Anna Ruhe

MOUNT
CARAVAN

Die fantastische Fahrt im
nimmerzeit-Express

Mit Illustrationen von Max Meinzold

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Anna Ruhe, geboren 1977, verdiente sich ihr Grafikdesignstudium
als Fotoassistentin. Seitdem arbeitet
sie als Corporate Designerin. Spannende Geschichten
hatte sie schon immer im Kopf, mit dem Schreiben
begann sie nach der Geburt ihrer zwei Kinder. Mit ihrer
Familie lebt sie in Berlin.

Max Meinzold, geboren 1987, ist freischaffender Grafikdesigner
und Illustrator. Seine Schwerpunkte liegen in
den Bereichen Science-Fiction, Fantasy und der
Kinder- und Jugendliteratur. Für seine moderne, innovative
Buchgestaltung wurde er bereits für zahlreiche Preise
nominiert. Er lebt und arbeitet in München.

Für Luk & Milo

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1. Auflage 2016
© Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Cover und Illustrationen: Max Meinzold
Zitat S. 5: Diesen Ausspruch hat Astrid Lindgren anlässlich der
Verleihung des H.C. Andersen Preises gemacht. Nachzulesen in:
Steine auf dem Küchenbord, © Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 2000.
ISBN 978-3-401-80569-6

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»Wie die Welt von morgen aussehen wird,
hängt in großem Maß von der Einbildungskraft
jener ab, die gerade jetzt lesen lernen.«

Astrid Lindgren

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1

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Die Neonlampe an der Decke surrte vertraut gegen die Stille des Flures an. Jake lehnte an der Wand neben der Klassenzimmertür, aber sosehr er auch die Ohren spitzte, er hörte nicht das leiseste Wort dahinter. Zwei seiner Mitschüler saßen stillschweigend auf den Stühlen neben ihm. Nervös schaute Jake aus dem Fenster, das ihm gegenüberlag. Draußen verwandelte die diesige Luft die Welt in einen alten Schwarz-Weiß-Film – und genau so fühlte sich hier drinnen auch alles an.

Mit einem Seitenblick zu Tyron-»Ich stecke gerne Dinge in Brand«-McShane und dem achtjährigen Mädchen, das seit letztem Monat alle nur noch »Colabomben-Klara« nannten, ließ sich Jake auf einen der unbequemen Holzstühle fallen. Auch wenn ihm keiner gesagt hatte, warum die Heimleitung sie alle ausgerechnet hier vor den völlig verstaubten Leseraum zitiert hatte, lag die Sache auf der Hand: Sie würden Jake rausschmeißen. Ihn, Tyron und Klara, die offiziell größten Problemkinder in St. August.

Dabei hatte er diese Woche nicht mal was angestellt.

Jake seufzte, zog den Reißverschluss seines grauen Kapuzenpullovers bis zum Kinn hoch und rieb sich die Arme. Selbst wenn die Heizungen maximal aufgedreht waren, hier fröstelte man trotzdem ständig. Von überallher schien sich der Wind durch die Ritzen ins Gebäude hineinzudrücken.

Rausschmiss hin oder her, er hasste es zu warten. Sein gesamtes bescheuertes Leben wartete er schon. Immer in der Hoffnung, dass sich endlich etwas ändern würde. Und mit etwas meinte er: am besten gleich alles auf einmal.

Seit einem Jahr wohnte er in St. August, der Sorte Heim, in das man kam, wenn alle anderen Kinderheime Englands einen nicht mehr wollten. Okay, St. August war weder wirklich besser noch schlechter als die anderen Heime davor – auch hier gab es ätzende Betreuer, durchgelegene Matratzen und Essen wie Pappe. Nur dass eben die meisten Kinder entweder Schlägertypen waren, Sachen abfackelten oder in ihrer Freizeit dreißig Colaflaschen auf einmal zum Platzen brachten. Wenn man mal eine Woche ohne Abreibung in irgendeiner Form verbringen wollte, musste man sich schon ziemlich schlau anstellen.

Und jetzt wurde er sogar hier rausgeworfen.

Was soll’s, dachte Jake missmutig. Er war mittlerweile sowieso davon überzeugt, nirgends richtig hineinzupassen. Deshalb gab er sich auch keine große Mühe mehr, Freunde zu finden oder sich einzureden, dass das nächste Heim jetzt sein neues Zuhause sein würde.

Inzwischen sprachen ihn die Lehrer schon gar nicht mehr auf seine vielen Heimwechsel an und Jake versuchte auch nicht, es zu erklären. Er hatte eben seine Schwierigkeiten damit, das zu tun, was von ihm erwartet wurde. Wahrscheinlich lag es daran, dass ihm meistens genau die Bemerkungen herausrutschten, die niemand hören wollte. In jedes Fettnäpfchen, in das er treten konnte, trat er hundertprozentig.

Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem jede Einrichtung ihn wieder loswerden wollte. Und dann zog er um. Er konnte die Uhr danach stellen: Im Einjahrestakt ging es von Heim zu Heim und in St. August war er nun schon fast zehn Monate gewesen.

Tyron glotzte ihn gehässig von der Seite an. »Was guckst du denn so, Roberts? War doch klar, dass deine komische Nummer mit Trottel-Dave noch Folgen hat.«

Jake drehte sich langsam zu Tyron um. Wie er diesen Typen hasste. »Mann, ihr habt ihn einfach angelogen, damit ihr ihn ins Wasser schubsen könnt. Dabei weiß jeder, dass Dave nicht schwimmen kann!«

Tyron zuckte nur die Schulter und grinste. »Der wär schon nicht abgesoffen. Wegen deiner idiotischen Aktion hat er jetzt aber eine fette Beule am Kopf.«

»Ja, ist ganz toll, wenn ein anderer den Ärger kassiert für den Mist, den man selbst verzapft hat. Ich wollte nur helfen …«

Tyron grunzte zufrieden.

