Über das Buch:
Texas 1891.
Charlotte Atherton hätte nie gedacht, dass ausgerechnet sie einmal drei Kinder entführen würde. Doch das Leben lässt der angesehenen Lehrerin keine andere Wahl. Mitten in der Nacht macht sie sich mit den Kleinen aus dem Staub. Und zunächst scheint alles gut zu gehen. Sie ahnt nicht, dass ausgerechnet Stone Hammond auf sie angesetzt wurde – ein früherer Kopfgeldjäger mit einer erstaunlichen Erfolgsbilanz. Und sie ahnt auch nicht, dass die Begegnung mit ihm ihr Leben für immer verändern wird …

Über die Autorin:
Karen Witemeyer liebt historische Romane mit Happy-End-Garantie und einer überzeugenden christlichen Botschaft. Nach dem Studium der Psychologie begann sie selbst mit dem Schreiben. Zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in Texas.

Kapitel 6

Charlottes Herz schlug so schnell, dass ihr schwindelig war. Sie stemmte ihre Füße fest in den Boden, um ihren Stand zu sichern, richtete ihre Aufmerksamkeit jedoch weiterhin auf den Mann vor sich.

„Nein“, sagte er endlich und einen kurzen Augenblick lang fühlte sie sich so erleichtert, dass sie meinte, zur Decke zu schweben. Dann sprach er weiter. „Aber er weiß genau, wo ich bin.“

Ihre Gedanken erstarrten, waren nicht in der Lage zu verstehen, was er da sagte. Oder vielleicht wollten sie es nicht. Alles, was sie zustande brachte, war, ihn anzublinzeln.

„Ich habe ihm von meiner Spur erzählt, einem Anwesen außerhalb von Madisonville, das auf einen Charles Atherton eingetragen ist.“

Wie war er nur an diese Information gekommen? Sie hatte niemandem in der Akademie jemals von dem kleinen Stück Land erzählt, das ihre Eltern ihr hinterlassen hatten. Ihr Vater hatte all seine Zeit in New York verbracht. Ihre Mutter war in Europa von Opernhaus zu Opernhaus gereist. Niemand in Austin hatte von dem kleinen, rustikalen Wohnhaus erfahren, das sie für die Tochter erstanden hatten, die die Liebe zur Bühne nicht teilte.

„Ich hatte bisher noch keine Möglichkeit gehabt ihm mitzuteilen, dass ich es – und Sie – gefunden habe.“ Die harsche Aussage klang fast wie eine Aufmunterung, als spürte er ihre Angst und wollte alles daransetzen, sie zu vertreiben. Mitleid? Von diesem Mann? Charlotte musterte ihn genauer, doch in diesem Moment schloss er die Augen und hob eine Hand an seine Stirn. „Bin in den Griff eines Gewehres gelaufen, bevor ich zurück in die Stadt kommen konnte.“

Ironie. Sarkasmus. Das musste es sein, was sie eben wahrgenommen hatte. Nicht Mitleid. Wie närrisch von ihr, etwas anderes zu denken.

„Werden Sie ihm denn bald von Ihrem Fund berichten?“

Wenn das der Fall sein sollte, würde sie sobald wie möglich mit den Kindern von hier verschwinden müssen. Doch wohin sollte sie gehen? Sie würde die Jungen zurück ins St.-Petrus-Waisenhaus bringen und versuchen müssen, mit Lily in einer anderen Stadt neu anzufangen, vielleicht sogar in einem anderen Staat, wo niemand sie kannte. Sie würden falsche Namen benutzen müssen. Ihr Aussehen verändern. Dürften ihre Talente nicht mehr in der Öffentlichkeit ausüben. Keine Rezitationen für Lily. Keine Musik für mich.

Keine Musik. Allein der Gedanke erschütterte sie bis tief in ihr Herz. Doch sie würde es tun. Für Lily würde sie es tun.

Eine große Hand berührte ihren Arm, riss sie aus ihren Gedanken. „Beruhigen Sie sich, Frau Lehrerin. Sie brauchen jetzt nicht Hals über Kopf von hier zu fliehen. Ich kann meinen Bericht noch einige Tage hinauszögern. Vielleicht länger, wenn ich mir eine gute Ausrede einfallen lasse, um Dorchester hinzuhalten. Ich werde auf jeden Fall warten, bis ich Neuigkeiten aus Austin habe.“

Zeit. In dieser Situation gab es kein größeres Geschenk. „Gut“, sagte sie und machte sich gar nicht erst die Mühe, das Ausmaß ihrer Dankbarkeit zu verbergen.

Er ließ seine Hand von ihrer Schulter sinken und räusperte sich. Sein Blick huschte von ihrem Gesicht weg. „Ja, also, glauben Sie aber nicht, dass ich mich erweichen lasse. Dorchester ist kein Mann, der sich lange hinhalten lässt, und ich bin kein Mann, der den Helden spielt, nur weil eine schöne Frau ihn mit dankbaren Augen ansieht.“ Er trat um sie herum und Charlotte unternahm nicht den Versuch, ihn aufzuhalten. Das hätte sie auch gar nicht tun können, da sie förmlich in Schockstarre verfallen war. Dieser Berg von einem Mann fand sie schön? Du liebe Zeit! Mr Dobson musste ihn härter am Kopf getroffen haben, als sie vermutet hatte.

„Für mich steht eine ansehnliche Summe auf dem Spiel, außerdem mein Ruf als bester Jäger des Staates“, grummelte Stone Hammond, während er mit der einen Hand nach seinen Schuhen griff und ihr mit der anderen die Dokumente hinhielt. „Sie bekommen einen Aufschub, Miss Atherton, aber ich lasse mich nicht aufhalten.“ Mit einem langen Schritt war er an der Tür. Er drehte den Knauf und zog sie auf. „Nicht von haltlosen Behauptungen.“

Der Nachhall der zugeschlagenen Tür unterstrich seine Aussage, doch Charlotte zuckte nicht einmal zusammen. Sie lächelte.

Mr Hammond mochte ein steinhartes Äußeres haben, doch harte Schalen bargen bekanntlich einen weichen Kern und er hatte ihr gerade einen Einblick in den seinen gegeben. Das machte ihr Hoffnung.

* * *

Stone stieß seine Füße in die Stiefel, dann ging er den Flur hinunter in Richtung Küche. Er mochte eine hühnereigroße Beule auf der Stirn haben, doch er würde sich bestimmt nicht von Miss Atherton bemuttern lassen. Er wollte keine Porzellanwaschschüsseln mit Blumenmuster. Keine mit Rüschen besetzten Tagesdecken. Kein Gejammer jedes Mal, wenn er sich bewegte. Vor allem nicht von einer Frau wie ihr. Einer großen Frau. Die perfekt an seine Seite passen würde und deren Mund die richtige Höhe hatte, um sich beim Küssen nicht einen steifen Nacken zu holen.

