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Nicola Vollkommer – Leben am reich gedeckten Tisch | Von Glaubensenttäuschung zu ganzer Hingabe – SCM R.Brockhaus

SCM | Stiftung Christliche Medien

SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22865-6 (E-Book)
ISBN 978-3-417-26782-2 (Lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth

2. Auflage 2016
© 2016 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: info@scm-verlag.de

Die Bibelverse wurden, soweit nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2014 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten.

Weiter wurden verwendet:
Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung von Fontis – Brunnen Basel. (HFA)
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung 2006, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (LUT)
Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten. (ELB)

Umschlaggestaltung: Miriam Gamper-Brühl, Essen, www.3kreativ.de
Titelbild: Shutterstock
Satz: Christoph Möller, Hattingen

In diesem Buch werden Begebenheiten geschildert, die sich so oder ähnlich zugetragen haben.
Die Namen der Personen und die genauen Begleitumstände wurden aber verändert.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: Der Duft von Kalbsbraten
Wenn der Glaube enttäuscht

Kapitel 2: Das Grillfest am Ufer
Jenseits des Scheiterns

Kapitel 3: Das unterbrochene Mahl
Wenn alles zerbricht

Kapitel 4: Raststätte in der Wüste
Vom Umgang mit Enttäuschungen

Kapitel 5: Das Mahl, das ausfiel
Der Kampf mit der Finsternis

Kapitel 6: Das Erinnerungsmahl
Die Vergebung nicht vergessen

Kapitel 7: Gefüllte Speisekammern
Vorräte für die Seele

Kapitel 8: Einladung zum Mitfeiern
Diese schwierigen Christen …

Kapitel 9: Kaffeeduft bei feindlichem Feuer
Schläge, die schmerzen

Kapitel 10: Süßes oder Saures?
Das umstrittene Buch

Kapitel 11: Ein Mahl, das seinen Geschmack nicht verliert
Lebensfreude durch Zwiegespräche mit Gott

Kapitel 12: Das romantische Candle-Light-Dinner
Heiße Küsse und der Traum vom Himmel auf Erden

Kapitel 13: Das Picknick im Zeltlager
Die Einladung wird weitergegeben

Kapitel 14: Der Rest, der es in sich hat
Loslassen mit Gewinn

Kapitel 15: Zurück zum reich gedeckten Tisch
Sterben mit Zukunft

Über die Autorin

Anmerkungen

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Kronleuchter

Vorwort

Ein 50. Geburtstag im Bekanntenkreis. Die anfängliche Schockstarre, die mich überrollt, wenn ich mich in dieser Liga der grau werdenden Eminenzen wiederfinde, ist schnell überwunden. An Standardnettigkeiten wie „Mann, du siehst keinen Deut älter aus!“, „Hey, der Glatzkopf steht dir aber!“, „Dich habe ich sofort an der Stimme erkannt!“ hat man sich gewöhnt. Es ist ein Wiedersehen von Ehemaligen aus Schülerbibelkreis, Studentenmission und Teestube. Einige haben sich seit Jahren nicht mehr gesehen.

Gespräche kreisen um Kinder, Berufe, Hausbau, schwächelnde Eltern. Alte Witze werden abgestaubt, längst vergessene Anekdötchen wachgerufen. Nach zwei oder drei Lachrunden ist das Eis gebrochen, man ist auf den gemeinsamen Nenner der guten alten Zeiten gestoßen, es wird frei geplaudert. Neben anderen Gesprächsinhalten taucht das Thema auf, das uns in unseren Jugendjahren miteinander verband: Glaube und Kirche. Die Mienen werden ernst, die Stimmen nachdenklich, hier und da ist ein Hauch von Schmerz in den Augen zu erkennen. Einige erzählen in der Vergangenheitsform. Ehemaliges dies und jenes. Ein ehemaliger Jugendleiter, ein ehemaliger Kirchengemeinderat. Eine frühere Missionarin, eine Kindermitarbeiterin im vorzeitigen Ruhestand. Worte wie „Burn-out“, „Gemeindekrise“, „Überforderung der Familie“ fallen. Zwei haben eine Scheidung hinter sich. Manche haben Kinder, die von Kirche nichts wissen wollen. Einer hat besonders viel zu erzählen: Missionarssohn, Zaungast vom Fach, rhetorisch begabt. Er weiß, wo der Hase im frommen Pfeffer liegt, was die Christen falsch machen. Hat genug frommen Jargon auf Lager, um eine kabarettistische Lachnummer daraus zu machen.

