RONALD M. HAHN &

HARALD PUSCH

 

 

 

 

Die Temponauten

 

 

 

 

 

 

Roman

 

 

Apex-Verlag

Das Buch

 

Alaska, 1897: Goldrausch!

Zeitreisende zahlen gut, um beim letzten großen Abenteuer der Menschheit dabei zu sein – manche mit dem Leben...

Nick ist Goldgräber in Alaska während des Booms von 1898. Plötzlich tauchen seltsame Leute auf, die behaupten, er stamme aus der Zukunft, sei ein illegaler Zeitreisender, der schon so viel Unheil gestiftet hat durch seine Aktivitäten, dass er sein Leben verwirkt habe.

Nick kann sich an diese Vergangenheit in der Zukunft zwar nicht erinnern, aber hinfort ist er ein Gejagter. Unter den Killern aus der Zukunft ist Constance, eine junge Frau, die im 21. Jahrhundert seine Geliebte war und ihn noch immer liebt. Sie schlägt sich auf seine Seite und rettet ihm das Leben. Nach einer wilden und gefährlichen Flucht durch die Eiswüsten Alaskas gelangen sie in Sicherheit und zu Reichtum, mit dem sie gelassen in die Zukunft blicken könnten.  

  Nur – ist das die Zukunft, aus der sie ursprünglich stammten, oder ist es eine ganz andere? 

 

TREFFPUNKT BIBLIOTHEK (Zürich):

Die Zeitmaschine als Touristenvehikel. Der Klondike-Trip 90 Jahre zurück in die kanadischen Goldfelder. Carl Amery und Jack London lassen schön grüßen. Temponauten haben eine Maßegel zu befolgen. Sie dürfen während des Aufenthalts in der Vergangenheit nichts tun, was die Zukunft und damit ihre angestammte Gegenwart verändern könnte. Bei Nick Scott ist etwas schiefgegangen. Gedächtnisschwund. Er hat seine angestammte Gegenwart vergessen und wird damit zum Gefahrenherd, den die Temponauten-Agentur um jeden Preis vernichten muss. Das Thermometer zeigt minus 50, es wird geballert, Schlittenhunde dienen als letzter Proviant, eine Dame ist bei den Strapazen auch dabei, und das ganze ist ein höchst lecker angerichteter Salat.” 

Der Apex-Verlag veröffentlicht Die Temponauten als deutsch- und als englischsprachiges E-Book. 

 

Die Temponauten  

(München, Heyne-Verlag 1988): 

 

 

Die Autoren

 

Ronald M. Hahn, Jahrgang 1948. 

Schriftsteller, Übersetzer, Literaturagent, Journalist, Herausgeber, Lektor, Redakteur von Zeitschriften.

Bekannt ist Ronald M. Hahn für die Herausgabe der SF-Magazine Science Fiction-Times (1972) und Nova (2002, mit Michael K. Iwoleit) sowie als Autor von Romanen/Kurzgeschichten/Erzählungen in den Bereichen Science Fiction, Krimi und Abenteuer.

Herausragend sind das (mit Hans-Joachim Alpers, Werner Fuchs und Wolfgang Jeschke verfasste) Lexikon der Science Fiction-Literatur (1980/1987), die Standard-Werke Lexikon des Science Fiction-Films (1984/1998, mit Volker Jansen), Lexikon des Horror-Films (1985, mit Volker Jansen) und das Lexikon des Fantasy-Films (1986, mit Volker Jansen und Norbert Stresau).

Für das Lexikon der Fantasy-Literatur (2005, mit Hans-Joachim Alpers und Werner Fuchs) wurde er im Jahr 2005 mit dem Deutschen Fantasy-Preis ausgezeichnet. Insgesamt sechsmal erhielt Hahn darüber hinaus den Kurd-Laßwitz-Preis – dem renommiertesten deutschen SF-Preis - , u.a. für die beste Kurzgeschichte (Auf dem großen Strom, 1981) und als bester Übersetzer (für John Clute: Science Fiction – Eine illustrierte Enzyklopädie, 1997).

Weitere Werke sind u.a. die Kurzgeschichten-Sammlungen Ein Dutzend H-Bomben (1983), Inmitten der großen Leere (1984) und Auf dem großen Strom (1986) sowie – als Übersetzer – der Dune-Zyklus von Frank Herbert.

Ronald M. Hahn lebt und arbeitet in Wuppertal.

 

 

Harald Pusch, Jahrgang 1946.

Schriftsteller, Übersetzer, Journalist, seit 1983 Herausgeber und Redakteur der Science Fiction-Times.