»Und wofür schmeißen sie dich wohl raus, hm?« Jake drehte sich genervt weg. »Dafür, dass du die St.-Martins-Laternen der Drittklässler abgefackelt hast? Tolle Leistung.«

Tyrons selbstgefällige Miene verpuffte. »Ach, halt doch die Klappe, Jakielein.«

Klara hatte die ganze Zeit über nichts gesagt. Leise nuschelte sie in ihre Wasserflasche: »Ich will nicht rausfliegen. Das mit der Cola war doch nur ein Versehen, echt …«

Hinter der Tür vom Leseraum drückte jemand die Klinke hinunter. Knarrend schob sie sich auf und ein Mädchen lief sichtlich irritiert heraus. Jake hatte sie schon ein paar Mal hier gesehen. Normalerweise machte sich nach Gesprächen mit der Heimleitung immer ein überlegenes Schmunzeln in ihrem Gesicht breit, aber jetzt wirkte sie nicht so wie sonst, wenn sie eine Abmahnung kassiert hatte. Ganz im Gegenteil, heute sah sie sichtlich mitgenommen aus. Anscheinend nahm St. August gleich Abschied von mehreren Schülern.

»Viel Spaß mit den Verrückten«, murmelte das Mädchen und verschwand in Richtung Aula.

Direkt dahinter erschien eine Frau in einem schwarzen Kostüm, die Jake noch nie zuvor gesehen hatte. Sie winkte ihn näher.

»Jake Roberts?« Während sie ihn musterte, kringelten sich um ihre grünen Augen unzählige Fältchen. Ihr blondes kinnlanges Haar lag so glatt um ihren Kopf, als hätte sie es gebügelt. Genau so, dachte Jake, sah eine Geheimagentin aus … oder die Chefin irgendeiner riesigen Firma.

Er nickte steif und folgte ihr in den Raum hinein. Das Erste, was ihm auffiel, war, dass Mrs Stacy, die Heimleitung von St. August, nirgends zu sehen war. Seltsam. Was sollte das Ganze?

»Mrs Stacy war so nett, für dich heute einen Termin mit uns zu vereinbaren. Ich bin Mrs Dana Claus, die Schulleiterin des Mount Caravan Internats.« Sie schüttelte Jake die Hand und winkte ihn weiter zu einem Tisch, der in der Mitte des Raumes stand.

Jake glaubte, sich verhört zu haben. Internat? Warum ein Internat?

»Mr Brookstone und Lady Honoray freuen sich sehr mit mir, dich heute kennenzulernen.« Mrs Claus zeigte mit einer raschen Handbewegung hinter sich in den Raum, in dem eine faltige Frau mit einem Berg voller weißer Locken auf dem Kopf und ein hochgewachsener Mann in Steppweste und ausgebeulten Cordhosen auf zwei Stühlen saßen und ihm neugierige Blicke zuwarfen. Jake fühlte sich plötzlich wie auf einer Theaterbühne.

Mrs Claus’ breiter Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Wir würden heute sehr gerne einen Aufnahmetest für unsere Schule mit dir machen.«

»Einen … Aufnahmetest?«, wiederholte Jake ungläubig. »Ich soll an Ihre Schule? Ich dachte, ich bin wegen der Sache mit Dave hier …«

Mrs Claus lächelte immer noch. »Ganz genau.« Sie wirkte fast amüsiert. »Mrs Stacy hat uns viel über dich erzählt. Und wir glauben, dass du ganz wunderbar in unsere Schule passen könntest.«

Oh Gott, das konnte nur bedeuten: Die Leute wollten ihn in eins dieser Schwererziehbaren-Internate verfrachten.

»Ich bin aber gar nicht vorbereitet.«

»Vorbereitung ist in diesem Fall auch nicht nötig«, gab Mrs Claus zurück. »Der Test wird nicht lange dauern. Alles, worum wir dich bitten, ist, uns vorzulesen, was in diesem Buch steht.«

Erst jetzt fiel Jake das überdimensionierte Samtkissen auf, das vor ihm auf dem Tisch lag, und halb darin versunken ein Buch. Es wirkte abgegriffen und viel zu groß. Auf dem ledernen Einband waren zwischen ein paar kryptischen Zeichen ein goldenes »S« und ein »F« eingeprägt. Den Buchdeckel umrahmten fein gearbeitete Goldbeschläge. Mit einem Klack öffnete Mrs Claus die große Schnalle, die es verschlossen hielt. Leise raschelten die vergilbten Seiten vor Jake, während die Frau darin vor- und zurückblätterte. Schließlich schlug sie eine Seite auf und bat ihn näher heran.

