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Philologie zur Einführung

Marcel Lepper

Philologie zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Ina Kerner, Berlin
Dieter Thomä, St. Gallen

© 2012 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: Moritz Hoffmann, Arbeitszimmer
von Jacob Grimm, © GNM Nürnberg
Veröffentlichung der E-Book-Ausgabe März 2016
ISBN 978-3-96060-015-2
Basierend auf Printausgabe:
ISBN 978-3-88506-063-5
1. Aufl. 2012

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.

Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Ina Kerner
Dieter Thomä

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Definitionen

1.1 Liebe

1.2 Interesse

1.3 Praxis

1.4 Disziplin

2. Traditionen

2.1 Mediterrane Traditionen

2.2 Nahöstliche und fernöstliche Traditionen

2.3 Europäische Neuphilologien

2.4 Koloniale und postkoloniale Philologien

3. Institutionen

3.1 Bibliothek

3.2 Archiv

3.3 Museum

3.4 Seminar

3.5 Schule

4. Erkenntnis

4.1 Grammatik

4.2 Kritik

4.3 Hermeneutik

5. Konjunkturen

5.1 Leitwissenschaft

5.2 Philologiekritik

5.3 Kulturwissenschaftliche Wiederentdeckung

5.4 New Philology

6. Habitus

6.1 Gelehrsamkeit

6.2 Kennerschaft

6.3 Forschung

6.4 Intellektuelles Engagement

7. Schluss

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Über den Autor

Vorwort

Philologie ist ein Hochwertbegriff und ein Schimpfwort. Er verspricht die handwerkliche Sorgfalt, die der Soziologe Richard Sennett (2008) als eine Wunschvorstellung postindustrieller Bürgerlichkeit beschrieben hat.1 Zugleich weist er in die staubigen Gelehrtenstuben der Vormoderne zurück, verrät elitären Dünkel und Gezänk um Punkt und Komma, Anhäufung von Bücherwissen und ein Übermaß an Duldsamkeit gegenüber dem Irrelevanten. So lautet der provokative Befund bei Edward Said: »Philology is just about the least with-it, least sexy, and most unmodern of any of the branches of learning associated with humanism.« (2004, S. 57)

Dass vorgebliche Reizlosigkeit einer modernen Dialektik unterliegt, weiß ein Kulturtheoretiker wie Said. Gerade weil die Philologie nicht die Geschwindigkeits- und Zugänglichkeitsanforderungen des 21. Jahrhunderts zu erfüllen scheint, hat sie das öffentliche Interesse zurückerobert. An programmatischen Texten, die angesichts der Aufmerksamkeitsüberforderung in den kulturwissenschaftlichen Fächern auf den Begriff der Philologie setzen, herrscht im vergangenen Jahrzehnt kein Mangel. Die meisten dieser Publikationen – darunter die Bücher von Hans Ulrich Gumbrecht (2002; 2003), Ottmar Ette (2004), Thomas Steinfeld (2004), Peter-André Alt (2007), Werner Hamacher (2009) – setzen sich mit dem philologischen Anliegen und Habitus, mit dem Nutzen und Nachteil philologischen Arbeitens auseinander. Das Genre bildet keineswegs eine deutsche Sonderdebatte ab, sondern betrifft, freilich mit Bedeutungsverschiebungen, die internationale Wissenschaftslandschaft, wie amerikanische Veröffentlichungen zeigen – angefangen bei dem bereits 1990 erschienenen Themenheft What is Philology? von Jan Ziolkowski bis zum Schwerpunkt Relating Philology, Practicing Humanism in den Publications of the Modern Language Association (PMLA) 2010.