Harald Pusch ist insbesondere als Übersetzer von SF-Literatur für den Heyne- und den Ullstein-Verlag bekannt geworden: So übersetze er u.a. den Roman Der Vernichtungsfaktor von Barrington J. Bayley sowie diverse Star Trek-Romane wie z.B. Kirks Bestimmung, Keine Spur von Menschen, Der Saboteur, Sabotage, Die Raumschiff-Falle, Die Sonde (aus der sog. Classic-Serie), Ragnarök (aus der Serie Voyager), Walhalla (aus der Serie Deep Space Nine) und Der Test (aus der Serie The Next Generation). Unter dem Pseudonym Peter Toole veröffentlichte Pusch im Jahr 1981 das SF-Jugendbuch Der Planet der Toten; ferner erschien 1983 im Corian-Verlag unter dem Titel Der Tausendjahresplaner ein von ihm herausgegebener Essay-Band über Isaac Asimov. 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Die Autoren 

1?. 

Letzte Einweisung 

Der Einstieg 

Oktober 1897 

Dezember 1897 

Januar 1898 

März 1898 

April 1898 

Mai 1898 

Juni 1979 

Juli 1898 

August 1898 

September 1898 

Oktober 1898 

November 1898 

Januar/Februar 1899 

März/April 1899 

Mai 1949 

 

 

 

 

 

Dieser Roman basiert auf einer Erzählung, die der amerikanische Schriftsteller Jack London (1876-1916) im Jahre 1905 unter dem Titel The Sun Dog Trail in der Zeitschrift Harper’s Magazine veröffentlicht hat.

  1?.

„Mein Leben lang“, sagte er, „habe ich nach einem Schatz gesucht. Ich habe ihn in den Bergen und Tälern gesucht. Ich habe ihm im tiefsten Dschungel, an den Quellen der Flüsse und in den tiefsten Höhlen nachgespürt, und doch habe ich ihn nicht gefunden. Stattdessen bin ich am Ende einer jeden Reise auf dich gestoßen. Und jetzt bist du mir vertraut geworden, obwohl ich nicht sagen kann, dass ich dich kenne. Wer bist du?“

Und der Fremde antwortete: „Du.“

 

 

  Letzte Einweisung

 

Sie heißen jetzt Nicholas Scott.

Sie haben eine perfekte Vergangenheit.

Sollte Sie jemand mit Ihrem wahren Namen ansprechen, reagieren Sie nicht darauf.

Sollte jemand den Eindruck erwecken, Sie zu kennen, streiten Sie dies nicht rundheraus ab. Aber gehen Sie nicht zu tief darauf ein. Bleiben Sie unverbindlich. Vermeiden Sie um jeden Preis intime Kontakte. Die Gefahr, gefühlsmäßige Bindungen einzugehen, ist zu groß.

Sprechen Sie nicht über Dinge, die in Ihrer unmittelbaren Umgebung nicht existieren.

Vermeiden Sie Gespräche über Bücher, die Sie gelesen, und Filme, die Sie gesehen haben. Singen Sie nicht.

Führen Sie keine tiefgründigen Diskussionen.

Reden Sie nicht über Politik.

Lassen Sie niemanden den wirklichen Stand ihres Wissens erkennen.

Geben Sie nur in äußersten Notfällen zu, dass Sie Fremdsprachen beherrschen. Rufen Sie kein Misstrauen durch allzu große Exaktheit hervor.

Wenn Sie auf bekannte Gesichter stoßen, gehen Sie ihnen aus dem Weg.

Vermeiden Sie unter allen Umständen den Umgang mit Personen der Zeitgeschichte.

Haben Sie alles verstanden?

Haben Sie alles verstanden?

Ja.

 

 

  Der Einstieg

 

Als die Nadelspitze sich den Weg in seine Vene bahnte, erfüllte ihn eine innerliche Wärme. Sie weitete sich zu einer Hitze aus, wie er sie von einer Kalzium-Injektion kannte.

Zahlensymbole.

Schwankender Boden.

Er wurde das Gefühl nicht los, dass mit seinen Augen etwas nicht stimmte.

He, alter Junge, sagte er sich, gleich wird’s vorüber sein. Dies hier ist nur der Einstieg, der Einstieg in...

Oder der Ausstieg.

Es kam darauf an, wie man es sah.

Der Mann... Da zwar doch eben noch ein Mann gewesen. Ein Mann, der sich über ihn gebeugt hatte.

