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© Jonas Scheiner

Henrik Szanto

geb. 1988, ist halb Finne, halb Ungar, halb Autor, halb Slam Poet. Seit November 2012 tourt er über die großen und kleinen Bühnen Europas. Hauptsächlich in Österreich und Deutschland, gerne auch in fremden Gefilden (zuletzt in der Ukraine im Rahmen der Meridian-Czernowitz-Lesereise). 2014 erreichte er das Halbfinale der deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaften, 2015 errang er bei den österreichischen Poetry-Slam-Meisterschaften den vierten Platz. Seit September 2015 gestaltet er gemeinsam mit Jonas Scheiner den Videoblog »Slamsenf« im Auftrag des ORF. »Es glänzt und ist schön« ist sein Debütroman.

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MILENA

In einem Ort, der davon träumte, einmal eine Großstadt zu sein, klingelte ein Eiswagenfahrer am Wegvorsprung, der davon träumte, einmal ein Bordstein zu sein.

Das Läuten des Eiswagens war Bens liebstes Geräusch, gleich nach der Schulklingel. Das eine versprach Freiheit auf Raten. Das andere Eis. Wie Eis war Freiheit nur unter bestimmten Bedingungen von Dauer, aber wenn Freiheit nach Vanille und Erdbeeren schmeckte, dann errang sie ihre Kostbarkeit im Moment und nicht in der Beständigkeit.

Ben bekam kein Eis an diesem Tag, weil die Frau, die von ihm Mama genannt werden wollte, keine Münzen herausgab. Ben bekam kein Eis an diesem Tag, weil die Frau ihn am vergangenen Tag dabei erwischt hatte, wie er Münzen aus ihrer Handtasche nahm und weil er Strafarbeiten statt Fleißbienchen aus der Schule heimbrachte.

Ben kniete auf dem Fensterbrett und betrachtete die anderen Kinder, die aus den Häusern strömten, wo sie die Frau tatsächlich Mama nannten und Eis bekamen, bis Sommersonne und Kindermünder ihren Lauf nahmen.

Eiswagenfahrer zu sein war Bens erster Berufswunsch.

Am Abendbrottisch, als er leichtsinnig genug war, diesen Wunsch zu äußern, erklärten sie ihm, dass der Eiswagenfahrer ein Nichtsnutz sei. Ein Trinker, der es nie zu etwas gebracht hatte. Ein Gestrandeter am Saum dieses Ortes, der jeden Mittag seine Runden drehte und den Rest seiner Tage mit eben der Tiefkühlware vor dem Fernseher zubrachte, die niemand kaufen wollte. Das Wort, das sie dafür verwendeten, war Penner.

Einmal fuhr Ben mit dem Fahrrad am Haus des Eiswagenfahrers vorbei und hörte ihn Geschirr zertrümmern. Am nächsten Tag entschied Ben den Vorstellungen seiner Klassenkameraden zu folgen und träumte fortan davon, Pirat zu sein, der das Binnengewässer in den Köpfen der Menschen bereiste, auf der Suche nach dem, was sie Horizont nannten. Als Eltern und Lehrer ihm den Kaperbrief entrissen, befreite Ben sich vom Freibeutertum.

Den Horizont fand er nicht, dafür begann er zu studieren.

1

»Ich finde ja, dass Bukowski echt viel flucht«, sagte einer und schwenkte dramatisch seinen Supermarkt-Scotch.

»Wäre er nicht so vulgär, hätten seine Werke sicher eine ganz andere Wirkung.«

Die Wortplatzpatronen trafen. Zustimmendes Nicken würdigte die Treffsicherheit. Schwenkende Gläser, Anstoßen. Hört, hört.

Scotch. Sie sprachen über Bukowski und tranken Scotch. Nicht Bourbon. Scotch. Wie oft man Scotch denken konnte, ehe das Wort seltsam klang? Ben wusste es nicht. Ben wusste nur, dass eine Gang milchgesichtiger Möchtegernpistoleros gerade einen der prägendsten US-amerikanischen Autoren lynchte. Ginsberg und die Beat Generation drohten zu folgen. Doch das war nicht der Wilde Westen der Literaturkritik und der verwegenen Analysen. Das war eine WG-Party um 21 h.

Ben seufzte leise und blickte durch das leere Wohnzimmer. Lisa und Janko schnitten Limetten für den Cuba Libre und sie hatten ihn hier mit der Selbsthilfegruppe der drei Anglistik-Erstsemester allein gelassen, die in ihrem privaten Lesekreis gerade an Kerouac scheiterten.

Ben seufzte abermals.

Das Einhorn seufzte mit.1 Es saß neben Ben auf der Couch und schnaubte dann und wann abfällig in Richtung der drögen drei.