Eine Geburtstagsparty ist nicht der beste Ort, eine Schadensanalyse durchzuführen, warum sich Leute im besten Alter in den geistlichen Ruhestand zurückziehen – in der Blüte ihrer Jahre, in bester Gesundheit, mit satten Bankkonten und vorzeigbaren Lebenskompetenzen ausgestattet. So war es nicht gedacht, denke ich, während ich in die Runde blicke, als wir uns damals in unseren Sturm-und-Drang-Jahren aufmachten, um die Welt zu verändern, Großes zu wagen und Großes zu glauben. Wir rissen andere mit unserem Pioniergeist mit, nervten nichtsahnende Freunde mit unserem missionarischen Eifer und steckten Energie, Geld und Zeit, was das Zeug hält, ins Reich Gottes. Wir gründeten Familien und schrieben in Großbuchstaben auf unsere Flagge: „Ich und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen.“

Auch an mir sind die Schrammen und Blessuren des Lebens nicht spurlos vorbeigegangen. Wenn ich es mit einem intakten Glauben bis zur Schlusslinie schaffe, dann eher stolpernd auf allen vieren, mit einem „Hoch auf die Gnade Gottes“ auf den Lippen. Anderen eine Mahnpredigt über die Schmach der verlorenen „ersten Liebe“ zu halten, würde ich mir nicht anmaßen. Muss ich auch nicht. Zum Glück.

Einmal lief mein Glaubensschiff ordentlich auf Grund. Es war eine geistliche Krise mit allen klassischen Begleiterscheinungen: ein steiler Sinkflug sämtlicher Lebensträume, eine innere Starre und Dauermüdigkeit, Gebete, die an der Decke hängen blieben und danach wieder herunterpurzelten. Im schlimmsten Fall war es mit meinem christlichen Leben nun endgültig vorbei, im besten Fall würde ich mit einem Platz auf der Ersatzbank abgespeist werden. Ich war von Gott enttäuscht. Hatte er mich doch mächtig über den Tisch gezogen mit verlockenden Versprechungen, die er nicht eingehalten hatte. Vermutlich war er von mir noch mehr enttäuscht. Mit meinen Versprechen stand es um einiges schlechter als mit seinen. Es herrschte zwischen uns Funkstille.

Ich nahm meine Bibel in die Hand und beschäftigte mich zum ersten Mal als gescheiterter Christ damit. Ich las und las, las ganze Bücher der Bibel in einem Zug durch. Es war, als ob ich die Worte zum ersten Mal wahrnahm. Texte, die ich als Kind brav auswendig aufgesagt hatte, um mein Stempelchen in der Sonntagsschule zu verdienen, fesselten mich auf einmal. Mit Tränen im Gesicht empfand ich die biblischen Berichte plötzlich ganz anders als früher. So unterschiedlich die Personen und Ereignisse, die mir begegneten, auch waren, so einheitlich war ihre Fähigkeit, sich in meine Seele einzunisten und mir meine eigene Geschichte zu erzählen.

Ein unscheinbarer Vers, der mir nie zuvor aufgefallen war, brachte die Wende. Es war ein kleiner Vorfall nach dem sensationellen Zug der Israeliten durch das Schilfmeer und dem Krieg gegen die Amalekiter. Wasser- und Nahrungswunder hatten die Israeliten hinter sich, die Gesetzgebung war in vollem Gange, aber noch nicht in Stein gemeißelt, das Fiasko mit dem Goldenen Kalb stand noch bevor. Dass die Massenwanderung durch die Wüste kein Picknick sein würde, war klar geworden. Mitten in diesem Dauer-Nervenkrieg erhielten Moses Mitarbeiter eine Einladung. Absender: Gott.

Dann forderte der Herr Mose auf: „Steig herauf zu mir mit Aaron, Nadab, Abihu und 70 der führenden Männer Israels und betet mich aus einiger Entfernung an“ (2. Mose 24,1).

Ich hielt beim Lesen inne. Wie würde ich auf diese Einladung reagieren? „Häää? Auch das noch. Was habe ich schon wieder falsch gemacht?“ „Was will er jetzt von mir?“ „Wofür will er mich strafen?“ „Was hat dieses dumme Volk schon wieder verbockt?“

Die Männer müssen bei so einer Einladung Knoten im Bauch gehabt haben. Wer in die Nähe des lebendigen Gottes geriet, hatte keine Garantie, lebendig herauszukommen. Nicht ohne Grund hüllte Gott sich damals in eine Wolke: Panische Angst brach aus, wenn er auftauchte. Ich stellte mir die ermüdeten Elitekämpfer vor, wie sie in der mörderischen Wüstenhitze ihre schweren Füße den steilen Berg hochschleppten. Ich spürte ihre düsteren Vorahnungen, die betretene Stimmung. Endlich umrundeten sie mit zitternden Knien den letzten Felsvorsprung. Ihr Gastgeber stand vor ihnen (2. Mose 24,9f). Sie blieben wie angewurzelt stehen. Eine falsche Bewegung, dann war Schluss. Aber es kam anders: Und obwohl die führenden Männer Israels Gott sahen, tötete er sie nicht (2. Mose 24,11).