Es wird klappen, dachte er, du wirst schon sehen. Sie schaffen das. Sie kriegen es hin. Sie sind Experten. Sie machen das nicht zum ersten Mal. Die Burschen kriegen das schon hin. Ohne Probleme.

Das sanfte Prickeln in den Venen nahm zu, wurde stärker, immer stärker, übermächtig stark, ungeheuer, peinigend, schmerzhaft.

Es war gut so.

Sie kriegen’s hin.

Das Schwanken des Bodens hörte auf. Die Hitze wurde durch Kühle ersetzt.

Wind wehte.

Aus weiter Ferne: Stimmengemurmel.

Frost und Feuer. Er brannte und fror.

Und dann: DRINNEN.

Drinnen!

 

Im gleichen Augenblick wusste er, dass etwas schiefgegangen war.

 

  Oktober 1897

 

Sie hatten den Chilcoot Pass bezwungen, den Weg über die Seenkette und den Lake Linderman geschafft und waren über den Yukon bis hinauf in die Gegend von Dawson gelangt. Cody hatte als erster aufgegeben. Sein schwaches Schaffnerherz hatte zu schlagen aufgehört, als der Winter sie überraschte und der Schnee so dicht und unaufhaltsam fiel, dass niemand mehr eine Hand vor Augen sehen konnte und die Camps derjenigen, die schon länger hier waren, immer zahlreicher wurden.

Hellman, der aus San Francisco geflohen war, weil er das Kind, das seine Frau geboren hatte, nicht für sein eigenes hielt, gab den Anstoß dazu, dass die anderen ihre Goldgier für eine Weile vergaßen und eine Rast einlegten, um Cody unter dem Schnee zu begraben und aus Fichtenzweigen ein dünnes Kreuz zu basteln.

Die Zeremonie dauerte nicht lange. Zehn Minuten später trieb Devereaux, der die Gelegenheit genutzt hatte, um Codys Hunde auszuspannen, die Tiere zusammen. Gorskij, der schmalbrüstige, tuberkulöse Russe, den es von der Beringstraße an den Golf von Alaska verschlagen hatte, warf einen kurzen Blick auf die Ausrüstung des Toten und sagte: „Was wir damit tun?“ Er sprach einen harten Akzent, den nicht jeder verstand.

Hellman sagte: „Niemand kann gleichzeitig zwei Schlitten steuern.“

„Wir sollten die Sachen unter uns aufteilen“, meinte Devereaux achselzuckend. „Ich glaube, wir können alle ein bisschen davon gebrauchen.“

„Hm“, machte Hellman.

„Er Pech gehabt“, sagte Gorskij. „So kurz vor Ziel.“ Er sah traurig aus.

Devereaux’ hagere Gestalt straffte sich. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und sagte: „Noch ein paar Minuten – und er hätte Dawson sehen können.“

Die anderen schwiegen. Hellman übernahm die Verteilung von Codys Besitz. Gorskij bekam zwei seiner Hunde, da er einen auf der Reise verloren hatte und ein anderes seiner Tiere lahmte. Devereaux bekam ebenfalls zwei: Sein Gespann war von Anfang an zu schwach gewesen, um die Lasten zu ziehen, die die Nordwest-Polizei allen Goldsuchern, die ins Klondike Gebiet wollten, vorschrieben. Hellman, dessen barmherzige Seele sich allzu oft dazu hatte verleiten lassen, jenen Männern, deren Lebensmittel unterwegs knapp geworden waren, etwas von seinen eigenen Vorräten abzugeben, erhielt den Löwenanteil. Niemand erhob Einspruch dagegen.

Nick bekam einen Schlittenhund, Codys Kochgeschirre und den Rest seiner Ausrüstung.

Er sprach während der ganzen Prozedur kein Wort. Er stand nur da, musterte seine Stiefelspitzen und fragte sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, nach Norden zu ziehen.

Im Gegensatz zu den anderen Männern ließen ihn die Goldfunde, die man in diesem Gebiet gemacht hatte, seltsamerweise kalt. Was tue ich hier? fragte er sich. Welcher Satan hat mich geritten, dass ich hinter mir alle Zelte abgebrochen habe? Er hatte nicht die geringste Motivation, hier zu sein.