Jake überlegte für einen kurzen Moment, ob er richtig gehört hatte. Was für ein Test war das denn? Eine Seite vorlesen? Ernsthaft? Aber Mrs Claus nickte ihm nur aufmunternd zu und zeigte wieder auf das Buch. Ungläubig beugte Jake sich darüber. Das Papier war an den Rändern ganz speckig und roch nach einer längst vergangenen Zeit. Er schüttelte die Fragen aus seinem Kopf und begann, die ersten Wörter laut vorzulesen:

D…as Buc…h

be…g…lei…t…et d…ich

u…nd füh…rt …

Bevor er den Satz zu Ende lesen konnte, verschwamm plötzlich die Tinte vor seinen Augen. Jake rieb sich die Stirn und versuchte, sich erneut auf das Geschriebene zu konzentrieren. Obwohl er die Augen weit aufriss, erkannte er rein gar nichts mehr auf dem Papier. Es war, als würde er durch Wasser blicken, das alles zu einem unscharfen Brei verlaufen ließ. Kurz hob Jake den Kopf und bemerkte, dass nicht nur Mrs Claus, sondern auch die übrigen Lehrer die Luft anhielten. Er spürte erwartungsvolle Blicke auf sich. Vor allem die alte Frau mit den weißen Locken, die bei näherem Hinsehen irgendwie gruselig aussah, war von ihrem Platz aufgestanden und musterte ihn jetzt mit bohrendem Blick.

Das war ein neues Gefühl. Noch nie hatte ihn irgendjemand mit großer Erwartung angesehen. Jake fühlte, wie ihn das total durcheinanderbrachte. Zum ersten Mal in seinem Leben wollte er einen Test nicht verbocken. Er begriff zwar nicht, warum es ihm auf einmal so wichtig war, aber er wollte diese Sache unbedingt gut machen. Immerhin war das hier der erste Aufnahmetest, an dem er je teilnehmen durfte.

Jake beugte sich wieder über das Buch und versuchte weiterzulesen, doch die Buchstaben verschwammen inzwischen nicht nur unscharf auf dem Papier, sie dehnten sich aus, zogen sich zusammen und verschmolzen miteinander. Jake spürte, wie ihm von dem Wirrwarr übel wurde. Seine Knie fühlten sich plötzlich weich an und er griff zur Tischkante, um sich an ihr festzuhalten.

Was war hier eigentlich los? Da waren Bilder. Verlor er jetzt völlig den Verstand? Die Buchstaben verschwammen zu seltsamen Zeichnungen und stiegen vor ihm auf wie Wasserdampf aus einem Kessel. Ein steiler Felsen wuchs aus den Seiten empor, immer höher und höher, bis Jake einen Schritt zurücktrat, um daran hinaufsehen zu können. Der Felsen breitete sich im ganzen Zimmer aus. Jake entdeckte zwei Menschen, die daran emporkletterten. Seltsam vertraut kamen sie ihm vor. Kannte er die beiden von irgendwoher? Sie riefen ihm etwas zu. Er verstand es zwar nicht, aber er hatte das Gefühl, dass es etwas Wichtiges war. Sein Herz pochte plötzlich wild in seiner Brust. Langsam trat er näher heran und auf einmal hörte er die Worte auf dem Papier. Fassungslos sah er zu Mrs Claus und den zwei anderen hinüber, aber keiner von ihnen hatte etwas gesagt.

»Was ist das für ein komisches Buch?«, fragte Jake mit heiserer Stimme.

Mrs Claus lächelte. »Das besprechen wir später, mein Junge. Lies einfach weiter.«

Das sagt sie so leicht, dachte Jake und sah den Buchstaben zu, wie sie sich von den Seiten erhoben und genau wie der Felsen vor ihm aufstiegen.

»Das Buch kann dir erklären, was du wissen möchtest«, rief die Stimme wieder und diesmal waren ihre Worte laut und glasklar. »Glaub nicht alles, was du siehst und, vertraue immer dir selbst!«

Die letzten Worte glommen so schwach in der Luft, dass Jake unsicher war, ob er sie richtig gelesen hatte. Was war bloß mit diesem Buch los? Für einen Moment schloss er seine Augen. Als er sie wieder öffnete, verpuffte der Felsen vor ihm und verschwand genauso schnell, wie er aufgetaucht war. Jetzt flirrten nur noch die Buchstaben auf dem Papier wie heiße Luft.

»Ich … ich kann Ihnen nichts vorlesen«, haspelte Jake. »Da ist nur wirres Zeug und ich erkenne die Buchstaben nicht mehr.« Ein kalter Schauer zog über seinen Rücken und ihm wurde schwarz vor Augen. Alles begann sich zu drehen. Jake griff wieder nach der Tischkante, doch schon taumelte er. Dann sackten seine Knie ein. Im nächsten Moment war alles dunkel und still.

*

Als Jake die Augen öffnete, blickte er in die begeisterten Gesichter der zwei Lehrer, die zuvor noch stillschweigend im hinteren Teil des Raumes gesessen hatten. Er lag auf dem Rücken am Boden. Kurz schloss Jake die Augen. War das peinlich. War er gerade ernsthaft in Ohnmacht gefallen?

Der Kopf von Mrs Claus schob sich ebenfalls in sein Sichtfeld. »Mein Junge, wir, das Lehrpersonal von Mount Caravan, freuen uns, dir zur bestandenen Aufnahmeprüfung zu gratulieren!« Sie lächelte und reichte ihm ihre Hand, um ihm beim Aufstehen zu helfen. »Wir würden uns sehr freuen, dich zum neuen Schuljahr bei uns begrüßen zu dürfen! Ich werde Mrs Stacy alle wichtigen Unterlagen zukommen lassen.«

Verdattert rappelte Jake sich hoch und starrte Mrs Claus an, die ihm freudestrahlend zunickte. Hatte er sich verhört? Wie konnte er eine Prüfung bestanden haben, wenn er ohnmächtig auf dem Boden lag?

