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Daniela Schenk
Julia & Satine

für

Carol, Chrige, Marisa

und die liebste Mona

in knietiefer Dankbarkeit

und Liebe

Daniela Schenk

Julia
& Satine

Roman

Ulrike HELMER Verlag

eISBN 978-3-89741-983-4

© 2016 eBook nach der Originalausgabe
© 2004 Copyright Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Taunus
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Atelier KatarinaS, NL

Ulrike Helmer Verlag
Neugartenstraße 36c, D-65843 Sulzbach/Taunus
E-Mail: info@ulrike-helmer-verlag.de
www.ulrike-helmer-verlag.de

1. Teil Hin

 

1. Kapitel ______Julia

Vergeblich – die Winde –
dem Herzen im Hafen –
weg mit dem Kompass –
weg mit den Karten!

Emily Dickinson

Eher findet ein Kamel durch ein Nadelöhr als Julia ihren Weg. Mit beängstigender Regelmäßigkeit biegt sie links ab, wenn sie nach rechts hätte gehen müssen; sie verpasst Türen, Abzweigungen und Einfahrten, übersieht Schilder und vergisst Namen und Adressen. Berthe war der Ansicht, dass man ihr ein Navigationssystem ins Hirn einbauen sollte, die Mädchen krümmten sich vor Lachen, wenn sie anstatt des Ausgangs die Tür zu einem Putzraum erwischte. Schon in ihrem siebzehnten Lebensjahr taufte sie rechts und links in lechts und rinks um, was ihr in Deutschprüfungen und Aufsätzen Punkteabzüge bescherte. Im selben Jahr boykottierte sie die schulischen Orientierungsläufe, da sie es satt hatte, stundenlang in Wäldchen herumzuirren und von kleinen Hunden in die Wade gebissen zu werden. Sie fiel durch die Fahrradprüfung, sie fiel durch die Mofaprüfung und sie wäre ein drittes Mal durch die Autoprüfung gefallen, wenn sie nicht eine Affäre mit dem Fahrlehrer angefangen hätte. Sie versuchte sich ernsthaft im Kartenlesen, doch die Straßen begannen immer gleich mit den Eisenbahnlinien zu tanzen. Ihr wurde dabei so schwindlig, dass sie die Landkarten kurzerhand zu Einkaufszetteln zerschnitt.

Dann lernte sie den Deutschen Jürgen kennen, und wahrscheinlich wäre das mit ihm auch wieder nur eine kurze Geschichte geworden, wenn Jürgen nicht Doktor der Physik gewesen wäre und ihr in der zweiten Liebesnacht von der Theorie der Antimaterie erzählt hätte. Jürgen erklärte ihr, dass parallel zur Materie eine Antimaterie existiert, dass es für jedes Teilchen ein Antiteilchen gibt, dass die Teilchen dieser und jener Welt identisch sind, einzig die elektrische Ladung ist unterschiedlich. Während Jürgen weitererzählte und bald in Bereiche kam, in denen Julia nur noch Bahnhof verstand, jubelte es in ihr: Ihr verkehrter Orientierungssinn schien auf einmal einleuchtend – sie war eine Tochter der Antimaterie! Was in dieser Welt links und rechts war, war in der Gegenwelt lechts und rinks! Das hier war nur die Spiegelung ihrer wahren Landkarte. Deshalb schickte sie Touristen regelmäßig und unabsichtlich auf eine Reise ohne Wiederkehr, deshalb hatten sie die Pfadfinder schon am ersten Tag heimgeschickt! Die lehrreiche Liebesnacht hinterließ unauslöschliche Spuren in Julias Leben – sie schloss Frieden mit ihrem Herumirren, wurde schwanger, heiratete Jürgen, gebar eine Tochter und später eine zweite, aber das Eheleben war – obwohl Jürgen ihr weitere spannende Theorien aus der Physik erklärte – doch nicht das Gelbe vom Ei. Woraufhin Julia die Scheidung einreichte. Woraufhin Jürgen die Alimentezahlung nicht so im Griff hatte, was schließlich zu einem unschönen Rechtsstreit führte.

Nach monatelangem zermürbendem Hin und Her bekam Julia Recht. Darauf brauchte sie dringend Erholung und flog mit den Mädchen und Berthe auf eine Insel, wo sie umgehend das tat, was sie am besten konnte: Sie suchte vergeblich den Weg. Berthe saß schnalzend auf ihrem Koffer, während die Mädchen ein Spiel spielten, dessen Regeln Leandra festlegte und Denia nicht verstand. Angestrengt hielt Julia nach dem richtigen Weg Ausschau, aber sie hätte gerade so gut ein Kreuzworträtsel auf Suaheli lösen können.

»Julia, gaff nicht rum, konzentrier dich!«, brüllte Berthe.

Julia zeigte vage den schmalen Weg hoch. »Okay, gehen wir mal hier hinauf und dann biegen wir rinks ab, das sagt mir jedenfalls mein Orientierungssinn …«

Berthe lachte schallend, begleitet vom Gackern der Mädchen. Dann stemmte sie die Arme in ihre üppigen Hüften. »Jesses Maria, wir suchen seit zwei Stunden in einem Dorf herum, das höchstens hundert Häuser zählt! Und den Namen der Vermieterin hast du auch vergessen. Großartig ist das! Phänomenal! Wahnsinn

Julia zog die rote Schirmmütze tiefer ins Gesicht und warf ihren Töchtern einen verlegenen Blick zu. »Schaut weg, Mädchen, im Moment bin ich nicht euer Vorbild, sondern ein schreckliches Mahnmal.«

»Aber Mama, du bist doch nie und nimmer mein Vorbild, sondern Gabriela, die kann superweit spucken.« Leandra sprang auf und spuckte den Weg runter, »ich kann eben nur so weit.« Denia stand ebenfalls auf, spuckte an Leandra vorbei, mehrheitlich jedenfalls, und umschlang Julias Beine. »Mama, was ist ein Vorbild? Ich möchte lieber Piratin werden.«

Berthe schnaubte unüberhörbar.

»Berthe, hör auf damit, du bist kein Pferd«, sagte Julia, »du behauptest doch immer, dass du eine Hexe bist. Also stimm dich mal auf unsere Wohnungen ein! Wenn du schon dank deiner geistigen Führerin leere Parkplätze findest, könntest du auch unsere Wohnungen aufspüren.«

Berthe brummte. »So, so, plötzlich lobpreist Madame uns Hexen. Wer’s glaubt, wird rührselig!« Aber sie setzte sich trotzdem gerade auf, schloss die Augen und legte die Handteller auf die Schenkel.

Die Mädchen guckten mit offenen Mund zu. »Schläft sie jetzt?«, wisperte Denia.

»Nein, sie hört in sich hinein«, flüsterte Leandra.

»Was kann man denn da hören? Ich höre manchmal den Magen knurren oder ich furze –«

»Schnauze!«, donnerte Berthe. »Zieht su-bi-to den verdammten Reißverschluss in eurem Gesicht zu!«

Die Mädchen trollten sich widerwillig. »Mama, ich hab keinen Reißverschluss im Gesicht«, beschwerte sich Lea.