Und was sollten überhaupt diese Gedanken? Wie kam er dazu, daran zu denken, sie zu küssen? Sie war seine Beute, du liebe Zeit! Eine Entführerin und vielleicht absolut verrückt. Sie versteckte es nur gut hinter ihrem Ich-will-nur-das-Beste-für-die-Kinder-Gesäusel.

Stone betrat die Küche, so in seine innere Tirade versunken, dass er Mr Dobson nicht bemerkte, bis es zu spät war.

„Was glauben Sie, was Sie hier machen?“ Der zerzauste Kerl legte einen Holzstapel auf dem Tisch ab und drehte sich mit dem Messer in der Hand zu Stone um.

„Bleiben“, verkündete Stone mit zusammengebissenen Zähnen und harten Augen. Um seinen Standpunkt zu untermauern, zog er den Staubmantel aus und ließ das schwere Kleidungsstück auf einen Stuhl fallen. „Miss Atherton hat mich eingeladen, eine Weile zu bleiben, also werden Sie mich hier jetzt wohl öfter sehen.“

Der Gnom warf ihm einen derartig kochenden Blick zu, dass Stone sich wunderte, warum er nicht auf der Stelle anfing zu verdampfen. Er würde Dobson im Auge behalten müssen. Andererseits würde der Alte ihn wahrscheinlich auch nicht unbeobachtet lassen, also sollte das nicht allzu schwer werden.

„Wo ist der Abort?“, verlangte Stone zu wissen, der trotzdem augenblicklich nach einem Weg suchen wollte, Miss Athertons Wachhund zu entkommen. „Erreiche ich den durch die Hintertür?“

Dobson zeigte wortlos mit dem Daumen über seine Schulter.

Stone ging in die Richtung, die der Mann ihm angezeigt hatte, und trat durch die Hintertür hinaus auf die Veranda. Nachdem er die Stufen hinuntergetrampelt war, entdeckte er den Pfad, der zum Toilettenhaus führte, das halb unter den hängenden Ästen mehrerer Eichen verborgen lag.

Sobald er allerdings außer Sichtweite des Hauses war, schlug Stone einen scharfen Bogen und schlich zurück. Er musste die Lehrerin beobachten. Sie würde das Mädchen holen. Das Kind zwei, drei Stunden zu verstecken war eine Sache, es aber eine Woche lang verschwinden zu lassen, wäre unmöglich. Außerdem hatte Miss Atherton zugestimmt, dass er mit Lily sprach. Es gab keinen Grund, sie noch länger verborgen zu halten. Er allerdings hatte jeden Grund, das Versteck ausfindig zu machen, in dem die Kleine sich verborgen gehalten hatte.

Wenn Ashe Miss Athertons Ansprüche nicht untermauern konnte, würde Stone sich das Mädchen schnappen und so schnell wie möglich von hier verschwinden müssen, ohne die anderen zu alarmieren. Je mehr er über ihr Versteck wusste, desto reibungsloser und ungefährlicher würde alles ablaufen. Er würde Lily mitnehmen, so oder so, und es wäre ihm lieber, wenn weder Miss Atherton noch einer der Jungen ins Kreuzfeuer geraten würden.

Deshalb lief er so geduckt wie möglich zum Haus zurück, vorsichtig darauf bedacht, seinen übergroßen Körper unterhalb der Fensterhöhe zu halten. Sein Instinkt sagte ihm, dass die Lehrerin ihn nicht am Versteck des Mädchens vorbeigeführt hatte, als sie ihn vorhin ins Haus gebracht hatte, also blieb nur die Rückseite des Hauses.

Da er befürchtete, dass die langen Bretter der Veranda unter seinem Gewicht knarren würden, blieb er stattdessen auf dem Boden und presste seinen Körper gegen die Hauswand. Durch das Fenster, das ihm am nächsten war, sah er die Regale und Schränke der Küche, und obwohl es geschlossen war, hörte er Dobsons Knurren und die höhere, melodische Stimme von Miss Atherton. Er konnte ihre Worte nicht verstehen, doch das war auch gar nicht nötig, denn nach einer Weile wurden Gegenstände verrückt und schabende Geräusche erklangen. Dann war es kurz still und ein dumpfer Schlag erklang.

Eine Falltür. Wahrscheinlich ein Rübenkeller.

Eine dritte Stimme war zu hören. Hoch. Leise. Auf jeden Fall jung. Stone lächelte zufrieden. Er hatte gerade Lily Dorchesters Versteck entdeckt.

Jetzt musste er so schnell wie möglich zurück zum Abort, damit niemand Verdacht schöpfte.

Gebückt lief Stone zurück zu den Bäumen und dem kleinen Verschlag. Er griff nach dem Türknauf, doch ein Rascheln in den Zweigen über ihm zog seine Aufmerksamkeit auf sich.

Der ältere Junge, Stephen, hockte dort, einige Fuß über dem Dach des Toilettenhauses. Stones Magen zog sich zusammen. Hatte der Junge etwa gesehen, wie er das Haus beobachtet hatte? Nein. Er hatte Stone den Rücken zugewandt. Erleichtert atmete Stone aus. Dann entdeckte er die Harpunenkonstruktion und musste lächeln. Der Junge sah aus wie ein echter Jäger. Er selbst war als Kind genauso gewesen, hatte Holzpfeile auf imaginäre Hirsche abgeschossen und mit dem Fingerrevolver auf streunende Hunde gezielt und so getan, als seien es gefährliche Kojoten. So waren Jungen eben. Zum Glück war der Junge so auf seine imaginäre Beute fixiert, dass er Stones kleinen Ausflug nicht bemerkt hatte. Jetzt kroch Stephen auf seinem Ast weiter nach vorne, seine selbst gebastelte Waffe im Anschlag, das spitze Ende auf den Boden hinter dem Toilettenhaus gerichtet.

Stone überließ den Jungen seinem Spiel, mit dem er seine Heimstatt vor Räubern oder wilden Tieren beschützte, oder was auch immer in seinen Gedanken vorging, und betrat den Abort. Er hatte gerade seinen zweiten Hosenträger gelöst, als über ihm ein Triumphschrei erklang.

„Hab ich dich, du räuberische Katze!“

Stone gluckste leise und stellte sich eine Hauskatze vor, die jetzt erschrocken in Stephens Falle zappelte. Allerdings nur, bis ein wütendes Fauchen erklang. Das war keine Hauskatze.

Mit klopfendem Herzen stieß Stone die Tür auf und ließ den Blick durch die Zweige über sich schweifen. Wenn der Junge wirklich eine Wildkatze gefangen hatte, würde ihn das Seil nicht lange schützen. Stephen war nirgendwo zu sehen.

„Stephen!“, rief er und trat zurück, um einen besseren Blick auf die Äste zu haben. Instinktiv griff er an seinen Gürtel, doch sein Messer fehlte. Alle seine Messer fehlten. Genauso wie seine Revolver. Stone biss die Zähne zusammen. Das war egal.