Die alte Frau mit den weißen Locken musterte ihn immer noch mit seltsam strengem Blick. Nicht für eine einzige Sekunde ließ sie ihn aus den Augen und sah dabei aus wie eine Katze auf der Lauer.

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2

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Was hatte Jake sich da nur eingebrockt. Die Aussicht, in ein Internat für Schwererziehbare umziehen zu müssen, hatte die vergangenen zwei Wochen in St. August wie im Fluge vergehen lassen. Entweder war er damit beschäftigt gewesen, bei Mrs Stacy darum zu betteln, hierbleiben zu dürfen, oder er hatte erfolglos versucht, etwas über dieses seltsame Internat herauszufinden, das noch nicht mal eine Internetseite hatte. Und nun war es so weit.

Jake schloss die Zimmertür hinter sich und trat hinaus auf den Flur. Seit Jahren empfing ihn dieselbe morgendliche Dunstwolke aus beißendem Putzmittel – ein Geruch, der vielen englischen Heimkindern vertraut war. Heute empfand er den Geruch zum ersten Mal nicht so scheußlich wie sonst immer.

Auf Jakes Schulter hing das Gewicht seiner gepackten Reisetasche. Irgendwie hatte ihn die Vorstellung immer beruhigt, dass sein ganzer Besitz in eine einzige Tasche passte. Wer kein richtiges Zuhause hatte, reiste besser mit leichtem Gepäck.

Eilig flogen seine Füße über den abgetretenen Linoleumboden des Flures, als ihm die Stimmen von Tyron und seinen zwei Kumpels Harvey und Cliff entgegendrangen. Na super, die hatten ihm jetzt gerade noch gefehlt. Mit Tyron allein wurde Jake meistens noch fertig. Ihm fiel es leicht vorauszusehen, was der Typ im Schilde führte. In Tyrons Gesicht konnte Jake lesen wie in einem Buch. Aber immer, wenn er zusammen mit seinen zwei Lakaien aufkreuzte, passierten schlimme Dinge.

Jake atmete scharf ein und überlegte, wo er sich auf die Schnelle verstecken konnte. Aber es war zu spät. Im nächsten Moment schwang die Tür zum Treppenhaus auf und die drei standen ihm gegenüber.

Breitbeinig, das Kinn zur Brust geneigt und mit einem fiesen Grinsen im Gesicht baute sich Tyron mitten im Gang auf. Hinter ihm standen die zwei anderen und feixten blöd, als sie ihn entdeckten. Jake schob die Schultern zurück und ging weiter, seinen Blick Richtung Linoleumboden gerichtet. Wegrennen machte jetzt keinen Sinn mehr. Er konnte nur hoffen, dass er dieses Treffen einigermaßen überstand. Irgendwie musste er es schaffen, an ihnen vorbeizukommen.

»Jakielein, wohin denn so eilig?«, spöttelte Tyron und drehte sich Beifall heischend zu seinen Kumpels um.

Jake blieb stehen und hob den Kopf. Tyron war zwar muskulöser als alle anderen, dafür aber auch viel kleiner. Wahrscheinlich hatte er gerade deswegen Jake so auf dem Kieker. Jake überragte Tyron um eine ganze Kopflänge und musste somit immer zu ihm hinuntersehen. Nur leider half das gar nichts, wenn es drei gegen einen stand.

Cliff lächelte schief. »Kommst du jetzt in deine Schule für hoffnungslose Fälle?«

»Heute schon?«, fragte Tyron und kam näher. Im nächsten Moment zogen sich seine Augen zu Schlitzen zusammen. Jake erkannte sofort, dass Ärger der schlimmeren Sorte auf ihn wartete. Ein winziger Seitenblick von Tyron zu Cliff ließ Jake instinktiv ausweichen, noch bevor Cliff mit dem Fuß ausholen konnte. Der Tritt ging ins Leere. Im nächsten Moment kam Harvey zögerlich näher und klimperte dabei nervös mit den Augenlidern. Es war so einfach zu sehen, was diese Idioten vorhatten. Harvey zuckte nervös mit den Mundwinkeln und hielt dabei die Luft an und das bedeutete, dass er ihm gleich eine reinhauen würde.

Jake duckte sich und Harvey boxte in die Luft. Leider stand es immer noch drei gegen einen und Jake konnte unmöglich alle gleichzeitig im Auge behalten. Und so fand er sich im nächsten Moment eingeklemmt zwischen Cliff und Tyron wieder.

»Na komm, Jakielein, wir müssen für dich doch noch eine Abschiedsparty feiern!«, grölte Tyron und zog ihn den Flur entlang. Jake wusste, dass jeder Widerstand die drei nur noch mehr anstachelte. Das kannte er schon zur Genüge. Besser, man wartete auf einen günstigen Augenblick und machte sich dann schleunigst aus dem Staub. Vielleicht war er ein hoffnungsloser Fall, aber wenigstens sah er die Typen heute zum letzten Mal.

Sie bugsierten ihn die Treppe hinunter ins Untergeschoss. Dort versetzte Tyron ihm einen so heftigen Stoß, dass Jake stolperte und auf den Boden fiel. Wie beabsichtigt landete er dabei direkt neben der Abstellkammer des Hausmeisters. Jake schwante, was ihm gleich blühte.

