als ich vor Sam und Craig aus dem Bus geflohen war, hingefallen und hatte mir den Kopf gestoßen, weshalb ich jetzt unter Halluzinationen litt. Ich blinzelte zweimal und starrte wieder zu unserem Haus hinüber.

Nein, von Halluzinationen konnte keine Rede sein. Die Leute waren tatsächlich da. In der Sekunde, in der ich geblinzelt hatte, war sogar ein Hubschrauber aufgetaucht und kreiste nun über unserem Garten.

Langsam näherte ich mich dem chaotischen Treiben vor dem Haus. Und je näher ich kam, desto lauter wurde das Geschrei. Von meiner Familie war keine Spur zu sehen. Ich schluckte. Was zum Teufel ging hier vor?

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Kapitel 2

Ich bahnte mir den Weg in unseren Vorgarten. Ein Jugendlicher mit grünen Haaren versetzte mir einen Stoß in die Rippen. Er hatte einen Stachel als Piercing in der Nase.

»Hey, du!«, rief er. »Wo willst du hin? Du tust ja so, als wäre das dein Privateigentum!«

»Ist es auch«, erwiderte ich. »Mehr oder weniger. Ich wohne hier.«

Der Junge grunzte etwas Unverständliches. Ich achtete nicht auf ihn, sondern drängelte mich weiter nach vorn und versuchte, wenn auch ziemlich erfolglos, bis zur Tür zu gelangen. Vor dem Haus hatten sich mindestens fünfzig Leute versammelt, manche riefen laut, andere tuschelten leise miteinander.

»Wo ist sie?«

»Könnt ihr sie sehen?«

»Ist das …?«

»Poppy!«, rief ein Mann mit einem Fotoapparat um den Hals, der auf einen Baum in unserem Garten geklettert war. Jenseits der Zuschauermenge wurde eine Autotür aufgerissen und wieder zugeschlagen. Das Geschrei wurde ohrenbetäubend laut. Der Mann auf dem Baum hielt seine Kamera hoch, rutschte bis zum Ende des Asts – und fiel kopfüber in Moms Blumenbeet. Bei dem Sturz verrutschte sein Toupet, aber der Mann rappelte sich sofort wieder auf und richtete seinen Fotoapparat auf unsere Einfahrt.

»Poppy!!«, brüllte jemand.

»Poppy! Poppy! Poppy!«, stimmten die anderen ein und drängten Richtung Haus.

Was waren das für Leute? Und warum riefen sie immer Poppy? War das nicht das englische Wort für Mohn? Handelte es sich bei den Belagerern unseres Hauses etwa um verrückte Pflanzenliebhaber?

Ich warf einen Blick in Moms Garten. Oh nein, es ging ihnen nicht um Pflanzen. Der beste Beweis dafür war Moms preisgekrönte und angeblich seit 1886 ausgestorbene Orchidee. Stell sie dir als großen Fußabdruck vor, dazu ein paar zerquetschte Blätter. Meine Vermutung, dass ich es mit Verrückten zu tun hatte, stimmte zwar, aber Blumenfreunde waren das garantiert nicht. Ich zwängte mich an den Umstehenden vorbei und blieb in der ersten Reihe zwischen zwei Mädchen stehen, die sich verzückt zu ihrem eigenen kreischenden Gesang hin und her wiegten.

»Schrei, schrei, schrei die Kamera an«, grölte die eine, während die andere mich am Arm packte und schüttelte. »Ist das zu fassen? Sie ist wirklich hier!« Sie deutete auf ein Teenie-Mädchen, das neben einer in unserer Einfahrt parkenden Limousine stand. Es hatte blonde Haare mit pinkfarbenen Spitzen, die unordentlich auf eine Seite frisiert waren, und sein Gesicht verschwand fast hinter einer riesengroßen Sonnenbrille mit Metallrahmen. Das Mädchen trug zerrissene Jeans, schwarze Stiefel, ein schwarzes Tanktop und ungefähr sechstausend Gold- und Silberketten um den Hals (bei dieser Menge kam es auf ein paar Tausend mehr oder weniger nicht an).

»Echt jetzt … was …?«, stammelte ich. Das Mädchen kam mir irgendwie bekannt vor, wie eine von Hojos Schulfreundinnen sah sie allerdings nicht aus. Plötzlich ging mir ein Licht auf. Meine Kinnlade klappte nach unten.

»Poppy Peril«, flüsterte ich ziemlich laut. Und damit meinte ich die Poppy Peril – ehemaliger Kinderstar, hatte sich als Teenager zur Punk-Pop-Sängerin gemausert und war bekannt für ihren Hang zu dramatischen Gefühlsausbrüchen, hysterischen Anfällen und zum Scheitern verurteilten Romanzen.

»Ja, ich weiß!«, kreischte das Mädchen neben mir. »Poppy Peril! Aber warum ist sie ausgerechnet hier, vor diesem spießigen, stinknormalen Haus? Wo sie doch in zwei Tagen mit Feuer und Flamme auf Welttournee geht!«

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Ein glatzköpfiger Mann stieg aus der Limousine und stellte sich neben Poppy. Er trug ein glänzendes schwarzes Hemd mit Schlangenmuster und sah aus, als hätte er eine Bowlingkugel im Bauch. Er hielt ein Handy ans Ohr und telefonierte lautstark. Die Goldkette unter seinem weit aufgeknöpften Hemd funkelte in der Sonne.

»Hey, Poppy!«, rief jemand. Es war der Fotograf, der vorhin im Baum gesessen hatte. Ohne Toupet und mit nur einem Schuh am Fuß humpelte er nach vorne. Er blieb neben mir stehen, zückte ein Smartphone, aktivierte die Videofunktion und hielt es in Poppys Richtung.