Was wir gleich danach erfahren, ist erstaunlich: Ja, sie aßen und tranken sogar in seiner Gegenwart! (2. Mose 24,11). Bei diesem Satz blieb ich hängen. Tage-, wochenlang. Die Entdeckung war nichts Außergewöhnliches, und dennoch hatte ich das Gefühl, sie zum ersten Mal gemacht zu haben. Es gab eine Festtafel, bevor es eine Steintafel gab. Ein Tisch wurde gedeckt, bevor ein Auftrag erteilt wurde. Diener Gottes wurden zuerst gesättigt, dann ausgesandt. Die Anbetung kam vor der Arbeit. Die Beziehung vor den Befehlen.

Ich wusste, was ich zu tun hatte. Auch ich musste Gott anschauen und essen und trinken. Plötzlich entdeckte ich seinen Tisch überall in der Bibel. Pflichttermine, Arbeitskreise, Gremien, Mitarbeiterbesprechungen und Gottesdienste fand ich dagegen wenig. Ein Engel toastet Fladenbrot für den erschöpften und selbstmordgefährdeten Propheten Elia (1. Könige 19). König David, in existenzieller Bedrängnis, schwärmt vom gedeckten Tisch „vor den Augen meiner Feinde“ (Psalm 23,5). Daniel und seine Freunde sehen nach ihrer von Gott verordneten Gemüsesuppe frischer und fitter aus als die königlichen Angestellten, die die Gourmet-Schweinekoteletts am Tisch des Königs gegessen haben (Daniel 1). Das Essen an Gottes Tisch geht nie aus. Zwei Fische und fünf Brote reichen für 5000 hungrige Gottesdienstbesucher und ihre Familien (Matthäus 14). Eine verzweifelte Mutter erfährt, dass selbst die Krümel, die von diesem Tisch herunterfallen, nahrhaft genug sind, um eine gequälte junge Frau wieder auf die Beine zu stellen (Matthäus 15,27).

An den ungewöhnlichsten Orten fand ich Gottes Tisch. Auf dürren Landstrichen im Niemandsland, in der sozialen Verbannung, auf den Abstellgleisen der Gesellschaft, an Orten der Trauer, wo Menschen sich selber aufgegeben hatten. Die besten Anekdoten von Jesus werden beim Umtrunk am Stammtisch erzählt. Viele dieser Geschichten haben mit Essen und Partys zu tun. Das Kernstück des christlichen Miteinanders, von ihm persönlich verordnet und eingesetzt, ist nicht ein Lied, eine Liturgie, ein Missionseinsatz, nicht einmal ein Gebet – sondern ein Mahl, begleitet von der Aufforderung: Dies tut zu meinem Gedächtnis (Lukas 22,19; ELB). Nicht ohne Grund wird Jesus als „Schlemmer und Säufer“ (Lukas 7,34) verunglimpft. Ein Gott, der zu Tisch lädt, passt nicht ins Konzept der religiösen Machthaber seiner Zeit. Ihre Welt ist der Duft von Weihrauch, nicht der Duft einer Backstube. Ihr religiöses System lebt von einem zornigen, richtenden Gott, nicht von einem, der großzügig Einladungen zum Essen verteilt.

Ich machte mir Notizen über das Benehmen der Gäste, die Gottes Festsaal betreten. Ich fragte mich, wie ich mich an ihrer Stelle verhalten hätte. Meine Reise führte mich direkt ans Herz Gottes zurück. Meine Seele lebte auf, mein Leben fing wieder Feuer für Jesus, langsam, aber sicher gingen die Lichter wieder an.

Die Entdeckungen, die ich auf dieser Reise gemacht habe, sind in den Seiten dieses Buches zusammengefasst. Sie sind an Menschen gerichtet, die glaubensmüde geworden sind, und an solche, die rechtzeitig Vorsorge treffen möchten. Sie decken manche Trends des Zeitgeistes – auch des christlichen Zeitgeistes – auf, die uns mehr schlauchen als helfen. Sie begleiten den Leser auf eine Reise zurück in die Arme eines liebenden Vaters, der es sehr wohl vermag, einen „glimmenden Docht“ wieder in ein loderndes Feuer zu verwandeln (Jesaja 42,3). Sie führen in ein Reich Gottes hinein, das ein Ort der Erfrischung und der Bevollmächtigung ist und nicht die mühsame Tretmühle, die wir manchmal aus ihm machen. Ein Reich, in dem wir mit Erleichterung die Worte Jesu neu entdecken dürfen: Denn mein Joch passt euch genau, und die Last, die ich euch auflege, ist leicht (Matthäus 11,30).