»Das ist nur eine Redensart«, raunte Julia ihr zu. »Seid jetzt still, Berthe macht nützlichen Hokuspokus.«

»Doofer Redensdingsbums ist das, du sagst immer, man darf nicht lügen, und es ist doch gelogen, wenn Berthe sagt, dass mein Mund einen Reißverschluss hat, oder siehst du irgendwo das Dings, woran man ihn zuziehen kann?«

»Eben nicht! Sonst hätte Berthe bestimmt schon dran gezogen!«

»Phu!« Denia drehte beleidigt ab.

Schließlich war Berthe auf die Fährte eingestimmt. Sie ächzte den steilen Weg hinauf, bog nach links, gleich wieder nach rechts, geradeaus, nochmals rechts, und murmelte »ja, ja!«, aber als sie am Ende des Dorfes vor einer heruntergekommenen Tankstelle stand, war das mit der Spur wohl nichts gewesen.

»Vielleicht hast du doch nur Fürze gehört«, mutmaßte Denia. Bevor sie ihre Theorie weiter ausführen konnte, hielt ihr Julia den Mund zu.

Berthe lief rot an. »Jesses Maria, diese Ferien sind schon jetzt totale Scheiße!«

»Scheiße darf man nicht sagen, sagt Mama«, wandte Leandra ein und machte mit ihren Armen Flügelbewegungen. Berthe wollte eben auf Leandra losgehen, als sie hinter ihr eine Stimme zu hören war: »Hola, usted son la señora Davide? Appartamento?« Sie drehten sich verdutzt um. Vor ihnen stand die hübsche Wiedergeburt der Frida Kahlo mit kunstvoll hochgestecktem Haar.

Berthe und Julia nickten gleichzeitig: »Si, si, io Julia David – appartamento, si?«

Die kleine Frida bedeutete ihnen, ihr zu folgen, Julia wischte sich den Schweiß von der Stirn und packte ihren Koffer. »Berthe, eines steht fest: Deine innere Führung und mein Orientierungssinn sind der Stoff, aus dem die Albträume der Entdecker dieser Welt gemacht sind!«

Das Haus war neu, gelb und stand zuoberst im Dorf. Sie bezogen zwei Wohnungen, Berthe eine kleine und Julia die größere; davor breitete sich eine große Terrasse aus, von wo aus sie auf die Dächer des Dorfes und über das fruchtbare Land bis zum Meer sehen konnten. Die Mädchen zerrten ihre Spielzeuge hervor, um sie gleich wieder achtlos fallen zu lassen und die Nachbarschaft zu erkunden, Julia setzte sich an einen mächtigen Steintisch und genoss den Ausblick. Sie schnupperte die fremden Gerüche, räkelte sich in der herrlich lauen Luft, hörte das Lachen und Palavern ihrer Töchter und war glücklich. Aber bald wurde sie daran erinnert, wie vergänglich Glück doch war, denn Leandra erschien und streckte ihr jammernd die Hand entgegen, mit der sie eine Kaktusfeige gepflückt hatte. Das war nicht überraschend, Lea brachte dauernd Verletzungen nach Hause, so wie andere Kinder Rosskastanien oder schlechte Noten. Julia spielte mit dem Gedanken, ihrer Tochter gleich einen ganzen Verbandskasten an die Rippen zu montieren, das wäre praktisch, die Wundpflaster stets griffbereit. Julia schaute zu, wie Lea der Rotz aus der Nase floss und wie die Kleine ihn mit der Zunge auffing. Julia hatte das als Kind auch so gemacht, dieser gelblichgrüne glibberige salzige Schleim schmeckte gar nicht schlecht, fand sie. Ehrlich gesagt tat sie es auch heute noch – in unbemerkten Momenten jedenfalls.

Berthe räucherte indessen ihre Wohnung aus, um sie von negativer Energie zu befreien. Julia fragte sich, warum bei diesem Gestank bloß die negativen Energien das Weite suchen sollten, aber Berthe wusste es besser, sie war schließlich – damit gab sie oft genug an – eine Hexe mit wallenden Kleidern, wallendem Haar und aufwallendem Temperament. Sie hatte in einer Reinkarnationstherapie erkannt, dass sie im Mittelalter als rothaarige Kräuterfrau auf dem Scheiterhaufen gelandet war. Seither war sie davon überzeugt, das Erbe dieser Rothaarigen angetreten zu haben.

Julia war der Meinung, dass Esoteriker und Hexen wie Berthe die wahrhaft Verirrten waren: »Die haben die Orientierung im Geist verloren, und das ist weitaus schlimmer als zwischen dummen Häuserblocks herumzuirren«, pflegte sie zu sagen. Berthe ließ sich von Julias Urteil nicht beeindrucken. Sie legte Tarotkarten, befragte ihre innere Führerin, pendelte, schluckte Bachblütentropfen und zelebrierte Mondrituale. Wo immer sie hinging und was immer sie tat, sie sah und spürte Zeichen und hoffte auf Wunder.

Beim Abendessen jammerte Lea wegen der Dornen, die Julia nicht herausgebracht hatte. Sie saßen vor dem Restaurant mit Ausblick auf die nächste Hauswand, vor ihnen auf dem Tisch stand noch das Gedeck ihrer Vorgänger. Die Abendbrise bewegte die Bäume und die Haare der Gäste. Die Pergola war mit farbigen Lämpchen geschmückt, die Mauern gaben die Hitze des Tages wohldosiert zurück. Kaum wurde das Essen serviert, glitt Denia vom Stuhl und schlenderte, ein Stück Pizza in der Hand, durch die Tischreihen. Leandra hatte ihre Hand in Berthes Schoß gelegt, die konzentriert, aber vergeblich die Dörnchen auszuzupfen versuchte. Julia genoss den milden Abend und dachte mit einem Anflug von Schadenfreude daran, dass es in der Schweiz jetzt schon recht kalt und dunkel war. Sie hörte, wie eine Frau auf Englisch fragte, ob ein Tisch frei sei. Der Kellner verneinte. Die Frau hatte einen schönen französischen Akzent, fand Julia. Sie saß mit dem Rücken zu der Fremden, aber auch wenn sie sie gesehen hätte, wäre ihr weiter nichts Besonderes aufgefallen. In ihr wäre wohl kaum die Ahnung aufgestiegen, dass sie soeben den Tornado erblickt hatte, der künftig durch ihr Leben fahren und es vollständig auf den Kopf stellen sollte. Julia wollte von solchen Ungeheuerlichkeiten sowieso nichts wissen, sie schaute lieber Berthe bei der Dornenoperation zu und erteilte nutzlose Ratschläge.

»Schau mal den dort!« Kaum war Berthe am Strand, deutete sie verstohlen auf einen Mann, der ausgestreckt auf einem rosa Badetuch mit gelben Schiffchen lag. Wenn Berthe verstohlen auf jemanden zeigte, war das, als würde sie durch ein Megaphon schreien: »Schaut, der Mann dort gefällt mir!« Julia hatte sich an die mangelnden Zwischentöne ihrer besten Freundin gewöhnt, sie kannte Berthe seit dem Kindergarten und hatte sie oft genug in Aktion erleben dürfen. Berthe besaß dieses feine Gespür für Fettnäpfchen. Es gab Geräte, mit denen man Minen orten konnte; Berthe konnte zielsicher Fettnäpfchen aufspüren. Das allein wäre nicht schlimm gewesen; schlimm war, dass sie immer mitten hineintrat.