Ben entschied, Janko beim Limettenhacken zuzusehen. Als er sich erhob, blickte das Einhorn ihn bloß vorwurfsvoll an. Es sah tatsächlich recht eindrucksvoll aus, wie es da saß. Stramme Muskelpartien, die sich ab den Hufen bis zur Spitze des Horns zogen. Glänzendes, unnatürlich weißes Fell und eine Mähne, die mit Gel zu einer verwegenen Welle gestyled worden war.2 Unterhalb des Hornes prangte eine hochgeschobene Sonnenbrille. 3

Das Einhorn blieb sitzen, aber es störte ja auch niemanden, wenn es sich ruhig verhielt.

»Wer sind die?«, fragte Ben und nickte in Richtung Wohnzimmer.

»Freunde von Sam.« Jankos Antwort klang kühl. Er untermalte es durch ein energisches Zerteilen einer letzten Limette. Saft spritzte.

Sam war der dritte Mitbewohner und natürlich war er nicht da, sondern ließ seine WG mit genau den Gästen allein, die früh kamen, spät gingen und sich den ganzen Abend auf einem Fleck breitmachten und diesen mit allerlei Dampfplauderei aus der kollektiven Landkarte der Partyepizentren löschten.

»Warum bist du so früh da?« Lisa verschwand beinahe zur Hälfte im Kühlschrank, wo sie gerade diverse Getränke in Fächern verstaute, auf dass die »richtigen« Gäste später versorgt waren. Sie erinnerte an eine Installation, die ein spontan dem Kannibalismus anheimgefallener Andy Warhol hätte gestaltet haben können.

»Morgen früh ist diese Challenge, da sollte ich fit sein und wollte euch noch sehen.«

»Lieb«, schallte es aus dem Kühlschrank.

Janko reinigte das Messer unter einem Wasserstrahl. In seiner

Hand wirkte es trotz der Klingenlänge von gut dreißig Zentimetern beeindruckend klein.

»Was für eine Challenge?«

»Frederik hat irgendwas ausgegraben. Ist so eine Art Wettbewerb, wo man in Dreierteams mitmachen kann und wenn man gut ist, wird man auf eine Karrieremesse in <Stadt> eingeladen und kann dann irgendein tolles Praktikum gewinnen. Und die erste Etappe ist eben online. Wir müssen uns morgen um halb neun einloggen und dann irgendwelche Aufgaben erfüllen.«

Natürlich war <Stadt> kein Ort. Es handelte sich durchaus um eine richtige Stadt, die auch einen Namen trug. Es spielte bloß keine Rolle, welche Stadt es nun war.

Es war eine Großstadt. Über eine Million Einwohner. Sehr urban, modern, jung, dynamisch, kreativ und voller Potenzial. Natürlich.

»Klingt nach Frederik«, brummte Janko.

Frederik war die Art Mensch, die keinen Spitznamen zuließ. Eigentlich war es Frederik sogar lieber, wenn man ihn durchgehend siezte. Machte zu seinem Ärger bloß niemand.

Janko und Frederik waren mal gut befreundet. Sie lernten sich zu Beginn ihres Studiums bei einer Info-Veranstaltung kennen und verbrachten auf einmal so viel Zeit miteinander, dass sie gar nicht merkten, wie wenig sie eigentlich zusammenpassten. Frederik war sehr zeitintensiv und nervenaufreibend. Ein bisschen wie humanoide Bürokratie im Fleischkostüm, mit dem Unterschied, dass er annahm, er sei wirklich wichtig und man müsse ihm alle Zeit und Energie zukommen lassen. Ein (arbeitsloser) Psychoanalytiker hätte dem Einzelkind Frederik wohl eine ausgeprägte Regression in die anale Phase attestiert, was übersetzt so viel bedeutete wie »Der kleine Frederik ist ein geiziges, egozentrisches Arschloch, weil er früher nie mit Dreck und seiner eigenen Kacka spielen durfte«. Natürlich war diese sehr reduktionistische Beobachtung der modernen Psychoanalyse gar nicht angemessen, weshalb der Psychoanalytiker in dieser Analogie wie gesagt arbeitslos ist (oder gar kein Psychoanalytiker, sondern vielleicht ein übermotivierter Hausmeister, der wirklich, wirklich gern Artikel über Freud liest und sich über seinen Vornamen Schlomo amüsiert).

Jedenfalls waren Janko und Frederik mal Freunde, bis Janko klar wurde, dass der Großteil seiner gemeinsamen Zeit mit Frederik darin bestand, ihm Geld zu leihen und sich anzuhören, weshalb aus ihm nichts werden würde, weil er neben seines Studiums für solche unwichtigen Elemente wie Freunde, Hobbys, Sport und Kulturangebote Zeit fand.