Ich lade Sie herzlich ein, mit mir zusammen an Gottes Festtisch zu kommen und einen Stammplatz für sich und Ihre Familie und Ihre Freunde dort einzurichten.

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Kronleuchter

Kapitel 1

Der Duft von Kalbsbraten

Wenn der Glaube enttäuscht

Reich gedeckter Tisch

„Und schlachtet das Kalb, das wir im Stall gemästet haben …“ Und ein Freudenfest begann … Da wurde der ältere Bruder zornig und wollte nicht ins Haus gehen.     (Lukas 15,23-24.28)

Die Reaktion ist nachvollziehbar. Seit seiner Kindheit ist dieser junge Mann der mustergültige Sohn, der sich den Erwartungen seines Vaters mühelos fügt. Als stellvertretender Geschäftsführer verwaltet er den familiären Landwirtschaftsbetrieb. Tagsüber weist er Hilfsarbeiter ein, prüft die Milchmenge pro Kuh, führt die Aufsicht über Wartungsarbeiten an Gebäuden und Fuhrwerken, rechnet den Erlös vom Markttag aus. Abends überprüft er den Kassenstand. Nachts träumt er von Wetterturbulenzen und Heuballen. Er ist mit Herzblut dabei, ein Schufter aus Leidenschaft, der seinem Vater jeden Wunsch von den Augen abliest. An dem Tag, an dem sein kleiner Bruder, von Geburt an der klassische Faulenzer, endgültig ausbüxt und seinen Kapriolen als Partylöwe in der Ferne weiter frönt, hat der ältere Bruder für seine trauernden Eltern wenig Verständnis. Mit dem Auszug des jungen Tunichtguts ist für ihn Reizfaktor Nummer eins entsorgt. Die Bilderbuch-Karriere kann weiterblühen – bis zu jenem Tag, an dem alles anders wird. Töne, die in diesem von Tüchtigkeit geprägten Alltag selten zu hören sind, erklingen vom Familienhaus. Düfte von Gewürzen und gebratenem Fleisch, Klänge von Musik und Gelächter füllen die Luft. Das halbe Dorf ist mit Luftballons und Wunderkerzen eingetroffen. Der Vater, außer sich vor Freude, rennt aus dem Haus, um seinem älteren Sohn die gute Nachricht zu überbringen: Der abtrünnige Nichtsnutz ist zurück!

Ein Ereignis. Unterschiedliche Reaktionen. Der ältere Bruder ist sprachlos vor Empörung. Im Handumdrehen geraten seine geordneten Strukturen aus den Fugen. Er wird mit etwas konfrontiert, das in seiner zugeknöpften Welt keinen Platz hat: ausgelassene Freude. Jahrelang angestauter Frust, der unter der Oberfläche brodelt, platzt in dem einen Satz heraus: „All die Jahre habe ich schwer für dich gearbeitet und dir nicht ein einziges Mal widersprochen, wenn du mir etwas aufgetragen hast. Und in dieser ganzen Zeit hast du mir nicht einmal eine junge Ziege gegeben, um mit meinen Freunden ein Fest zu feiern“ (Lukas 15,29).

Wer von uns fühlt nicht mit, widerspricht diese Geschichte doch jedem gesunden Menschenverstand. Sie macht eine Witznummer aus dem primitivsten ABC einer vernünftigen Pädagogik. Immerhin hat der ältere Sohn das Getreide eingesammelt, aus dem das Mehl für die Festtorte entstanden ist. Das Kalb gezüchtet, das jetzt geschlachtet wird. Den Tisch gezimmert, auf dem die Leckereien ausgebreitet sind, mit denen die Rückkehr des Quertreibers gefeiert wird. Seit Menschengedenken erfüllt der ältere Bruder seine Pflicht bis aufs Letzte. Und jetzt wird der belohnt, der es am wenigsten verdient hat. Wie muss er sich an den Rand gedrängt, übersehen, betrogen fühlen!

… und ich?

Es ist eins der traurigsten Bilder in der Bibel. Ein Bild, das auch heute in christlichen Kreisen häufig vorkommt. Der Mitarbeiter Gottes, der mit verschränkten Armen an der Tür zum Saal steht und missmutig auf das Treiben der Partygäste blickt. „Und ich? Was hat mir meine Mühe für Gott gebracht?“ Meist gibt es, wie beim älteren Bruder in der Geschichte, irgendeinen Auslöser, der das Fass zum Überlaufen bringt.

