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Alfred Schmidt

Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx

Alfred Schmidts in viele Sprachen übersetzte Untersuchung gehört zu den wichtigsten und folgenreichsten theoretischen Quellen der philosophischen Marx-Interpretation. Schmidt selbst bezeichnet seine Arbeit als den »Versuch, die wechselseitige Durchdringung von Natur und Gesellschaft, wie sie innerhalb der Natur als der beide Momente umfassenden Realität sich abspielt, in ihren Hauptaspekten darzustellen«. 1993 erweitert er seine Interpretation des Marx’schen Werks, die von dem geschichtsmaterialistisch unterbauten Begriff der Natur ausgeht, um die Dimension des »ökologischen Materialismus«. Der Alfred Schmidt-Schüler Michael Jeske gibt dieser letzten Fassung ein Nachwort bei, welches u.a. Aspekte der Wirkungsgeschichte dieser für den westlichen Marxismus der Nachkriegszeit so bedeutenden Schrift beleuchtet.

Alfred Schmidt (1931–2012), war Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang. Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M.; Veröffentlichungen u.a.: »Die Kritische Theorie als Geschichtsphilosophie« (1976), »Kritische Theorie, Humanismus, Aufklärung« (1981), »Tugend und Weltlauf. Vorträge und Aufsätze über die Philosophie Schopenhauers (1960–2003)« (2004).

Michael Jeske war bis 2009 Assistent von Alfred Schmidt, seither Lehrbeauftragter der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M.; bis 2013 wiss. Mitarbeiter an der Schopenhauer-Forschungsstelle an der Johannes ­Gutenberg-Universität in Mainz.

Alfred Schmidt

Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx

Mit einem Nachwort zur 5. Auflage von Michael Jeske

CEP Europäische Verlagsanstalt

© ebook-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2016

Ergänzt um ein Nachwort von Michael Jeske zur 5. Auflage

© 1993 Europäische Verlagsanstalt, Hamburg

Erstausgabe Frankfurt am Main-Köln, 1962

1971 überarbeitete und ergänzte Neuausgabe

Umschlagmotiv: Jean Pierard: Der »grüne« Marx. Zeichnung 1977

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung (auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung (auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.

ISBN 978-3-86393-536-8

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Alfred Schmidt
Vorwort zur Neuauflage 1993
Für einen ökologischen Materialismus

Einleitung

I. KAPITEL

KARL MARX UND DER PHILOSOPHISCHE MATERIALISMUS

A) Der nicht-ontologische Charakter des Marxschen Materialismus

B) Zur Kritik der Engelsschen Form der Naturdialektik

II. KAPITEL

DIE GESELLSCHAFTLICHE VERMITTLUNG DER NATUR UND DIE ­NATURHAFTE VERMITTLUNG DER GESELLSCHAFT

A) Natur und Warenanalyse

B) Der Begriff des Stoffwechsels von Mensch und Natur: historische Dialektik und »negative« Ontologie

III. KAPITEL

DIE AUSEINANDERSETZUNG VON GESELLSCHAFT UND NATUR UND DER ERKENNTNISPROZESS

A) Naturgesetz und Teleologie

B) Zum Begriff der Erkenntnistheorie bei Marx

C) Weltkonstitution als historische Praxis

D) Bemerkungen zu den Kategorien der materialistischen
Dialektik

IV. KAPITEL

ZUR UTOPIE DES VERHÄLTNISSES VON MENSCH UND NATUR

VERZEICHNIS DER ZITIERTEN ODER IN DEN
ANMERKUNGEN ERWÄHNTEN LITERATUR

VORBEMERKUNG ZUM ANHANG

ZUM VERHÄLTNIS VON GESCHICHTE UND NATUR
IM DIALEKTISCHEN MATERIALISMUS*

POSTSCRIPTUM 1971

Michael Jeske
Nachwort zur 5. Auflage
»MATERIALISMUS IM ELEMENT DER PRAXIS«

Vorwort zur Neuauflage 1993
Für einen ökologischen Materialismus

Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.1

Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Thesen über den Begriff der Geschichte