Cliff grapschte sich seine Reisetasche, zog den Reisverschluss auf und kippte unter dem Jubel der anderen den gesamten Inhalt auf den Boden. Grölend trampelte Harvey auf den Klamotten und Büchern herum, als wären es Kakerlaken, die er erwischen wollte. Als Jake sein Handy knacken hörte, schloss er kurz die Augen. Verdammter Mist. Seine gesamten Ersparnisse hatte er dafür ausgegeben und jetzt das.

Jake betete, dass den dreien ihre Spielchen bald langweilig werden würden. Tatsächlich tippte Tyron kurz darauf auf sein eigenes Handy. »Oh, leider fällt mir ein, dass ich heute doch keine Zeit für deine kleine Party habe. Du musst leider ohne uns feiern.«

Bevor Jake irgendetwas tun konnte, riss Tyron die Tür der Abstellkammer auf und rief: »Rein mit ihm!«

Sofort zerrten ihn Harvey und Cliff hoch und stießen ihn in die Kammer. Mit dem Fuß kickte Tyron die ausgekippten Sachen zu Jake, dann schlug er die Tür zu und verriegelte sie von außen. »Glaub bloß nicht, dass du vor mir hier rauskommst, du Waschlappen!«

Jake saß im Dunklen. Nur durch die Ritzen fiel schwach das Licht. Er tastete die Wand nach dem Lichtschalter ab. Wie sollte er jetzt wieder hier rauskommen? Dabei hatte er längst seinen Termin bei Mrs Stacy und danach sollte ihn jemand abholen und nach Mount Caravan fahren.

Seine Hand fuhr über den Lichtschalter. Er lauschte auf die Schritte und Stimmen der drei, bis sie verhallten, dann knipste er das Licht an.

Die Metalltür der Kammer reflektierte wie ein Spiegel und so stand Jake einer blassen Version von sich selbst gegenüber. Er strich sich durch sein blondes wirres Haar und stellte fest, dass er dringend mal wieder zum Friseur musste. Um seine leuchtend blauen Augen lagen heute müde Schatten und nicht zum ersten Mal wünschte er sich, er hätte ein bisschen mehr Muskeln abbekommen.

Egal. Mit aller Kraft warf er sich gegen die Tür. Nichts. Sie wackelte nicht einmal. Panik und Wut stiegen gleichzeitig in ihm auf. Das war jetzt schon das zweite Mal, dass die drei ihn in die Abstellkammer einsperrten. Er trommelte gegen die Tür, aber nichts passierte. Klar, er saß ja auch im Untergeschoss fest. Außer dem Hausmeister, der ihn das letzte Mal aus dieser Lage befreit hatte, kam hier nie jemand vorbei.

Wie schrecklich auch immer diese neue Schule werden würde, im Moment war alles besser, als hierzubleiben. Ärgerlich suchte Jake seine verstreuten Sachen zusammen. Das Display seines Handys war natürlich zerbrochen. Er hob es auf und schaltete es ein. Der Monitor glomm schwach, dann flackerte er schwarz. Jake stöhnte. »Na toll.«

Ratlos stopfte er die restlichen Pullover, Hemden und Bücher zurück in seine Tasche und strich sich Haare und Klamotten glatt. Das war ja wohl der mieseste Start in ein neues Leben, den er sich vorstellen konnte. Wenn er in diesem Aufzug in der neuen Schule ankam, war er sowieso gleich wieder der Blödmann vom Dienst. Der Heimjunge mit dem zerbrochenen Handy. Vorausgesetzt, er schaffte es überhaupt noch nach Mount Caravan.

Jake kniff die Lippen aufeinander und suchte die Kammer nach etwas ab, das ihm hier raushelfen konnte. Zwischen Besen, Eimern und Putzmittelkartons entdeckte er nach einigen Minuten eine Kiste mit Schraubenziehern. Jakes Augen wanderten am Türrahmen entlang. Vielleicht könnte er die Scharniere der Tür abschrauben? Es war nicht leicht und er ächzte. Manche von ihnen saßen so fest, dass er schon aufgeben wollte, doch dann endlich löste sich die Tür von der Wand und kippte ihm entgegen.

Hastig warf sich Jake mit seinem ganzen Gewicht dagegen und landete mit einem lauten Rums im Flur. Oh verdammt, das tat weh. Egal, er hatte jetzt keine Zeit, sich zu ärgern. Hauptsache, er war raus aus der Kammer. Also griff Jake nach seiner Reisetasche und rannte los.

Erst vor dem Büro von Mrs Stacy streifte er sich eilig seinen Parka über, klopfte und öffnete die Tür. Er war viel zu spät. Mrs Stacy thronte kerzengerade hinter ihrem Schreibtisch und blätterte in einem Frauenmagazin. Wie immer gab sie statt einer Begrüßung nur ein dumpfes »Hmhm?« von sich.

»Mal wieder die Zeit vergessen, Mr Roberts?« Sie räusperte sich gekünstelt und griff nach einem der Hefter auf dem Stapel vor sich. »Glücklicherweise zählt das ab heute nicht mehr zu meinen Sorgen. Sollen sich diese komischen Mount-irgendwas-Leute mit dir rumärgern. Die sollen ja ganz besonders auf solche Problemfälle wie dich spezialisiert sein. Du bist übrigens der Einzige, den sie uns abnehmen.« Mrs Stacy plapperte wie gewohnt, als würde sie nur mit sich selbst reden. Sie zupfte an ihrer steif gesprühten Altdamenfrisur herum, die auf ihrem Kopf wie ein unbeweglicher Hut saß, und verdrehte die Augen. »Nun gut, schauen wir mal: Jake Roberts, 12 Jahre, Eltern unbekannt, mittelmäßige schulische Leistungen, mehrere Verweise und Rekordhalter im Zuspätkommen.« Sie las stakkatoartig Jakes Daten vor und unterzeichnete die Papiere.

