9783863930714_1024.jpg

John Stuart Mill

Über Sozialismus

Mill gilt als wichtiger Vertreter liberalen politischen Denkens. Dass sich bei ihm aber auch wesentliche Motive republikanischen, ja sogar sozialistischen Denkens finden, die sich dieser gradlinigen Zuordnung entziehen, wird bislang noch häufig übersehen.

In seiner Schrift „Über Sozialismus“ erweist sich Mill als radikaler Kritiker einer grundlegenden Institution der bürgerlichen Gesellschaft: des Privateigentums. Mill setzt sich in diesem Buch, das unvollendet geblieben ist und erst fünf Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurde, mit den verschiedenen Varianten der zeitgenössischen Kapitalismuskritik auseinander und stellt die soziale Ungleichheit in den Vordergrund seiner Kritik. Ausführlich schildert Mill die soziaslistischen und kommunistischen Strömungen seiner Zeit und diskutiert deren Reform- und Revolutionspläne. In seiner eigenen Sozialismuskonzeption verbindet Mill Gedanken des genossenschaftlichen Sozialismus mit liberalen Grundrechten.

Aus heutiger Sicht ist der Text von Mill vor allem wegen seiner überzeugenden Kritik am klassischen liberalen Eigentumsverständnis sowie wegen seiner experimentellen Offenheit gegenüber grundlegenden eigentumsrechtlichen Reformvorhaben lesenswert.

„Über Sozialismus“ wurde von Sigmund Freud 1880 mit Sinn für sprachliche Feinheiten und mit einer Portion Sympathie flüssig übersetzt und erscheint erstmals als separate Ausgabe.

Hubertus Buchstein, seit 1998 Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald. Gastprofessuren in New York und Tampere. Neuere Veröffentlichungen zu: Rechtsextremismus im ländlichen Raum, deutsche Sozialwissenschaftler im Exil nach 1933, Losverfahren in der Demokratie sowie zur Politischen Theorie von John Stuart Mill.

Sandra Seubert, seit 2009 Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. 2000/2001 Gastwissenschaftlerin an der New School for Social Research in New York. Neuere Veröffentlichungen zu: Transformationen des Bürgerschaftlichen, Grenzverschiebungen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit sowie zur Politischen Theorie von John Stuart Mill.

John Stuart Mill

Über Sozialismus

In der Übersetzung von Sigmund Freud

Herausgegeben und mit einem Essay
„John Stuart Mill und der Sozialismus“
von Hubertus Buchstein
und Sandra Seubert

CEP Europäische Verlagsanstalt

Inhalt

Vorbemerkung
Helen Taylor

Einleitung

1. Die Einwürfe der Sozialisten gegen die bestehende Gesellschaftsordnung

2. Prüfung der sozialistischen Vorwürfe gegen die gegenwärtige Gesellschaftsordnung

3. Die Schwierigkeiten des Sozialismus

4. Der Begriff des Privateigentums ist kein fester, sondern ein wandelbarer

John Stuart Mill und der Sozialismus
Hubertus Buchstein und Sandra Seubert

Personenregister

Stichwortverzeichnis

Vorbemerkung1

Von dem Ausmaß beeindruckt, in welchem – selbst in den vorausgegangenen zwanzig Jahren, in denen die Welt so sehr mit anderen Dingen beschäftigt war – sich die sozialistischen Ideen von spekulativen Denkern unter den Arbeitern aller zivilisierten Länder verbreiten konnten, fasste Mill im Jahr 1869 den Entschluss, ein Buch über den Sozialismus zu verfassen. Da er davon überzeugt war, dass die unabwendbaren Entwicklungstendenzen der modernen Gesellschaft dieses Thema immer weiter nach oben auf die Tagesordnung rücken würden, war es für ihn von immensem praktischem Interesse, diese Ideen einer eingehenden und vorurteilsfreien Prüfung zu unterziehen. Darüber hinaus wollte er der Frage nachgehen, wie diese spekulativen Entwürfe auf die aktuellen Verhältnisse übertragen werden könnten, ohne damit gegenwärtiges Leiden zu verlängern und ohne gleichzeitig unnötige gesellschaftliche Unruhen heraufzubeschwören. Daher plante er eine Arbeit zu verfassen, in der der gesamte Themenkomplex erschöpfend, Punkt für Punkt erörtert werden sollte; und die hier abgedruckten vier Kapitel sind die ersten Entwürfe, die das Fundament des geplanten Werkes bilden sollten. Diese Kapitel wären möglicherweise, wenn ihr Verfasser das komplette Buch geschrieben und – wie es seine Gewohnheit war – danach noch einmal überarbeitet hätte, in einer anderen Reihenfolge erschienen; auch wären sie möglicherweise in verschiedene andere Teile eingebaut worden. Es geschah deshalb nicht ohne Zögern, dass ich dem drängenden Wunsch des Herausgebers dieser Zeitschrift nachgab, diese Kapitel der Welt zugänglich zu machen; aber ich habe der Bitte schließlich deswegen entsprochen, da sie für mich einen großen intrinsischen Wert besitzen und zugleich eine praktische Anwendung im Hinblick auf die Probleme bieten, die heute mit aller Macht in die Öffentlichkeit drängen. Die Kapitel werden, so bin ich überzeugt, die Reputation seines Verfassers in keiner Weise schmälern, sondern vielmehr als ein Beispiel für den geduldigen Fleiß stehen, mit der eine gute Arbeit getan wird.