I

Als der Autor während der späten fünfziger Jahre über der Endfassung seiner Doktorarbeit saß, waren Begriffe wie »Umweltbewußtsein«, »Grenzen des Wachstums«, »alternative Zivilisation«, »sanfte Technik« oder »ökologische Krise«, die heute wissenschaftliche wie tagespolitische Debatten beherrschen, noch unbekannt. Diskreditiert freilich war schon damals ein naiver Progressismus. Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung hatte (unter anderem) belehrt über die naturzerstörerischen Implikationen technischen Fortschritts. Wer sich zudem, wie der Verfasser, näher mit Marx und Engels beschäftigte, konnte auch in ihren Schriften auf Zweifel an den Segnungen des Industriesystems stoßen. Unterdessen hat jedoch die ökologische Problematik Ausmaße angenommen, die jeder bloß akademischen Erörterung spotten. Die Frage nach dem Fortschritt ist längst zur Überlebensfrage der Menschheit geworden. Die im Postscriptum 1971 zur zweiten Auflage des Buches bereits als Signatur der Gegenwart pointierte »Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Gesellschaft« läßt sich nach dem Scheitern des sowjetischen Experiments nicht mehr ausschließlich auf die kapitalistische Produktionsweise zurückführen. Der Industrialismus hat sich in seiner staatssozialistischen Version als ebenso unzulänglich erwiesen wie in seiner marktwirtschaftlichen.

Die materiellen und sozialen Grenzen des Wachstums haben den Optimismus bürgerlicher Theoretiker nicht weniger erschüttert als den der ­Marxisten. Gegen Marx und seine Anhänger werden heute die nämlichen Vorwürfe erhoben wie gegen Anwälte unbegrenzten Wirtschaftswachstums auf kapitalistischer Basis. Ihnen wird vorgehalten, sie hätten sich über die Begrenztheit der Erde, die limitierte Belastbarkeit der Ökosphäre und die Knappheit der Ressourcen hinweggesetzt und seien deshalb mitschuldig an den weltweit beobachtbaren Umweltschäden.2 Diese Kritik ist in dem Maße berechtigt, wie der klassische Marxismus dem Wachstum der Produktivkräfte – als geschichtsbildendem Faktor – eine geradezu metaphysische Rolle zuerkennt. Oft genug gewinnt man den Eindruck, daß seine Begründer ein unbegrenztes Potential weiteren Fortschritts schlicht voraussetzen und sich so jener unheilvollen Dynamik der Naturbeherrschung ausliefern, die – von Bacon und Descartes methodologisch gerechtfertigt – stets auch Herrschaft über Menschen gewesen ist.3 Andererseits finden sich bei Marx und Engels, seltener zwar und häufig an entlegenem Ort, Ansätze einer »ökologischen« Kritik des destruktiven Aspekts der modern­industriellen Entwicklung. Daß menschliche Eingriffe geeignet sind, den Naturhaushalt empfindlich zu stören, wird ihnen eher zum Problem als dem Jenenser Biologen Ernst Haeckel, dessen Generelle Morphologie (1866) den Terminus »Ökologie« in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt hat. Allerdings vermochten jene kritischen, kaum beachteten Ansätze das eingeschliffene Klischee vom blind fortschrittsgläubigen Marxismus nicht zu entkräften. Dabei läßt sich zeigen, daß Marx und Engels ein keineswegs ungebrochenes Verhältnis zur Idee des Fortschritts hatten. So heißt es in einem Engelsschen Brief an Marx, der Historiker Maurer huldige »dem aufgeklärten Vorurteil, es müsse doch seit dem dunklen Mittelalter ein stetiger Fortschritt zum Besseren stattgefunden haben; das verhindert ihn nicht nur, den antagonistischen Charakter des wirklichen Fortschritts zu sehn, sondern auch die einzelnen Rückschläge«4.

Marx pflichtet Engels in der Sache bei und geht zugleich insofern über ihn hinaus, als er die Frage unter dem umfassenderen Gesichtspunkt der noch ausstehenden sozialen Revolution betrachtet. Erst nachdem diese die materiellen und intellektuellen Ergebnisse der bürgerlichen Epoche »gemeistert und ... der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, ... wird« – so die Marxsche Prognose – »der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte«5.

II

Erinnern wir zunächst an die markanten Belege für den Marx-Engelsschen Optimismus hinsichtlich der mit dem Aufstieg des Bürgertums einhergehenden Entfesselung der Produktivkräfte. »Die Bourgeoisie«, heißt es im Kommunistischen Manifest, »hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden gestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, das solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummern.«6 Marx und Engels feiern die mit dem Entstehen eines kapitalistischen Weltmarkts verbundene kosmopolitische Tendenz: »An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen Produktion, so auch in der geistigen ... Die nationale Einseitigkeit wird mehr und mehr unmöglich und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.«7