Während die anderen Männer Codys Habe aufteilten, sah er ihnen bewegungslos zu. Devereaux, dem die seltsame Teilnahmslosigkeit Nicks auffiel, stellte sich zweifelsohne die gleiche Frage. Nick war ein Mensch, der nicht viel redete. Obwohl seine Aussprache anzeigte, dass er Amerikaner war, kamen manchmal Worte über seine Lippen, die klangen, als sei er in einer anderen Sprache erzogen worden. Devereaux hatte gesehen, dass er ein Tagebuch führte, wenn ihn die Müdigkeit abends nicht gleich auf das Lager warf. Und hin und wieder, wenn er sich allein wähnte, redete er mit sich selbst und benutzte dabei Ausdrücke, die weder ihm noch den anderen geläufig waren. Nick war für ihn kein gewöhnlicher Mensch: Er war Journalist, schrieb für eine Zeitung. Er war oft geistesabwesend, und wenn man ihn ansprach, schien er stets aus einem tiefen Tagtraum zu erwachen. Hellman, der einzige unter ihnen, der ein gewisses Maß an Erziehung genossen hatte, war der Meinung, man könne Nicks Beruf schon an seiner Ausdrucksweise erkennen: „Er spricht druckreif.“ Gorskij hatte daraufhin nur genickt. Derartige Begriffe sagten ihm nichts, denn er konnte weder lesen noch schreiben. Außerdem war er der Ansicht, es gäbe nichts Erstrebenswerteres, als die englische Sprache so gut zu beherrschen wie der schweigsame Fremde, der bei Fort Selkirk zu ihnen gestoßen war.

Elf Meilen trennten Codys Grab von Dawson City, einer Stadt, in der das Leben pulsierte, wo sich Menschen aus allen Teilen der Welt getroffen hatten und sich darauf vorbereiteten, in der Kälte des Nordens ihr Glück zu machen. Die engen Straßen der Stadt quollen über von Leben, aus den wie Pilzen aus dem Boden geschossenen Bars und Amüsierbetrieben drang Gelächter und Gejohle. In den Spielhöhlen rotierte unablässig die Roulettescheibe.

Die Preise waren ins Unermessliche gestiegen. Wer genügend Nahrungsvorräte hatte, um über den langen arktischen Winter zu kommen, konnte sie sich an Ort und Stelle mit Goldstaub aufwiegen lassen. Die ersten Funde hatten einige Dutzend Männer zu Multimillionären und mehrere hundert andere zu wohlhabenden Persönlichkeiten gemacht.

Gorskij trennte sich in der Stadt als erster von der Gruppe. Er wollte einen Landsmann treffen, der den Pass schon vor einem halben Jahr hinter sich gebracht und ihm geschrieben hatte, dass es auch für ihn noch genügend zu holen gäbe. Trotz seiner mangelhaften Sprachkenntnisse wollte Gorskij in dem Gewimmel von über zwanzigtausend Goldgräbern nach seinem Bekannten Ausschau halten. Als er ging, schüttelte er den anderen die Hände, klopfte Nick auf die Schulter und sagte zu Hellman: „Gut Glück, ihr Leute. War viel glücklich, mit euch reisen. Gutte Kamerad, alle.“

Hellman winkte ihm hinterher. Devereaux grinste freundlich. Nick folgte dem Weg des Russen mit einem nachdenklichen Blick.

„Einen Cent für deine Gedanken“, sagte Devereaux.

Nick lächelte. „Mir ist gerade ein Lied eingefallen“, sagte er.

„Ein Lied?“ Devereaux zog fragend die Augenbrauen hoch. „In dieser Umgebung denkst du an ein Lied?“ Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Schau dir diese Stadt an! Schau dir die Lichter an, das Leben, die Gegenwart! Wir haben es geschafft, Nick, und hundert andere sind unterwegs dabei draufgegangen.“

„Ich wundere mich selbst darüber“, sagte Nick.

„Wie heißt es?“, fragte Hellman. Er sah müde aus mit seinen rot umrandeten Augen und dem Bart, der ihn zehn Jahre älter machte.

Nick zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht.“ Er senkte den Blick, als sei er bei einer Untat ertappt worden.

„Dann sing es uns vor“, sagte Devereaux. „Ich mag Lieder.“

Nick spitzte die Lippen, als wolle er das Lied pfeifen. Dann sah er sich um, produzierte ein verlegenes Grinsen, zog seine Fäustlinge aus und zündete sich eine Zigarette an.

Devereaux warf Hellman einen spöttischen Blick zu.