Er wandte sich in Richtung Haus und legte die Hände an den Mund. „Dobson! Kommen Sie sofort her!“ Er hoffte, dass er laut genug gewesen war, dann lief er um das Toilettenhaus herum, hin zu der Stelle, auf die der Junge eben noch so neugierig gestarrt hatte.

Ein Kinderschrei feuerte seine Schritte weiter an. Über ihm knackten Zweige. Blätter raschelten. Aus dem Augenwinkel sah Stone graues Fell aufblitzen.

Gott steh uns bei.

Stephen hatte sich mit einem Rotluchs angelegt.

Kapitel 7

Mit einem Sprung erreichte Stone einen der unteren Äste und zog sich hinauf. Er schlang beide Beine darum und schaffte es, mit dem Oberkörper darauf zum Liegen zu kommen. Schnell rutschte er rückwärts zum Stamm des Baumes, um sich aufzurichten. Als er endlich stand, suchte er die Äste nach dem Rotluchs ab.

Stephen kämpfte sich über Stones rechter Schulter durch einige Äste. Wenn der Junge es zum Toilettenhaus schaffen würde, könnte er sich fallen lassen und weglaufen. Doch der Luchs kam schnell näher. Zu schnell. Mit beängstigender Leichtigkeit sprang das Tier von Ast zu Ast.

„Hey! Hier!“, schrie Stone und rüttelte an den Ästen neben sich, um dem Jungen Zeit zu verschaffen. Leider achtete die Wildkatze nicht auf ihn, so fixiert war sie auf ihre Beute über ihm in den Zweigen.

Stephen verschwand hinter dem Baumstamm und damit aus Stones Sichtfeld. Die Katze zischte und sprang hinter ihm her. Ihre Krallen schlugen sich genau an der Stelle in die dunkle Rinde des Baumes, wo gerade noch der Junge gewesen war. Sie stemmte sich auf die Hinterbeine, um zum nächsten Sprung anzusetzen.

Stone erkannte seine Chance. Blitzschnell klammerte er sich mit der Linken an einen Ast über seinem Kopf und streckte die Rechte nach dem Hinterbein des Luchses aus. Er schloss die Hand um ihren Lauf und zog mit all seiner Kraft. Die Wildkatze schrie, ihre Vorderkrallen kratzten haltsuchend über die Rinde des Baumes. Ihre hektischen Bewegungen brachten Stone aus dem Gleichgewicht. Er musste sie loslassen, um nicht in die Tiefe zu stürzen. Doch er hatte erreicht, was er hatte erreichen wollen. Die gelben Augen der Katze hatten sich auf Stone gerichtet. Ihre Fänge blitzten, als sie knurrte.

„Lauf zum Haus, Junge!“, schrie Stone. „Verschwinde!“

Als sie hörte, dass ihre eigentliche Beute entkam, wandte sich die Katze wieder Stephen zu.

„Oh nein, auf keinen Fall“, sagte Stone. Er ließ den Ast los, der ihm Halt gegeben hatte, und sprang. Im Flug packte er den Luchs um die Mitte und zog ihn mit sich.

Der Rücken des Tieres prallte gegen seinen Kopf und seine Brust, als sie vom Baum fielen. Stone schlug hart auf dem Boden auf. Schmerzen schossen durch seinen Kopf und seine linke Schulter. Ihm wurde die Luft aus der Lunge gepresst.

Stone ließ die zappelnde Wildkatze los und hoffte, dass sie weglaufen würde. Doch stattdessen rappelte sie sich auf und sprang auf seinen Brustkorb. Die Katze schlug nach seinem Gesicht. Er duckte sich nach links. Rasiermesserscharfe Krallen bohrten sich in seine Schulter, dann fing auch sein Kinn an zu brennen. Und noch immer konnte er nicht atmen.

Die Hinterkrallen des Luchses bohrten sich in seinen Brustkorb. Stone wandte sich zur Seite, versuchte verzweifelt, sich zu befreien, doch die Krallen bohrten sich nur noch tiefer in seine Haut. Er schlug mit der rechten Hand nach dem Tier, während er mit der linken sein Gesicht schützte. Seine Faust traf es an der Seite. Doch die Gegenwehr schien es nur weiter anzustacheln. Endlich landete Stone einen Treffer gegen den Kopf des Luchses. Der Schreck ließ das Tier lange genug innehalten, dass Stone seine Arme um dessen Nacken schlingen konnte. Mit aller Kraft riss er den Körper des wild gewordenen Tieres von sich herunter und schleuderte es weg.

Die Wildkatze schlug auf dem Boden auf. Das Heulen, das sie dabei ausstieß, klingelte in Stones Ohren. Er rollte sich auf Hände und Knie. Endlich taten seine Lungenflügel wieder ihren Dienst. Er schnappte nach Luft. Dann taumelte er auf die Füße. Die Katze kreischte und stellte ihre Nackenhaare auf. Stone stellte sich ihr wieder entgegen. Bereitete sich auf den Angriff vor. Sie bleckte die Zähne. Zischte. Kauerte sich nieder, um zu springen.

Bumm!

Ein Gewehrschuss zerriss die Luft. Die Katze sprang vor Schreck zur Seite.

„Verschwinde!“, erklang Dobsons Stimme hinter Stone, einen Augenblick, bevor der zweite Schuss abgefeuert wurde. Der Luchs floh.

Stone ließ erschöpft den Kopf hängen und atmete hektisch aus und ein. Gott segne den Gnom.

* * *

Charlotte drückte den zitternden Stephen an sich. Sein Gesicht verbarg er in ihrer Hemdbluse, seine Arme umschlangen sie fester, als es ihr Korsett jemals getan hatte. Sie sollte etwas sagen, sollte ihn trösten, doch alles, was sie schaffte, war, ihm beruhigend über die Haare zu streichen. Sie war viel zu sehr mit dem Anblick des Kämpfers vor sich beschäftigt. Er hatte mit bloßen Händen gegen ein wildes Tier gekämpft, um ein Kind zu beschützen, das er kaum kannte.

Eine derart selbstlose, tapfere Tat war ihr noch nie untergekommen.

Langsam wandte sich der Mann um. Sein Blick suchte den von Mr Dobson. Er nickte – eine kleine, ruckartige Bewegung seines Kinns. Mr Dobson antwortete ebenso. Es wurde nicht gesprochen, doch das war auch gar nicht nötig. Respekt erfüllte die Luft, zusammen mit Dankbarkeit und vielleicht sogar einem Hauch widerwilliger Anerkennung.

Zum Glück war Dobson geistesgegenwärtig gewesen und hatte das Gewehr mitgenommen, als Stephen um Hilfe geschrien hatte. Mr Hammond hätte … Charlotte atmete schockiert ein. Seine Wunden! Um Himmels willen! Tiefe Kratzer prangten auf seiner Brust, wo der Luchs seine Krallen eingegraben hatte. Leichtere Verletzungen verliefen über seine Schultern und das Schlüsselbein. Blut rann über das zerrissene weiße Baumwollhemd. Wie konnte der Mann überhaupt noch stehen?