Januar 1879

Helen Taylor


1 Anm. d. Hg.: Diese ‚Preliminary Notice‘ stellte Helen Taylor, John Stuart Mills Adoptivtochter, als Herausgeberin des posthum veröffentlichten Manuskripts, dem Text als redaktionelle Vorbemerkung der Erstveröffentlichung in der ‚Fortnightly Review‘ voran. Die Übertragung der Vorbemerkung ins Deutsche erfolgte durch die Herausgeber.

Einleitung2

In dem gewaltigen Gemeinwesen jenseits des atlantischen Ozeans, welches das mächtigste Land der Erde nahezu schon ist und in Bälde unzweifelhaft sein wird, herrscht das allgemeine Männer-Stimmrecht. Auf demselben Grunde ruht, seit 1848, das politische Leben Frankreichs und nunmehr auch des deutschen Bundesstaates, wenngleich nicht aller Einzelstaaten Deutschlands. In Großbritannien ist die Ausdehnung des Stimmrechts noch nicht ganz so weit gediehen; aber die letzte Reformakte3 hat für einen großen Teil derjenigen, die von Wochenlohn leben, die Schranken der Verfassung so weit geöffnet, dass sie, sobald und so oft sie als eine vereinte Klasse auftreten und die ihnen eingeräumte Macht für ein gemeinsames Ziel aufzubieten gewillt sind, die Gesetzgebung, wenn auch nicht völlig beherrschen, so doch wesentlich beeinflussen müssen. Gerade Leute dieser Klasse sind es nun, von denen die höheren Stände zu sagen pflegen, dass ihnen am Wohlergehen des Landes nichts gelegen sei, weil sie dabei nichts zu verlieren haben. In Wahrheit haben sie jedoch selbstverständlicherweise dabei am meisten zu verlieren, da ihr tägliches Brot von dem Gedeihen des Landes abhängt. Nur das ist richtig, dass sie durch kein eigenes Sonderinteresse dafür eingenommen – wir dürfen vielleicht sagen, bestochen – sind, für die Erhaltung des Eigentums in seiner gegenwärtigen Gestalt, oder gar für die Erhaltung der Ungleichheiten in der Verteilung des Eigentums einzustehen. Soweit ihre Macht jetzt reicht oder späterhin reichen mag, werden die das Eigentumsverhältnis regelnden Gesetze ihre Stütze in Erwägungen allgemeiner Natur, in dem Urteil über die Zweckdienlichkeit derselben für das allgemeine Beste, nicht in rein persönlichen Beweggründen der herrschenden Klassen zu suchen haben.