Irgendwann, als sie beide sehr betrunken waren, geigten sie einander die Meinung. Frederik hielt Janko fortan für einen angehenden Lebensversager, der es nie zu etwas bringen werde und Janko hielt Frederik für ein Arschloch. Seitdem sprachen sie nicht mehr miteinander und wurden beide auf ihre Weise glücklich. Wie schön.

Das alles hat mit der Geschichte auch wenig zu tun, sondern zeigt nur auf, dass a) Freundschaften, die im Rahmen von Informationsveranstaltungen aufgrund reiner geografischer Verfügbarkeit geschlossen werden, nicht unbedingt von Bestand sind und b) es sehr viel Halbwissen in dieser Welt bezüglich der Psychoanalyse gibt und die daraus geborene Küchenpsychologie durchaus als anstrengend empfunden werden darf. Abgesehen davon scheinen wirklich viele Personen nicht zu wissen, dass Freud mittlerweile sehr veraltet ist.4

»Kann sein.« Ben zuckte mit den Achseln und lächelte bloß.

»Ich find ihn okay und für so eine Sache ist er sicherlich auch der Richtige.«

Janko reichte ihm einen Cuba Libre mit frischen Limetten. »Wer macht noch mit?«

»Mara.«

Lisas Kopf erschien hinter der Kühlschranktür. Ihr Haar war zerzaust, und das Blond schien aufgrund der Kälte noch ein wenig mehr zu glänzen als sonst. »Kommt sie heute auch?«

»Ja, später. Wir fahren dann zu mir zum Schlafen, damit wir morgen fit sind.«

Lisa, zufrieden angesichts dieser Information nickend, verschwand wieder im Kühlschrank. Umhergeschobene Glasflaschen klirrten fröhlich vor sich hin. Aus dem Nebenzimmer drangen Diskussionsfetzen. Jemand bezichtigte jemanden gerade des groben Missverständnisses ob der Relevanz von Naked Lunch.

Janko und Ben stießen an, ehe Janko sich an der Anlage zu schaffen machte und Ben, als er bemerkte, wie nutzlos er in dieser Küche herumstand, kehrte, nachdem man seine Frage um mögliche Mithilfe dreimal verneint hatte, ins Wohnzimmer zurück.

Das Einhorn hockte noch immer auf der Couch. Das Trio scheiternder Reicher und Ranickis war umgesiedelt. Einer von ihnen saß direkt im Schoß des Einhorns. Es hob seinen Huf, als würde es Ben einen Mittelfinger zeigen.5

Ben blieb stehen, sah sich um und fühlte sich verloren. Das letzte Mal, so erinnerte er sich, war es ihm im Kindergarten so gegangen. Also nicht, als er klein war, sondern letzte Woche. Ben arbeitete in einem Kindergarten und so interessant er für die Kleinen auch war, sobald die freie Spielstunde schlug, ließen sie ihn stehen und beschäftigten sich allerhöchstens mit dem Einhorn. 6 Mit ihrem eigenen, inneren Einhorn.

Die drei, die sich neben Ben noch immer über amerikanische Literatur unterhielten, hatten ihr inneres Einhorn allem Anschein nach in den Wald geführt, erschossen und den Kadaver als Salami verkauft. Oder als Lasagne.

Bens Finger wanderten zu seinem Handy. SMS von Mara.

Ich muss noch was erledigen und schaffe es nicht. Komme dann direkt zu dir, ja? So gegen elf? Können noch quatschen. Freu mich image

Ben zog die Stirn in Falten.

Ja, klar. Hab bloß gehofft, du rettest mich vor der semigeilen Gesellschaft. Janko und Lisa bereiten noch alles vor, Sam ist irgendwo und seine Freunde rauben mir den Verstand. Bis später. Ich schreib dir, wenn ich hier losgehe.

Er nippte an seinem Cuba Libre und begann auf seinem Smartphone die Schlagzeilen des Tages zu lesen, als Mara erneut schrieb.

Bleib tapfer! Du hast doch dein Einhorn ☺ Grüß Janko, Lisa und die anderen. Bis später!

Ben blieb tapfer. »Gruß von Mara! Sie schafft’s nicht!«, rief er in die Küche und grinste flüchtig, als seine plötzlich aufbrodelnde Stimme den Sitzkreis neben ihm überrascht im Gleichsitz zucken ließ.

»Schade! Gruß zurück!«, schallte es irgendwoher von Lisa. Janko reagierte gar nicht erst, sondern machte stattdessen Musik an. Irgendwas Elektronisches. Betont melodisch und entspannt. Zum warm werden.

Ben blieb tapfer, aber er wurde nicht warm. Um 22.20 kamen die ersten Leute. Eine Gruppe aus fünf motivierten jungen Frauen, die ein wenig enttäuscht waren, dass hier noch nix ging. Ben verließ die Party um 22.39. Am nächsten Tag erfuhr er, dass ab circa elf richtig was los war und diese Feier sich zur legendärsten aller Partys bei Janko, Sam und Lisa mausern sollte. Schade für Ben.