»Mein Zimmernachbar hat immer wieder meinen Wecker ausgestellt …«, murmelte Jake und gab sich alle Mühe, unbekümmert oder zumindest desinteressiert zu wirken.

Mrs Stacy lehnte sich zurück. »Wie auch immer. Hast du dem Ganzen noch etwas hinzuzufügen?« Ihr Gesicht und ihre Haltung waren ebenso unbeweglich wie ihre verklebte Frisur. Kein Wunder, dass sie alle immer nur »Salzsäule« nannten.

Jake schüttelte den Kopf.

Im gleichen Moment begann Mrs Stacys linker Nasenflügel, leicht zu wackeln. Jake seufzte innerlich. Immer dann, wenn sie sich eine ihrer Gemeinheiten zurechtlegte, setzte ihr Nasenzucken ein und er konnte sich schon denken, was jetzt kam. Für gewöhnlich versuchte Jake, ihrem Gezeter schon vorbeugend etwas entgegenzusetzen – noch bevor sie irgendetwas aussprechen konnte. Allerdings handelte er sich damit meistens nur Schwierigkeiten ein und die konnte er heute wirklich nicht gebrauchen.

»Es ist natürlich äußerst bedauerlich, dass du nun schon wieder umziehen musst«, sagte sie mit spitzer Stimme. »Aber wenn wir beide mal ganz ehrlich sind, ist dieses Mount Caravan wohl deine letzte Möglichkeit, noch irgendetwas im Leben zu erreichen. Ich würde dir daher raten, junger Mann, dir in Zukunft lieber die Zunge abzubeißen, als einen weiteren Rauswurf zu riskieren. Niemand bekommt endlos viele Chancen im Leben. Vergiss das nicht.«

Jake atmete tief ein und biss sich so fest, wie er nur konnte, auf die Unterlippe, um nichts zu sagen. Egal, was Mount Caravan für eine Schule war – es war gut, dass dieses Kapitel seines Lebens zu Ende ging. Auf keinen Fall durfte ihm jetzt etwas herausrutschen, das die alte Schreckschraube verärgerte. Zuerst brauchte er seine Abmeldepapiere.

Mrs Stacy verzog krampfartig den Mund. Das war ihre Art zu lächeln. Jake wusste mittlerweile, dass sie damit das Ende ihres Gespräches einleitete. Sie schob ihm die Papiere hin und nickte Richtung Tür.

Jake griff eilig zu und stand auf. »Mach’s gut, Salzsäule«, murmelte er, bevor die Tür hinter ihm zufiel. Ein ärgerliches Schnauben war das Letzte, was Jake von Mrs Stacy zu hören bekam.

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Draußen am Haupteingang von St. August empfing Jake ein kühler Wind. Er streifte sich seine Wollmütze über den Kopf und zog tief die Luft ein, als plötzlich ein Hupen ertönte.

Unter den Stufen des Gebäudes parkte ein Taxi. Ein Mann Mitte vierzig stieg aus und schlurfte auf ihn zu. Jake ging ihm ebenfalls entgegen, unsicher, ob der Taxifahrer wirklich ihn suchte. Man würde ihn abholen und nach Mount Caravan fahren, mehr Informationen hatte er von seiner neuen Schule nicht bekommen. Diese Leute verhielten sich wirklich seltsam. Allein dieser schräge Aufnahmetest … Jake wusste immer noch nicht, was da eigentlich passiert war. All diese Bilder und Zeichen und dann war er einfach umgefallen. Peinlicher ging’s gar nicht.

Jake rieb sich die Arme und stieg die Stufen hinunter, dem Taxi entgegen. Hätte er nicht schon etliche Umzüge hinter sich, wäre er jetzt wahrscheinlich verunsichert und aufgeregt. Aber er war es gewohnt, der Neue zu sein und von vorne anfangen zu müssen. Was sollte dieses Mal schon groß anders sein? Immerhin gab es die winzige Hoffnung auf ein paar weniger bescheuerte Mitschüler und Lehrer.

Der Taxifahrer ging zielstrebig auf ihn zu und tippte zur Begrüßung an sein viel zu breites Basecap. In der Hand hielt er einen Zettel, von dem er etwas ablas.

»J…Jake R…Roberts?«, stotterte er.

Jake nickte, woraufhin der Mann nach seiner Reisetasche griff und ihn hinter sich her zum Wagen winkte. Er öffnete die Tür zur Rückbank und platzierte danach die Tasche im Kofferraum.

»D…D…Dann mal a…anschnallen. Ich soll dich nach M… Mount Caravan fahren.« Er wartete, bis Jake eingestiegen war, dann schloss er die Autotür und nahm auf dem Fahrersitz Platz. Durch den Rückspiegel beobachtete er, wie Jake sich anschnallte, bevor er sich auf die Straße konzentrierte und Gas gab.

»Sind Sie der Chauffeur in Mount Caravan?«, fragte Jake nach einer Weile.

»Wie b…bitte?«, lachte der Mann ungläubig. »I…Ich arbeite für dieses T…Taxiunternehmen.« Er tippte am Armaturenbrett auf seine Fahrerlizenz. Darauf stand Scotts Racing Cab. Offensichtlich nicht an einem weiteren Gespräch interessiert, stellte er das Radio an. Jake lehnte sich in seinen Sitz zurück und sah aus dem Fenster, während irgendein nerviger uralter Popsong plärrte. Routiniert bog der Fahrer auf die Landstraße ein, die Jake aus seinem alten Zuhause fortbrachte. Das Taxi fuhr schnell, aber das sollte Jake nur recht sein.