Es scheint mir, dass die Bedeutung dieses Umschwungs noch keineswegs vollständig gewürdigt worden ist, weder von denen, welche unsere letzte Verfassungsreform durchgeführt, noch von jenen, welche sich ihr widersetzt haben. Um die Wahrheit zu sagen: der Scharfblick der Engländer für die Tragweite politischer Neuerungen hat sich in letzter Zeit einigermaßen abgestumpft. Sie haben viele Neuerungen mit angesehen, welche, solange sie noch in Aussicht standen, zu großen Erwartungen – guter sowohl als schlimmer Art – Anlass gaben, während der wirkliche Erfolg in dem einen wie in dem anderen Betracht hinter jenen Voraussagungen weit zurück blieb. Dies hat eine Vorstellung von der Art erzeugt, als läge es in der Natur politischer Neuerungen, die an sie geknüpften Erwartungen nicht zu erfüllen, und man ist, ohne sich davon genaue Rechenschaft zu geben, in den Glauben verfallen, dass solche Neuerungen, wenn sie ohne eine gewaltsame Revolution erfolgen, den gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht erheblich oder dauernd zu verändern vermögen. Diese Auffassung beruht jedoch auf einer oberflächlichen Beurteilung der Vergangenheit sowohl als der Zukunft. Die mannigfachen Reformen der letzten zwei Generationen sind an schwerwiegenden Folgen mindestens so fruchtbar gewesen, wie man vorhergesagt hatte. Die Voraussagen waren allerdings oft irrig in Bezug auf die Raschheit, mit der diese Erfolge eintraten, und selbst mitunter in Bezug auf deren Natur. Wir belächeln jetzt die eitlen Erwartungen derjenigen, die da meinten, dass die Emanzipation der Katholiken Irland beruhigen oder mit der englischen Herrschaft aussöhnen werde. Als die ersten zehn Jahre nach der Reformakte von 1832 verstrichen waren, hielten wenige mehr die Meinung aufrecht, dass dieselbe alle bedeutenden praktischen Übelstände beseitigen würde, oder dass sie dem allgemeinen Stimmrecht das Tor geöffnet hätte. Aber die weiteren fünfundzwanzig Jahre ihrer Wirksamkeit haben ihren mittelbaren Ergebnissen, welche weit gewichtiger sind als ihre unmittelbaren Folgen, zu einer reichen Entfaltung verholfen. Plötzliche Wirkungen sind im geschichtlichen Leben gewöhnlich von oberflächlicher Art. Ursachen, welche tief in die Wurzeln künftiger Ereignisse eindringen, bringen den bedeutendsten Teil ihrer Wirkung nur allmählich hervor und haben daher Zeit, mit der gewohnten Ordnung der Dinge zu verschmelzen, ehe die allgemeine Aufmerksamkeit sich auf die Veränderungen lenkt, die sie hervorrufen. Daher sind zur Zeit, da die bewirkten Veränderungen klar zu Tage liegen, oberflächliche Beobachter oft nicht mehr im Stande, deren Verknüpfung mit der Ursache zu erkennen. Die entfernteren Folgen einer neuen politischen Tatsache werden selten als solche erkannt und richtig beurteilt, ausgenommen in dem Falle, wenn sie schon vorher ins Auge gefasst worden sind.