Julia schnalzte verächtlich. »Ein Mann, der auf einem rosa Tuch liegt, kann nicht interessant sein. Stell dir vor, der lässt die Hosen runter, da kann dich ja allerhand erwarten.«

»Das will ich doch hoffen!«

»Berthe, ich meine die Unterhose! Ich wette, er trägt hellgrüne mit orangefarbenen Punkten oder violette mit himmelblauen Elefäntchen. Ein Mann, der sich freiwillig auf einen Albtraum von einem Badetuch legt, ist nicht die Elefäntchen auf seiner Unterhose wert.«

»Ich finde ihn süß.« Berthe grub ihre Zehen in den Sand und äugte hinüber.

»Männer sind nicht süß. Sie sind vielleicht cool, kräftig, praktisch, unrasiert oder halten dir die Tür auf, aber süß? Nein. Meine Töchter sind süß. Zumindest wenn sie schlafen.«

»Ich finde ihn aber süß. Und, siehst du? Er ist allein!« Berthe geriet zusehends aus dem Häuschen, Julia seufzte, sie konnte geradezu körperlich spüren, wie die Fettnäpfchen als fliegende Untertassen auf Berthe zuflogen. Julia legte sich zum Sonnenbaden hin, was vergebliche Liebesmüh war, denn sie wurde nicht braun, sondern rot. Dann schälte sich ihre Haut und war wieder weiß.

Berthe schubste sie. »He, du kannst doch jetzt nicht deine Augen schließen!«

»Wieso nicht?«

»Wieso nicht, fragt sie!«, Berthe schüttelte entrüstet den Kopf. »Ich sage dazu nur«, sie zählte mit Blick zum Himmel, »also ich sage dazu nur vierzehn Buchstaben: I-n-s-e-l-a-b-e-nt-e-u-e-r.«

Julia drehte sich stöhnend auf den Rücken, »Berthe, ich komme direkt aus einem Rechtsstreit um Alimentezahlungen mit meinem Exmann, lass mich doch erst mal ankommen!«

»Wenn ich dich ankommen lasse, passiert rein gar nichts. Seit zwei Jahren passiert bei dir rein gar nichts!« Berthe schaute wieder zum rosa Badetuch.

»Ja und?«

»Ja und! Früher hattest du dauernd Männer! Da ist es doch abartig, dass du jetzt wie eine Nonne lebst.«

Julia beobachtete, wie Denia mit der Taucherbrille die Wellen untersuchte oder vielmehr untersuchen wollte. Sie kniete dort, wo die Wellen ans Land gespült wurden. Kam eine dahergekrochen, tauchte sie mit der Brille in den Schaum, doch da hatte sich die Welle schon zurückgezogen und Denia steckte mit dem Kopf im Sand. Sie versuchte es wieder und wieder, erfolglos.

»Ich habe keine Zeit für die Liebe«, sagte Julia schließlich.

Berthe zeichnete Muster in den körnigen Boden. »Man hat immer Zeit für eine Nummer hier und da.«

»Das interessiert mich im Moment aber nicht«, sagte Julia und schnellte plötzlich hoch. Berthe richtete sich ebenfalls auf. »Jesses, was ist denn nun wieder los?«

»Ich ertrage den Anblick meiner dummen Tochter nicht mehr!« Sie ging im Stechschritt auf Denia zu, die soeben wieder die Taucherbrille im Sand versenkt hatte.

»Meine Sonnenblume, du bist zu langsam! So erwischst du die Welle nie, kapierst du das nicht?!«

»Welche Welle?« Denia blickte durch die sandige Taucherbrille zu ihrer Mutter auf.

»Na, diejenige, die du immer verpasst!«

»Aber Mama, die Welle ist mir schnuppe. Ich will den Sand anschauen, nachdem die Welle drüber gegangen ist.«

»Was?« Julia blickte ihre Tochter entgeistert an.

»Ja, der Sand sieht so schön aus, wenn die Welle darüber gegangen ist – das möchte ich anschauen.«

»Dazu brauchst du doch keine Taucherbrille, die ist fürs Wasser!«

»Du verstehst das nicht.« Denia schwenkte wichtigtuerisch die Brille im Wasser.

»Ich verstehe tatsächlich nada.« Kopfschüttelnd kehrte Julia zurück. Berthe blickte sie neugierig an. »Frag nicht! Die haben bei der Geburt mein Kind ausgewechselt, garantiert! Den Sand anschauen, nachdem die Welle darüber gegangen ist. Wer so was tut, kann nicht meine Tochter sein.«

Berthe grinste: »Dumm nur, dass sie dir wie aus dem Gesicht geschnitten ist.«

Julia machte eine wegwerfende Bewegung. »Manchmal gleichen sich zwei Äpfel auf den Stiel, aber der eine ist innen faul. Vergessen wir’s. Wo waren wir?«

»Bei der Libido.«

»Ach ja, die Libido. Übrigens, ich habe diesbezüglich ein neues Motto – hab ich dir schon davon erzählt?« Berthe schüttelte den Kopf. »Es lautet: lieber Mikado als Libido. Gut, nicht?!«

Berthe verdrehte die Augen und Julia grinste. Auch, als ihr Berthe darlegte, dass ausgewogener Sex für das körperliche und seelische Wohlbefinden wichtig sei. Sie versuchte sich das Schmunzeln zu verbeißen, als sich Berthe darüber aufregte. Sie schmunzelte inwendig weiter, während sie mit geheucheltem Interesse ihren Töchtern beim Sandhügelbauen zusah. Gespräche über Sexualität reizten sie. Sie konnte nicht begreifen, warum die meisten bei diesem Thema ernst und wichtig wurden. Das Gerede über Ekstase, Liebe, Berührtwerden und Vereinigung ging ihr auf die Nerven. In ihren Augen war Sex nichts weiter als Sex. Nicht mehr und nicht weniger. In dieser Hinsicht war sie eine vorbehaltlose Existenzialistin. Sex war ein körperlicher Akt zwischen zwei Menschen, der auf der richtigen Mischung von Reibung und Feuchtigkeit basierte, der den Puls beschleunigte und dich keuchen und stöhnen ließ, dich zum Orgasmus führte. Es war eine positive sportliche Betätigung, die in keiner Phase anstrengend war. Julia machte weder die Erfahrung von Ekstase noch von Verschmelzung, sondern eben von Sexualität. Sie wurde ekstatisch, wenn sie die Sonne aus den Regenwolken hervorbrechen sah, Musik konnte sie zum Schmelzen bringen, es rührte sie, wenn ihr Leandra mit verschmiertem Mund und leuchtenden Augen einen Kieselstein entgegenstreckte. Aber Sexualität? Das war nicht Gefühl, sondern Empfinden, Körperlichkeit, das Erklettern eines Gipfels. Mehr nicht.

Berthe behauptete, dass Julia keine Ahnung von der Liebe hatte.

Julia behauptete, dass Berthe keine Ahnung von ihrer Ahnung von Liebe hatte. Sie konnte nicht wissen, dass jemand ihre Ahnung von Liebe gewaltig verändern würde und dass diese Person ein paar Badetücher entfernt lag, mit einem Buch vor dem Gesicht.