„Lasst uns die Hunde irgendwo unterbringen“, sagte Hellman vermittelnd. Und zu Nick gewandt, fügte er hinzu: „So eine blöde Idee. Ich würde mich auch nicht mitten auf die Hauptstraße stellen und ein Lied singen.“

 

Der Preis, den der Besitzer des Hundestalls für die Unterbringung der Huskies verlangte, war beinahe so hoch wie der für eine Hotelübernachtung in San Francisco. In einer Stadt wie Dawson, in der sich momentan mehr Millionäre tummelten als sonst wo auf der Welt, schien das niemanden zu überraschen. Hellman, der am wenigsten Bargeld besaß, sah keine andere Möglichkeit, als eines seiner Tiere zu verkaufen, um wieder flüssig zu werden. Zum Glück schienen die ausdauernden Schlittenhunde in dieser Gegend ebenso begehrt zu sein wie Gold. Der Preis, den er erzielte, würde jedenfalls ausreichen, um ihn über Wochen hinweg aller Sorgen zu entheben.

Die Nacht schlich sich bereits heran, als sie sich im Schankraum des Eldorado zwischen allerlei abenteuerlich anmutende Gestalten setzten und ungeachtet des stinkenden Zigarrenrauchs, des infernalischen Lärms und der von einem betrunkenen Pianisten erzeugten Misstöne die Mahlzeit verzehrten, nach der sie sich seit Wochen gesehnt hatten. Irgendein Witzbold hatte neben dem Piano ein Schild aufgehängt, auf dem BITTE SCHIESSEN SIE NICHT AUF DEN PIANISTEN – ER TUT SEIN BESTES! stand. Auf der Bühne bemühte sich ein unverkennbar amerikanisches Damentrio, seinen nasalen Tennessee Dialekt unter einem dick aufgetragenen französischen Akzent verschwimmen zu lassen. Die ausgehungerten Männer, die Monate auf ihren Claims zugebracht hatten, und jetzt in die Stadt gekommen waren, um sich zu amüsieren, feierten sie, als seien sie geradewegs von der Metropolitan Opera aus New York angereist.

Die Goldgräber waren anspruchslos. Die monatelange harte Arbeit hatte sie stumpf und müde gemacht; nur deswegen stürzten sie sich in billige Vergnügungen. Manche von ihnen tranken an diesem Abend so viel, dass sie umfielen und ganze Tische mit sich rissen. Solange sie allerdings ihre Zechen bezahlten und die vor ihnen liegenden Goldstaubbeutel noch nicht leer waren, würde sie niemand beim Kragen nehmen und in die Kälte hinausjagen. Sie waren zwar zerlumpt und trugen ungepflegte Bärte, aber zusammen verfügten sie über mehr Geld, als der Besitzer des Eldorado in seinem Safe verwahrte.

Gegen Mitternacht, als die Lärmwelle den Höhepunkt erreichte, legte Devereaux das Essbesteck zur Seite, zündete seine Meerschaumpfeife an und lehnte sich zurück. Seine eisgrauen Augen musterten Nick. Devereaux sah ihn eine Weile an und sagte schließlich: „Du wolltest uns doch noch ein Lied vorsingen.“

Hellman schob seinen Stuhl zurück, deutete mit offenem Unbehagen auf die sich auf der Bühne abmühenden kreischenden Can Can Tänzerinnen und sagte: „Ich bin müde. Ich gehe jetzt schlafen. Gute Nacht.“

„Mach’s gut“, sagte Devereaux. Er stieß eine dichte Rauchwolke aus. Dann fiel sein Blick wieder auf Nick.

„Ich komme dir wohl nicht ganz geheuer vor, was?“, fragte Nick. Bevor Devereaux einen Einwand erheben konnte, fuhr er fort: „Mir ist schon aufgefallen, dass du mich beobachtest.“

Devereaux hob abwehrend eine Hand. „Hör mal, Nick ... „

„Schon gut, Frank, keine Ursache“, sagte Nick. „Es ist nur so, dass ich...“

„...ich möchte nicht, dass du denkst, ich...“

„Es ist nur so“, fiel Nick ihm ins Wort, „dass ich dich völlig verstehen kann. Ich meine... Du hast einen guten Grund, mich zu beobachten. Ich weiß selbst, dass ich...“ Nick schüttelte den Kopf, zuckte die Achseln, suchte nach Worten. „Ich benehme mich nun einmal... seltsam. Aber ich kann dir auch sagen, woran das liegt.“ Er sah Devereaux an. „Ich frage mich allen Ernstes, was ich hier überhaupt tue.“

Devereaux sah überrascht auf. „Du fragst dich, was du hier tust?“ Er nahm die Pfeife aus dem Mund. „Sag mal, habe ich dich richtig verstanden?“

„Durchaus.“

„Ja... nun... ich...“ Devereaux machte einen ziemlich ratlosen Eindruck, und das war auch kein Wunder. Er war wegen des Goldes hier. Hellman ebenfalls. Das gleiche galt für Gorskij und hatte für Cody gegolten. Es galt für die Mehrzahl der Männer, die sich momentan in Dawson aufhielten. Jeder von ihnen wollte ein Vermögen machen. Natürlich gab es hier auch Menschen, die reich werden wollten, ohne sich abzurackern, aber im Grunde waren sie alle hier, um auf die eine oder andere Art reich zu werden.