Dieser so triumphalen geschichtlichen Dynamik entspricht, wie Marx im »Rohentwurf« seines Hauptwerks ausführt, »die universelle Aneignung der Natur wie des gesellschaftlichen Zusammenhangs ... durch die Glieder der Gesellschaft. Hence the great civilising influence of capital; seine Produktion einer Gesellschaftsstufe, gegen die alle frühren nur als lokale Entwicklungen der Menschheit und als Naturidolatrie erscheinen. Die Natur wird ... rein Gegenstand für den Menschen, rein Sache der Nützlichkeit; hört auf als Macht für sich anerkannt zu werden; und die theoretische Erkenntnis ihrer selbständigen Gesetze erscheint ... nur als List, um sie den menschlichen Bedürfnissen ... zu unterwerfen.«8 Außer dem »System der allgemeinen Nützlichkeit«, als dessen »Träger« auch die Wissenschaft fungiert, gilt nichts als »An-sich-Höheres, Für-sich-selbst-Berechtigtes«9.

Marx’ Darlegungen nehmen sich einigermaßen befremdlich aus: bald nüchtern-realistisch, bald apologetisch. Er ist wie Hegel davon durchdrungen, daß Geschichte nicht geradlinig, sondern dialektisch verläuft. Dem Widerspruch, daß sich das Wohl des (gattungsmäßigen) Ganzen auf Kosten der Individuen durchsetzt, kann die Menschheit nicht entrinnen. Solange die »assoziierten Produzenten«10 ihre Geschichte nicht bewußt gestalten, ist ein dem einzelnen unmittelbar zugute kommender Fortschritt unmöglich. Wenn Marx die durch die bürgerliche Emanzipation entfesselte Dynamik (nahezu) vorbehaltlos begrüßt, so deshalb, weil sie – davon ist er überzeugt – nicht nur die materielle Unterlage des Übergangs zum Sozialismus liefert, sondern auch gewährleistet, daß dieser die Arbeitsproduktivität der kapitalistischen Welt erheblich überbieten wird.11 Vorerst freilich müssen die Menschen durch härteste Entbehrungen hindurchgehen. Wohl befindet sich die moderne Gesellschaft, verglichen mit Antike und Mittelalter, »in der absoluten Bewegung des Werdens«12. Aber die damit verbundene »Herausarbeitung« der »schöpferischen Anlagen« des Menschen geschieht unter negativem Vorzeichen: die »universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung, und die Niederreißung aller ... einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußren Zweck«13. Deshalb erscheint, nostalgisch verklärt, die »kindische alte Welt als das Höhere«; sie steht für »geschloßne Gestalt, Form und gegebne Begrenzung«14, das heißt für eine Unmittelbarkeit menschlicher Beziehungen, die mit dem aufkommenden Weltmarkt verschwindet. Dieser tritt den Individuen immer gebieterischer als ein sachlicher Zusammenhang entgegen, der sich unabhängig von ihrem Wissen und Wollen durchsetzt.15 Gleichwohl, betont Marx, ist die moderne Gesellschaft jenen Gemeinwesen vorzuziehen, die sich auf »bluturenge Natur und Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse«16 gründeten. Sosehr die Menschen jetzt genötigt sind, sich einem weltweiten, objektiven Zusammenhang einzugliedern, so unbestreitbar bleibt letzterer ihr eigenes Produkt: »Er gehört einer bestimmten Phase ihrer Entwicklung an. Die Fremdartigkeit und Selbständigkeit, worin er noch gegen sie existiert, beweist nur, daß sie noch in der Schöpfung der Bedingungen ihres sozialen Lebens begriffen sind, statt von diesen Bedingungen aus es begonnen zu haben.«17

Marx nimmt an, daß erst die sozialistische Gesellschaft imstande sein wird, jene »Fremdartigkeit« und »Selbständigkeit« der Verhältnisse gegenüber ihren Herstellern aufzuheben. Die bisherige Geschichte, zumal die des Kapitalismus, kennt bloß den naturwüchsigen Zusammenhang »von Individuen innerhalb ... bornierter Produktionsverhältnisse«18. Künftig dagegen werden allseitig entwickelte Individuen ihre gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer »eignen gemeinschaftlichen Kontrolle«19 unterwerfen. »Der Grad und die Universalität der Entwicklung der Vermögen, worin diese Individualität möglich wird«, setzen jedoch Produktion »auf der Basis der Tauschwerte voraus, die mit der Allgemeinheit der Entfremdung des Individuums von sich und von andren ... auch die Allgemeinheit und Allseitigkeit seiner Beziehungen und Fähigkeiten erst produziert.«20