Julia ging mit den Mädchen dem Strand entlang spazieren. Die Kinder suchten nach Muscheln und hofften, eine angeschwemmte Flaschenpost zu finden. Julia betrachtete den Übergang vom grünblauen Meer zum schwarzen Sand zu den saftiggrünen Bananenplantagen zum hellbraunen Gestein der Felsen zum dunkelblauen Himmel. Sie suchte das Haus, in dem sie wohnten, und fand einen kleinen gelben Fleck oberhalb des Dorfes. Die Luft war so klar, dass die Felsen zum Greifen nah schienen, die Farben klebten schier auf der Haut.

»Mama, spielen wir Zieh den Karren?« Leandra packte drängend Julias Hand und schaute sie treuherzig an. »Bitte zieh mich!« Julia murrte, ergriff aber Leandras zweite Hand. Denia stellte sich hinter ihre Schwester und packte sie an den Hüften. »Und ich bin der Anhänger!«, krähte sie. Julia setzte sich rückwärts in Bewegung, Leandra steuerte, indem sie an Julias rechter oder linker Hand zog. »Wir sind ein Ränsch Rover«, kicherte Leandra. Plappernd steuerte sie Julia durch die Sonnenbadenden, dann entdeckte sie einen sehr interessanten Eisstand und übersah die langen Beine vor ihnen auf der Bahn. Julia stürzte rückwärts darüber und landete mit dem Hintern im schwarzen Sand. Die Mädchen hechteten solidarisch und kreischend auf sie. Auf dem Rücken liegend fluchte Julia, lachte und schaute dann auf – direkt in die dunklen Augen einer Frau.

2. Kapitel ______________Satine

Ich würde dir ohne Bedenken
eine Kachel aus meinem Ofen
schenken.

Joachim Ringelnatz

Ich hatte mir hoch und heilig versprochen, mich nie mehr in eine heterosexuelle Frau zu verlieben. Im Französischen und im Englischen verliebt man sich fallend – je tombe amoureuseI fall in love. Oh, ja, man könnte den Akt des Sichverliebens nicht präziser ausdrücken! Erst wird man in den Siebten Himmel katapultiert, dann stürzt man hinab. Das ist ein großer Sprung und ein tiefer Fall. Sich zu verlieben ist letztendlich eine Abwandlung von Straucheln, die Frage ist nur: Wohin fällt man? In die Liebe, werden Sie sagen, und da haben Sie Recht. Nur – was für eine Liebe ist das? Manchmal ist sie ein schöner Teich, ein tiefblauer See, das grenzenlose Meer, und das Hineinfallen ist traumhaft. Bei mir ist die Liebe meist eine Jauchegrube, in der ich ersticke, noch bevor ich darin ertrinken kann, oder sie ist eine Pfütze, in der ich mir sämtliche Knochen breche.

Wenn die Liebe ein Schwimmbecken ist, so ist die heterosexuelle Frau der Hai darin, der mich in Stücke reißt, kaum dass ich ins Wasser steige. Zwei Haie haben schon auf mir herumgekaut, einen dritten würde es nicht geben.

Das habe ich mir versprochen, hoch und heilig.

Doch während ich dieses Versprechen im schwarzen Sand herunterbetete, beobachtete ich, wie eine Frau neben ihrer kleinen Tochter kniet und die Kleine ihre Taucherbrille im Wasser schwenkt. Ich schaute zu, wie die Frau zu ihrer üppigen Begleiterin zurückkehrt, wie sie mit der älteren Tochter spielt und lachend in die Wellen rennt. Sie war unglaublich weiß, ihr blondes Haar hatte einen Kupferstich und glänzte in der nachmittäglichen Sonne. Auch wenn ich ihr Gesicht nicht genau erkennen konnte, fand ich sie schön.

An diesem Nachmittag, als ich sie das erste Mal erblickte, war es eigentlich schon um mich geschehen, aber das wollte ich nicht wahrhaben, schließlich hatte ich mir Besserung gelobt.

Ich bin ein zurückhaltender Mensch, Freundschaften schließe ich lieber nach drei Jahren als nach einem Tag. Doch wenn es um Frauen, Liebe und Verlangen geht, spaziert meine Vernunft einfach davon. Sie fährt Achterbahn oder flaniert mit einer Zuckerwatte in der Hand durch die Stände. Zurück bleibt eine verknallte Satine mit nichts als dieser einen Frau im Kopf. Und eben mit nichts, was mich zur Vernunft bringen könnte.

Es gibt Frauen, gegen die mein System keine Abwehr kennt. Meistens sind sie blond oder kupferfarben, oft haben sie eine Narbe, sind heterosexuell und immer bedeuten sie mein Verderben. Mag sein, dass mir die Vernunft zuschreit, ich solle vorsichtig sein, aber was kann ich schon verstehen, wenn sie den Mund voller Zuckerwatte hat oder ganz oben auf der Achterbahn sitzt?

Ich setzte die Sonnebrille auf, um die Frau unbemerkt durch meine gespiegelten Gläser beobachten zu können, und hielt mir wie eine Agentin ein Buch vor die Nase. Ich konnte die Augen kaum von ihr lassen. Sie war irgendwie außergewöhnlich, überaus anmutig – mit ihrem sanft geschwungenen Körper, ihrer Haltung, der Leichtigkeit und der zeitweiligen ungelenken Bestimmtheit, mit ihrem Haar, das in sanften Wellen bis zu den Schultern schwang.

Oh, ich wusste, ich hätte wegschauen, ich hätte meine Siebensachen packen und an einen anderen Strand gehen sollen. Aber ich blieb und machte mir vor, bloß den Anblick dieser Frau zu genießen; redete mir ein, dass es ja auch Lesben gäbe, die Kinder hatten; beruhigte mich damit, dass sie mit einer Frau da war.

Ich wollte nicht wahrhaben, dass ein neuer Hai in meinem Schwimmbecken schwamm und seine Runden zu drehen begann.

Und ich wollte nicht wahrhaben, dass ich mich anschickte, den Fuß ins Wasser zu tauchen.

3. Kapitel _____________ Julia

… schenkt sie uns einen Sommertag,
schenkt sie uns auch Mücken.

Wilhelm Busch

Julia fiel also rückwärts über die langen Beine einer Frau. Sie landete im schwarzen Sand und schaute verblüfft auf die durchaus hübschen Beine neben sich. Die Frau richtete sich auf und errötete zu Julias Erstaunen, während sie stotterte: »’oppla! ’offentlich ’aben Sie sich nicht verletzt!«

Julia setzte ihr charmantestes Lächeln auf. »Hoffentlich haben Sie sich nicht wegen meiner Rambo-Tochter verletzt!« Sie wandte sich um: »Leandra, hast du nicht etwas in dieser Angelegenheit zu sagen, mhh?!«

Lea schaute zu Boden und wiegte ihren Körper hin und her. »Ehm, ja, es tut mir Leid, ich wollte Sie nicht überfahren.« Sie machte eine kurze Pause, dann blickte sie die Frau aufmerksam an. »Warum redst du denn so komisch?«

Die Frau lachte, sie warf dabei den Kopf in den Nacken, und Julia fand, dass sie ein erstaunlich breites Lachen hatte, bei dem schmalen Gesicht. »Meine Muttersprache ist Französisch, und zwar kann ich gut Deutsch, aber der Mund will alles französisch aussprechen«, sagte die Frau.