2

Die Straßenbahn wackelte, roch seltsam und schien fest entschlossen, allen Fahrgästen jede Bremsung wirklich, wirklich bewusst zu machen.

Ben ließ sich in seinem Vierer durchschütteln und sah aus dem Fenster. Das Einhorn saß ihm gegenüber, die Sonnenbrille demonstrativ ins Gesicht gezogen. Gerade schnitt es mit einem Werbeplakat Grimassen um die Wette.

In wenigen Stunden müsste Ben aufstehen und sich einer Auswahl von überaus motivierten Menschen online stellen. Er fragte sich, warum.

Eine junge Frau kämpfte mit ihrem Kinderwagen. Sowohl ihr als auch ihrem Sohn war die späte Uhrzeit anzusehen. Ben sprang auf und half, das Trumm aus der Bahn zu heben. Der Kleine glotzte ihn bloß an, Ben grinste, der Kleine gluckste, alle fröhlich, welch großer Spaß.

Ben mochte Kinder und sie ihn meistens auch. Während er sich wieder auf seinen Platz setzte, fing er seinen gedanklichen Faden ein und spann ihn weiter. Frederik hatte ihn überreden können, mitzumachen. Warum er Ben brauchte, war unklar. Immerhin war Ben doch weder besonders talentiert noch motiviert.7

Mara hingegen schon. Vielleicht war sie auch der Grund, warum Ben nun an Bord war. Oder er war einfach dabei, weil Frederik andauernd gegen ihn bei Quizduell verlor und nie so ganz zu kapieren schien, weshalb.

Sie stieg sechs Stationen vor Bens Wohngegend hinzu.

Ben lächelte ihr entgegen, als sie sich neben ihn setzte und einen Blick auf den eigentlich leeren Sitzplatz des Einhorns warf, fast, als wüsste sie, dass Ben es dort sitzen sah.

»Alles klar?«

Ben nickte. »Bin auf dieser Party nie wirklich angekommen, weil ich wusste, wie früh ich wieder weg muss.«

»Ist ein bisschen schade, wenn man deshalb nie ankommt, oder?« Mara lächelte und als Ben nicht antwortete, griff sie nach ihrem Handy und schrieb eine SMS. »Du bist sehr schweigsam«, stellte sie nach einer Weile fest.

»Hm, ja.«

»Gut beobachtet.«

»Ich denke an morgen. Weiß nicht so ganz, warum Frederik mich unbedingt bei seiner abenteuerlichen Suche nach Prestige-Praktika dabeihaben will.«

»Ich weiß auch nicht, warum er mich dabeihaben will.«

Bens skeptischer Blick wanderte zu Mara. Er schwieg einen Moment. »Ich schon«, sagte er schließlich.

»Du wirst doch nicht etwa deshalb so sehr grübeln, weil du da jetzt mitmachst!«

Ben schwieg erneut. Diesmal länger. »Nein. Ich stelle nur fest, dass ich keine Ahnung habe, was ich will, weißt du? Die Tatsache, dass ich mich offensichtlich auf diese Weise um ein Update meines Lebenslaufes bemühe, führt mir nur vor Augen, dass ich keine Ahnung habe, was ich will.«

»Doch, das weißt du.« Maras Stimme wurde sanfter, als sie diese Worte sprach.

»Na ja, ich weiß, was ich mir wünsche«, entgegnete Ben.

»Das allein ist unfassbar viel wert.«

Ehe Ben sich weiterhin ob seiner Zukunftspläne hinterfragen konnte, tauchten zwei Halbstarke der Gattung rustikaler Schrank auf und fielen wortlos auf die Plätze ihnen gegenüber. In einer leeren Straßenbahn war es beinahe schon frech, sich einfach in den Vierer zweier sich unterhaltender Menschen zu setzen. Es schien sie nicht zu stören. Sie nickten sogar und waren augenscheinlich höchstens 18.

Die Jungs trugen einen Hoodie: »Abschlussklasse 20XX – Die Götter verlassen den Olymp«.

Einer von ihnen saß dort, wo das Einhorn eigentlich saß. Seinen Kopf ersetzte ein langes Pferdegesicht. Ben unterdrückte den Impuls, dem Jungen die Schnauze zu streicheln, dann unterdrückte er vergebens den Impuls, über den Spruch auf den Hoodies nachzudenken.

Ein solcher Spruch war aus mehrerlei Gründen unklug. Erstens: In der Analogie war die Schule offensichtlich der Olymp, also der spirituelle, mythologische, esoterische und magische Höhepunkt allen Seins, was vollkommener Quatsch war. Schule galt als erste Station eines sehr bedeutsamen Lebens, war also allerhöchstens der kleine, bunte Kieselstein im Vorhof des Olymps, nicht die verdammte Spitze.