„Das Gold interessiert mich einen Scheißdreck“, sagte Nick.

Devereaux schluckte. „ja, warum denn das, in Herrgotts Namen?“, fragte er.

„Ich habe das Gefühl“, sagte Nick und warf einen gedankenverlorenen Blick auf seine Fingerspitzen, „als sei ich aus einem ganz anderen Grund hier. Aus einem Grund, der mir... entfallen ist.“

„Du machst Witze“, sagte Devereaux. Er ließ seine Pfeife sinken und nahm einen großen Schluck aus dem vor ihm stehenden Bierglas. „Du willst mich verarschen.“ Er verstand die Welt nicht mehr.

Nick zuckte die Achseln. „Mehr kann ich dazu auch nicht sagen.“

„Sag mal“, sagte Devereaux, „du bist immer so geistesabwesend. „

„Ich weiß.“ Nick lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte die Tänzerinnen, die gerade ihre Röcke wirbeln ließen. „Weil ich oft darüber nachdenke. Über dieses und andere Dinge.“ Er spitzte die Lippen und pfiff eine Melodie.

„War das das Lied?“, fragte Devereaux.

„ja“, sagte Nick. „Aber es ist nicht nur dieses eine. Da sind noch andere Sachen in meinem Kopf, die mir zu denken geben. Dinge, Namen, Lieder. Ich höre sie immerzu. Sie lassen mich nicht los.“ Er sah Devereaux in die Augen und sagte mit einem zerstreuten Lächeln: „Hoffentlich glaubst du jetzt nicht, ich sei ausgeklinkt.“

„Ausge... was?“ Devereaux verbarg sein Erstaunen nicht, aber da er als französischstämmiger Kanadier die englische Sprache nicht perfekt beherrschte, wunderte er sich nur kurz über Worte, die er zum ersten Mal hörte. „Erzähl mir von dem, was dir im Kopf herumging, als wir mit Hellman auf der Straße standen“, sagte er.

Nick beugte sich vor, zupfte nachdenklich an seinem Kragen und schien den Blick seiner Augen nach innen zu richten. „Es geht so“, sagte er:

 

I wanna live, I wanna give,

I’ve been a miner for a heart of gold.

It’s these expressions I never give

That keep me searching for a heart of gold,

And I’m getting old.

 

Devereaux sah ihn verwirrt an. Er kannte das Lied zwar nicht, aber der Tonfall, in dem Nick den Text vorgetragen hatte, ließ ihn die Melodie erahnen.

„Es geht noch weiter“, sagte Nick und fuhr fort:

 

I’ve been to Hollywood, I’ve been to Redwood,

I crossed the ocean for a heart of gold.

I’ve been in my mind, it’s such a fine line,

That keeps me searching for a heart of gold,

And I’m getting old.

 

Während Nick nach seinen Zigaretten griff, nahm Devereaux einen langen Zug aus seiner Pfeife und sagte: „Wo liegt Hollywood?“

„Das ist es ja“, erwiderte Nick heiser. „Nirgendwo. Es existiert nicht.“

„Auf keiner Landkarte?“, fragte Devereaux stirnrunzelnd. „Nicht mal in England?“

„Auf keiner“, sagte Nick. „Nicht mal in England.“

„Woher willst du das so genau wissen?“, fragte Devereaux.

Nick zog die Schultern hoch. „Ich weiß es eben. Ich kenne mich in Geographie aus.“

„Hm“, machte Devereaux. „Aber eine Stadt, die besungen wird, muss doch irgendwo existieren.“ Er kniff die Augen zusammen. „Vielleicht in Australien? Oder Irland?“

„Weder noch“, sagte Nick. Er schüttelte den Kopf und rückte seinen Stuhl zurecht. Als er aufstehen wollte, öffnete sich die Tür des Schankraums, und ein bärtiger Mann trat ein. Er war schlank, hatte ein schmales Gesicht, wache Augen und hielt ein modernes Gewehr in der Armbeuge. Er hatte teure Stiefel an, eine die Kälte abhaltende Hose, eine Pelzjacke und trug eine Biberfellmütze. In seiner Begleitung befand sich eine zierliche, dunkelhaarige Frau mit großen hellblauen Augen, langen Wimpern und roten Lippen.