Denia trat zu ihrer Mutter und hielt sich an deren Schulter fest. »Ich kann auch Französisch«, sagte sie mit stolz erhobenem Gesicht. Julia drehte sich verwundert nach ihr um. »So? Ich höre!«

Denia warf sich in die Brust und trällerte los: »Franzosen mit den roten Hosen, mit den gelben Finken, pfui! die stinken.«

Julia verdrehte die Augen, die Frau lachte.

»Sehen Sie«, sagte Julia, »man gibt sich Mühe, sie zu toleranten Menschen heranzuziehen, aber die fallen einen mit rassistischen Sprüchen in den Rücken. Ich kann mir nicht erklären, woher sie den Reim hat.«

»Den hast du uns beigebracht, auf der Autofahrt nach Frankreich, als Denia das Auto vollgekotzt hat.« Lea setzte sich zwischen Julias Beine und hielt sie an den Knien fest.

»Sehen Sie, was ich meine? Die Kinder sagen leider auch noch die Wahrheit, und nun ist es endgültig vorbei mit meiner Mutterehre.«

»Ach, so schlimm ist es nicht, zumal ich nicht Französin bin, sondern eine Romande.«

»Oh, eine Landsfrau! Sind Sie noch ein paar Tage in der Gegend? Ich würde Sie gern als Wiedergutmachung zu einem Drink einladen. Jetzt geht es leider nicht, denn ich muss ein Unglück abwenden.« Julia deutete in Richtung ihres Strandplatzes, wo Berthe sich eben neben dem rosa Badetuch niedergelassen hatte. »Ich hoffe, es ist nicht zu spät.« Sie stand auf.

Lea kicherte, »Mama, du siehst wie eine Simmentaler Kuh aus.«

Denia begann auch zu kichern und sprang vor ihrer Mutter auf und ab. »Genau, oder wie ein wie ein wie ein«, sie gluckste, »wie ein – Mondkalb«, sie ließ sich übermütig in den Sand fallen.

»Nein, jetzt hab ich’s!«, Leas Gesicht strahlte wie ein Kessel voller Glut. »Mami sieht aus wie Schnee«, sie kicherte wieder los, »wie Schnee mit Kuhpflütter drauf.« Sie sprang wiehernd auf und raste davon, gefolgt von ihrer Schwester, die »Kuhpflütter, Kuhpflütter, Kuhpflütter« trompetete.

Julia biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf.

»Was ist ein Guflüttère?«, fragte die Frau verständnislos.

»Der Mist, den die Kühe hinten rauslassen. Übrigens, das sind nicht meine Kinder – sie standen rein zufällig neben mir.«

»Erstaunlich nur, wie sehr sie Ihnen gleichen, n’est-ce pas

Julia wischte sich den Sand von den Beinen, hob den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Mich erstaunt es auch immer wieder«, sie zwinkerte der Frau zu. »Ich lade Sie zu einem Drink ein, abgemacht?« Dann rannte sie hinter ihren Kindern her.

Berthe sah wie eine Südländerin aus; sie hatte dunkelbraunes langes Haar, gestikulierte jeden Italiener an die Wand, sie sprach laut, lachte noch lauter, zerbrach Geschirr und besaß viel Gefühl. Nicht unbedingt Feingefühl, vielmehr Leidenschaft und Dramatik, sie schien direkt einer Oper von Puccini entstiegen zu sein. Aber Berthe war alles andere als eine Südländerin, sämtliche Spuren ihrer Vorfahren verloren sich im Emmental. Julia fand diese Tatsache durchaus passend: Berthe war beleibt und hatte einen pikanten Charakter wie ein gut gelagerter Emmenthaler Käse, und sie konnte ätzende Fäden ziehen wie ein misslungenes Käse-Fondue. Auf dem Weg zurück zum Strandplatz sah Julia zu, wie Berthe solche klebrigen Fäden zog und den Mann auf dem rosa Badetuch zu umgarnen versuchte. Sie sprach auf ihn ein und warf dabei ihre Arme in alle Richtungen. Berthes üppiger Busen schaukelte wie ein Schiff in Seenot, derweil der Mann auf sein Badetuch starrte, als wäre dort das Penaltyschießen in einem WM-Finale zu sehen.

Seit Berthe den Unterschied zwischen Mann und Frau kannte, war sie aufs männliche Geschlecht versessen. Doch weil sie so leidenschaftlich auf der Jagd war, fand sie nie Zeit, eine längere Beziehung einzugehen. So grub sie eine Schneise durch den Männerbestand und stand am Ende doch immer mit leeren Händen da. Berthe hoffte, eines Tages ihren Seelenpartner zu finden, nur war ihr Jagdtrieb so groß, dass sie es mit jedem einigermaßen akzeptablen Mann versuchte. Nach jeder beziehungsmäßigen Bruchlandung veranstaltete sie ein Partneranziehungsritual. Sie zog eine unfreiwillige Julia auf den nächstbesten Hügel, stellte dort Kerzen auf, beräucherte die Gegend mit Salbei oder Weihrauch und verbrannte einen Zettel, auf dem die erwünschten Eigenschaften ihres zukünftigen Partners geschrieben standen. Derweil zündete Julia die Kerzen an, die vom Wind ausgelöscht wurden. Da auf einem Hügel immer ein Lüftchen wehte, zündete sie unentwegt Kerzen an, bis sie sich den Daumen am Feuerzeug verbrannte und schlechte Laune bekam. Manchmal bekleckerte Berthe den Platz mit ihrem Menstruationsblut, was Julia widerlich fand. »Du bist eben keine Hexe«, sagte Berthe ungerührt, wenn Julia frotzelte, dass Berthe mit ihren rituellen Wachskräutermenstruationsblut-Aschehäuflein aktive Umweltzerstörung betreibe.

Vor den Ferien hatte Berthe zu Julia gesagt: »Auf der Insel werde ich die große Liebe meines Lebens finden, ich spüre es.« Ein paar Monate später sollte sie sagen: »Ich wusste, dass Julia auf der Insel die große Liebe ihres Lebens finden würde.« Erinnerungen sind eine zwiespältige Angelegenheit, in Form von Zeugenaussagen sind sie der Albtraum aller Gerichtshöfe dieser Welt.