„Nur weil ich keine Szenen mache und kein Typ für große Emotionen bin, wird der andere bevorzugt.“ – „Nur weil ich einmal ordentlich auf den Putz gehauen und meine Meinung gesagt habe, werde ich nicht mehr beachtet.“ – „Nur weil ich keine aufreißende Show bieten kann, wollen die Jugendlichen einen anderen Leiter.“ – „Nur weil ich an dem Tag keine Zeit hatte, werden die anderen jetzt gefragt.“

In diesem „nur weil“ steckt eine Menge Herzblut und Frust, oft jahrelange Mühe und Arbeit. Es gibt kaum ein schmerzvolleres Gefühl als das, von Gott und Menschen zur Seite geschoben zu werden. Oder gar für die Mühe, die man sich gemacht hat, bestraft zu werden. Anklänge daran finden wir auch in der Klage des Psalmisten: War es denn völlig umsonst, dass ich mein Herz rein hielt und kein Unrecht beging? (Psalm 73,13). Es ist das nagende Gefühl: „Hab ich nur meine Zeit verschwendet? Bin ich doch auf der falschen Spur gelandet?“

Die verbalen Messerstiche, die mit dieser Geschichte direkt ins Herz der damaligen Gemeindekultur der Pharisäer gehen, sind für Jesu Publikum nicht zu überhören. Das Wertesystem, das Gott im Alten Testament für sein Volk verordnet hat, ist kalt und herzlos geworden. Dabei steht für Jesus nie zur Debatte, dieses System an sich infrage zu stellen. Er respektiert wie kein anderer die Ordnungen Gottes. Er ist nicht gekommen, um das Gesetz abzuschaffen, sondern um es zu erfüllen. Das Problem ist nicht das Gesetz selber. Das Problem ist das Gesetz in den falschen Händen. Das Gesetz als Machthebel gegen Mitmenschen. Das Gesetz als Liste von Verhaltensnormen, die äußere Anpassung fordern und nicht innere Überzeugung. Das Gesetz als Mittel, Gott günstig zu stimmen.

Mit seiner provokativen Erzählung über die zwei Brüder legt Jesus seinen Finger auf eins der Kernprobleme des gefallenen Menschen, vor allem des religiösen gefallenen Menschen. Der Fehler des älteren Bruders ist nicht der Fleiß, mit dem er bis tief in die Nacht seine Einnahmen und Ausgaben überprüft und sich bemüht, recht zu leben. Die Bibel ist voll von Dingen, die wir richtig machen sollen, um unseretwillen und um unserer Mitmenschen willen. Das Problem ist seine Haltung. Sein zwanghaftes Bemühen, durch seinen Dienst Punkte zu erlangen. Seine Arbeit für den Vater als einen Mechanismus zu verwenden, den er selber bedienen kann, um Gegenleistungen zu bekommen. Kein Wunder, dass seine Welt plötzlich kopfsteht. Er hat die Arbeit geleistet, der Schwänzer wird belohnt.

So wird er zum Getriebenen, der zwischen Überheblichkeit und Minderwertigkeit hin- und herpendelt, zwischen Verachtung für den Unterlegenen und Argwohn dem gegenüber, der scheinbar das bessere Los gezogen hat. Der schnell auf den Gedanken kommt, dass sein Vater ihn auf dem Kieker hat. Der Angst hat, zu kurz zu kommen. Die Rückkehr seines Bruders reicht, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.

Nichts dämpft die Stimmung in einem Festsaal mehr als eine grimmige Miene an der Tür. Der, der in der Zwangsjacke einer Leistungsfrömmigkeit lebt, will auch andere einengen. So werden Festgesellschaften zu Stressgehegen, in die sich unterschwellige Punktesysteme so lautlos hineinschleichen, dass wir sie manchmal gar nicht bemerken. Gerne bezeichnen wir diejenigen als geistlich, die unsere Vorlieben und Abneigungen teilen, die gleichen Lieder und Prediger mögen, die gleichen Kongresse besuchen, den gleichen geistlichen Trends nachlaufen, sich über die gleichen Dinge aufregen wie wir. Solche belohnen wir mit unserer Freundschaft, auf die anderen blicken wir herab.

„Komm zu Jesus, und es geht dir gut!“

Der ältere Bruder ist ein Erfolgschrist. Er würde bei einer Predigt zustimmend nicken, in der vermittelt wird – wenn auch in verschlüsselten Botschaften –, dass der erfolgreiche Christ der ist, der für seinen guten Lebensentwurf belohnt wird und dies freudig bezeugen kann. Der den Stein der Weisen, den Schlüssel zum geistlichen Sieg, gefunden hat. Aber was, wenn der Lohn plötzlich ausbleibt? Wenn er nichts vorzuzeigen hat, was öffentlichkeitswirksam ist? Wenn er trotz aller Arbeit nicht bekommt, was nach seinen Vorstellungen sein vermeintlich gutes Recht wäre?