Ein Schwindel schien Nick zu erfassen. Er legte eine Handfläche gegen die Stirn, schüttelte den Kopf und stand drei Sekunden lang wie gelähmt da.

Devereaux schaute auf und starrte ihn überrascht an, aber Nick fing sich so schnell, dass sein Zustand keinem anderen auffiel.

Ein wenig unsicher, aber dennoch zielstrebig, ließ er Devereaux sitzen und verschwand auf ihrem gemeinsamen Zimmer.

Der nächste Morgen brachte nicht nur noch mehr Schnee, sondern auch die unerwartete Mitteilung der Hotelleitung, dass sie ihr Zimmer zu räumen hatten. Man habe, so ließ die Direktion des Eldorado verlauten, ihnen lediglich aus reiner Nächstenliebe für die erste Nacht in Dawson einen Schlafplatz zur Verfügung gestellt. Beide Betten seien reserviert.

Als Hellman davon erfuhr, bot er Devereaux und Nick sofort an, mit ihnen das Haus zu verlassen; er könne nicht ruhigen Gewissens in warme Decken eingehüllt daliegen, wenn er wisse, dass zwei seiner Weggefährten ihr Lager im Freien aufschlagen müssten. „Mach dir deswegen keine Gedanken“, beruhigte Devereaux ihn. „Hunderte schlafen hier in Zelten. Außerdem sind wir keine Chechaquos mehr. Vor was sollen wir Angst haben?“

„Es treibt sich allerhand zwielichtiges Gesindel in der Gegend rum“, sagte Hellman. „In der Zeltstadt ist es ganz bestimmt nicht ungefährlich. Und nicht mal gratis. Wer hier ein unbebautes Grundstück hat, zieht den Leuten den letzten Dollar aus der Nase.“

„Lasst euch nicht ins Bockshorn jagen“, sagte hinter ihnen die Stimme eines dunkelhaarigen, kräftigen Mannes, der etwa zwanzig Jahre alt war. Die Sonne des Nordens hatte sein breitflächiges Gesicht tief gebräunt. Er trug Pelzhosen, ein dunkelblaues Baumwollhemd, indianische Mokassins und eine Kappe, deren Ohrenklappen im Moment hochgeschlagen waren. Als er grinste, zeigte er zwei Reihen weißer Zähne. „Wenn ihr einen Lagerplatz sucht, fragt in der Zeltstadt nach Wild Water Charley. Und sagt ihm, Jack hätte euch geschickt.“

Als Devereaux und Nick ihr Gepäck nach unten brachten, betrat der Mann, der am Abend zuvor in Begleitung der zierlichen Frau im Schankraum gewesen war, die Halle. Er blickte Nick zwei Sekunden lang überrascht an. Dann zwinkerte er ihm zu, als seien sie alte Bekannte. Nick zuckte die Achseln und hielt Devereaux, der gerade ein paar Sachen hinausschleppte, die Tür auf. Der Fremde fragte den Portier, ob er sein Gepäck hereinbringen könne. Seine Frau habe während der Nacht im Zelt entsetzlich gefroren.

Dem Portier war die Situation sichtlich peinlich. Als Nick auf die Straße hinausging, stemmte Devereaux, der nun begriff, für wen sie ihr Zimmer hatten räumen müssen, wütend die Arme in die Seiten.

„Nette Freunde hast du“, sagte er, als sie ihre Schlitten beluden.

„Was?“, fragte Nick, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.

„Du kennst diesen Burschen doch“, sagte Devereaux laut und zeigte mit dem Finger auf den Eingang des Eldorado.

„Welchen Burschen?“, fragte Nick. Er sah jetzt immerhin auf.

„Hör zu“, polterte Devereaux, „was soll die ganze Scheinheiligkeit, Nick? Du weißt doch genau, wen ich meine.“

Er nahm die Pfeife aus dem Mund und deutete mit ihrem Stiel auf Nicks Brust. „Gestern Abend, als er mit der Frau reinkam, hast du dich aufgeführt, als hättest du ein Gespenst gesehen. Heute morgen erzählt man uns, unser Zimmer sei reserviert. Und jetzt rate mal, für wen? Für den gleichen Burschen, der dir gerade so freundlich zugezwinkert hat!“

Nick hielt inne. Er drehte sich langsam um, warf einen Blick auf den Eingang des Eldorado und sagte dann, das Kläffen der eingespannten Hunde ignorie-rend: „Du hast es also auch bemerkt?“

Devereaux stieß hörbar die Luft aus. „Auch? Das hört sich ja fast so an, als ob...“

Nick maß Devereaux mit einem festen Blick und sagte: „...als sei ich mir, was dieses Zwinkern angeht, selbst nicht im klaren?“

Devereaux nickte mit offenem Mund.