„Sieht aus, als hätte die Kleine Sie ordentlich erwischt“, sagte Mr Dobson mit einem völlig normalen Tonfall, der den Horror in Charlottes Innerem nicht im Mindesten widerspiegelte. Er tat so, als hätte der Mann einen Mückenstick. Unglaublich!

Dobson schulterte das Gewehr und zeigte auf die kleine Hütte, die er als Schlafquartier benutzte. „Ich habe eine Salbe, mit der wir die Kratzer behandeln können.“

„Diese Verletzungen brauchen mehr als nur ein bisschen Salbe“, schnappte Charlotte, als sie endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte. „Einige müssen bestimmt genäht werden.“ Sie trat einen Schritt näher an die Männer heran, während sie einen Arm um Stephen legte. „Mr Dobson, reiten Sie nach Madisonville und holen Sie den Arzt. In der Zwischenzeit kümmere ich mich um Mr Hammonds Verletzungen.“

„Ich kann auch helfen!“

Charlotte wandte sich um und sah Lily, die in der Küchentür stand. Bewunderung glänzte in ihren Augen, als sie den Fremden anstarrte. Charlotte unterdrückte ein Seufzen. Als wäre die Situation nicht schon kompliziert genug gewesen. Zum Glück bewies John mehr Verstand und versteckte sich hinter dem Türpfosten.

„Du kümmerst dich um John.“ Charlotte sah das Mädchen fest an.

„Ja, Ma’am.“ Lilys enttäuschter Gesichtsausdruck zerriss Charlotte fast das Herz, doch sie musste standhaft bleiben. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war, dass Lily einen Helden aus diesem Mann machte.

Charlotte wandte sich wieder zu Stone um und sah seinen schmerzverzerrten Gesichtsausdruck. Als er ihren Blick bemerkte, versuchte er, ihn zu verbergen, indem er sich abwandte, doch dafür war es zu spät. Als wäre ihm seine Schwäche peinlich, drehte er sich um und humpelte Mr Dobson hinterher.

„Stephen?“ Sie drückte die Schulter des Jungen und befreite sich sanft aus seiner Umklammerung. „Du musst meinen Medizinkoffer holen, eine Waschschüssel und saubere Tücher aus dem Wäschekorb. Kannst du das für mich machen?“

Der Junge richtete sich auf und nickte, als er sie ansah. „Ja, Ma’am.“ Er schniefte einmal.

„Gut.“ Sie lächelte ihn an. „Bring alles in Dobsons Hütte. Dort bleibt Mr Hammond während seines Besuches.“

Der Junge nickte, bewegte sich aber nicht, sondern sah dem Mann hinterher, der langsam zu der Hütte humpelte. „Mr Hammond?“ Sein Ruf scholl über den Hof.

Der Mann blieb stehen und sah zurück. „Ja?“

„Danke.“

Ein kleines Nicken war alles an Antwort, doch es schien Stephen zu genügen. Er machte die Bewegung nach und lief dann in Richtung Haus, um seine Aufgaben zu erfüllen.

Am liebsten wäre Charlotte ihm gefolgt. Nur zu gerne hätte sie sich vor Mr Hammond versteckt, der einen Sturm widerstreitender Gefühle in ihr auslöste. Wie konnte sie sich einem Mann verpflichtet fühlen, der alles bedrohte, was ihr lieb und teuer war? Wie konnte sie Stärke, Mut und Ehrenhaftigkeit in ihm sehen, wenn er Dorchesters Mann war?

Nun, zumindest jetzt im Moment war sein Auftraggeber egal. Er hatte sein Leben riskiert, um Stephen zu beschützen. Dafür verdiente er ihren Dank und ihre Hilfe. Sie schob die Schultern zurück, hob ihren Rock an und folgte ihm. Es dauerte nicht lange, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte. Der arme Mann humpelte, als wäre er ein Greis.

„Haben Sie sich das Bein verletzt?“, fragte sie, als sie neben ihm war.

Mr Hammond schaute sie nicht an, sondern hielt seinen Blick auf den Boden gerichtet, als habe er Angst, dass er stolpern könnte. „Hab mir die Hüfte geprellt, als ich vom Baum gefallen bin.“

Vom Baum …? Du liebe Güte! Diesen Teil des Kampfes hatte sie nicht gesehen. Es war ein Wunder, dass der Mann überlebt hatte.

„Mr Dobson?“

Der Hausmeister wandte sich um und sah sie unter seinen buschigen Augenbrauen hervor an. „Ja?“

„Beeilen Sie sich mit dem Arzt. Er könnte sich Rippen gebrochen oder innere Verletzungen zugezogen haben. Ich sorge dafür, dass er sich ausruht.“

„Ich hab mir nichts gebrochen“, brachte Hammond zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Nur ein paar Schrammen. Damit müssen wir den Arzt nicht behelligen.“

Typisches stures, stolzes Männergeschwätz. Charlotte funkelte ihn böse an und hoffte, er würde die Hitze ihres Blickes spüren, auch wenn er sie nicht ansah. „Nun, Sie befinden sich auf meinem Grund und Boden, Mr Hammond, also herrschen hier auch meine Regeln. Und Regel Nummer eins ist, dass jeder, der von einem Baum fällt, weil er von einer Wildkatze angegriffen wird, von einem Arzt untersucht wird. Also wird Ihr angeknackster Stolz mit diesem Tiefschlag klarkommen müssen.“

Das ließ ihn dann doch aufblicken. Sie stählte sich gegen seinen Ärger, doch als seine Augen die ihren trafen, sah sie das Lachen in ihnen. „Das ist also Regel Nummer eins. Bei Nummer zwei geht es dann wohl um das Verhalten im Falle eines Bärenangriffes. Nein, warten Sie. Kojote?“

„Wassermokassinschlange“, antwortete Charlotte trocken und konnte gerade noch so ein Grinsen unterdrücken. „Wir haben in der Nähe einen See.“

Mr Hammond gluckste. Dann zuckte er zusammen und erinnerte sie dadurch daran, warum sie eigentlich hier war.

Charlotte lief vor und hielt ihm die Hüttentür auf.