Es gehört zur geschichtsphilosophischen Grundüberzeugung von Marx, daß die Menschheit durch die kapitalistische Produktionsweise hindurchgehen muß. Sie erst schafft die »materiellen Elemente für die Entwicklung der reichen Individualität, ... deren Arbeit ... nicht mehr als Arbeit, sondern als volle Entwicklung der Tätigkeit selbst erscheint, in der die Naturnotwendigkeit in ihrer unmittelbaren Form verschwunden ist; weil an die Stelle des Naturbedürfnisses ein geschichtlich erzeugtes getreten ist«21. Vorläufig kann jedoch davon keine Rede sein. Die ihr Leben als arm und entleert erfahrenden Menschen trauern »frühren Stufen der Entwicklung« nach, auf denen das Individuum deshalb »voller« erscheint, weil es die »Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm unabhängige gesellschaftliche Mächte ... sich gegenübergestellt hat. So lächerlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlich ist der Glaube, bei jener ... Entleerung stehnbleiben zu müssen. Über den Gegensatz gegen jene romantische Ansicht ist die bürgerliche nie hinausgekommen, und darum wird jene als berechtigter Gegensatz sie bis an ihr seliges Ende begleiten.«22

Selten hat Marx seine Konzeption derart deutlich sowohl gegen die romantische Verklärung vorkapitalistischer Stufen abgesetzt als auch gegen die positivistische Tendenz, das Bestehende zu rechtfertigen. Bildet die »romantische Ansicht« einen immerhin »berechtigten Gegensatz« gegen die verdinglichten Verhältnisse eines entfalteten Kapitalismus, so sperren positivistische Argumente sich gegen die Unabgeschlossenheit der historischen Dialektik, die sich darin ausdrückt, daß die Aufgabe des Kapitals, die gesellschaftlichen Produktivkräfte enorm zu entwickeln, erfüllt ist, sobald die weitere Entwicklung »an dem Kapital selbst eine Schranke findet«23.

III

Betrachten wir jetzt einige Hinweise von Marx und Engels, die in vorliegender Dissertation nicht so akzentuiert werden, wie es – aus heutiger Sicht – ihrer sachlichen Bedeutung entspricht. Sie zeugen nicht nur von Ansätzen ökologisch geschärften Bewußtseins, sondern belegen, daß das Marx-Engelssche Werk, aufs Ganze gesehen, keineswegs im Dienst rücksichtsloser Naturbeherrschung steht. Im Gegenteil. Früh schon kritisiert Marx den negativen Einfluß der kapitalistischen Ökonomie auf das neuzeitlich verbreitete Naturbild. »Das Geld«, heißt es in seiner Schrift Zur Judenfrage, »ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. ... Die Anschauung, welche unter der Herrschaft des Privateigentums und des Geldes von der Natur gewonnen wird, ist die wirkliche Verachtung, die praktische Herabwürdigung der Natur«24.

Spätere Äußerungen der Autoren betreffen ruinöse Folgen kapitalistischer Agrar­ und Industrieproduktion sowie natürliche Schranken der Ausbeutbarkeit der Natur, mit denen selbst eine sozialistische Gesellschaft zu rechnen hätte. – »Die Produktivität der Arbeit«, schreibt Marx im III. Band des Kapitals, »ist auch an Naturbedingungen gebunden, die oft minder ergiebig werden im selben Verhältnis wie die Produktivität – soweit sie von gesellschaftlichen Bedingungen abhängt – steigt. Daher entgegengesetzte Bewegung in diesen verschiednen Sphären, Fortschritt hier, Rückschritt dort. Man bedenke z. B. den bloßen Einfluß der Jahreszeiten, wovon die Menge des größten Teils aller Rohstoffe abhängt, Erschöpfung von Waldungen, Kohlen und Eisenbergwerken etc.«25 – Im Kapitel »Maschinerie und große Industrie« des I. Bandes seines Hauptwerks hebt Marx die subjektiv wie objektiv verderblichen Folgen industrialisierter Landwirtschaft hervor. Er zeigt, daß die kapitalistische Produktion mit »dem stets wachsenden Übergewicht der städtischen Bevölkerung ... den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde (stört), d. h. die Rückkehr der vom Menschen in der Form von Nahrungs­ und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbestandteile zum Boden, also die ewige Naturbedingung dauernder Bodenfruchtbarkeit. Sie zerstört damit zugleich die physische Gesundheit der Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbeiter. Aber sie zwingt zugleich durch die Zerstörung der bloß naturwüchsig entstandnen Umstände jenes Stoffwechsels ihn systematisch als regelndes Gesetz der gesellschaftlichen Produktion und in einer der vollen menschlichen Entwicklung adäquaten Form herzustellen26 Marx spricht hier höchst aktuelle Einsichten aus. Klar steht ihm das Problem des »recycling« vor Augen, damit die historische Notwendigkeit, den natürlichen, durch menschlichen Eingriff gestörten Kreislauf bewußt wiederherzustellen, der bisher eher zufällig und unter Belastung der Menschen stattgefunden hat.27 – Am Ende dieses Kapitels faßt Marx seine Ergebnisse folgendermaßen zusammen: »Wie in der städtischen Industrie wird in der modernen Agrikultur die gesteigerte Produktivkraft und größre Flüssigmachung der Arbeit erkauft durch Verwüstung und Versiechung der Arbeitskraft selbst. Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in der Steigerung seiner Fruchtbarkeit zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit.... Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den ­Arbeiter28 Dieser »Zerstörungsprozeß«, fügt Marx hinzu, vollzieht sich um so schneller, je mehr ein Land wie die Vereinigten Staaten von Großindustrie als dem »Hintergrund seiner Entwicklung«29 ausgeht. – Ähnlich äußert sich Marx hierzu in den Theorien über den Mehrwert: »Es liegt in der Natur der kapitalistischen Produktion, daß sie die Industrie rascher entwickelt als die Agrikultur. Es geht dies nicht aus der Natur des Bodens hervor, sondern daraus, daß er andre gesellschaftliche Verhältnisse braucht, um wirklich seiner Natur gemäß exploitiert zu werden. Die kapitalistische Produktion wirft sich erst auf das Land, nachdem ihr Einfluß es erschöpft und seine Naturgaben verwüstet hat.«30