„Genau das ist es, Frank. Ich hatte das von diesem Mann nicht erwartet. Ich kenne ihn nicht. Ich bin ihm nie begegnet. Er muss mich mit jemandem verwechselt haben.“ Nick machte sich am Geschirr seines Leithundes zu schaffen. „Obwohl...“ Er zögerte.

„Obwohl?“, fragte Devereaux. Ihm fiel nicht einmal auf, dass seine Pfeife längst erloschen war, so gespannt war er.

„Obwohl ich gestern Abend den Eindruck hatte, wir wären uns schon mal irgendwo begegnet.“

„Schön“, sagte Devereaux. „Aber wenn mir jemand über den Weg läuft, der mir irgendwie bekannt vorkommt... und mir außerdem noch zuzwinkert, dann halte ich es für die normalste Sache der Welt, auf ihn zuzugehen und ihn zu fragen, wo, zum Henker, wir uns schon mal gesehen haben!“ Devereaux riss die Arme hoch und sagte laut: „Warum gehst du also nicht zu ihm rein und fragst ihn, woher ihr euch möglicherweise kennt?“

Nick hob nachdenklich den Kopf. „Weil ich so ein Gefühl habe, als sollte ich gerade dies nicht tun.“

Devereaux fiel beinahe die Pfeife aus dem Mund. „Weil du ein Gefühl hast?“, fragte er. „Weil du ein Gefühl hast? – Pest und Hölle, Nick, aber du bist wirklich ein komischer Kauz!“

„Mag sein“, sagte Nick. Er hob die Peitsche und trieb die Hunde an, die sich bellend in Bewegung setzten und den auf der Front Street liegenden Schnee aufwirbelten.

 

Es war nicht einfach, Wild Water Charley ausfindig zu machen, aber nachdem sie sich in der Zeltstadt, die Dawson umgab, eine halbe Stunde lang durchgefragt hatten, verwies man sie an ein großes, blaugraues Hauszelt, vor dessen Eingang ein in den Boden gerammtes Schild verkündete, dass hier ein Mann dieses Namens Grundstücke verkaufte und Zeltplätze vermietete.

Wild Water Charley gehörte zu jenen Glücksrittern, die zwar kein Gold gefunden, aber dennoch ein Vermögen gemacht hatten: Er war als Pelzjäger ins Yukon Territorium gekommen, und zwar vor zehn Jahren. Bevor der Goldrausch einsetzte, hatte er beträchtliche Ländereien erworben, die er nun gewinnbringend weiterverkaufte. In Dawson selbst gehörten ihm zwei Saloons, ein Hotel und mehrere Spielhöllen. An diversen Claims war er finanziell beteiligt. Er war ein junger Mann Anfang Dreißig und ein Musterbeispiel zielbewusster Geschäftigkeit.

„Jack hat sie also geschickt“, sagte er mit dröhnender Stimme, nachdem er Devereaux und Nick die Hände geschüttelt und sie zu einem Kaffee eingeladen hatte. „Kaum zu glauben, dass er mir nach dem Reinfall mit dem Eier Geschäft noch Kunden schickt. Aber lassen wir das. Wer kann schon in die Gehirne von Schreiberlingen sehen? Einen Zeltplatz wollen Sie? Geht klar, keine Probleme. Zehn Dollar die Woche. Wie lange brauchen Sie ihn? Eine Woche erst mal? Kein Problem!“

Der Mann, dessen Zelt neben dem ihren stand, war Deutscher und hieß Droonberg. Als er Devereaux begrüßte, floss ein Redeschwall über seine Lippen, der aus einer Mixtur von englischen, französischen und deutschen Brocken bestand. Er war seit fünf Tagen hier und suchte nach einem Partner, weil ihm das Geld ausging. Droonbergs Begeisterung hatte schon jetzt stark nachgelassen, und er trug sich sogar mit dem Gedanken, die Goldsuche aufzugeben, noch ehe er sie richtig in Angriff genommen hatte. Zwar konnte er mit Wild Water Charleys generösem Kredit rechnen, aber alles in allem verblieben ihm nur noch zwei Monate. Fand er bis dahin kein Gold, würde er den Rest des Winters so verbringen müssen wie viele andere, die Hals über Kopf ihre Heimat verlassen hatten, ohne finanziell abgesichert zu sein: Ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als sich in Dawson eine Arbeit zu suchen.