Julia schickte ihre Töchter zu Berthe mit der Botschaft, dass sie zurückgehen wolle. Berthe ließ ausrichten, dass sie nur schon vorgehen könne. Julia schickte ihre Töchter ein zweites Mal und ließ ausrichten, dass sie doch zusammen einkaufen gehen wollten. Sie sah zu, wie Berthe die Mädchen anschnauzte. Mit Denia im Schlepptau kam Lea zurück. »Wir sollen dir sagen, dass sie aus uns Bratwürste machen tut, wenn du uns noch einmal zu ihr schickst. Berthe ist eine blöde Kuh.«

In der nächsten halben Stunde versuchte Berthe Platz auf dem rosa Badetuch zu erobern, mit mäßigem Erfolg. Der Mann tat so, als schaue er einem Schiff beim Vorbeifahren zu, nur lag der Horizont wie leer gefegt im Nachmittagsblau. Die Rettung erschien in Form einer Frau mit hochhackigen Schuhen. Die Dame sank bei jedem Schritt tief in den Sand ein, was ihr eine würdelose Rücklage bescherte, und steuerte dennoch zielstrebig auf den Mann zu, vor allem nachdem sie Berthe gesichtet hatte. Der Mann sprang auf und umarmte sie so leidenschaftlich wie wahrscheinlich seit Jahren nicht mehr. Berthe blieb sitzen. Die Frau fixierte Berthe mit Blicken, die in Ameisensäure getunkt waren, was Berthe völlig kalt ließ. Sie hatte in den Chemiestunden gepennt und wusste nicht, wie gefährlich Ameisensäure war. Als Berthe das Wort erneut an den Mann richtete, baute sich die Frau vor ihr auf und schoss eine Fluchsalve auf sie ab. Da endlich hatte das Emmental begriffen, dass es Zeit war, Leine zu ziehen. Berthe stand ächzend vom Boden auf und kehrte fluchend zu Julia zurück.

»Die Gören haben mir alles vermasselt! Ich war auf dem besten Weg, bei dem Typ zu landen«, fauchte sie.

»Du hast innerhalb einer halben Stunde ein Viertel deines Hintern aufs Tuch gebracht, das nenne ich nicht eben eine erfolgreiche Landung.«

»Der hätte was mit mir angefangen, wetten!«

»Und seine Frau, Berthe?«

»Pffh.«

Wenn Berthe ahnte, dass sie Unrecht haben könnte, stieß sie ihr eigentümliches »Pffh« aus, das sich anhörte, als wäre eine mächtige alte Dampflokomotive zum Stillstand gekommen. Ein größeres Eingeständnis eines Fehlers bekam man von Berthe nicht.

Sie packten ihr Badezeug zusammen, erledigten ihre Einkäufe und kraxelten das Dorf hinauf, vorbei an Kabeln und Drähten, die sorglos an den Mauern herunterhingen, unter Platanen durch, an blühenden Büschen entlang und vorüber an alten Inselfrauen, die nebeneinander auf einem Mäuerchen saßen und durcheinanderplapperten, während oben auf Telefondrähten Vögel balancierten und in den Abendhimmel zwitscherten.

»Maaamaaaa, Achtung, ich komme. Ich bin Batman!«

Lea hatte sich das Badetuch wie ein Cape über den Rücken geworfen und kam auf Julia zugeflattert. »Ich kann fliiieegeen, ich bin Superman!«

Julia stellte die Taschen auf den Boden und fing ihre Tochter lachend auf. »Bist du nun Batman oder Superman?«

Lea drehte sich um die eigene Achse und hielt die Arme in die Luft, so dass das Tuch im Wind flatterte. »Wenn ich fliegen will, bin ich Superman, wenn ich die Wände hinaufklettern will, bin ich Batman.«

»Und warum bist du nicht Superwoman und Batwoman? Oder wenigstens Catwoman?«

Lea rümpfte die Nase. »Was soll denn das sein?«

»Die weiblichen Versionen.«

»Davon habe ich noch nie gehört. Frauen können das nicht.« Sie drehte sich weiter im Kreis.

»Du bist doch auch eine Frau.«

»Nein, solange ich noch keine Brüste habe, nicht. Noch kann ich machen, was ich will, darum dürfen meine Brüste nicht wachsen. Kannst du nicht etwas dagegen tun?«

So viel zum Erfolg emanzipatorischer Erziehung. Julia spürte die Galle hochkommen. Am Vortag, als sie in Zürich ins Flugzeug gestiegen waren, hatte Denia einen Blick ins Cockpit erhascht und zu schreien begonnen. »Mami, da ist eine Frau vor den Knöpfen, wir werden abstürzen!«

Sie hatte Denia gepackt und ihr erklärt, dass Pilotinnen ebenso gut fliegen können wie Piloten. Doch Denia weinte nur noch lauter und klammerte sich während des ganzen Fluges ängstlich an Berthe.

Julia zog an Leas Cape: »Warum spielst du nicht Pipi Langstrumpf oder die rote Zora?!«

»Batman ist cooler.« Leandra riss das Tuch vom Kopf und schrie: »Jaaa, ich bin Batman und Tarzan, huäää!!« Dann raste sie das Sträßchen hinauf, wobei sie von Zeit zu Zeit einen tarzanartigen Schrei ausstieß.

Julia schüttelte den Kopf. Sie sah vor ihrem inneren Auge die Zukunft ihrer Töchter: Wie sie in der Pubertät außer Schminkzeug, Kleider und Jungen das blanke Nichts im Kopf haben würden. Wie Lea sich ein Kind anhängen lassen würde. Wie sie sich weigern würde abzutreiben und von der Sozialhilfe würde leben müssen. Wie Denia an einen Macker geriete, ihn heiratete und ein Leben zwischen Bügeleisen und verschmierten Kindermündern verbrächte.

Während Julia weiterging, schwor sie sich, in einem solchen Fall ihre Großmutterpflichten zu ignorieren.

Der Abend legte sich über das Land. Das war nichts Neues. Ungewohnt war nur, wie schnell er es tat! Die Mädchen diskutierten über diesen rasanten Wechsel vom Tag zur Nacht. »Die Sonne fällt hier halt schneller runter«, behauptete Denia. Leandra schüttelte wichtig den Kopf: »Nein, das liegt daran, dass zu Hause die Erde eine Eiform hat und hier ist sie eine Kugel.« Denia blinzelte mit den Augen und wusste nicht recht, was sie davon halten sollte: »Nein, nein, das Himmelsgelenk ist hier besser geölt!« Da war es an Leandra, den Kopf zu schütteln und zu sagen, dass das eine sehr doofe »Therorie« sei, aber es kam ihr auch keine Bessere in den Sinn.

Julia und Berthe saßen am Tisch, vor sich ein Glas Wein. Sie besprachen die Ereignisse des Tages, die geglückte Alimenteregelung und den neusten Klatsch aus ihrem Bekanntenkreis. Nachdem sie die Mädchen ins Bett befördert hatten, blieben sie noch lange auf. Julia glitt in einen trägen Zustand, sie war glücklich und sinnierte darüber, wie wenig es zum Glück doch brauchte. Als sie genauer überlegte, war sie sich dessen nicht mehr so sicher: Zum Beispiel brauchte sie dazu eine gute Freundin, ein Glas Wein, zwei schlafende Kinder (sehr wichtig!), geregelte Alimentezahlungen, ein Flugticket, eine Kreditkarte, das nötige Kleingeld, Badetücher, Zahnbürste, Tampons, Nagelschere, Wanderschuhe, Sonnenbrille …

Berthe schubste sie: »Julia, was hirnst du?«

Julia lächelte: »Ich suche die Zutaten für das einfache Glück. Tampons zum Beispiel. Die sind für das Glück von uns Frauen einmal im Monat existenziell – für das der Kinder und Männer wohl kaum. Die brauchen auch kein WC für ihr Glück. Die Kleinen können in die Windeln oder ins Planschbecken pinkeln, und die Männer tun’s sowieso überall hin. Oder nimm mal die Nagelschere: Was würdest du ohne sie auf einer einsamen Insel tun? Die Nägel an einem Stein abschmirgeln? Ich stelle mir das ungemütlich vor.«