Diese rechtzeitige Würdigung wird uns besonders leicht in Betreff der Tragweite der Wandlung, welche die Reformakte von 1867 in unseren Einrichtungen hervorgebracht hat. Der große Machtzuwachs, welchen diese Erweiterung des Wahlrechts den arbeitenden Klassen gewährt hat, ist von dauernder Art; die Umstände, welche dieselben bisher veranlasst haben, von dieser Macht einen sehr beschränkten Gebrauch zu machen, sind ihrer Natur nach nur von zeitweiliger Geltung. Selbst der unaufmerksamste Beobachter muss wissen, dass die arbeitenden Klassen politische Ziele besitzen und voraussichtlich auch besitzen werden, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Arbeiter am Herzen liegen, und in Bezug auf welche sie – mit Recht oder Unrecht – glauben, dass die Interessen und Ansichten der anderen mächtigen Klassen den ihren zuwiderlaufen. So sehr sie auch für den Augenblick in der Verfolgung dieser Ziele durch den Mangel einer politischen Organisation, durch innere Zwistigkeiten oder durch den Umstand aufgehalten sein mögen, dass sie bisher ihre Wünsche in keine hinreichend bestimmte praktische Form gekleidet haben, so ist es doch so gewiss, als irgendetwas in politischen Dingen sein kann, dass sie binnen kurzer Zeit Mittel und Wege finden werden, ihre gesamte Macht als Wähler in wirksamer Weise der Förderung ihrer gemeinsamen Ziele dienstbar zu machen. Und wenn sie dies tun, werden sie nicht in der planlosen und unzweckmäßigen Weise vorgehen, wie sie Leute kennzeichnet, die den Mechanismus der Gesetze und der Verfassung nicht zu benützen verstehen; auch werden sie dabei nicht bloß einem rohen nivellierenden Triebe gehorchen. Die Presse, das Vereins- und Versammlungswesen, und die Entsendung einer möglichst großen Anzahl von Männern ins Parlament, welche für die Bestrebungen der arbeitenden Klassen in Pflicht genommen sind, – dies sind die Werkzeuge, derer sie sich bedienen werden. Die politischen Zielpunkte selbst werden durch scharf ausgeprägte politische Doktrinen bestimmt werden; denn die politischen Fragen werden gegenwärtig vom Standpunkt der arbeitenden Klassen aus in wissenschaftlicher Weise behandelt, und Ansichten, welche zu Gunsten der besonderen Interessen dieser Klassen ausgestellt wurden, werden jetzt zu Systemen und Glaubenslehren verarbeitet, welche, mit demselben Rechte wie die Lehren älterer Denker, einen Platz im Bereiche der politischen Philosophie für sich in Anspruch nehmen. Es ist auf das dringendste zu wünschen, dass alle denkenden Menschen sich beizeiten die Frage vorlegen, wie diese volkstümlichen Glaubenssysteme wahrscheinlicherweise beschaffen sein werden, und dass sie auf jeden einzelnen Artikel derselben das Licht der gründlichsten Untersuchung und Erörterung fallen lassen, damit, wenn der rechte Augenblick gekommen ist, alles Richtige an ihnen, wenn möglich, einmütig angenommen, und alles Unrichtige ebenso einmütig verworfen werde, und damit ein feindlicher Zusammenstoß – physischer oder auch nur moralischer Art – zwischen dem Alten und dem Neuen vermieden, und die besten Bestandteile beider zu einem verjüngten Aufbau der Gesellschaft vereinigt werden können. Bei der Langsamkeit, mit welcher sich gewöhnlich solche großen sozialen Wandlungen, die nicht durch physische Gewalt herbeigeführt werden, vollziehen, haben wir noch einen Zeitraum von ungefähr einem Menschenalter vor uns, von dessen gehöriger Verwendung es abhängt, ob die Anpassung der sozialen Einrichtungen an den veränderten Zustand der menschlichen Gesellschaft das Werk weiser Voraussicht oder das Ergebnis des Widerstreites voneinander entgegengesetzten Vorurteilen werden soll. Die Zukunft des Menschengeschlechtes wird ernstlich bedroht sein, wenn man zulässt, dass die Entscheidung so gewaltiger Fragen zwischen der unwissenden Neuerungssucht und dem unwissenden Widerstreben gegen jede Neuerung ausgefochten werde.

Die Untersuchung aber, welche jetzt noch nötig ist, muss bis auf die allerobersten Prinzipien der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung zurückgehen, denn die fundamentalen Lehren, welche früheren Generationen als unbestreitbar galten, werden nunmehr in Zweifel gezogen. Bis auf unser Zeitalter ist die Institution des Eigentums in der Form, wie sie von Alters her auf uns gekommen ist, von Niemandem außer von einigen wenigen spekulativen Denkern ernstlich in Frage gestellt worden; denn die Konflikte der Vergangenheit haben sich zwischen Klassen abgespielt, welchen insgesamt an der Erhaltung der bestehenden Eigentumsordnung gelegen war. Damit ist es nun zu Ende. Wenn Klassen eine Stimme bei der Erörterung haben, welche so viel wie gar kein Eigentum besitzen, und welche an dieser Institution bloß insofern interessiert sind, als sie dem allgemeinen Wohle dient, werden diese niemals zugeben, dass irgendein Prinzip als ausgemacht hingestellt werde, – am wenigsten das des Privateigentums, dessen Rechtmäßigkeit und Ersprießlichkeit von vielen Denkern, die sich auf den Standpunkt der arbeitenden Klassen stellen, bestritten wird. Diese Klassen werden sicherlich verlangen, dass der Gegenstand in allen seinen Teilen neuerdings von Grund auf erörtert werde, dass alle Vorschläge, diese Einrichtung zu beseitigen, und alle in Aussicht genommenen Modifikationen derselben, welche ihrem Interesse günstig zu sein scheinen, die eingehendste Prüfung und Berücksichtigung erfahren, bevor man sich dafür entscheidet, dass es beim Alten sein Bewenden haben müsse.