Demut und Ehrfurcht vor dem Herrn führen zu Reichtum, Ehre und Leben (Sprüche 22,4), verspricht der Schreiber der Weisheitsbücher. Das Verlangen, Menschen Gutes zu tun, ist ein wesentlicher Charakterzug Gottes. Auf ein üppiges Entgelt für ein Leben als Christ darf der Diener Gottes mit Recht hoffen. Überall in der Bibel werden die Segnungen und die „Wohltaten des Herrn“ lautstark verkündigt (Psalm 118 und 138; 2. Mose 15,1). Alltagsfreuden wie der Tau auf dem Gras, ein schöner Sonnenuntergang, das Brot auf dem Tisch, Geld, um die Rechnung für die Heizung zu bezahlen. Oder besondere Segnungen wie eine Gehaltserhöhung, eine Hochzeit, ein Baby, eine neue Wohnung. Keine Freude, auch in unserem Leben, ist zu unbedeutend, um überschwänglich gefeiert zu werden. Allerdings nicht eins zu eins als Vergütung für erbrachte Leistungen.

Auch von Tagen, an denen Gottes Güte weder spürbar noch sichtbar ist, berichten unzählige Passagen in der Bibel. Sie sind dem Gebrüll der Verzweifelten, dem Stöhnen der Verzagten, dem Wehklagen der Trauernden gewidmet. Einen ergebnisorientierten Glauben, der lückenlos funktioniert, bietet die Bibel nicht. Corrie ten Boom schrieb einmal:

Oft habe ich Leute sagen hören: „Schaut doch, wie gut Gott ist: Wir haben um schönes Wetter für unseren Gemeindeausflug gebetet, und nun seht, welch wundervollen Sonnenschein er uns geschenkt hat!“ Ja, Gott ist gut, wenn er uns schönes Wetter schickt. Aber Gott war auch gut, als er zuließ, dass meine Schwester Betsie vor meinen Augen in einem deutschen Konzentrationslager verhungerte. Ich erinnere mich an eine Situation dort, in der ich sehr entmutigt war. Alles um uns herum schien in Finsternis getaucht zu sein. Und dunkel war es auch in meinem Herzen. Ich erwähnte Betsie gegenüber, es schiene mir, als ob Gott uns vergessen hätte. „Nein, Corrie“, sagte Betsie, „das hat er ganz bestimmt nicht! Denk an sein Wort: ‚Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch ist seine Huld über denen, die ihn fürchten‘ (Psalm 103,11).1

Wer sein Lebensglück als unverdientes Geschenk empfängt, wird gesegnet. Wer sein Lebensglück als wohlverdientes Recht betrachtet, wird enttäuscht. Wie der ältere Sohn im Gleichnis. Weil Gott so gnädig ist, mahnt der Apostel Paulus in seinem Schreiben an die Gemeinde in Ephesus, hat er euch durch den Glauben gerettet. Und das ist nicht euer eigenes Verdienst; es ist ein Geschenk Gottes (Epheser 2,8).

Vielleicht denkt Paulus an den älteren Sohn, während er diese Worte schreibt. An den Mann, der selber bestimmen will, wie der Vater ihn zu segnen hat. Es ist nicht so, dass er prinzipiell gegen Feste wäre. „All die Jahre habe ich schwer für dich gearbeitet … und in dieser ganzen Zeit hast du mir nicht einmal eine junge Ziege gegeben, um mit meinen Freunden ein Fest zu feiern“ (Lukas 15,29), klagt er in seiner Verbitterung. Das Missverständnis liegt in der Definition eines Festes. Stellt er sich vielleicht eine Art Betriebsfeier vor? Sektflaschen und Ehrenreden für fleißige Angestellte, Bonusse als Anreiz für weitere gute Leistungen? Gute Publicity für die Firma? Ein kollektives Sich-auf-die-Schulter-Klopfen? Gelungene Frömmigkeit hochleben lassen?

Das Dumme ist, genau das hätte er haben können. Er ist nicht der Benachteiligte, für den er sich gerne hält, sondern der Bevorzugte. „Wir stehen uns sehr nahe, und alles, was ich habe, gehört dir“ (Lukas 15,31), redet sein Vater auf ihn ein. Er hat eine Flatrate-Einladung in den Festsaal des Vaters, er hätte seine Freunde zu jeder Zeit zu einem Fest einladen können. Der Vater sehnt sich nach einer innigen Beziehung, auch mit ihm. Der Vater macht sich in gleicher Weise auf, um nach ihm zu schauen, wie er nach seinem jüngeren Sohn Ausschau gehalten hat. Der Missmut ist völlig fehl am Platz. Sein Gefühl „Mir hat das Ganze nichts gebracht“ liegt in seiner Wahrnehmung. In dem Vergleich mit dem Bruder. Im unterschwelligen Bewusstsein, dass ihm in seiner wasserdichten Frömmigkeit doch etwas fehlt.