Berthe schüttelte den Kopf: »Für das Glück brauch ich nichts als einen Mann. Alles andere ergibt sich von selbst.«

»Stell dir mal vor, du bist mit einem Mann auf einer einsamen Insel, aber ihr habt weder Seife noch Waschmittel!«

»Wir würden uns mit Sand waschen, und Kleider müssten wir bei der Hitze sowieso nicht tragen. Das wäre Ekstase pur.«

»Die Insel hat aber keinen Sandstrand. Nur Kiesel.«

»Jede Insel hat Sandstrände!«

»Diese nicht. Ihr müsstet euch mit Kieseln waschen, das stelle ich mir nicht ekstatisch vor.«

»Ich würde nie auf eine Insel ohne Sandstrand gehen.«

»Wenn du auf einer Kreuzfahrt bist, und das Schiff geht unter, hast du keine Wahl: Du und dein Liebhaber müsst zu dieser kiesigen Insel schwimmen. Pech gehabt. Also frage ich dich: Was würdest du auf der Insel ohne Seife und Waschmittel machen? Dein Mann würde geruchsmäßig zu einem Ziegenbock verkommen und du zu einem ranzigen Fisch. Viel Vergnügen bei der Ekstase! Ich behaupte, es braucht zum Glück mehr als einen Mann.«

Berthe verdrehte die Augen. »Was denn? Eine Frau?«

»Ach was! Zum Glücklichsein braucht es Seife, Pinzette, Sonnencreme, ein Glas Wein, ein geregeltes Einkommen und und und.«

»Ich verstehe nicht, was du sagen willst.« Berthe griff genervt nach ihren dünnen Zigarillos.

»Dass es das einfache Glück nicht gibt! Glück ist immer das Zusammenwirken von unzähligen nützlichen und angenehmen Einzelteilen. Nimmt man nur eines davon weg, stürzt meist das ganze Kartenhaus in sich zusammen. Stell dir vor, der westlichen Zivilisation würden die Handys entzogen! Oder der Kontaktlinsenreiniger. Oder die Papiertaschentücher. Oder oder oder!»

»Ja, ja, ich habe verstanden. Du willst sagen, dass man ohne Kehrrichtverbrennungsanlage nicht glücklich sein kann, wohl aber ohne Mann.«

Julia streckte sich und lächelte. »Das hast du gesagt. Ich sage nur, dass mich als Frau ein WC manchmal mehr beglückt als der tollste Mann. Das merkst du spätestens dann, wenn unterwegs deine Blase fast platzt ...«

Berthe stöhnte auf. »Meine Güte, du bist wieder mal so romantisch wie eine Straßenunterführung.«

»Nun, Straßenunterführungen können –«

»Julia, bitte!« Berthe legte ihre Hand auf Julias Schulter und fixierte sie, als wollte sie einen Hexenbann über sie verhängen. »Verschon mich mit einer Abhandlung über das Romantikpotenzial verpisster Durchgänge.«

»Ist gut, ist gut. Nur komm mir nicht jammern, wenn du dein Glück nicht findest.« Dann schaute sie hinauf zum hundertneuntausendsiebenhundertsiebstigsten Stern von rinks, der besonders munter funkelte.

4. Kapitel ______________Satine

Letztes Jahr,
als mein Pferd mich abgeworfen,
brach ich mir weder Arm noch Bein.

Dieses Jahr,
da meine Geliebte mich fortgestoßen,
brach meines Herzens Knochen.

Anonym

Das letzte Haiweibchen, das in meinem Schwimmbecken seine Runden gedreht hatte, hieß Joëlle. Sie spielte im Film Der weiße Hai den weißen Hai, aber das merkte ich erst viel später. Zu spät, um genau zu sein.

Joëlle und ich waren drei Jahre zusammen. Wir haben uns geliebt, das jedenfalls bildete ich mir ein. Sie war eines Tages in der Frauenszene in Lausanne aufgetaucht, eine Hetera, die sich neuerdings für Frauen interessierte. Über die Wandlung ihrer sexuellen Präferenzen sollte sie später sagen: »Ich habe den Lesben-Mafia-Streifen Bound im Kino gesehen – Gott, war das scharf! Nach dem Kino war ich nass, geregnet hat es aber nicht! Also wollte ich es wissen.« Mir gestand sie irgendwann, dass sie beim Sex mit Männern immer auch Phantasien mit Frauen gehabt hätte und diese Phantasien endlich austesten wollte.

Joëlle war schön – jedenfalls in meinen Augen –, sie hatte blonde Haare, einen verwegenen Blick, eine liebenswert nachlässige Weise sich zu bewegen und eine herausfordernde Art. Wir trafen uns das erste Mal auf einer Frauenveranstaltung, wo wir nebeneinander am Buffet standen, jede mit einem leeren Teller in der Hand. Sie sagte zu mir: »Ich habe noch nie solch dunkle Augen gesehen wie die deinen.«

Ich entgegnete: »Und ich habe noch nie solch spitze Schuhe gesehen, jedenfalls nicht an einer solchen Veranstaltung.«

Sie grinste: »Ich wette, die Feministinnen finden solche Flitzer frauenfeindlich. Dabei kann man damit einiges an Männerbeinen ausrichten!« Sie spickte den Fuß frech in die Luft. Da wusste ich, dass sie mir gefiel. Wir aßen uns durchs Buffet, und anstatt den Vorträgen zuzuhören, gingen wir an den See. Mir war es, als hätten die Götter extra für uns die passende Kulisse hingestellt: Der Mond war dreiviertel voll, die Luft lau und Wellen glucksten zwischen Steinen. Wir spazierten auf der Seepromenade und sprachen über – Sie glauben es nicht! – Politik. Daran war ich schuld: Wenn mich eine Frau nervös macht, beginne ich unwillkürlich zu politisieren. Andere stammeln in solchen Momenten vielleicht, bekommen schweißnasse Hände oder ihnen fällt das sauteure Kristallglas, das sie von Großmutter geerbt haben, zu Boden. Ich jedoch schwafle über Initiativen, Abstimmungsergebnisse, Bundesräte und die Umverteilung der Güter. Ich habe mir damit schon einige Chancen vertan – wenn Frauen ihre Lippen befeuchten, sie zu einer Blüte schürzen und damit näher kommen, sollte man die Erkenntnisse über das Rentenalter schleunigst fallen lassen und die Rose küssen. Die Ironie am Ganzen ist, dass mich Politik wenig interessiert. Nur wenn eine Frau ins Spiel kommt, kann ich mit links eine neue Verfassung herbeireden.

Joëlle ließ sich durch meine Phrasendrescherei nicht aus der Ruhe bringen. Wir saßen auf einem großen Steinquader und ließen die Beine baumeln, ich war gerade dabei, über Sinn und Unsinn der Quotenregelung zu referieren, als Joëlle mir tief in die Augen schaute. Sie flüsterte: »Gibt es auch Quotenregelungen für Lesben?« Sie schaute mir noch tiefer in die Augen und raunte: »Zeig mir, wie sich die heißen Szenen aus Bound anfühlen.«

Ich schluckte leer.