Soweit England in Betracht kommt, haben die arbeitenden Klassen bis jetzt nur gegen gewisse Außenfestungen des Systems des Privateigentums feindselige Gesinnungen gezeigt. Viele verlangen, dass das unbeschränkte Recht der Vertragsschließung, welches eines der gewöhnlichen Attribute des Privateigentums ist, für alle Fragen aufgehoben werde, die sich auf die Arbeitslöhne beziehen. Die anspruchsvolleren unter ihnen stellen in Abrede, dass der Boden ein geeigneter Gegenstand privater Aneignung sein könne, und haben eine Agitation für die Zurücknahme desselben durch den Staat ins Werk gesetzt. Dazu kommt die Anklage gegen den sogenannten „Wucher“, welche einige der Agitatoren in ihren Kundgebungen erheben, ohne aber irgend genauer zu bestimmen, was sie darunter verstehen; auch scheint dieser Ruf nicht heimischen Ursprungs zu sein, sondern dem kürzlich durch die Arbeiterkongresse und die Internationale mit den Sozialisten des Kontinents angebahnten Verkehr zu entstammen; denn diese erklären sich gegen alle von Geld genommenen Zinsen und bestreiten die Rechtmäßigkeit jedes Einkommens, das in irgendwelcher Form von Eigentum allein, ohne Arbeit, abgeleitet ist. Es sind bis jetzt keine Anzeichen dafür vorhanden, dass diese Lehre in Großbritannien erheblichen Anklang gefunden hätte, aber der Boden ist für die Aufnahme solcher Saat vortrefflich vorbereitet, und diese wird von jenen Ländern her weithin ausgestreut, in denen umfassende allgemeine Theorien und vielverheißende Entwürfe nicht Misstrauen erregen, sondern für die Popularität einer Bewegung unerlässlich sind. Ich denke dabei an Frankreich, Deutschland und die Schweiz, in welchen Ländern eigentumsfeindliche Lehren im weitesten Sinne des Wortes eine beträchtliche Verbreitung in den Kreisen der Arbeiter gefunden haben. Dort nennen sich fast alle diejenigen, welche eine Reform der Gesellschaft zu Gunsten der arbeitenden Klassen anstreben, Sozialisten, eine Bezeichnung, unter welcher Bestrebungen von sehr verschiedener Natur zusammengefasst und zusammengeworfen werden, welche aber doch zum Mindesten die Geneigtheit zu einer Umgestaltung des Privateigentums in sich schließt, die in der Regel einer Abschaffung desselben nahekommt. Und man dürfte wahrscheinlich finden, dass selbst in England die hervorragenderen und eifrigeren Arbeiterführer gewöhnlich im Stillen Sozialisten der einen oder der anderen Färbung sind, obgleich sie ihre praktischen Bemühungen näher liegenden Zielen zuwenden und zufrieden sind, sich mit ihren extremen Theorien so lange zurückzuhalten, bis dieselben Prinzipien in kleinerem Maßstabe erprobt sind; denn sie besitzen, gleich den meisten am öffentlichen Leben teilnehmenden Engländern, ein besseres Verständnis als ihre festländischen Genossen für die Unmöglichkeit, große und dauernde Wandlungen in den fundamentalen Ideen der Menschheit durch einen Handstreich zu bewirken. Solange dies der Charakter der englischen Arbeiter bleibt – wie es der Charakter der Engländer im Allgemeinen ist – steht nicht zu befürchten, dass sie blindlings auf die unbesonnenen Extravaganzen einiger auswärtiger Sozialisten eingehen werden, welche – selbst in der nüchternen Schweiz – öffentlich ihre Geneigtheit aussprechen, mit dem bloßen Umsturz zu beginnen und den darauf folgenden Wiederaufbau sich selbst zu überlassen; und unter Umsturz verstehen sie nicht bloß die Vernichtung jedweder Art von Regierung, sondern desgleichen die Konfiskation allen Eigentums, welches den Händen der Besitzer entzogen und zum allgemeinen Besten verwendet werden soll. In welcher Weise aber dieses zu geschehen habe, darüber, so meinen sie, werde man späterhin eine Entscheidung treffen können.