Enttäuschung ohne die Bereitschaft zum Umdenken ist kein guter Ratgeber, sie verzerrt das Bild. Sie hat etwas Unersättliches an sich. Sie begibt sich instinktiv auf die Suche nach einem Sündenbock und erzeugt ungerechte Feindbilder. Auch die Befriedigung ihrer Wünsche macht sie nicht glücklich. Irgendwann wird sie zu einem Lebensstil, bis hin zur Sucht. Wer die Enttäuschung hegt und pflegt, übersieht wichtige Fakten, um die eigene Sicht der Dinge zu rechtfertigen, um ja nicht sagen zu müssen: „Ich hatte unrecht.“

Der jüngere Sohn hat alles verbockt, und er weiß es. Er hat auf Kosten des Vaters in Saus und Braus gelebt, das hart erwirtschaftete Vermögen verprasst. Das Schicksal hat ihn eingeholt, Endstation Schweinestall. Tiefer geht es für einen frommen Juden nicht. Alles, was mit Schweinen zu tun hat, ist den Juden ein Gräuel. Schweinefutter essen? Schweinemist auskehren? An jeder Stelle der Geschichte wird ein gutbürgerlicher jüdischer Magen sich umgedreht haben. Wenn Jesus absichtlich schockieren wollte, ist es ihm gelungen. Egal, was der Junge bringt, es wird nie genug sein, um sein vermasseltes Leben wieder auf Kurs zu bringen. Geistlich, begabt, gesalbt, kraftvoll, cool, authentisch, theologisch, tüchtig genug zu werden: das kann er jetzt vergessen. Er hat nichts zu verlieren.

Das Verhalten des Vaters, der seinem abtrünnigen, unappetitlich riechenden Jungen entgegenrennt, sich schweißgebadet und leidenschaftlich auf ihn stürzt, ihn abküsst und begeistert ins Haus holt, muss für die Pharisäer schockierend sein. Der Gott des Volkes Israel, der Inbegriff von Heiligkeit der zwischen den Cherubim thront? Das verzehrende Feuer, das den Anblick von Sünde nicht erdulden kann? So außer Rand und Band? So unprofessionell? Für einen Frevler, der ihm nur Schaden zugefügt hat?

Ja, so ist Gott. Der himmlische Arzt, der für die Kranken und nicht für die Gesunden gekommen ist, stellt sich vor. Der Gott, der seine Mittagspause an staubigen Straßenrändern verbringt, an denen Bettler nach Almosen schreien. Der sich an Spielplätzen aufhält, wo Mütter auf der Bank sitzen und über Kochtöpfe und Geburtswehen plaudern, während ihre Kinder spielen. Er unterbricht seine Reise an einem Brunnen, aus dem eine berüchtigte Frau Wasser holt. Er stochert im Sand an einer Hinrichtungsstätte und spricht eine Sünderin frei, hält an Straßenschranken an, an denen Steuereintreiber ihre krummen Geschäfte treiben und lädt sie zu einer geselligen Runde in der Kneipe ein. Er taucht ausgerechnet an den Orten auf, an denen die geistliche Elite seiner Zeit ihren Gott am wenigsten erwarten würde.

Und ebendort, wo gebrochene Menschen nach Schweinemist stinken. Er bringt gängige Definitionen von Mühe und Lohn ins Wanken. Er lädt in eine Welt ein, in der die Letzten die Ersten sind, empfiehlt Kinder als Experten in geistlichen Angelegenheiten, bezeichnet Arme, Hungrige, Durstige und Verlierer als Gewinner. Er schenkt Gunst nicht dort, wo Menschen etwas für ihn leisten, sondern dort, wo sie nichts mehr leisten können. Und verkündet jenen Heil, die ihre Versuche, das Heil zu erlangen, an den Nagel hängen und mit einem stöhnenden „Kyrie Eleison“ („Herr, erbarme dich“) kapitulieren.

In seinen drei kurzen Dienstjahren kennt Jesus nur zwei Kategorien von Menschen: Sünder, die wissen, dass sie Sünder sind und sich auf seine Gnade werfen, und Sünder, die meinen, sie seien Gerechte. Diese nageln ihn schließlich ans Kreuz.

Schweineställe in verschiedenen Varianten

„Manchmal beneide ich die Christen, die so eine dramatische Lebensgeschichte haben“, klagte eines Tages meine Tochter. „Ist deine nicht dramatisch?“, fragte ich sie. „Keine Drogen, keine Bettgeschichten, kein Alkohol, keine Tattoos oder Piercings, keine sensationelle Umkehr aus einem vergammelten Leben zum Glauben an Jesus. Eigentlich habe ich nichts zu erzählen! Keine Vorher-Nachher-Dramatik. Ich machte schon immer alles, was ein braver Christ so macht. Sonntagsschule, Bibellesen, Beten, Spenden, zum Jugendkreis gehen …“ „Sei froh drum“, sagte ich, leicht eingeschnappt. „Man muss nicht in jede Scheiße getreten sein, um zu wissen, dass sie stinkt.“ Das war der Standardspruch unseres Jugendleiters. Aus meinem Mund klang er gekünstelt. Über das darauf folgende Gespräch zum Thema „Schweineställe“ grübelte ich lange nach.