Zweitens war der Gedanke, dass Götter den Olymp verlassen – und den Umstand, dass Halbstarke mit augenscheinlich kreisförmigen Stammbäumen sich selbst als Götter bezeichneten, was aber irgendwie logisch war, da die olympische Belegschaft durchaus der Schwester- und Bruderliebe nicht abgeneigt gewesen war oder gern aus ehemaligen Geschlechtsorganen neue Kolleginnen gezaubert hatte, ignorierte Ben besser ganz gepflegt –, ziemlich beängstigend. Wenn ein Gott sein Reich verließ, dann möglicherweise weil

a) es Dinge zu tun galt, die in der Welt der Sterblichen passierten und das war erfahrungsgemäß bestenfalls ungünstig.

b) irgendjemand göttlichen Mist gebaut hatte und die Welt gerettet, neu aufgesetzt oder grundlegend geändert werden musste (ebenfalls eher ungesund für Menschen).

c) sie diese Sphäre der Realität verließen. Was insbesondere für gläubige Menschen ein mittelschweres Fiasko darstellen musste, da die plötzlich eintretende Non-Existenz ihres Glaubensmittelpunktes einerseits einen unangenehmen Rückstau was unbeantwortete Gebete und ignorierte Opfergaben betraf, mit sich zog und es andererseits sicherlich verdammt deprimierend war, eines Morgens zu erwachen und festzustellen, dass der saufende, hurende, mordende Gott des Vertrauens auf den eigenen lahmen Arsch keinen Bock hatte und vorübergehend nicht erreichbar war.

Alles in allem war es unverantwortlich, als Gott den Olymp zu verlassen, und warum man sich auch noch mit diesem der Gesellschaft allerhöchstens schädlichen Dienst brüsten wollte, blieb vollkommen unklar, aber an Orten, wo Fuchs und Hase sich zum Einschlafen beschimpfen und es nur deshalb drei verschiedene Nachnamen gibt, weil sich im Pfarramt jemand zweimal verschrieben hat, spielte das keine Rolle. Immerhin war klar: Dort gab es nie Götter. Und wenn, dann kamen sie mit einer Zeitung, einem Sudoku und den düsteren Folgen von Kaffee und Zigaretten auf nüchternen Magen.

Sie erreichten Bens Station und überließen die modernen Varianten Conans dem rustikalen Rad der Zeit.

»Hast du den Spruch gesehen?«

Ben bemerkte, wie das Einhorn gerade sehnsüchtig an einem Baum hinaufsah und seine Schnauze sanft nach den Blättern reckte.

»›Die Götter verlassen den Olymp‹?« Mara lachte glockenhell. »Ziemlich tragisch, wenn man ihn zu Ende denkt.«

Ben nickte.

»Wann müssen wir eigentlich aufstehen?«, fragte Mara und ersetzte das antike Griechenland durch die bei Weitem weniger heroische Realität.

»Halb acht, würde ich sagen. Frederik hat sich für acht angekündigt und so, wie ich ihn kenne, steht er auch um Punkt acht vor der Tür.«

3

Frederik klingelte um Punkt 7.58 h.

Ben rieb sich noch Schlaf aus den Augen, als er öffnete. Frederik stand vor ihm. Jackett, enge Jeans, braune Schnürlederschuhe, unter dem Arm eine braune Aktentasche. Das Haar adrett zur Seite gegelt. Er sah aus wie ein Gerichtsvollzieher.

Fraglich, wie man sich nun einen Gerichtsvollzieher genau vorzustellen hatte. Ben hatte mal einen getroffen, der wirklich nett zu sein schien. Er war sogar Familienvater, lachte aus Höflichkeit über allenfalls bemüht lustige Witze und wirkte ganz und gar nicht wie die Art Person, die verschuldeten Menschen mit samstagvormittagcartoon’schem Bösewichts-Muhaha die Goldzähne aus dem Gebiss pfändete. Damit sollte auch gar nicht suggeriert werden, Frederik würde dies tun. Er fand es bestimmt eklig, ein Gebiss anzufassen; der Punkt war bloß, dass der nette Gerichtsvollzieher, den Ben kannte, immer gut gekleidet war und vermutlich alle Gerichtsvollzieher gut gekleidet waren, da Kleider bekanntlich Leute machten und es die eigene Autorität sicherlich deutlich erhöhte, wenn man adrett vor der Tür der ganzen armen Teufel erschien, damit sie sich auch ordentlich eingeschüchtert fühlten, ehe man mit ihnen Dinge tat. Insofern war Frederik vielleicht doch nicht wie ein Gerichtsvollzieher, auch wenn er zu unpassenden Zeitpunkten vor der Tür stand, dabei deprimierend gut gekleidet war und eigentlich nur gekommen war, um Dinge zu tun.