Er humpelte in den leeren Raum. Charlotte runzelte die Stirn, während sie das Innere der Hütte musterte. Sie hatte bisher kaum einen Gedanken an das kleine Gebäude verschwendet, da es Dobsons Wohnraum war. Aber um einiges würde sie sich kümmern müssen, wenn Mr Hammond auch hier schlafen sollte. Bettlaken zum Beispiel. Und eine oder zwei Decken. Die Matratze auf dem freien Bett war blank und die Nächte wurden bereits kälter. Und er würde seine Satteltaschen wollen und auch die anderen Dinge, die Dobson konfisziert hatte. Außerdem musste der Boden einmal ordentlich gewischt werden und von den Dachbalken mussten die Spinnweben entfernt werden. Doch das konnte warten, bis –

„Ich will Sie und die Kleinen nicht mit ihm hier allein lassen.“ Mr Dobsons leises Grummeln riss sie aus ihrer geistigen Bestandsaufnahme. „Selbst so angeschlagen, wie er momentan ist, kann er noch Schwierigkeiten machen.“

„Der Mann hat Stephen gerade das Leben gerettet“, flüsterte sie zurück. „Er verdient unsere Hilfe.“

Dobson wirkte wenig überzeugt. „Er hat uns geholfen, das gebe ich zu, aber vertrauen tue ich ihm trotzdem nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er auf Dorchesters Gehaltsliste steht.“

Charlotte war sich nicht nur ziemlich sicher, was das anging, doch jetzt war nicht die Zeit für Erklärungen. „Ich vertraue ihm auch nicht“, sagte sie stattdessen, „doch ich wünsche ihm auch nichts Schlechtes. Er braucht einen Arzt und ich will, dass er einen bekommt.“ Ein leises Stöhnen ließ sie sich zu dem Mann umwenden, der sich gerade auf dem kleinen Bett in der Ecke des Raumes niederließ. „Er ist nicht in der Verfassung, um wegen Lily etwas zu unternehmen. Außerdem sind alle seine Waffen gut weggeschlossen.“ Nun ja, fast alle. Sie hatte das Messer in ihre Kommode gelegt, bevor sie Lily aus dem Keller geholt hatte. „Wir passen auf uns auf.“

Der Hausmeister widersprach nicht weiter. „Falls er irgendwelche Schwierigkeiten macht, ich habe ein Jagdmesser unter meinem Kopfkissen. Zögern Sie nicht, es zu benutzen.“

Als würde sie es übers Herz bringen, Stone Hammonds geschundenem Körper noch mehr Wunden zuzufügen. Doch da sie wusste, dass Dobson nur um ihr Wohlergehen und das der Kinder besorgt war, nickte sie. Erst jetzt marschierte der grauhaarige Mann in Richtung Scheune, um aufzusatteln.

Als Charlotte langsam auf Mr Hammond zuging, klopfte ihr Herz schneller. Dabei hatte sie Mr Dobson doch gerade noch versichert, dass sie zurechtkommen würde und er sich keine Sorgen um sie zu machen brauchte. Du liebe Zeit, was war nur mit ihr los? Es war ja nicht so, als wäre sie zum ersten Mal mit diesem Mann allein. Er stellte keine unmittelbare Bedrohung dar. Außerdem musste sie ihm nach der heroischen Rettung von Stephen wenigstens ein klein wenig Vertrauen schenken.

Als Mr Hammond die Reste dessen abwarf, was vor dem Kampf mit der Wildkatze einmal sein Hemd gewesen war, fing Charlottes Herz an zu rasen. Ihre Schritte wurden langsamer.

Oh je. Vielleicht steckte sie in größeren Schwierigkeiten, als sie geahnt hatte.

Kapitel 8

Stone biss die Zähne zusammen, als die Schmerzen immer schlimmer wurden, während er sein Hemd auszog. Durch die Anspannung seiner Muskeln rissen die Wunden auf seiner Haut wieder auf und frisches Blut tröpfelte in den Bund seine Hose.

„Es ist ein Wunder, dass Sie noch an einem Stück sind. Nun ja … relativ an einem Stück.“ Charlotte Athertons Augen wanderten über seinen Brustkorb. Besorgtheit und ein Hauch von Empfindlichkeit waren in ihrem Blick zu sehen. Zusammen mit etwas Wärmerem. Bewunderung? Vielleicht sogar … Anziehung?

Stone richtete sich auf. Plötzlich war der Schmerz längst nicht mehr so schlimm wie noch vor wenigen Sekunden. Anscheinend stimmte die Redewendung, dass die Aufmerksamkeit einer wunderschönen Frau heilsame Wirkung auf die Wunden eines Mannes hatte.

Miss Atherton trat leise näher. Für eine so große Frau bewegte sie sich mit erstaunlicher Leichtheit und Anmut.

„Danke, dass Sie das getan haben“, murmelte sie, während sie einen Hocker heranzog, der in der Ecke gestanden hatte. Eine Armlänge von Stone entfernt blieb sie stehen, zog ein Taschentuch hervor und wischte den Staub von der Sitzfläche. Sie runzelte leicht die Stirn, als sie das schmutzige Tuch sah, legte es dann mit der sauberen Seite nach oben auf den Hocker und setzte sich. „Ihr geistesgegenwärtiges Eingreifen hat Stephen das Leben gerettet.“ Endlich schaute sie ihm ins Gesicht. „Es tut mir nur leid, dass Ihre Tapferkeit mit solchen Wunden bestraft wurde.“

„Jeder andere Mann, der etwas taugt, hätte das Gleiche getan.“ Jeder andere Mann hätte natürlich eine Waffe zur Verfügung gehabt und wäre deshalb nicht als menschlicher Kratzbaum missbraucht worden, doch er bereute es nicht. Er lebte. Der Junge lebte. Zum Henker, selbst die Wildkatze lebte. Das zählte er als Sieg.

Miss Atherton blickte in Richtung der geöffneten Tür und eine leichte Härte legte sich um ihren Mund. „Die meisten Männer, die ich kennengelernt habe, hätten für so etwas nicht ihr Leben riskiert.“

„Dann taugen die meisten Männer, die Sie bisher kennengelernt haben, eben nichts.“

Ihr Mund entspannte sich wieder und Stone bildete sich ein, dass ein leichtes Lächeln ihre Lippen umspielte. Schon viel besser. Als sie sich wieder zu ihm umwandte, funkelten ihre Augen und sein Herz schlug schneller. „Da haben Sie vielleicht recht.“

Ihre Blicke trafen sich und Stone hätte schwören können, dass zwischen ihnen irgendetwas entstand. Etwas, das er zuvor noch nie mit einer Frau erlebt hatte. Er hatte plötzlich das Gefühl, sie zu kennen. Ihr tiefstes Inneres zu kennen.

Schnell wandte er seinen Blick von ihr ab, woraufhin seine Schläfen wieder furchtbar zu pochen begannen. Sein Kopf. Natürlich! Das war mit Sicherheit auch die Erklärung für diese seltsamen Gedanken. Bestimmt handelte es sich um irgendeine Art Nebeneffekt von den Schlägen, die er heute erhalten hatte. Zuerst der Gewehrgriff auf seiner Stirn, dann das Aufschlagen mit dem Hinterkopf auf den Erdboden. Kein Wunder, dass er völlig von der Rolle war.

Charlotte Atherton saß neben ihm, den Rücken kerzengerade, den Rock glatt gestrichen. Diese steife Haltung sollte ihn eigentlich an schmallippige Strenge, In-der-Ecke-Stehen und Schläge mit dem Lineal erinnern. Der Himmel wusste, dass er diese Schmähungen viel zu oft hatte hinnehmen müssen. Doch Miss Lottie, wie die Kinder sie nannten, wirkte überhaupt nicht streng. Ihre Haltung kam ihm eher gelassen vor. Ruhig. Herzlich.