Eine Einführung in die Philologie muss sich der Erwartungen bewusst sein, die sie aus guten Gründen nicht erfüllen wird – dogmatische Festlegungen dessen, was Philologie zu sein hat, wird das vorliegende Buch nicht bieten. Erst recht kann es eine Einführung in die Philologien nur unter der Bedingung geben, dass sie die Fülle philologischer Entwürfe und Praktiken fragebezogen sichtet, ohne sich anzumaßen, die Grundlagen älterer und neuerer Einzelphilologien gleichmäßig zu erschließen. Welchen Nutzen hätte es, den Eindruck eines fachübergreifenden Konsenses über Kanonwissen zu erzeugen? Überschreitet der Band die Grenzen Westeuropas und die Schwelle zur Vormoderne, so setzt er sich zweifellos dem Einwand aus, eine philologische Einführung hätte schon genug mit der griechischen und lateinischen, allenfalls noch der mediävistischen Philologie zwischen Friedrich August Wolf und Ernst Robert Curtius zu tun. Dem Vorwurf, das amerikanische Verständnis von criticism gehöre genauso wenig zur Philologie wie frühneuzeitliche Zeichentheorie und gegenwärtige Computerlinguistik, kann der Band entgegentreten, wenn er das philologische Anliegen ernst nimmt – d.h. historische Begriffe nicht normativ festschreibt, sondern auf den Prüfstand stellt, mehr Fragen auffächert, als Antworten bestätigt.

Welche Philologen kommen vor, welche Theorien fehlen? Die Einführung kann Ungerechtigkeiten nicht vollständig vermeiden, auch wenn sie sich um Ausgewogenheit bemüht. Sie wird nicht an den großen Lehrwerken entlangbuchstabieren, freilich auch keine abstrakte Philologiegeschichte ohne Namen bieten können – man wird sich im Gegenteil auf eine beunruhigende Zahl von Namen, Titeln und Definitionen einlassen müssen, wenn man nicht dogmatische Verkürzung riskieren will. Es soll freilich nicht darum gehen, bloße Belege auszuschütten, sondern an Beispielen auf Brüche und Widersprüche aufmerksam zu machen.

Verzichtet der Band auf eine chronologische Geschichte der Philologie (Wilamowitz-Moellendorff 1921), so fordern die ungewohnten, problemorientierten Konstellationen über einen engen Fachhorizont hinweg zweifellos das Konzentrationsvermögen der Leserinnen und Leser. Studierenden aus den philologischen und Interessierten aus den nicht-philologischen Disziplinen soll die Einführung unerwartete Begegnungen vermitteln, mögliche Wege durch ältere und allerjüngste Debatten zeigen. Kann sie die Auseinandersetzung mit den behandelten Autoren und Texten nicht ersetzen, so möchte sie zur eigenständigen Detaillektüre anregen. Sie versteht sich nicht als Einführung in das literaturwissenschaftliche oder editionsphilologische Arbeiten, nicht als Bücherkunde oder propädeutische Handreichung. Zwangsläufig muss sie vereinfachen – aber sie möchte nicht entproblematisieren.

Was die Einführung nicht leisten kann, das bieten Anthologien und Studienbücher. Eine überzeugend disponierte Sammlung exemplarischer Grundlagentexte legen Kai Bremer und Uwe Wirth vor (Texte zur modernen Philologie, Stuttgart 2010). Zentrale Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart haben Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner und Bernd Stiegler zusammengestellt (1996, vollst. überarb. und akt. Neuausg., Stuttgart 2008), Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts stellt Ulrich Schmid vor (Stuttgart 2010). Wer sich über neuere Verfahren der Editionswissenschaft informieren möchte, dem leistet Bodo Plachtas Einführung (Editionswissenschaft, 1997, 2. Aufl., Stuttgart 2006) gute Dienste. Die Fülle der Einführungen in die einzelnen Philologien lässt sich an dieser Stelle nicht in angemessener Form sichten. Empfohlen seien stellvertretend Stefan Neuhaus’ germanistischer Grundriss der Literaturwissenschaft (2003, 3. Aufl., Tübingen 2009), Ralf Klausnitzers Studienbuch zur Literaturwissenschaft (Berlin/New York 2004) und Claudius Sittigs Arbeitstechniken (Stuttgart 2008). In linguistischer Hinsicht sei exemplarisch auf die einführenden Bände von Angelika Linke, Markus Nussbaumer und Paul R. Portmann (Studienbuch Linguistik, 1991, 5. Aufl., Tübingen 2004) und Ludger Hoffmann (Sprachwissenschaft: Ein Reader, 1996, 3., verb. Aufl., Berlin/New York 2010) hingewiesen, eine historische Absicht verfolgt die so materialreiche wie übersichtlich strukturierte Geschichte der Sprachwissenschaft (Berlin/New York 1999) von Andreas Gardt.