Es ist eines der merkwürdigsten Zeichen der Zeit, dass man solch einer Lehre in einer öffentlichen Zeitschrift, dem Organ einer Arbeiterverbindung (dem in Neuchâtel erscheinenden Blatt La Solidarité) begegnen kann. Von den Führern der englischen Arbeiter – deren Delegierte auf den Kongressen von Genf und Basel zu dem Quantum von gesundem Menschenverstand, welches daselbst anzutreffen war, weitaus die stärkste Beisteuer geliefert haben – steht es nicht zu erwarten, dass sie vorsätzlich mit der Anarchie beginnen werden, ohne sich eine Meinung darüber gebildet zu haben, welche neue Form der Gesellschaft an die Stelle der alten treten solle. Aber es ist klar, dass wir alle ihre etwaigen Vorschläge nur dann richtig würdigen und die Gründe unseres Urteils nur dann in einer für die Masse des Volkes überzeugenden Weise darlegen können, wenn wir zuvor die beiden gegnerischen Theorien – die des Sozialismus und die des Privateigentums – durchmustert haben, da wir einer von beiden notwendigerweise die Mehrzahl der Prämissen für unsere Untersuchung entnehmen müssen. Bevor wir daher mit Nutzen daran gehen können, diese Reihe von Fragen im Einzelnen zu erörtern, wird es rätlich sein, die allgemeineren Fragen, welche der Sozialismus aufwirft, von Grund auf zu prüfen. Bei dieser Prüfung sollten wir uns von jedem feindseligen Vorurteil fernhalten. Denn als so unwiderleglich auch die Argumente zu Gunsten der Gesetze des Privateigentums denen gelten mögen, in deren Augen sie den doppelten Zauber besitzen, welchen das unvordenkliche Herkommen und das persönliche Interesse verleiht, so ist doch nichts natürlicher, als dass sie einem Arbeiter, welcher über politische Dinge nachzudenken begonnen hat, in ganz anderem Lichte erscheinen. Nachdem die vom Glück minder begünstigten Klassen von „volljährigen Männern“ nach harten Kämpfen in einigen Ländern vollständig, in anderen nahezu die Grenze erreicht haben, über welche hinaus, wenigstens für sie, kein weiterer Fortschritt in Bezug auf rein politische Rechte möglich ist, sollten sie sich da nicht die Frage stellen, ob denn damit aller Fortschritt zu Ende sein müsse? Trotz alledem, was für die Ausdehnung freiheitlicher Rechte bisher geschehen ist und voraussichtlich noch geschehen wird, gibt es doch eine kleine Minderzahl, die zu großem Reichtum geboren ist, während die Mehrzahl zu einer Dürftigkeit bestimmt ist, die durch den Kontrast nur noch verschärft wird. Die große Mehrheit der Menschen ist zwar nicht mehr aufgrund der Gesetze geknechtet oder in einem Zustand von Abhängigkeit gehalten, wohl aber aufgrund ihrer Armut: sie sind immer noch an einen Ort, an eine Beschäftigung und an den beherrschenden Willen eines Arbeitgebers gekettet; und der Zufall der Geburt schließt sie sowohl von den Genüssen als von den intellektuellen und moralischen Vorteilen aus, welche andere ohne eigene Anstrengung und unabhängig von jedem Verdienste ererben. Mit Recht halten dies die Armen für ein Übel, kaum geringer als irgendeines, mit welchem die Menschheit bisher gerungen hat. Ist es ein notwendiges Übel? Dafür geben es diejenigen aus, welche es nicht fühlen, welche in der Lotterie des Lebens die großen Preise gewonnen haben. Aber auch die Sklaverei, der Despotismus, alle Vorrechte der Oligarchie wurden für notwendig erklärt. Alle die stufenweisen Errungenschaften der ärmeren Klassen, welche dieselben teils den edleren Gefühlen der Machthaber, teils ihrer Furcht verdanken, und zum Teil mit Geld erkauft oder als Gegenleistung für die Unterstützung erlangt haben, welche sie einem Teil der Mächtigen in seinen Streitigkeiten mit einem anderen gewährten, hatten von vornherein die stärksten Vorurteile gegen sich; aber ihre Erlangung war ein Zeichen der Erstarkung der unteren Klassen, mithin ein Mittel weiteren Machterwerbes; sie