Man durfte aber nicht vergessen, dass Gerichtsvollzieher auch nur ihrer Arbeit nachgingen und bestenfalls anderen armen Teufeln dabei halfen, ihre Rechte durchzusetzen. Es gab eben Berufe, die einen sehr fraglichen Ruf hatten, aber das machte sie nicht minder wichtig.

In diesem Zusammenhang war Frederik auch wichtig, auch wenn er im Allgemeinen wenig beliebt war. Er war dennoch ein Mensch mit Gefühlen, Träumen und Ängsten (nahm man zumindest an) und genau deshalb wichtig.

»Guten Morgen, Benjamin.«

»Morgen«, brummte Ben und trat zur Seite. Teils, um Frederik in die Wohnung zu lassen, teils um dem vorwurfsvollen Blick aus den kühlen Augen hinter der rahmenlose Brille zu entgehen, die mit geradezu unverschämter Ehrlichkeit Bens Jogginghose samt des schlabberigen Hoodies musterten.

Entgegen Herrn Lagerfelds Meinung hielt Ben sein Leben sogar durchaus unter Kontrolle. Außer sonntags, wenn er restfett war. Innerlich zählte er die Sekunden.

»In der zweiten Runde ziehst du dich dann hoffentlich vernünftig an.«

Vier Sekunden bis zum Seitenhieb. Ben lächelte diplomatisch. »Kaffee?«

»Danke, nein.« Demonstrativ hob Frederik einen Pappbecher inklusive nicht näher definierbaren Heißgetränks, ehe er aus dem Jackett schlüpfte und ratlos vor der Garderobe innehielt. Er schien einen Kleiderbügel zu suchen.

Ben feixte in den Kragen seines Kuschelpullovers und schlüpfte in die Küche, wo Mara gerade Tofu brutzelte und einen Song summte, den nur sie hörte. Entweder war der Refrain wirklich lang, oder sie summte einen Teil des Liedes in Dauerschleife.

»Frederik ist da«, ließ Ben sie wissen und räumte Sofies Welt vom Küchentisch.

»Sucht er einen Kleiderbügel für sein Jackett?«, fragte Mara samt Flüsterton und schelmischem Grinsen.

»Irgendwann arrangiert er sich mit der Stuhllehne«, entgegnete Ben und deckte den Tisch.

Frederik erschien im Türrahmen. »Ihr braucht dringend Kleiderbügel für eure Garderobe.«

»Morgen!«, rief Mara, ohne ihn anzusehen.

»Guten Morgen, Mariel.« Frederik schien abzuwarten, ob man ihn einlud, die Küche zu betreten, tat es dann aber doch von sich aus. »Für mich bitte nichts, danke. Ich habe schon gefrühstückt.«

Ben, der gerade einen dritten Teller samt Besteck platziert hatte, nickte nur und räumte wieder ab. »Bitte setz dich«, sagte er bloß und deutete auf einen Stuhl am Kopfende des Tisches.

Frederik nickte, wischte mit der blanken Hand über die Tischfläche und platzierte dann sein MacBook auf dem Holz. »Wir haben noch 27 Minuten. Ich würde gern einen groben Plan aufstellen, ehe wir beginnen.« Sein Blick wanderte bedächtig von Mara zu Ben.

»Passt«, sagte Ben nickend. Er trat an den Herd und stellte Mara einen frischen Kaffee hin. »Ich mach schon.«

Mara überließ ihm den Pfannenwender und nahm in der Peripherie seines Blickes am Tisch Platz. Im Schneidersitz band sie ihr braunes Haar zu einem Dutt. In einer von Bens Jogginghosen, die ihr viel zu groß war, umfasste sie die dampfende Tasse mit beiden Händen und so viel Entschlossenheit, als wäre ihr Kaffee der Anker, der sie davor bewahrte, in den Textiltiefen der geborgten Kleidung zu verschwinden.

Ben löste seinen Blick von ihr und widmete sich wieder den Eiern. Aus dem Augenwinkel sah er in sein Zimmer. Das Einhorn schlummerte noch friedlich und schüttelte im Traum seine prächtige Mähne.

»Was hast du dir gedacht?«, fragte Mara hinter ihm.

Ben zog es vor zu schweigen und den Pfanneninhalt zu mustern.