„Stephen müsste gleich hier sein“, sagte sie, während sie nach dem Knopf am Ärmel ihrer Bluse griff. Ihre schlanken Finger schoben ihn durch das Loch und rollten den Stoff vom Handgelenk aus langsam und ordentlich nach oben, bis er fast beim Ellbogen angekommen war. Dann wiederholte sie den Vorgang auf der anderen Seite.

Stone beobachtete sie fasziniert, bis schnelle Schritte, die durch die Tür stürmten, ihn aus seiner Benommenheit rissen.

Was war nur los mit ihm? War er wirklich so stark auf den Kopf geknallt?

„Oh, Stephen. Wunderbar. Bring die Sachen her.“ Miss Atherton winkte den Jungen näher, nahm ihm die Waschschüssel ab, die er trug, und stellte sie in ihren Schoß. Ein dunkler Fleck auf dem Hemd des Jungen verriet, wo er die nasse Schale an sich gepresst hatte, doch sie lobte ihn trotzdem für seine ruhigen Hände und dafür, dass er auf dem Weg kaum Wasser verloren hatte. Dann nahm Miss Atherton den Waschlappen von Stephens Schulter und zeigte auf den Boden neben ihren Füßen. „Stell meine Kiste dorthin und öffne den Deckel. Ich brauche die Bandagen.“

Stephen zog die Kiste unter seinem Arm hervor und tat, wie ihm geheißen worden war, dann stand er da wie ein Soldat, der auf Anweisungen wartet. „Was kann ich noch tun?“

Stone merkte, wie der Junge verstohlen die tiefen Kratzer auf seinem Brustkorb musterte. Er hasste die Schuldgefühle, die auf Stephens Gesicht geschrieben standen. Schnell räusperte er sich. „Kannst du mir Papier, Stift und Tinte besorgen? Ich muss einen Brief schreiben.“ Was ja auch stimmte. Doch eigentlich wollte er nur, dass Stephen nicht mit ansehen musste, wie die Lehrerin seine Wunden reinigte. Der Junge sollte nicht mehr mitbekommen als nötig.

Stephen nickte eifrig. „Ja, Sir.“ Er wollte schon loslaufen, doch Miss Atherton hielt ihn auf. Sie berührte seinen Arm und zog ihn so dicht an sich, dass sie ihm ins Ohr flüstern konnte. Stephens Augenbrauen zogen sich zusammen, doch als die Lehrerin fertig war, trat er einen Schritt zurück und nickte. „Verstanden.“ Dann huschte er aus dem Häuschen.

Charlotte Atherton tunkte den Waschlappen in das Becken und drückte das überschüssige Wasser heraus. Das Tropfen hallte laut in dem stillen Raum wider. Dann hob sie das feuchte Tuch über die größte Verletzung und drückte es zusammen, bis ein kleines Rinnsal in seine Wunde lief. Er saugte scharf den Atem ein, so sehr stach das kalte Nass. Nur mit aller Willenskraft gelang es ihm, stillzuhalten.

„Ich habe Stephen gesagt, dass Sie die Schreibutensilien erst später brauchen.“ Sie schaute ihn nicht an, ob aus Schüchternheit oder weil sie so sehr in ihre Aufgabe vertieft war, konnte Stone nicht sagen. „Er bringt John ins Wohnzimmer und sorgt dafür, dass er Klavier spielt, während Lily das Abendessen aufwärmt.“ Sie wusch das Tuch aus und wandte sich der zweiten Wunde zu, die am Rippenbogen lag. „Damit wird er eine Weile beschäftigt sein. John spielt stundenlang Klavier, wenn ich ihn lasse.“

Der Junge schien zu klein zu sein, um sich so lange mit einer Sache zu beschäftigen, aber manche Kinder mochten es eben, auf Dingen herumzuhauen und Krach zu machen. Seltsam, da der Junge selbst so ruhig war. Aber jedem das Seine. Wenn es dafür sorgte, dass Stephen damit beschäftigt war, auf John aufzupassen, und ihn das von seinen Schuldgefühlen ablenkte, war Stone das nur recht.

„Gute Idee.“ Er versuchte nicht zusammenzuzucken, als sie mit dem Lappen über die kleineren Kratzer an seiner Schulter wischte. „Das hier ist zu schlimm, um es dem Jungen zuzumuten.“

Sie erwiderte nichts, doch die leichte Schrägstellung ihres Kopfes schien Zustimmung auszudrücken. Während sie sich um seine Wunden kümmerte, beobachtete er sie weiter.

Die Frau schien nie in Eile zu sein. Ihre Bewegungen waren fließend. Kein raues Zudrücken. Kein nervöses Zittern. Einfach nur sanfte, weiche Berührungen. Als sie mit seinen Wunden fertig war, hatte sich seine Atmung verlangsamt und die Muskeln in seinem Nacken und Rücken hatten sich als Reaktion auf ihre Ruhe entspannt. Wenn sein Brustkorb nicht gebrannt hätte wie Feuer, hätte er sich womöglich auf die Seite gerollt und ein Nickerchen gemacht.

„Ich befürchte, der nächste Teil wird ziemlich unangenehm.“ Miss Atherton ließ das Tuch in die Schüssel fallen und stellte diese dann auf den Boden. Ihre eleganten Finger legten sich um den Hals einer Flasche und sofort verschwand das angenehme Gefühl.

Whiskey.

Stone rutschte auf der Matratze hin und her und stählte sich gegen das, was nun folgen würde. Als sie ihn entschuldigend ansah, schenkte er ihr sein großspurigstes Grinsen. „Und ich hätte Sie für eine Abstinenzlerin gehalten.“ Er nickte in Richtung Flasche. „Ich selbst trinke ja nicht, aber wenn Sie sich zur Stärkung ein Schlückchen genehmigen wollen, werde ich Sie nicht verurteilen.“

„Wie unvoreingenommen, Sir.“ Ihr Tonfall klang schnippisch, doch in ihren Augen funkelte der Schalk. Sein Grinsen wurde breiter.

Mit einem sanften Plopp zog sie den Korken aus der Flasche. Sie rümpfte die Nase, als der Whiskeygeruch herausströmte. „So versucht ich auch bin, ich befürchte, dieser spezielle Alkohol wurde zu medizinischen Zwecken hergestellt.“

Stone zuckte mit den Schultern. „Bedienen Sie sich.“

Miss Atherton drückte den Lappen noch einmal gründlich aus, dann schaute sie ihm fest in die Augen. Jetzt war aller Humor aus ihrem Blick verschwunden. „Sind Sie bereit?“

Stone schob die Arme zurück, damit die Wunden besser zugänglich waren. Dann biss er die Zähne zusammen und nickte knapp.