Es gibt solche und solche Schweineställe. Die, die dramatisch stinken, aus denen der Schlamm von allen Seiten förmlich herausquillt. Dem, der dort seine Zeit abgesessen hat, geht sein Geruch voraus und seine Herkunft sieht man ihm an. Dann gibt es die unsichtbaren Schweineställe, die inneren, verdeckten, überspielten. Laut der Bibel sind sie die gefährlicheren. In so einen hatte sich der ältere Sohn verirrt. Der Schlamm und der Mist haben Namen wie Stolz, Neid, Besserwisserei, Rechthaberei, Ansprüche, Eitelkeit. Sie sind besonders heimtückisch, weil sie nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Erst recht nicht für die, die in ihnen drinhocken. Nach außen hin wirken sie so vornehm.

Muss man also einen Abstecher in den Schweinestall machen, bevor man sich des Kalbsbratenduftes in Gottes Festsaal erfreuen kann? In diesem Sinne, ja.

Nach einer Serie von selbst gemachten Katastrophen trifft der rebellische jüngere Bruder eine richtige Entscheidung. Er macht sich auf, um nach Hause zu kommen. Er setzt alles auf eine Karte: die Vergebung des Vaters. Alle weiteren Segnungen sind Folgen dieses entscheidenden Schrittes. Er lässt sich beschenken, ankleiden, speisen. Ihm muss man nicht erklären, dass seine Hose, seine Jacke und seine Strümpfe verseucht sind „wie ein beflecktes Kleid“ (Jesaja 64,5; ELB).

Eine zweite Sache macht er richtig. In seiner fleißig geprobten Bußrede, die sich in der Begegnung mit dem Vater als überflüssig erweist, sagt er: „Mache mich zu einem deiner Tagelöhner!“ (Lukas 15,19; LUT). In diesen zwei kleinen Wörtern – „Mache mich“ – steckt ein tiefgreifender Mentalitätswechsel. Die Geschichte fing mit zwei anderen kleinen Wörtern an: „Gib mir.“ „Gib mir den Teil des Vermögens, der mir zufällt!“ (Lukas 15,12; ELB). Eine „Gib mir“-Gesinnung, an der der ältere Bruder nach wie vor festhält. „Gib mir“-Hände sind in Gottes Welt noch nie gut angekommen. „Mach mich“-Hände haben sich dagegen schon immer im festen Griff der warmen Hände Gottes wiedergefunden. Eine Seele, die formbar wie Ton in den Händen eines Töpfers ist, hat bei Gott eine Heimat.

Dieser Vater will keine Mitarbeiter, die ein Betriebszeugnis an der Tür des Festsaals präsentieren. Er will Söhne. Im Gewand gekleidet, das vom Vater geschenkt wird. Nicht Linientreue, sondern Familienähnlichkeit. Nicht ein kollegiales Nebeneinander, sondern ein leidenschaftliches Miteinander. Er will die Wiederherstellung der Zurückgekehrten, nicht die Leistungen der Angepassten.

„Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden“ (Lukas 15,32; LUT). Schwingt hier der Gedanke mit, dass auch der tugendhafte Sohn tot ist und wieder lebendig werden soll? Der dringende Appell, den Freudentag mitzufeiern, ist eine Einladung auch an ihn, aus dem Tod ins Leben zurückzukehren. Der Ausgang der Geschichte bleibt offen. Kehrt der ältere Sohn zurück nach Hause, um mitzufeiern, oder bleibt er mit hängendem Kopf und geballten Fäusten draußen auf dem Feld? Bekennt auch er seine Rettungsbedürftigkeit oder hält er stur an seiner Selbstgerechtigkeit fest?

„All die Jahre habe ich schwer für dich gearbeitet“, klagt der aufgebrachte Mann. Der Vater kontert nicht mit einer Erklärung zum Verhältnis von Mühe und Lohn, sondern mit einer warmen, besänftigenden Hand auf dem Arm seines Sohnes. Mit einer Einladung zurück in die warme Stube, dorthin, wo Söhne und Töchter feiern, danken, wo der Vater sie aus seinem Überfluss beschenkt und mit Freude überschüttet (Psalm 36,9). Der Sohn wird vom Himmel geküsst. Genauso wie sein jüngerer Bruder. Was er daraus macht, erfahren wir nicht. Was andere biblische Helden daraus gemacht haben, können wir an vielen Stellen in der Bibel nachlesen. Wichtig ist, was wir selber daraus machen.