Dann war es leicht, ihr Gesicht in die Hände zu nehmen und zu sagen: »Vergiss Bound …, willkommen im Lesbenparadies.« Na ja, manchmal nehme ich den Mund etwas voll. Ich beugte mich zu ihr und küsste ihre lächelnden Lippen. Sie hörte bald auf zu lächeln und stürzte sich hingebungsvoll in ihren ersten Kuss mit einer Frau. Ich muss gestehen, es lohnte sich fortzufahren, auch wenn die Frau nicht von diesem meinem anderen Ufer stammte, sondern von drüben hergespült worden war. Wir wälzten uns leidenschaftlich auf dem unbequemen Steinblock herum, der mir wie ein Himmelbett vorkam. Solche Augenblicke muss man würdigen und ausschöpfen bis zur letzten Sekunde, denn nach ein paar Jahren Beziehungsleben verdirbt schon ein einzelner Brosamen im Bett die Lust. Mein Cousin Olivier pflegt zu sagen: »Die sexuelle Leidenschaft ist ein Fakir, der früher oder später zu einer Prinzessin auf der Erbse mutiert. Meist eher früher als später.«

Ach, ich verliebte mich Hals über Kopf, ich klebte die Alarmlämpchen mit schwarzem Haftband ab und überhörte die Sirenen, die mich vor einem todbringenden heterosexuellen Wesen in meinem Schwimmbecken warnten. Ich würde Joëlle zu einer Lesbe machen, versicherte ich mir. Und gleich noch die Eigernordwand in Sandalen besteigen. Ich stopfte Ohropax in die Ohren, legte Scheuklappen an und stürzte mich in die Liebe zu Joëlle. To fall in love. In die Liebe abstürzen wie von einer steilen Felswand. Manchmal braucht es drei Jahre, bis man unten ankommt und sich alle Knochen bricht.

Wir galten in der Szene als Traumpaar: unkonventionell, witzig, mit wilden Ideen und magnetischer Anziehungskraft. Joëlle war die ewige Studentin, die ihren Lebensunterhalt als Filmkritikerin und Lokalreporterin verdiente. Dass ich Fotografin war, fand sie wahnsinnig cool. Wir stürzten uns vorbehaltlos in unser gemeinsames Leben, wir zogen in eine Altstadtwohnung, die offen war für alle, die vorbeischauen wollten. Ich war glücklich, ich war verliebt in Joëlle und in uns als Paar. Mir kam es vor, als wäre ich am Ende der Suche angelangt, ohne vorher überhaupt gewusst zu haben, dass ich etwas gesucht hatte. Ich ließ mich in der Beziehung nieder und richtete mich gemütlich darin ein. Heute weiß ich: Ein Mensch ist keine Wohnung. Schon eher Treibsand oder eben ein Hai im Schwimmbecken.

Das erfuhr ich an jenem Morgen, als ich von einer Auftragsarbeit aus Frankreich zurückkam. Um Joëlle zu überraschen, hatte ich ihr verschwiegen, dass ich früher heimkommen würde. Ich traf noch vor Sonnenaufgang ein. Leise wollte ich zu ihr ins Bett steigen und den Schlaf von ihrem Körper küssen. Rasch entkleidete ich mich im Bad, huschte ins nachtfinstere Schlafzimmer und schlüpfte unter die Decke. Noch während ich hineinglitt, nahm ich einen seltsamen Geruch wahr: Es roch nach Joëlle, aber auch säuerlich, nach Schweiß. Der Geruch irritierte mich, doch meine Freude, Joëlle wiederzusehen wischte die Irritation weg. Ich streckte die Arme aus, um die Geliebte zu umfangen. Nur ertasteten meine Hände nicht Hügel, sondern Busch, sehr viel Busch. Ich schrie auf, zwei andere schrien ebenfalls auf, und drei Nackte sprangen mit verstörtem Gesicht aus dem Bett.

Zweifelsohne war ich ungelegen gekommen.

Joëlle und ihr Liebhaber stürzten mit roten Köpfen zu ihren Kleidern und zogen sich hastig an, als könnten sie damit irgendetwas ungeschehen machen. Ich blieb, wo ich war und schrie, dabei wippten meine Brüste auf und ab. Ich schrie: »Wenn du jetzt sagst, dass es nicht so ist, wie ich meine, und dass du alles erklären kannst, bringe ich dich um!«

Joëlle sah betreten zu Boden. »Ich wollte das gar nicht sagen. Es tut mir Leid. Es ist genau so, wie du denkst.«

Ich schäumte. »Woher willst du wissen, was ich denke? Vielleicht denke ich, dass dieser Typ ein schwuler Freund ist, der hier übernachtet! Vielleicht denke ich, dass dieser Gorilla ein verschollener Bruder von dir ist!«

Joëlle schluckte. »Antoine ist kein Gori–«

»Ach so, Antoine heißt diese Schwuchtel, dieser Pavian?! Ja, warum nicht? Alles braucht einen Namen. Und der Nachname? Antoine Arschloch! Antoine Fickeinelesbe? Antoine Scheißkerl?«

Falls jemand im Haus noch nicht wach geworden war, so wurde er es spätestens jetzt durch diesen Denver-Lindenstraßen-Verschnitt, in dem ich lauthals die Hauptrolle spielte. Ich schrie und warf Gegenstände herum. Joëlles Liebhaber, dieser Antoine Schwanzlappen, starrte zerknirscht zu Boden, seine stämmigen Beine zitterten; dann schaute er unschlüssig auf und verkrümelte sich auf ein Zeichen von Joëlle. Ich verfehlte ihn mit dem Stuhl nur um ein paar Zentimeter. Ich weinte, jammerte, fluchte und schrie, doch das konnte an der Tatsache nichts ändern, dass es Joëlle mit diesem Liebhaber in unserem Bett getrieben hatte und – was weit schlimmer war – dass sie in ihn verliebt war.

Ich zog am gleichen Tag aus unserer Wohnung aus und bei meiner Tante Joséphine ein. Tante José hatte das Weingut meiner Großeltern übernommen und machte den besten Wein der Gegend. Wenn ich Wutanfälle wegen Joëlle kriegte, schickte sie mich in den Weinkeller und ließ mich dort zwischen den Fässern, bis ich mich ausgetobt hatte. Es war ein Wunder, dass ihr Inhalt nicht zu Essig wurde! Wenn ich Heulkrämpfe hatte, holte sie eine Flasche Wein und füllte mich ab. Tante Joséphine ist von der Heilkraft des Alkohols im Allgemeinen und der des Weines im Speziellen überzeugt; das Hochprozentige ersetzt ihr Apotheke, Therapeut und Trinkwasser. Dank meiner Tante lernte ich früh Leitungswasser zu schätzen, denn sie tischte mir bestenfalls vergorenen Johannisbeersirup auf, meist aber verdünnten Rotwein mit Zucker. Augenzwinkernd schob sie mir das Glas zu und sagte: »Da, trink, es wird dir gut tun. Schau, das ist von unseren Trauben, das ist gesund, es kommt von der Natur.« Ich nippte mit gespitzten Lippen und sagte: »Ach Tantchen, ich habe keinen Durst, aber ich sollte mal aufs Klo.« Dort trank ich dann Wasser. Ich habe literweise Leitungswasser auf der Toilette meiner Tante getrunken und so manches Glas verdünnten Zuckerwein das WC hinuntergespült.