Sie legte das Tuch unter die erste Wunde und tröpfelte die feurige Flüssigkeit auf sein Fleisch. Stones Finger krallten sich in das Matratzenende. Jeder Muskel in seinem Körper fühlte sich an, als würde er reißen. Doch er gab keinen Laut von sich. Nicht einmal, als sie die Prozedur bei den anderen Wunden und schließlich bei den kleinen Kratzern wiederholte. Als sie endlich fertig war, atmete er durch die Nase ein und zwang seinen Körper dazu, sich zu entspannen.

„Geschafft!“ Etwas in ihrer Stimme lenkte seinen Blick auf ihr Gesicht. Tränen schimmerten in ihren Augen. „Es tut mir leid, dass ich Ihnen wehtun musste.“ Und sie meinte es so. Von ganzem Herzen.

Sein Magen zog sich zusammen. Er hoffte tief in seinem Inneren, dass er diese Entschuldigung nicht ebenfalls würde aussprechen müssen, weil ihm nichts anderes übrig blieb, als ihr ebenfalls wehzutun. Stone runzelte die Stirn und wandte den Blick ab. Weshalb fühlte er sich so schuldig? Sie war diejenige, die die Kinder entführt hatte, nicht er. Wenn er ihr Lily wegnehmen müsste, würde es mit dem Segen des Gesetzes geschehen.

Also warum hoffte er, dass ihr Anspruch auf Lily sich als rechtskräftig erweisen würde?

Die Lehrerin verschloss die fast leere Whiskeyflasche und stellte sie zurück in die Kiste zu ihren Füßen. „Ich will nichts von Mr Dobsons Salbe auf Ihre Wunden tun, bis der Arzt Sie untersucht hat. Aber es wird noch mindestens eine Stunde dauern, bis mein Verwalter zurückkommt, und ich möchte nicht, dass Schmutz in Ihre Wunden kommt. Also bandagiere ich Sie am besten, dann hören auch die Blutungen auf.“

Stone beäugte die schlimmste der Wunden. Der Alkohol war schon getrocknet, doch es trat weiterhin Feuchtigkeit aus den Rissen aus. Sie war rosa, also mischte sich Blut in welche Flüssigkeit auch immer, die da noch aus seinem Körper floss. „Hört sich vernünftig an.“

Sie rückte den Hocker zurecht. „Also, wenn Sie einfach … ähm … das hier festhalten würden, könnte ich … ähm … die Bandage um Sie wickeln …“

Stone warf seiner Krankenschwester einen Blick zu. Wurde die sonst immer so gelassene Miss Atherton jetzt etwa tatsächlich nervös? Ihre Wangen hatten wirklich eine rote Färbung angenommen und ihre Augen schienen partout nicht auf seine Brust schauen zu wollen.

Stone streckte trotz des unangenehmen Ziehens in seinen Wunden die Hand aus und griff nach den Wolltupfern, die sie ihm hinhielt. Er unterdrückte ein Grinsen und legte sie über die größten Verletzungen. Als er seinen Kopf anhob, hatte er seinen Gesichtsausdruck längst wieder unter Kontrolle. „Ich bin so weit, Frau Lehrerin.“

Sie runzelte die Stirn, vermutlich wegen seines Tonfalls, erhob sich dann jedoch und stellte sich vor ihn. „Natürlich.“ Sie drückte das Ende der Bandage an seine Seite, entrollte die Baumwollbinde langsam und legte sie über die Tupfer. Ihre Hand strich dabei versehentlich über die seine und die Berührung schickte ein seltsames Kribbeln durch seinen Bauch. Dann beugte sie sich vor, um die Bandage an seinem Rücken entlangzuführen. Und plötzlich war er derjenige, der überall hinschaute, nur nicht auf Miss Atherton. Stattdessen starrte er lieber an die Decke.

„So. Fertig.“ Als Miss Atherton zurücktrat, stieß Stone den Atem aus, den er in den letzten Sekunden unbemerkt angehalten hatte.

Er hatte gerade sein Dankeschön gemurmelt, als Stephen zurückkam.

„Ich habe die Sachen gebracht, nach denen Sie gefragt haben, Mr Hammond. Miss Lottie hat mir gesagt, dass ich einfach ihren Reiseschreibtisch holen soll. Da drin ist alles, was Sie brauchen.“ Er hielt einen Eichenkasten hoch, an dessen Rand Efeublätter eingeschnitzt waren.

Stone winkte ihn zu sich. „Danke, mein Junge. Stell ihn hier ab.“ Er warf einen Blick auf die Lehrerin, die eilig die Verbandssachen zusammenpackte. Sollte er ihr ebenfalls danken? Er öffnete gerade den Mund, doch da schnappte sie sich auch schon ihr Medizinkästchen und ging in Richtung Tür.

„Ich schaue nach Lily und dem Eintopf. Stephen, leiste Mr Hammond Gesellschaft, ja?“

„Ja, Ma’am.“ Der Junge stellte den Schreibtisch ab und setzte sich auf den Hocker, den seine Lehrerin gerade frei gemacht hatte.

„Aber kau ihm nicht das Ohr ab, er will einen Brief schreiben, verstanden?“ Ein liebevolles Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie mit dem Jungen sprach. Stephen erwiderte das Lächeln und nickte zustimmend. Und was hätte er auch sonst tun sollen? Wenn Stone so ein Lächeln von Charlotte Atherton geschenkt bekommen hätte, hätte er ebenfalls getan, worum auch immer sie ihn bat. Doch als ihre Augen ihn noch einmal streiften, verschwand das Lächeln hinter ernster Sorge. Sie mochte gutherzig und freundlich sein, doch sie erkannte immer noch die Gefahr, die er darstellte.

Etwas Hartes tippte gegen Stones Knie und riss ihn aus seinen Gedanken. „Hier. Das ist Ihres.“

Stone blickte nach unten. Stephen hielt ihm das Stiefelmesser entgegen und wartete darauf, dass er es nahm. Stones Hand zuckte, doch dann hielt ihn irgendetwas zurück. Das Messer anzunehmen erschien ihm illoyal der Frau gegenüber, die sich gerade um seine Wunden gekümmert hatte.

„Danke, aber ich glaube, deine Lehrerin wollte es zusammen mit meinen anderen Waffen einschließen. Du solltest es ihr zurückgeben.“

Der Junge schüttelte den Kopf. „Miss Lottie hat mir gesagt, dass ich es mitbringen soll. Sie meinte, wenn Sie es gehabt hätten, als Sie mit der Wildkatze gekämpft haben, wären Sie nicht so schlimm verletzt worden.“ Er hob den Arm und hielt ihm die Klinge wieder hin. „Sie sollten das aber nicht Mr Dobson wissen lassen. Ihm würde es bestimmt nicht gefallen.“

Stone nahm das Messer und steckte es in die kleine Scheide an seinem Stiefel.

Sie hatte ihm seine Waffe gegeben. Und damit ein bisschen Vertrauen geschenkt. Es war ein Anfang.