Bald verblassten die bunten Lichter der Stadt und hinter der Fensterscheibe sauste die Landschaft vorbei. Jake sah hinaus auf das grüne Land unter dem grauen Himmel und fragte sich, wohin er nun kommen würde.

Eine Adresse hatte es nicht auf dem Briefbogen des Internates gegeben. Jake wusste nur, dass es mitten in den Schottischen Highlands lag, irgendwo im Nirgendwo. Sie würden also noch eine Weile fahren und nervige Oldies hören.

Alles wäre heute sicher ganz anders abgelaufen, wenn er wie die meisten anderen Eltern hätte. Dann würde sich niemand trauen, ihn einfach in ein Taxi zu stecken und ihn ohne weitere Erklärung irgendwohin zu verfrachten. Leider wusste Jake nicht mal, wo oder wer seine Eltern überhaupt waren. Die beiden galten offiziell als vermisst, verschollen, was auch immer. Sie waren einfach verschwunden, als er drei Jahre alt war. Er hatte keine Ahnung, ob sie etwas gut oder schlecht in ihrem Leben gemacht hatten oder ob er einmal so werden wollte wie sie. Wusste man nicht, woher man kam, fiel es einem auch schwerer zu entscheiden, wohin man gehören wollte.

Als Jake noch klein war, hatte er eine Weile bei seiner Oma Edith gewohnt. Seiner kleinen schusseligen Oma, die am liebsten Witze erzählte und dabei immer das Ende vergaß. In beinahe jeder Erinnerung mit ihr sah er sich mit einem Buch auf ihrem Schoß sitzen. Vielleicht hatte sie ihm damals, als sie noch lebte, von seinen Eltern erzählt? Sicher hatte sie gewusst, wohin sie verschwunden waren oder zumindest, warum sie ihn bei ihr zurückgelassen hatten. Aber er war so jung gewesen, dass er sich heute an keinen Satz zu seinen Eltern erinnern konnte.

Jake lehnte den Kopf an die Fensterscheibe. Ob er wohl diesmal ein eigenes Zimmer bekommen würde? Er drückte sich selbst die Daumen und kramte ein Sandwich aus seiner Jackentasche, das er sich am Morgen vorsorglich eingepackt hatte. Er biss hinein und schloss die Augen.

*

Es war bereits dunkel, als Jake aufwachte. Er rieb sich die Augen und schaute auf die Straße hinaus. Rechts und links ragten hohe Bäume in den Abendhimmel hinauf.

»Wo sind wir hier?«, fragte Jake und streckte seine müden Glieder. Der Taxifahrer hatte anscheinend das Radio ausgestellt und fuhr langsamer.

»W…Wir sind gleich d…da«, antwortete er und lächelte ihn durch den Rückspiegel an. »Noch fünfzig Meter.«

Auf dem dunklen Asphalt leuchteten kreisrund die Scheinwerfer. Rechts und links der Landstraße befand sich ein Wald. Ein dichter dunkler Wald. Egal, in welche Richtung Jake sich drehte, er sah Bäume, Bäume und noch mehr Bäume. Er starrte ungläubig aus dem Fenster und ließ die Dunkelheit an sich vorbeiziehen. Hier war doch aber gar nichts. Was für eine Schule sollte hier sein?

Doch dann erhaschte Jake aus dem Augenwinkel einen Schatten am Waldrand und zuckte zusammen. Stand da jemand? Ruckartig bremste der Taxifahrer, der sich genau wie Jake erschreckt hatte. Er drehte sich zu ihm um und sah durch die Rückscheibe hinaus. »H…Hier ist es. S…Sie h…haben gesagt, dass du an der L…Landstraße abgeholt wirst.« Der Taxifahrer legte den Rückwärtsgang ein und fuhr zu der Stelle, an der sie die dunkle Person gesehen hatten.

Auf der gesamten Straße gab es keine Laterne, kein Schild, geschweige denn einen Weg oder ein Tor, das zu einem Gebäude führte. Jake spähte durchs dichte Gestrüpp. Der Mann musste sich geirrt haben. Warum passierte eigentlich immer nur ihm dieser ganze verrückte Mist?

»Das kann nicht sein«, erklärte Jake entnervt. »Hier ist doch gar kein Internat. Sind Sie sicher, dass Sie zur richtigen Adresse gefahren sind? Mount Caravan ist eine Schule, kein Nationalpark.«

»D…Doch, hier m…muss es sein.« Der Taxifahrer nickte und schaute gemeinsam mit Jake durchs Fenster. Neben dem Wagen stand nun eine kleine Gestalt und klopfte an die Seitenscheibe.

Ein Mädchen mit schwarzen Haaren schaute zu ihnen in den Wagen hinein. Der Fahrer nickte ihr zu und zog einen Zettel aus seiner Hemdtasche, den er auseinanderfaltete und prüfend überflog. »Die K…Kilometeranzahl stimmt«, murmelte er. »Ich s…soll dich hier a…absetzen, das w…war der Sch…Sch…Schulleiterin sehr wichtig.« Zum ersten Mal lächelte der Taxifahrer und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Dann stieg er aus und begrüßte das Mädchen, indem er sich erneut an sein Basecap tippte. »Wartest du auf Jake R…Roberts?«, fragte er.