Wesentliche Anregungen verdanke ich den Seminardiskussionen mit den Studierenden und Doktoranden an der University of Wisconsin, Madison, ebenso mit den Studierenden an der Universität Stuttgart. Mein Dank gilt Pascaline Budow und Katharina Vogel für sorgfältige Recherchen, Ruth Doersing für umsichtige bibliothekarische Begleitung. Ohne das Deutsche Literaturarchiv Marbach, seine Bestände, Mitarbeiter und Gastforscher, wäre dieser Band nicht entstanden – der Dank gilt Ulrich Raulff und allen, die das Haus in den vergangenen Jahren mit ihren Ideen geformt, mit ihren Fragen herausgefordert haben. Hans Adler, Claudia Bahmer, Andreas Gardt, Michael Hagner, Ben Hutchinson, Anna Kinder, Anne Kraume, Markus Messling, Hans-Harald Müller, Sandra Richter, Carlos Spoerhase, Céline Trautmann-Waller, Nikolaus Wegmann und Dirk Werle danke ich herzlich für Ideen, Ermutigungen, Nachfragen und Kritik.

Marcel Lepper

Stuttgart, im Juli 2012

Einleitung

Das 19. Jahrhundert ist als Ära der Weltausstellungen und des Kolonialhandels, der industriellen Massenproduktion und der musealen Kunstreligion in die Geschichtsschreibung eingegangen. Gehört die Philologie selbst in ein solches Museum des 19. Jahrhunderts – neben das Dampfschiff, die Schreibmaschine, den Telegrafen (Osterhammel 2009, S. 1158-1170)? Ist die Philologie ein romantisches Projekt, das unter den Kältebedingungen eines modernen Wissenschaftsbegriffs nur noch in der Vitrine vor dem Zerfall bewahrt werden kann? Eine Monumentalruine aus der Phase der geisteswissenschaftlichen Großforschung, der blindwütigen Faktenhuberei?

Die vorliegende Einführung möchte das verengte und provinzialisierte Bild von dem aufbrechen, was Philologie des 19. Jahrhunderts gewesen und was danach nie wieder überboten worden sein mag, um früher und weiter anzusetzen – auch auf die Gefahr hin, dass gewohnte Vorstellungen irritiert werden. Schon um der Gewinnung von Beobachtungsdistanz willen lohnt sich das Experiment, aus der Nacherzählung der Gründungsgeschichte auszuscheren. Es geht freilich um mehr – um den kritischen Blick auf starke, gegenwärtige Tendenzen, die Philologie zu romantisieren, zu einem Erlebnisprogramm auszugestalten, in dem so gestaunt werden darf, wie säkular erzogene Romantiker in den Kirchen über den fremden Ritus staunen durften.

Über die Philologie hat sich ein goldener Schimmer gelegt – wie über Michael Endes Schuldrachen Mahlzahn, der, in einer Pagode gefangen gesetzt, sich in einen goldenen Drachen der Weisheit verwandelt. Die zurückgewonnene Attraktivität, zugleich museale Unantastbarkeit, freut diejenigen, deren Sympathie schon dem pedantischen, alten Drachen gehörte. Das Auge, von digitaler Datenfluktuation überanstrengt, genießt die Ruhe des Papiers und des Pergaments, das Jahrhunderte überdauert hat. Der Betrachter verharrt ehrfürchtig vor der stillgestellten Vergangenheit, vor dem Goldglanz historischer Bibliotheksbestände, die in den Metaphern der Vormoderne als »Schätze« beschrieben werden – so im Tagesspiegel anlässlich der Eröffnung der neuen Grimm-Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin (19. November 2009). Aufwendige Editionen, monumentale Wörterbücher, unikale Archive genießen die Gunst eines kleinen forschenden und eines großen staunenden Publikums. Ist es ein Zufall, dass die Philologie des 19. Jahrhunderts einer anderen Erfindung derselben Epoche, dem modernen Tourismus, anheimzufallen scheint? So wurde die Belegkarte zum Verb »trinken« aus dem Wörterbuchprojekt Jacob und Wilhelm Grimms, versehen mit einem Verweis auf das Tagebuch Bettina von Arnims, zum Objekt der Ausstellung WeltWissen im Berliner Gropius-Bau (Hennig/Andraschke 2010, S. 268).