Kapitel 9

Stone war in der Schlafbaracke gefangen. Der Arzt hatte gestern seine Wunden genäht und ihm verboten, sich in den nächsten Tagen körperlich anzustrengen. Er durfte nicht einmal sein eigenes Pferd satteln. Was ihn schrecklich abhängig von Dobson machte. Dankenswerterweise lungerte der grauhaarige Kerl nicht hier herum, um seinen Triumph auszukosten. Heute Morgen hatte er ihm eine Ladung Zaumzeug vorbeigebracht, das geölt werden musste, und Stone seiner Aufgabe überlassen. Die Arbeit hatte einige Stunden überbrückt, doch gegen Mittag war er damit fertig gewesen.

Miss Atherton hatte ihm einen dampfenden Teller Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln zum Mittagessen gebracht. Köstlich. Die Frau kannte sich am Herd aus. Und sie wusste auch, wie man Fragen auswich. Als er nämlich vorgeschlagen hatte, das Lily ihm einen Besuch abstatten könnte, damit er mit ihr sprechen konnte, hatte Miss Atherton ihre Ausreden parat gehabt. Das Kind musste lernen. Und hatte Aufgaben zu erledigen. Und Stone musste sich von den Strapazen des gestrigen Tages erholen. Was natürlich alles stimmte, doch er erkannte Ausflüchte, wenn er welche hörte. Die Lehrerin wollte nicht, dass Lily in seine Nähe kam. Deshalb musste Stone auch zweimal hinschauen, um sicher zu sein, dass ihm sein Verstand keinen Streich spielte, als das Mädchen einige Stunden später in die Schlafbaracke schlüpfte.

Die Kleine klopfte nicht an, sondern öffnete einfach die Tür, huschte herein und schloss sie wieder. Er war sofort hellwach und setzte sich auf, obwohl er Augenblicke zuvor noch vor sich hin gedöst hatte. Lily schenkte ihm allerdings zunächst keine Beachtung. Stattdessen presste sie sich flach an die Wand. Erst nach einem kurzen Moment wandte sie sich langsam zu ihm um und legte den Zeigefinger an ihre Lippen.

„Pssst.“ Sie sah sich um, als befürchte sie, hinter den Wollsocken, die Dobson auf einer Leine zum Trocknen aufgehängt hatte, lauerten Gefahren. „Sie müssen leise sein, Mr Hammond. Ich spiele Verstecken mit Stephen und ich will nicht, dass er mich findet.“

Stone hob eine Augenbraue, schwieg jedoch. Er wollte die Kleine nicht verschrecken, wo sie ihm doch gerade die perfekte Möglichkeit bot, seine Befragung zu beginnen.

Übertrieben leise und vorsichtig schlich sie zu ihm. Als sie sein Kinn und die Bandagen unter dem Hemd sah, runzelte sie die Stirn.

„Tut es weh?“

„Jepp.“

„Das tut mir leid.“ Sie legte den Kopf schief und ihre Augen wurden feucht. Das machte Stone nervös.

Was er jetzt gar nicht brauchen konnte, war ein weinendes Kind. Was würde die Lehrerin denke, wenn sie hereinkam und die Kleine weinend hier vorfand?

„Es muss dir nicht leidtun, Kleine“, grummelte Stone. „Du warst schließlich nicht diejenige, die mich zerkratzt hat.“

Sie zuckte beleidigt zurück. „Natürlich nicht. Ich bin eine Heldin. Heldinnen verletzen keine anderen Helden. Sie verletzen nur die Bösewichte. Und das auch nur, wenn sie keine andere Wahl haben.“

Also sah sie ihn als Helden? Das könnte ihm zugutekommen.

Stone schob sich auf seinem Bett zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand lehnte. Er sah sie zweifelnd an. „Ich habe noch nie eine so kleine Heldin gesehen.“

„Ja, also …“ Sie versuchte, sich etwas größer zu machen. „Das liegt daran, dass ich eine Heldin in der Ausbildung bin.“

„In der Ausbildung? Wer bildet dich aus?“

„Dead-Eye-Dan.“

Wer um Himmels willen war Dead-Eye-Dan?

„Und Angus O’Connell“, fuhr sie schwungvoll fort. „Er ist aus dem ersten Buch, das ich gelesen habe. Sie würden ihn mögen. Er ist ein Kopfgeldjäger, der böse Hombres verfolgt, die eine Bank ausgeraubt haben, nur dass er nicht gemerkt hat, dass der Kopf der Bande nicht dabei war. Duke Mahone ist nämlich niemals selbst bei den Überfällen dabei. Er will sich nicht schnappen lassen. Er versteckt sich lieber am Wegesrand und nimmt sich jeden Verfolger seiner Männer mit dem Mehrlader vor. So hat er auch Angus O’Connell erwischt. Hat ihm in den Rücken geschossen und ihn liegen lassen, weil er dachte, Angus wäre tot. So ähnlich wie Sie mit der großen Katze. Aus dem Hinterhalt.“ Die Augen des Mädchens funkelten, als es die blutige Geschichte zusammenfasste. „Angus ist aber zum Glück nicht gestorben. Eine Lady hat ihm geholfen, wie Miss Lottie Ihnen. Nur bei Angus war es ein italienisches Mädchen, das ihm mit Kräutern geholfen hat.“

„Du magst Kopfgeldjäger, was?“

Lily nickte, dann erschreckte sie Stone, indem sie neben ihm aufs Bett kletterte. „Mhm. Die hab ich am liebsten. Sie jagen die Bösen, wenn alle anderen aufgegeben haben. Und schicken sie ins Gefängnis. Damit die Menschen sicher sind. Das will ich auch mal machen, wenn ich groß bin. Den Menschen Sicherheit schenken. Wie Miss Lottie.“

„Miss Lottie?“ Jetzt wurde es interessant.

„Ja. Als meine Schule geschlossen wurde und John und Stephen keinen Ort hatten, an den sie gehen konnten, hat Miss Lottie sie mit uns kommen lassen.“

„Was ist mit dir?“, forschte Stone vorsichtig nach. „Hattest du kein sicheres Zuhause, als die Schule geschlossen wurde?“

„Doch. Das hier.“ Sie sah ihn an, als wäre er ein Idiot.

„Aber was ist mit deiner Familie? Warum bist du nicht zu ihr gegangen?“

Lily runzelte die Stirn. „Miss Lottie ist meine Familie. Meine Mama hat mich in ihre Obhut gegeben, als sie in den Himmel gegangen ist.“

Diese letzten Worte ließen erneut Tränen in die Augen der Kleinen steigen, also wechselte Stone schnell das Thema. „Wusstest du, dass ich auch mal ein Kopfgeldjäger war?“

„Wirklich?“ Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an. „Heißen Sie deshalb Stone? Alle guten Kopfgeldjäger haben beeindruckende Namen. Wie Dead-Eye-Dan und Hammer Rockwell.“