Als Kritiker der politischen Ökonomie verfolgt Marx die wissenschaftliche Literatur auch auf angrenzenden Gebieten. Hinsichtlich negativer Aspekte des gesellschaftlich determinierten Naturverhältnisses verdankt er Carl Nikolaus Fraas, einem vielseitigen Gelehrten, wertvolle Anregungen, insbesondere seiner Studie Klima und Pflanzenwelt in der Zeit, ein Beitrag zur Geschichte beider (Landshut 1847), die zu lesen er Engels in einem Brief vom Frühjahr 1868 empfiehlt. Fraas, heißt es hier, weist nach, »daß in historischer Zeit Klima und Flora wechseln. Er ist vor Darwin Darwinist und läßt die Arten selbst in der historischen Zeit entstehn. Aber zugleich Agronom. Er behauptet, daß mit der Kultur – entsprechend ihrem Grad – die von den Bauern sosehr geliebte ›Feuchtigkeit‹ verlorengeht (daher auch die Pflanzen von Süden nach Norden wandern) und endlich Steppenbildung eintritt. Die erste Wirkung der Kultur nützlich, schließlich verödend durch Entholzung etc. ... Das Fazit ist, daß die Kultur – wenn naturwüchsig fortschreitend und nicht bewußt beherrscht (dazu kommt er natürlich als Bürger nicht) – Wüsten hinter sich zurückläßt, Persien, Mesopotamien etc., Griechenland. Also auch wieder sozialistische Tendenz unbewußt!«31

Im Zusammenhang hiermit steht die »Zerstörung der Waldungen«32, auf die Marx, angeregt wohl durch Fraas, im II. Band des Kapitals zu sprechen kommt: »Die lange Produktionszeit (die einen relativ nur geringen Umfang der Arbeitszeit einschließt), daher die Länge ihrer Umschlagsperioden, macht die Waldzucht zu einem ungünstigen Privat- und daher kapitalistischen Betriebszweig, welcher letztre wesentlich Privatbetrieb ist, auch wenn statt des einzelnen Kapitalisten der assoziierte Kapitalist auftritt. Die Entwicklung der Kultur und Industrie überhaupt hat sich von jeher so tätig in der Zerstörung der Waldungen gezeigt, daß dagegen alles, was sie umgekehrt zu deren Erhaltung und Produktion getan hat, eine vollständig verschwindende Größe ist.«33