Der Goldglanz zeugt nicht bloß vom Schauwert, sondern von Altersmüdigkeit, erloschener Streitlust, von der Stillstellung in der ästhetischen Betrachtung. »Es sind Zweifel erlaubt, ob die Classics unserer Tage aus den richtigen Gründen erfolgreich sind«, bemerkt zu Recht der Heidelberger Latinist Jürgen Paul Schwindt während einer Preisverleihung (Schmoll 2012, S. 8). Diese Einführung will die Geschichte der Philologie nicht bloß vom 19. Jahrhundert her erzählen – als Geschichte des Aufstiegs, der Vertrauenskrise und der späten Musealisierung einer disziplinären Struktur. Stattdessen soll, schon um der Dialektik willen, das eingeholt werden, was in der Selbstauskunft europäischer Philologen regelmäßig zu kurz kommt: die Vormoderne, die Globalität, die Gegenwart.

Der wissenschaftshistorische Zugang rückt ältere und neuere Programmschriften auf Distanz, klärt über die Bedingtheit von Frageansätzen und Arbeitsweisen auf, ohne sich selbst aus der Historisierbarkeit zu entlassen. Der wissenschaftsgeschichtliche Ansatz darf nicht zu dem Fehlschluss führen, den Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff begeht, wenn er 1921 behauptet: »Was Philologie ist und sein soll, hat sich aus ihrer Geschichte ergeben.« (S. 80)

Nur der erste Teil ist richtig: Was Philologie ist, das steht in keinem Auftrag, in keiner Gesetzesvorlage, sondern lässt sich nur begreifen, wenn mit der Gegenstandserkenntnis auch immer deren Geschichte mit erfragt wird. Der dialektische Ansatz löst die Philologie aus ihrer Schicksalhaftigkeit, aus der alternativlosen Geschichtsphilosophie – und öffnet die Türen.

Die Geradlinigkeit philologischer Grundrisse des 19. Jahrhunderts kann und will die Einführung nicht bieten. Fortschrittsgeschichten und Klassizitätsgeschichten sind in dieser Form nicht mehr erzählbar. Um in der Fülle der Problemstellungen nicht die Orientierung zu verlieren, geht die Einführung von drei Leitfragen aus, die in den folgenden Kapiteln differenziert behandelt werden sollen:

1. Wissen – oder wissen wollen? Philologischen Kongressen, Projekten und Publikationen wirft man – zuweilen nicht zu Unrecht – vor, dass sie einen Überschuss an Themen, einen Mangel an Fragen erkennen lassen (Kaube 2007, S. 35). Stellt die Philologie nur vorhandenes Wissen aus – oder will sie neues Terrain erkunden? Welche Fragestellungen und Praktiken, nicht bloß Bestände und Institutionen machen die Philologie aus (Schwindt 2009, S. 12-13)? Was kennzeichnet unterschiedliche philologische Arbeitsweisen, aus welchen Traditionen kommen sie, welche vorgespurten Wege durchkreuzen sie?

2. Bestandssicherung – oder Grundlagenkritik? Der Philologie werden Leistungen zur kulturellen Selbstvergewisserung von Gesellschaften abverlangt. Welche Aufgaben der Kritik vorgefundener Strukturen setzt sie sich selbst (Vanek 2007, S. 99-154)? Inwiefern stellt die Philologie die politische Machtfrage (Foucault 1971; 1994, S. 1004-1008), inwieweit übt sie selbst Macht aus (Gumbrecht 2002; 2003, S. 9-21)? Woher kommt die Demutsgeste der ›armen Philologie‹ – einer um Mitleid bemühten Wissenschaft? Wie setzt die Rhetorik der globalen Fülle und Pluralität, der ›reichen Philologie‹, einen Gegenakzent (Pollock 2010, S. 185-189)?

3. Erfolgsbilanz – oder strukturelles Defizit? Die Philologie steht im Gegensatz zu kurzfristigen Programmen für Gründlichkeit, Langfristigkeit, Beharrlichkeit (Bertho/Plachta 2008, S. 7-8). Philologie bedeutet kritische Prüfung, umfasst aber auch die melancholischen Verzettelungen, die zu keinem Ende kommen (Schlaffer 1990; 2005, S. 214-218) – und das Jammern darüber, dass wissenschaftliche und politische Umwelten diese Melancholie nicht honorieren. An welchen Stellen hat sich der philologische Habitus bewährt, wo liegen strukturelle Mängel philologischer Programme?