Das Mädchen nickte, ohne ein Wort zu sagen, und sah noch einmal prüfend zu Jake, bevor sie ein paar Geldscheine aus ihrer Jackentasche zog, die sie dem Mann reichte. Jake schnallte sich ebenfalls ab und öffnete die Wagentür. Er folgte dem Fahrer um das Auto herum zum Kofferraum.

Echt nicht zu fassen, dachte er, während er auf die endlosen Baumreihen neben der Straße starrte. Wie dunkle Wände ragten sie vor ihm auf. Selbst in einiger Entfernung konnte er keinen Weg entdecken, der zu einem Haus führte.

Der Taxifahrer lächelte ein zweites Mal und drückte ihm seine Tasche in die Arme. »M…mach’s gut, J…Junge!« Er griff erneut an sein Basecap. Diesmal zum Abschied.

Jake hielt seine Tasche vor sich und sah ihm zu, wie er wieder einstieg und den Motor startete. Das Geräusch erschien ihm jetzt fast ohrenbetäubend, so still und einsam wirkte alles ringsherum. Fassungslos sah er zu, wie das Taxi und die Lichter der Scheinwerfer hinter der nächsten Kurve verschwanden. War das ein schlechter Witz?

Verdattert stand Jake auf der Landstraße und sah zu dem schweigsamen Mädchen hinüber. Sie trug keine Schuluniform, sondern Jeans und Turnschuhe und darüber einen dunkelblauen Anorak. Immerhin sah sie ziemlich normal aus, was schon mal ein gutes Zeichen war.

Sie knipste eine Taschenlampe an und lief damit in seine Richtung. Ihr schwarzer Pferdeschwanz wippte beim Gehen von einer Seite zur anderen. Erst jetzt bemerkte Jake den Hund, der neben dem Mädchen herging. Er war so groß, dass er ihr bis zu den Oberschenkeln reichte, und sein Fell so schwarz, dass Jake ihn in der Dunkelheit erst gar nicht gesehen hatte. Er knurrte leise und Jake machte instinktiv einen Schritt rückwärts.

»Hallo Neuer«, ertönte da endlich ihre Stimme. »Willkommen in Mount Caravan. Ich bin Ava und das hier ist Ruby.« Sie zeigte auf das knurrende Vieh. »Keine Sorge, Ruby mag Fremde nicht so gerne. Sie beißt aber nur, wenn ich es ihr sage.« Ein kleines Grinsen zog sich über Avas Gesicht und sie winkte ihn zu sich.

Jake lächelte verkrampft zurück und machte vorsichtige Schritte auf die beiden zu. Ava war viel kleiner als er, trotzdem vermutete er, dass sie im gleichen Alter waren.

Es war kalt und mittlerweile schienen die Geräusche wieder wie ausgeschaltet, zumindest wenn man das Knurren von diesem Monsterhund nicht mitzählte. Jake warf sich seine Tasche über die Schulter und zog den Reißverschluss seines Parkas hoch.

»Und hier ist wirklich Mount Caravan?«, fragte er. »Hier im Wald?«

»Ja«, gab Ava zurück. »Da wundert sich jeder am Anfang drüber. Komm einfach mit, dann wirst du es sehen. Ich bring dich zu Mrs Claus.«

Sie winkte ihn durch die Bäume hindurch. Jake achtete darauf, hinter dem Hund zu gehen, so ganz geheuer war ihm das Tier nämlich immer noch nicht …

… genauso wie dieses Mädchen, der stockdüstere Wald und überhaupt alles an diesem seltsamen Mount Caravan.

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Der Wald schien kein Ende zu nehmen und es sah nicht so aus, als ob sich hier ein Förster um umgekippte Baumstämme oder Ähnliches kümmern würde. Durch kniehohes Geäst stiegen sie immer tiefer zwischen den Stämmen in die Dunkelheit hinein.

Jake strengte sich an, mit Ava Schritt zu halten. »Wieso gibt es hier keine Straße, die zur Schule führt?« Oder Schilder oder Zäune oder überhaupt irgendetwas, das an Zivilisation erinnerte.

»Es gibt so einen rumpligen Sandweg, aber durch den Wald geht es schneller. Außerdem möchte Mrs Claus nicht, dass die Taxifahrer da langfahren.«

Jake runzelte die Stirn. »Wieso nicht?«

»Wart’s einfach ab«, antwortete Ava nur. »Man braucht ein paar Tage, bis man es versteht.«

Was war das denn für eine Antwort? Das klang ja fast so, als wären sie auf dem Weg in eine geschlossene Anstalt, von der niemand etwas wusste und zu der nicht mal die Taxen vorfuhren. In Jakes Kopf fingen langsam, aber sicher die Warnsignale an zu läuten, aber was sollte er schon machen?

Er konzentrierte sich auf seine Schritte, um nicht über Äste zu stolpern oder in Erdlöchern zu versinken. Doch bevor er weiter darüber nachgrübeln konnte, gelangten sie zu einer Lichtung.

Endlich leuchteten ihnen Lichter durch die Bäume entgegen. Ava blieb stehen und wartete darauf, dass Jake sie einholte. Neben ihr knurrte Ruby und sah ebenfalls zu ihm nach hinten.

»Na dann: willkommen! Nach Ihnen, Mr Roberts.« In Avas Blick lag etwas Amüsiertes, während Jake nur ungläubig die weitläufige Umgebung fixierte und stehen blieb.

Waren das … Wohnwagen?