Auch Engels’ ökologische Einsichten setzen die Lektüre des Buches von Fraas voraus. Sie betreffen zunächst die mit der fortschreitenden Industrialisierung ländlicher Gebiete entstehenden Probleme. Hierzu heißt es im Anti­Dühring: »Erstes Erfordernis der Dampfmaschine und Haupterfordernis fast aller Betriebszweige der großen Industrie ist verhältnismäßig reines Wasser. Die Fabrikstadt aber verwandelt alles Wasser in stinkende Jauche. Sosehr also die städtische Konzentrierung Grundbedingung der kapitalistischen Produktion ist, sosehr strebt jeder einzelne industrielle Kapitalist stets von den durch sie notwendig erzeugten großen Städten weg und dem ländlichen Betrieb zu. Dieser Prozeß kann in den Bezirken von Lancashire und Yorkshire im einzelnen studiert werden; die kapitalistische Großindustrie erzeugt dort stets neue Großstädte dadurch, daß sie fortwährend aufs Land flieht.«34 Wie schon Marx im I. Band des Kapitals erblickt Engels hierin einen »fehlerhaften Kreislauf«, der nach seiner Überzeugung nur durch »Aufhebung« des »kapitalistischen Charakters«35 der Industrie beseitigt werden könnte. Nur eine planwirtschaftlich organisierte Gesellschaft sei imstande, die industriellen Standorte geographisch so zu verteilen, daß »Elemente der Produktion«36 wie Erde, Wasser und Luft erhalten bleiben. Ihre derzeitige Vergiftung könne allein durch die »Verschmelzung von Stadt und Land«37 beseitigt werden.

In der Dialektik der Natur deckt Engels den inneren Zusammenhang auf zwischen der bürgerlichen Produktionsweise (und ihrem sozialwissenschaftlichen Ausdruck, der klassischen Ökonomie) einerseits und jener imperialen Praxis (und Ideologie) andererseits, für die Natur sich stets schon darin erschöpft, Substrat ausbeuterischen Zugriffs zu sein. »Gegenüber der Natur wie der Gesellschaft«, unterstreicht Engels, »kommt bei der heutigen Produktionsweise vorwiegend nur der erste, handgreiflichste Erfolg in Betracht; und dann wundert man sich noch, daß die entfernteren Nachwirkungen der hierauf gerichteten Handlungen ganz andre, meist ganz entgegengesetzte sind«38. Wo es lediglich um »Erzielung des nächsten, unmittelbarsten Nutzeffekts der Arbeit«39 geht, können – langfristig – Rückschläge nicht ausbleiben. Die Triumphe der Naturbeherrschung erwiesen sich als Pyrrhussiege. Darauf verweist Engels nachdrücklich: »Schmeicheln wir uns ... nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinnen, träumten nicht, daß sie damit den Grund zur jetzigen Verödung jener Länder legten, indem sie ihnen mit den Wäldern die Ansammlungszentren und Behälter der Feuchtigkeit entzogen. Die Italiener der Alpen, als sie die am Nordabhang des Gebirgs so sorgsam gehegten Tannenwälder am Südabhang vernutzten, ahnten nicht, daß sie damit der Sennwirtschaft auf ihrem Gebiet die Wurzel abgruben; sie ahnten noch weniger, daß sie dadurch ihren Bergquellen für des größten Teil des Jahrs das Wasser entzogen, damit diese zur Regenzeit um so wütendere Flutströme über die Ebene ergießen könnten.«40

Engels hegt keine Illusionen hinsichtlich der Zeit und Mühe, die es kosten wird, die zivilisatorische Erblast der bisherigen Geschichte abzutragen.41 Aber er nimmt an, daß es wissenschaftlicher Einsicht künftig gelingen werde, die »näheren und ferneren Nachwirkungen unsrer Eingriffe in den herkömmlichen Gang der Natur«42 nicht nur rechtzeitig zu erkennen, sondern auch zu beherrschen. Freilich, so meint er, können wir uns nur »durch lange, oft harte Erfahrung ... über die mittelbaren, entfernteren gesellschaftlichen Wirkungen unsrer produktiven Tätigkeit Klarheit ... verschaffen«43. Erkenntnis allein, dessen ist Engels sicher, wird nicht genügen, ungewollte Nebeneffekte der Naturbeherrschung ihrerseits »zu beherrschen und zu regeln«44. Dazu bedarf es einer »vollständige[n] Umwälzung unsrer bisherigen Produktionsweise und mit ihr unsrer jetzigen gesamten gesellschaftlichen Ordnung«45.