1. Definitionen

Natürlich kann eine Einführung nicht ohne begriffliche Vorannahmen auskommen, selbst wenn sie Definitionen nicht naiv übernimmt, sondern historisiert. Philologie, so viel lässt sich sagen, bezeichnet

das Studium und die Erforschung sprachlicher Phänomene und Strukturen in einem weiten, literarischer Phänomene und Strukturen in einem engeren Sinn.

Dass sich philologische Grundsatzdebatten darauf richten, was unter Sprache und Literatur überhaupt zu verstehen ist, lässt sich schon in knappen Wörterbucheinträgen erkennen (RL, Bd. 2, S. 443-448). Erst recht liegt damit das Problem offen zutage, ob es um Sprachen und Literaturen in ihrer Binnengliederung geht – oder um deren Entstehungsgründe, historischen Verwendungszusammenhänge, um soziale Gefüge, um anthropologische Bedingungen, kognitive Leistungen.

Der Begriff der Philologie ist anders gebildet als Disziplinenbegriffe wie Biologie oder Geologie. Er bezeichnet nicht die Lehre von etwas, sondern, aus dem gr. philos (›zugetan‹, ›liebend‹) und logos (›Wort‹, ›Rede‹) abgeleitet und über das lat. philologia vermittelt, die ›Liebe zum Wort‹ (RL, Bd. 3, S. 74). Der Philologe ist zunächst nicht mehr als ein Freund gelehrter Gespräche (Zedler 1741, Sp. 1985). Zeichnet er sich dadurch aus, dass er sich, wie nach ciceronischem Verständnis, über wissenschaftliche Zusammenhänge zu unterhalten vermag (Horstmann 1989, Sp. 553)? Oder ist es das Wort, die Rede, für die er im engeren Sinn als Experte zuständig ist? In welchem Verhältnis stehen Wissensbezug und Redebezug?

Wie entwickelt sich aus einer affektiven Beziehung zum Gegenstand eine erkenntnisorientierte Relation? Geht es der Philologie um die Gewinnung von Erkenntnissen über sprachliche Phänomene, oder beschränkt sie sich auf die Überlieferung und Kommentierung komplizierter, kunstvoll gestalteter Texte? Wie steht eine verwissenschaftlichte Philologie zu Paralleltraditionen der Liebhaberei, des Dilettantismus, der Sammelleidenschaft und der Bestandspflege? Welchen Konjunkturen sieht sich die Philologie ausgesetzt, wie wählt sie den Gegenstand ihrer Zuneigung? Welche Zukunft kann die Philologie, die mit Zeugnissen der Vergangenheit zu tun hat, erschließen?

1.1 Liebe

Zwei grundsätzlich konkurrierende Philologieverständnisse lassen sich rekonstruieren. Das erste, das in der traditionellen Grammatik seinen Ursprung hat, setzt auf grundlegende Erkenntnisse in der Welt der Wörter – sprachliche Mikrostrukturen, literarische Makrostrukturen. Der lateinische Grammatiker Aelius Donatus (4. Jh. n. Chr.) soll eine Abhandlung De structuris verfasst haben, die sich mit metrischen Klauseln beschäftigt (DNP, Bd. 3, Sp. 775). Sprachtheoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts denken über die Möglichkeit einer universalen Sprache nach, die Strukturmängel einzelner, historischer Sprachen hinter sich lassen kann (Subbiondo 1992). Nach dem »geistigen Wörterbuch«, den Grundlagen der menschlichen Sprache und Geschichte, fragt der italienische Vordenker Giambattista Vico (1725; 1744; 1990, § 145 [S. 93]).