verschaffte diesen Klassen daher einen gewissen Anteil an dem Ansehen, das die Macht genießt, und rief eine entsprechende Wandlung in dem Urteil der Gesellschaft hervor. Alle Rechte, deren Erwerbung ihnen geglückt war, wurden nun als ihr rechtmäßiges Eigentum betrachtet; derjenigen hingegen, die sie noch nicht erlangt hatten, galten sie immer noch als unwürdig. Daher haben die Klassen, welche das herrschende soziale System in eine untergeordnete Stellung versetzt, wenig Grund, irgendeinem der Sätze Glauben zu schenken, welche dieses selbige System als Prinzipien ausgestellt haben mag. Wenn man in Betracht zieht, wie wunderbar geschmeidig sich die Meinungen der Menschen erwiesen haben, wie sie immer darauf abzielten, das Bestehende zu heiligen und das noch nicht Bestehende entweder für gemeingefährlich oder für unausführbar zu erklären, da darf man wohl die Frage aufwerfen, welche Gewähr denn jene Klassen dafür besitzen, dass es mit der Unterscheidung zwischen Arm und Reich eine andere Bewandtnis habe, dass dieselbe auf einer zwingenderen Notwendigkeit beruhe als jene anderen altherkömmlichen Tatsachen, welche jetzt, da sie beseitigt sind, selbst von jenen verurteilt werden, welche ehemals aus ihnen Nutzen zogen. Die bloße Versicherung einer beteiligten Partei kann die Frage nicht entscheiden. Die arbeitenden Klassen haben das Recht zu verlangen, dass das ganze Gebiet der sozialen Einrichtungen von neuem geprüft und jede Frage so erwogen werde, als ob sie jetzt zum ersten Male aufgeworfen würde, wobei man nie vergessen darf, dass es nicht jene zu überzeugen gilt, welche ihr Lebensbehagen und ihr Ansehen dem gegenwärtigen Systeme verdanken, sondern jene, welche ohne jedes Sonderinteresse nur von dem Streben nach voller Gerechtigkeit und nach Förderung des Gesamtwohls beseelt sind. Es sollte das Ziel der Untersuchung sein, festzustellen, welcherlei Verfügungen in Bezug auf das Eigentum ein vorurteilsfreier, zwischen Besitzenden und Nicht-Besitzenden völlig unparteiisch in der Mitte stehender Gesetzgeber treffen würde, dieselben nur mit solchen Gründen zu verteidigen und zu rechtfertigen, welche für einen derartigen Gesetzgeber wirklich bestimmend wären, und nicht mit solchen, die den Eindruck machen, dass sie zu Gunsten des bereits Bestehenden zusammengesucht sind. Alle Rechte oder Privilegien des Eigentums, welche dieser Prüfung nicht Stand halten, werden – früher oder später – aufgegeben werden müssen. Außerdem sollten alle Einwendungen gegen die Institution des Eigentums selbst unparteiisches Gehör finden. Alle die Übel und Missstände, welche mit der Einrichtung, selbst in ihrer besten Gestalt, verknüpft sind, sollten freimütig eingeräumt werden, und die beste Abhilfe oder Linderung, welche menschlicher Scharfsinn zu erdenken vermag, dagegen zur Anwendung kommen. Endlich sollten alle, welchen Namen immer habenden, Entwürfe, die von Sozialreformatoren vorgebracht wurden, um die durch die Einrichtung des Eigentums bezweckten Vorteile ohne deren Übelstände zu erreichen, mit gleicher Unbefangenheit geprüft und keiner derselben von vornherein als ungereimt oder unausführbar verworfen werden.


2 Anm. S. Freud: Fortnightly Review, Februar–April 1879. Es sind dies Bruchstücke eines im Jahre 1869 begonnenen, nicht über den ersten Entwurf hinaus gediehenen Werkes, welches Miss Helen Taylor, des Verfassers Stieftochter, trotz ihrer augenfälligen Unfertigkeit der Welt nicht vorenthalten wollte und deren Aufnahme in diese Sammlung uns von derselben gütig gestattet wird.

3 Anm. d. Hg.: Gemeint ist „An Act further to amend the Laws relating to the Representation of the People of England and Wales“ vom 15 August 1867, mit dem das Wahlrecht in Großbritannien auf 2 Millionen (von insgesamt 5 Millionen) erwachsenen Männern ausgedehnt wurde.