Wie aus den angeführten Stellungnahmen erhellt, sind Marx und Engels eines Sinnes, was die Schwere der ökologischen Problematik und die praktischen Schritte ihrer Bewältigung anbelangt. Als Materialisten gehen sie davon aus, daß das gesellschaftliche Sein, worin die Menschen leben, eingebettet ist ins universelle Sein der Natur, deren Bestand zu erhalten ihnen bei Strafe eigenen Untergangs auf erlegt ist. »Vom Standpunkt einer hohem ökonomischen Gesellschaftsformation«, erklärt daher Marx, »wird das Privateigentum einzelner Individuen am Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen, wie das Privateigentum eines Menschen an einem andern Menschen. Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.«46

IV

Angesichts der seit Niederschrift des Buches radikal veränderten Problemlage erscheint es dem Verfasser angebracht, den philosophischen Ansatz neu zu überdenken, der seiner damaligen Darstellung des Marxschen Naturbegriffs zugrunde lag. Die Dissertation war insofern dem Geist der älteren Frankfurter Schule verpflichtet, als sie (im Gegenzug zu den unvermittelten Objektivismen stalinistischer Ideologie) darauf abzielte, das deutsch-idealistische Erbe in Marx ungeschmälert zur Geltung zu bringen. Der Verfasser war deshalb darauf bedacht, den »praktisch-kritischen« Materialismus der Thesen über Feuerbach und der Deutschen Ideologie47 auch in den – ausdrücklich hinzugezogenen – ökonomischen Werken nachzuweisen. Daher die Tendenz der Schrift, das menschliche Natur- und Weltverhältnis fast durchweg aus der Perspektive des arbeits- und erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Schemas zu erörtern.48 Dadurch ist eine – zumal heute hervortretende – Asymmetrie entstanden. Die andere, ebenso berechtigte Seite des Marxschen Verständnisses von Wirklichkeit wird zwar thematisiert49, aber ihr sachliches Gewicht nicht gebührend hervorgehoben. So wahr es bleibt, daß die »sinnliche Welt« kein »unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, sondern das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes, und zwar ... ein geschichtliches Produkt«50, so wohlbegründet bleibt es, umgekehrt, die »Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation« als »naturgeschichtlichen Prozeß«51 aufzufassen.

Daß, im Sinn des II. Kapitels, alle »gesellschaftliche Vermittlung der Natur« die »naturhafte Vermittlung der Gesellschaft« voraussetzt, ist vielleicht erst heute im vollen Bewußtsein der Implikationen aussprechbar. Bei »jedem Schritt«, so Engels in der Dialektik der Natur, »werden wir ... daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, ... ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können«52. Deshalb sollten wir uns vor der Illusion hüten, im Sozialismus werde die Menschheit sich souverän über die Natur erheben. Deren noch so große Beherrschung, bemerkt hierzu Max Adler, beseitigt nicht »die Naturabhängigkeit ... der gesellschaftlichen Erscheinungen«53; sie ändert bloß die Form, worin sie sich durchsetzt. Wohl »verschiebt« sich der »Natureinfluß« im Verlauf der Geschichte. »Aber diese Verschiebung bedeutet kein Aufhören, ja nicht einmal eine Verminderung der Abhängigkeit des Menschen von den Naturfaktoren. Im Gegenteil, gerade Marx hat darauf hingewiesen, daß mit der Fortentwicklung der Beherrschung der Naturkräfte gleichsam die Breite der Berührung des Menschen mit der Natur wächst und daß er selbst in der Herrschaft über die Natur um so mehr in Abhängigkeit von ihr gerät.«54

Dennoch hat der Mensch es vermocht, der Erde seinen Stempel aufzudrücken. Marx weiß sich auf der Höhe weltgeschichtlichen Fortschritts, wenn er in der Kritik des Gothaer Programms feststellt, »Quelle von ... Reichtum« werde die Arbeit nur insofern, als sich »der Mensch ... von vornherein als Eigentümer zur Natur, der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und ­gegenstände verhält, sie als ihm gehörig behandelt«55. Entsprechend figuriert im III. Band des Kapitals die Erde »als das ursprüngliche Beschäftigungsfeld der Arbeit, als das Reich der Naturkräfte, als das vorgefundne Arsenal aller Arbeitsgegenstände.«56. Natur erscheint bei Marx immer schon im Horizont geschichtlich wechselnder Formen ihrer gesellschaftlichen Aneignung.57 Über ihre eigene Beschaffenheit verlautet lediglich, daß sie, als »materielles Substrat« von Gebrauchswerten, »ohne Zutun des Menschen ... vorhanden ist«58. Dieser – im vorliegenden Buch materialistisch interpretierte – Sachverhalt kann jedoch am gleichzeitigen Anthropozentrismus der Marxschen Naturkonzeption nichts ändern, in der sich die Rolle des modernen, die Welt umgestaltenden Subjekts reflektiert.59

In dem Maße, wie der Verfasser die »weltkonstitutive« Funktion der historischen Praxis hervorhob, hoffte er dem Selbstverständnis von Marx gerecht zu werden. Letzteres freilich hat sich unterdessen als wenig konsistent erwiesen. Das gilt zumal für den »praktischen« Wirklichkeits-Bezug des Marxschen Denkens, der sich in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten anders darstellt als in der Kritik des Gothaer Programms, wo er sich verfestigt zum historischen Apriori schrankenloser Aneignung der Natur.