Fordert Heinrich Wölfflin in den Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen (1915) eine »Kunstgeschichte ohne Namen«, so wendet sich auch die Philologie des 20. Jahrhunderts verstärkt formalen Fragen zu, die über das historische Einzelobjekt, die Werkbiographie eines Einzeldichters hinausreichen. Der Romanist Hugo Friedrich (1904–1978) tritt mit seiner Studie Struktur der modernen Lyrik (1956) hervor, in der er für eine ausgenüchterte, überpersönliche Philologie plädiert. Der Strukturalismus im engeren Sinn, der sich zuerst in Osteuropa, dann an der US-Ostküste und in Paris aus dem Dialog von Ethnologie und Philologie entwickelt, eröffnet amerikanischen und westeuropäischen Wissenschaftlern eine Forschungsperspektive – und die Aussicht, eine Weltanschauungsphilologie zu verabschieden, die in politischen Diensten steht (Müller/Lepper/Gardt 2010). Roman Jakobson (1896–1982), führende Figur im Moskauer und im Prager Linguistenkreis, Professor in Harvard und am Massachusetts Institute of Technology (MIT), sieht sich selbst nicht in erster Linie als avantgardistischen Literaturtheoretiker, sondern, bescheidener, als »Russian philologist« (Pollock 2009, S. 933).

Eine solche strukturorientierte Philologie ist notwendigerweise transnational ausgerichtet. Beobachtungen, die oberhalb und unterhalb der Ebene des Einzeltexts ansetzen, können sich, wie in Hutcheson M. Posnetts (1886, S. V-VI) Programm der »Comparative Literature«, auf die vergleichende Grammatik und Sprachwissenschaft beziehen, die sich seit Franz Bopps Vergleichender Grammatik (1833–52) entwickelt: »The designation had apparently been coined in emulation of such nomenclatures as the Vergleichende Grammatik of Bopp, or Comparative Anatomy, Comparative Physiology, Comparative Politics.« (Gayley 1903, S. 57)

Die grammatisch geprägte, an Strukturmustern, Regelmäßigkeiten, Gesetzmäßigkeiten interessierte Philologie bekommt es mit großen Mengen von Material zu tun – es gebe, heißt es in dem Entwurf (1884) des Germanisten Wilhelm Scherer (1841–1886) für sein philologisches Seminar in Berlin, »keine wissenschaftliche Untersuchung auf dem Gebiet der Philologie und Geschichte, die mit einem oder wenigen Büchern geführt werden kann«. Notwendig sei der »unbehinderte, sofortige und gleichzeitige Gebrauch vieler Bücher« (Meves 2011, S. 843). Ein solcher Zugriff findet unter den Bedingungen globaler Kanonpluralität und digitaler Textverfügbarkeit seine aktuelle Entsprechung in der Korpuslinguistik und in der vergleichenden Literaturgeschichte – »distant reading« lautet das Begriffsangebot des italienisch-amerikanischen Komparatisten Franco Moretti (geb. 1950), der sich mit historischen Makroentwicklungen, darunter mit dem europäischen Roman des 19. Jahrhunderts beschäftigt (2000, S. 56). Der Sanskrit-Forscher Sheldon Pollock (geb. 1948) fordert die Verabschiedung subjektivistischer Interpretationstraditionen, die sich auf einen engen muttersprachlichen Kanon beziehen: »Disciplines can no longer be merely particular forms of knowledge that pass as general under the mask of science; instead, they must emerge from a new global, and preferably globally comparative, episteme and seek global, and preferably globally comparative, knowledge.« (Pollock 2009, S. 948)

Das zweite Philologieverständnis, das von der Textkritik und der Hermeneutik ausgeht, besteht auf der unhintergehbaren Einzigartigkeit und Eigenwilligkeit des sprachlichen Zeugnisses, des herausragenden Textes. Täuscht die »strenge Ordnung der Grammatik« (Alt 2007, S. 18) nicht über die Komplexität der Sprache, erst recht des literarischen Kunstwerks hinweg? Bouvard und Pécuchet, die tragikomischen Figuren in Flauberts gleichnamigem Roman (1881), erleben ein Desaster, als sie sich von der Grammatik die »Vermittlung letzter Wahrheiten« erhoffen: »Am Ende erschließt sich auch in den fest umrissenen Landschaften der Grammatik keine klare Orientierung; Flauberts Helden müssen erkennen, daß die überlieferten Prinzipien des Textverstehens schwankend und in sich zweifelhaft bleiben: ›Ils en conclurent que la syntaxe est une fantaisie et la grammaire une illusion‹.« (Alt 2007, S. 18)