»Hey, Poppy!«, rief er wieder. »Stimmt es, dass deine Background-Tänzer nur wenige Tage vor Tourneebeginn das Handtuch geworfen haben, weil sie einen Vertrag unterschreiben sollten, der es ihnen verbot, ihre Haare poppypink zu färben?«

Poppy tat so, als hätte sie die Frage nicht gehört. Sie seufzte theatralisch und nahm einen großen Schluck aus dem Siesta-Smoothie-Becher, den sie in der rechten Hand hielt. An ihrer linken baumelte eine große, leuchtend pink-schwarze Handtasche aus Vinyl. Sie schwang hin und her, als hätte sie ein Eigenleben.

»Und wie läuft es bei deiner Immer-mal-wieder-Romanze mit Tommy Rocket, dem englischen Boygroup-Star?«

Poppy inspizierte ihre schwarz lackierten Fingernägel und tippte teilnahmslos mit der Fußspitze auf den Boden, um anzudeuten, dass eine so langweilige Frage erst gar keine Antwort verdiente.

»Was ist dran an dem Gerücht, dass du im vergangenen Jahr deinen Live-Auftritt bei den Music Awards absagen musstest, weil du am Vorabend bei einem Streit mit Tommy deine Stimmbänder überreizt hast?«, hakte der Fotograf nach.

Poppy wandte sich genervt ab.

»Ach, komm schon!« Der Fotograf zoomte mit seinem Handy an sie heran. »Wir wollen die rotzfreche Poppy Peril sehen, also zeig uns, was du draufhast …«

Poppy wirbelte blitzschnell herum, funkelte ihn an – und plötzlich flog der Smoothie-Becher durch die Luft und landete vor den Füßen des Fotografen. Das dunkelrote Gesöff besudelte die Hose des Mannes, während er alles mit seinem Handy aufnahm.

»Oho!« Er grinste. »Kein Grund, mich zu bewerfen, Fräulein! Das ist ein tätlicher Angriff, weißt du das?«

Poppy hob ihre Sonnenbrille von der Nase und starrte mit großen Augen auf ihre leere Hand. »Aber … ich habe Sie doch gar nicht beworfen! Keine Ahnung, wie das passieren konnte!«

»Na klar doch«, spottete der Fotograf. »Genauso wenig wie du nicht dabei erwischt wurdest – und zwar von mir, haha –, wie du vergangenen Monat vor dem Kat Klub geraucht hast …«

»Das war eine Schokoladen-Zigarette!«, erwiderte Poppy. »Rauchen ist langweilig.«

»Ja, genau. Ganz wie du meinst«, rief der Fotograf. Er stieß mir mit dem Ellbogen in die Seite. »Das Foto, das ich damals geschossen habe, hat mir eine Menge Kohle vom Pop Punk Magazine eingebracht. Genau wie das hier …« Er nahm seine Kamera und schoss noch ein paar Bilder von den dunkelroten Spritzern auf seiner Hose. »Tja, wenn ich diese Smoothie-Überreste verkaufe, kann ich mich danach vielleicht zur Ruhe setzen!«

Poppys Nasenflügel bebten. »Ich will hier weg! Ich habe genug von diesen … Poppyrazzi«, sagte sie. »Wo sind eigentlich die Bewohner dieses grässlichen Hauses?«

Das wäre mein Stichwort gewesen, um mich auf dem Absatz umzudrehen und davonzumachen. Stattdessen trat ich nach vorn, stellte mich vor – und marschierte munter hinein in den Schlamassel.

»Ähm, hey«, sagte ich und streckte die Hand aus. »Zack Grover-Grünbart. Ich wohne hier. Du bist also das Mädchen, das mit seinem, ähm, Onkel eine Tour bei uns gebucht hat?« Poppy starrte meine ausgestreckte Hand an, als würde ich ihr Wasabi-Erbsenpopel anbieten. Rasch zog ich die Hand zurück. Der Typ in dem Schlangenmusterhemd hörte auf, in sein Handy zu schreien, und steckte es in die Tasche.

»Ich bin nicht ihr Onkel«, mischte er sich nun ein. »Ich bin Poppy Perils Manager. Wenn du mit ihr sprechen willst, dann sprich zuerst mit mir.«

Poppy schob ihre Sonnenbrille auf die Nase und blickte in die andere Richtung. Ihr Manager zog schwungvoll eine Visitenkarte hervor und drückte sie mir in die Hand. Darauf stand:

Mortimer E. Hamster

Agent der Stars

»Ähm, schön, Sie kennenzulernen, Mr Hamster«, sagte ich.

»Die korrekte Aussprache ist Am-stär«, schnaubte er wichtigtuerisch. »Das H fällt weg. Das ist Französisch, weißt du? Aber alle nennen mich Ed.«

»Okay, Ed«, meinte ich. »Und warum stehen Sie noch hier in unserer Einfahrt?«

»Das würde ich auch gerne wissen!«, antwortete er. »Seit zehn Minuten versuchen wir, ins Haus zu gelangen. Am Telefon meldet sich niemand und wir kommen nicht an den Poppyrazzi vorbei bis zur Tür.«

»Hm«, murmelte ich verwirrt. Mein Dad hatte ein neues iPhone und trug es überall mit sich herum. Ich konnte mir keinen Grund denken, warum er nicht ans Telefon ging. Es sei denn, der Akku war leer. Bisher hatte ich ihn noch nicht davon überzeugen können, dass das Sonnensymbol auf der Wetter-App nicht bedeutete, dass es sich um ein solarbetriebenes Handy handelte.