»Nun, ich denke, ich sollte mich mit meinem MacBook einloggen, da mein Gerät das leistungsstärkste ist. Ihr beiden solltet euch neben mir positionieren, bestenfalls auch mit euren Laptops, um Dinge schnell recherchieren zu können. Leider weiß ich nichts über den genauen Ablauf der Challenge. Auch online findet sich nichts.«

Außer den Informationen, die man im Vorfeld bekommen hatte. Die Regeln waren recht einfach. Von 8.30 bis 11.00 galt es möglichst viele Aufgaben zu lösen. Diese Aufgaben konnte man in einer eigens dafür generierten virtuellen Umgebung vorfinden. Es gab drei Schwierigkeitsstufen, die nach dem Ampelprinzip kodifiziert waren, und nur ein Teilnehmer jedes Teams konnte sich einloggen. Für jede gelöste Aufgabe gab es Punkte, insgesamt fanden drei dieser Online-Challenges statt und wenn ein Team es unter die besten 200 schaffte, lud man alle drei Mitglieder zu Tests und Interviews in einem Assessment Center ein. Durchlief man dieses auch erfolgreich, reiste man – individuell und nicht mehr als Team – zu einer Live-Challenge nach <Stadt> um bestenfalls dort einen von 50 hochbezahlten und prestigeträchtigen Trainee-Jobs zu bekommen. Bei diversen Unternehmen mit Renommee, weltweitem Einfluss, Tradition und Geld. So weit die Theorie.

»Ich denke, wir frühstücken schnell, damit unsere Körper dieser Aufgabe gewachsen sind, und dann regeln wir das«, prophezeite Mara. Ihr Motivationsversuch wurde ein wenig von dem langen Gähnen untergraben, welches ihr ab der zweiten Satzhälfte entwischte.

Frederik räusperte sich lediglich zurückhaltend und fuhr sein MacBook hoch.

»Es ist wirklich noch früh.«

»Hol besser deinen Laptop und lasst uns das einfach schaffen.«

Ben bildete sich ein zu hören, wie stark Mara ob dieser bevormundenden Art mit den Augen rollte, aber aus irgendeinem Grund – womöglich, weil sie viel diplomatischer war, als sie zugeben wollte – verkniff sie sich eine spitze Erwiderung.

Während sie aufstand, schaufelte Ben das Frühstück auf zwei Teller und schenkte Kaffee nach. Wenn sie heute scheiterten, würde Frederik fortan unerträglich sein. Es war ihm wirklich wichtig.

Punkt 8.30 loggte sich Teamkapitän Frederik auf der AYT-Homepage ein und startete die virtuelle Umgebung, in der sie fortan all ihre wichtigen Abenteuer erleben würden.

Natürlich hieß die Firma, die jungen, motivierten, dynamischen, kreativen, belastbaren, flexiblen und kreativen Menschen den ewigen Traum des perfekten Praktikums erfüllte, AYT – Awesome, Young & Talented.

Der Avatar war ein dreidimensionales Strichmännchen mit einer frech zur Seite stehenden Cap und hörte auf den Namen Frivole Feierfrettchen.

Frederik hatte darauf bestanden, dem Team einen lustig klingenden Namen zu geben. Wenn sie so wirkten, als wären sie nur Teil einer möglichst ironischen Generation von Mittzwanzigern, dann nahmen ihre Gegner (Frederik sprach immer von Gegnern, nicht von Konkurrenz oder Mitspielern) sie vielleicht nicht ernst und unterschätzten sie.

Dass eine dreifache F-Alliteration alle Merkmale des zu Bemühten aufwies, war ihm nicht klarzumachen gewesen (abgesehen davon war der Name auch irgendwie redundant).

Diese besonders nachtaktive Variante des Nagetiers in Strichmenschform stand inmitten einer lieblos-minimalistisch animierten Stadtumgebung.

»Ich such uns eine gelbe Challenge«, bestimmte Frederik und brachte die Figur mit den Pfeiltasten in Bewegung. »Dann können wir uns einen Überblick über die Art der Aufgaben machen und direkt zu den Roten übergehen.«

Mara schlürfte desinteressiert Kaffee, das Einhorn hob kurz den Kopf und beschloss, lieber wieder zu schlafen und Ben blickte schweigend über Frederiks Schulter und sah ihm zu, wie dieser mit angestrengtem Blick den Avatar in ein graues Hochhaus scheuchte, dessen Eingangstür in gelber Farbe leuchtete.

Darin befand sich ein gelb leuchtender und schwebender Lichtball, der im Eingangsbereich herumwaberte und den man anklicken konnte. Frederik klickte.

»Hätte man zu Dionysos’ Ehren Shakespeare adaptiert, wer würde Romeo und Julia spielen?«, las er und runzelte die Stirn. Unter der Frage standen vier Schauspieler, von denen man zwei in einem Textfeld ganz unten eintragen konnte. »Recherchiert, ob Ellen Page, Michael Fassbender, Marion Cotillard und Johnny Depp in einer Shakespeare-Adaption mitgespielt haben!«

Mara griff nach ihrem Laptop, aber Ben stoppte sie sanft. »Johnny Depp und Michael Fassbender«, sagte er.

»Woher weißt du das?« Frederik runzelte die Stirn, während Mara mit einem Mal breit lächelte.