Kann man sprachliche, erst recht literarische Phänomene nicht ausschließlich auf der mikrologischen Ebene rekonstruieren und verstehen? Das Hildebrandslied gibt es nur einmal – ein einziger Text in einer einzigen Handschrift aus dem 9. Jahrhundert. Der Etymologe Johann Georg von Eckhart (1664–1730) bietet ein frühes Faksimile in den Commentarii de rebus Franciae Orientalis (1729, S. 864-866). Über Shakespeares Tragödien oder über Hölderlins Fragmente forschen Generationen von Philologen doch offenbar nicht, weil die Verse unzähligen sprachlichen Äußerungen ihrer oder einer anderen Zeit gleichen würden, sondern gerade weil sie sich signifikant unterscheiden. Literarische Texte setzen nicht bloß grammatische Regeln um, sondern brechen solche Regeln – und bedürfen deshalb, wie Friedrich Schleiermacher (1768–1834) bemerkt, in ihrer individuellen Anlage einer besonderen Verstehensanstrengung. Wilhelm Dilthey (1833–1911) begreift die Philologie entsprechend als einen Zusammenhang, der auf die »Erkenntnis des Singulären« gerichtet ist (Alt 2007, S. 16).

Individualität (von lat. individuum, ›Einzelnes‹, ›Unteilbares‹) steuert als Leitbegriff die poetischen und hermeneutischen Debatten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (HWbPh, Bd. 4, 1976, Sp. 314-318). Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Singularität (von lat. singularis, ›einzeln‹, ›ausgezeichnet‹). Nachdrückliche Kritik handelt sich deshalb eine Philologie ein, die Strömungen, Gruppen, Epochen typisiert. Solche Muster, bemerkt der Germanist Wolfgang Braungart,

»stabilisieren und verengen den Kanon und fördern ein Verständnis vom Autor als ›Vertreter‹, als ginge es um Staubsauger und Versicherungen. In Lessing sieht man gerne einen ›typischen Vertreter‹ ›der‹ Aufklärung und in Heinrich Böll einen ›typischen Vertreter‹ ›der‹ bundesrepublikanischen Nachkriegsliteratur. Als könnte es für einen Autor nichts Größeres geben, als eine Epoche, als eine Tendenz, eine ›Strömung‹ zu ›vertreten‹. Dabei ist es doch bei literarischen Texten, beim Ästhetischen überhaupt, nicht anders als bei Menschen: Das Individuelle zieht uns an und fesselt uns, nicht das Allgemeine.« (Braungart 2012, S. 197-198)

Die Individualitätsphilologie, die sich den Strukturfragen entgegenstemmt, betont die Momente der Anziehung, der Faszination, der liebevollen Zuwendung zum Gegenstand um seiner Eigentümlichkeit willen. Die religiöse Herkunft eines philologischen Liebesdienstes lässt sich nicht verleugnen: Andacht, Versenkung, Berührung prägen den liturgischen Umgang mit heiligen Texten – ein »very close reading of very few texts—secularized theology« (Moretti 2000, S. 208). Entsprechend beschränkt sich die Individualitätsphilologie auf die geringe Zahl – auf wenige, komplexe Zeilen, die es zu klären gilt, auf die geliebten, existenzerhaltenden Bücher, die der Gelehrte auf der Flucht, der Pionier auf der Reise mit sich führt. Der amerikanische Literaturwissenschaftler J. Hillis Miller (geb. 1928) wirft einen respektvoll-ironischen Blick auf die amerikanische Predigertradition, die nicht ohne Folgen für eine Philologie des kleinen Kanons bleibt: »Both of my parents came from Virginia. My father was an ordained southern Baptist minister who later became a university president. I’ve a brother who is a Presbyterian minister. I’ve a grandfather who taught men’s Bible class in a small country church in Virginia for forty years, and knew the Bible backwards and forwards.« (Interview with J. Hillis Miller; Salusinszky 1987, S. 231) Noch in einem curricularen Vorschlag für das Literaturstudium in den USA aus dem Jahr 2011 steht an zweiter Stelle selbstverständlich der Punkt »Reading Sacred Texts« (Scholes 2011, S. 144). Wie lässt sich die Vorstellung vom heiligen Text mit säkularen Bedingungen vereinbaren?

Le Plaisir du texteDie Lust am Textdéfiguration