Offensichtlich bog sie um dieselbe Gedankenecke wie Ben und fand die Lösung. »Ja! Klar! Trag’s ein und weiter geht’s!«

»Aber das ergibt doch keinen Sinn!«

»Doch, glaub mir«, beteuerte Ben. »Im antiken Griechenland wurde zu Dionysos’ Ehren Theater gespielt und es durften nur Männer spielen.«

Frederik hielt inne, musterte ihn lange und tippte dann die Antwort ein. Statt einer Rückmeldung, ob es richtig oder falsch war, leuchtete nur ein Bestätigungstext. »Ich hoffe, du irrst nicht, Benjamin.«

»Er irrt nicht«, beschwichtigte Mara. »Wie ist die nächste Frage?«

Die nächste Frage, wie auch die Frage danach, drehte sich um Kultur. Ähnlich kryptisch wie das Wesen archaischen Theaters waren sie alle, aber Bens langsam im Takt des MacBook-Surrens hochfahrender Kopf entpuppte sich als guter Um-Ecken-Navigator. So bei der Frage, welcher Dichter denn zum Durchatmen in die Stadt der guten Luft eilte und dort mühelos zur Entspannung Zeitung las.

Ben hatte keine Ahnung von Pablo Neruda, wusste aber, dass man in Buenos Aires Spanisch sprach und die Stadt nach ihrer angeblich guten Luft benannt war. Schwer vorstellbar, dass ein Konquistador diese urbane Taufe einmal in eine virtuelle 3D-Welt brächte, wo auf neue Weisen nach Gold gejagt wurde, aber Geschichte war sowieso recht absurd.

Ben hatte noch weniger Ahnung von Nobelpreisträgern, ahnte jedoch, dass der »vornehme Herr, der Kronen verteilt, damit man Rauch, Krach und Explosionen verzeiht« Alfred Nobel war. Er kannte den alten Alfred innigst, dank Büchern, dank Google. Immerhin gehörte er zu den wenigen Herren des Planeten, die mal nebenbei Krieg revolutionierten und es trotzdem schafften, nicht vor allem dafür bekannt zu sein. Aus PR-Sicht ein ziemlicher Geniestreich und in sich eine unglaubliche Tragik.

Man stelle sich vor, man entwickelte ein Gerät, das – vollkommen unerwartet (na ja, oder eben ein bisschen unerwartet) – Zähneputzen grundlegend veränderte. Plötzlich wären alle Menschen in der Lage, mit dieser wunderhaften neuen Maschine Zahnreihen auf Arten und Weisen zu säubern und zu polieren, die jeden Dentisten und Bleaching-Studio-Dude vor Kummer zur (möglicherweise autoerotischen) Selbststrangulation mit Zahnseide führte (quasi eine unfreiwillige Reinigung gesellschaftlicher Zwischenräume) und sogar ehemalige Zahntechniker betraf (man durfte ja hoffen), die nur mehr quasi als populistische Zahnfeen fungierten und höchstens aus betonter Nächstenliebe Groschen verteilten (vorzugsweise an Herrschaften mit wunden Wangen)! Und dann erkannte jemand, dass man mit dieser Dentalbackenblankfunkelklunkermagiemaschine wirklich ganz hervorragend Exekutionen durchführen konnte. Plötzlich wurde die Henkersmahlzeit unbedenklich, die Einwände des hippokratischen Eides existierten nicht mehr, weil nur noch blutrünstige Zahnarzthelferinnen und -helfer Schwerkriminellen auf den Zahn fühlten. Zahnspangen galten als neues Statussymbol in den gefährlichsten Teilen der Hood, ein strahlendes Siegerlächeln wurde zum Inbegriff des effizienten Ablebens und plötzlich entwickelte sich die ursprünglich tolle Erfindung zu einer der prägendsten des 21. Jahrhunderts und man würde zwangsweise in die Geschichte eingehen als der Mensch, der dem Lächeln die Freude genommen hatte und dann (!) entwickelte man eben noch ein System, das alle herausragenden Persönlichkeiten im Rahmen ihres Tätigkeitsfeldes mit höchstrenommierten Preisen bedeckte, die ihrerseits Skulpturen aus all den ehemaligen, obsolet gewordenen Zahnbürsten waren. Ein PR-Coup der Sonderklasse. Trotzdem schade, dass man unabsichtlich so vielen Leuten die Möglichkeit gab, andere zu töten. Ups.

Langsam bekamen sie ein Gefühl für diese Welt, in der sie sich als die Frivolen Feierfrettchen, die sie offenbar zu sein hatten, bewegten.

Die grünen Häuser mied das Strichmännlein, vor allem, weil Frederik es nicht einsah, mit »Anfängerübungen« seine Zeit zu verschwenden. Mara und Ben tauften es fortan in Strichwesen um, da ›Strichmännchen‹ doch arg reduktionistisch war.