Wie schon im Postscriptum 1971 ist auch hier an Feuerbach wenigstens zu erinnern, über den Marx und Engels allzu rasch hinweggegangen sind.60 Was sie als Mangel seines »anschauende[n] Materialismus«61 beanstandeten: daß er das Sein der Dinge nicht antastet, wird heute als eine Möglichkeit unverstellten Natur-Zugangs wiederentdeckt. Feuerbach konfrontiert im Wesen des Christentums das neuzeitliche Bewußtsein mit der großartigen Naivität der Griechen, deren Verhältnis zur Welt gleichzeitig theoretisch und ästhetisch ist; »denn die theoretische Anschauung ist ursprünglich die ästhetische, die Ästhetik die prima philosophia«62. Für die Alten ist »der Begriff Welt der Begriff des Kosmos, der Herrlichkeit, der Göttlichkeit selbst«63. Mensch und Welt befinden sich in Harmonie. »Wem die Natur«, so Feuerbach, »ein schönes Objekt ist, dem erscheint sie als Zweck ihrer selbst, für den hat sie den Grund ihres Daseins in sich«; er setzt als »Grund der Natur« eine »in seiner Anschauung sich betätigende Kraft«64. Freien Spielraum gewährt der Mensch dieser Stufe allein seiner Phantasie. »Er läßt hier«, betont Feuerbach, »indem er sich befriedigt, zugleich die Natur in Frieden gewähren und bestehen, indem er seine ... poetischen Kosmogonien nur aus natürlichen Materialien zusammensetzt.«65 Sobald dagegen, wie in der Moderne, der Mensch die Welt vom »praktischen Standpunkt« aus betrachtet, gar diesen zum theoretischen erhebt, »da ist er entzweit mit der Natur, da macht er die Natur zur untertänigsten Dienerin seines selbstischen Interesses, seines praktischen Egoismus«66.

Es ist klar, daß Feuerbachs Rekurs auf das vortechnisch-mythische Weltbild der Griechen kein bloßer Reflex romantischer Sehnsüchte ist. Feuerbach erinnert an die schon zu seiner Zeit vielfach verschüttete Möglichkeit, Natur nicht nur als Objekt der Wissenschaft oder Rohstoff zu erfahren, sondern »ästhetisch« im sinnlich-rezeptiven wie künstlerischen Sinn. Aneignende Praxis soll den Dingen zu Ausdruck und Sprache verhelfen. Dazu aber bedarf es eines philosophischen Ansatzes, der über die mit dem Subjekt-Objekt-Schema des Arbeits­ und Erkenntnisprozesses gesetzte Trennung von Mensch und Natur hinaus ist. Auszugehen wäre vom Naturganzen (und der Naturentsprungenheit des Menschen). Eben darin bestand nach Marx der »aufrichtige Jugendgedanke«67 Schellings. Im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie von 1799 wird der Natur »unbedingte Realität« zuerkannt: »Autonomie« und »Autarkie«. Natur, sagt Schelling, ist »ein aus sich selbst organisirtes und sich selbst organisirendes Ganzes«68.

Heuristisch brauchbar ist auch Engels’ These von der Natur als »Gesamtzusammenhang«69, als in sich reich gegliedertes System universeller Wechselwirkungen. Innerhalb dieses in originärer Selbstgegebenheit sich darbietenden Systems bildet der durch materielle Produktion vermittelte Austausch von Mensch und Natur nur eine von zahllosen Interaktionen. Dadurch wird der bisherige, an menschlicher Praxis und Geschichte orientierte Denkansatz nicht hinfällig, aber relativiert. Der historisch-dialektische erweitert sich zum »ökologischen Materialismus«.70 Dieser begreift, daß die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen umschlossen und getragen wird von einer elementarischen Dialektik von Erde und Mensch, den ungeschichtlichen Voraussetzungen aller Geschichte. Hierin bewährt sich der Gedanke, daß die Welt eine materielle Einheit bildet. – Viel wäre bereits gewonnen, wenn sich die Menschheit, unter Verzicht auf schrankenloses Wachstum, darauf einrichten könnte, künftig in besserem Einklang mit dem System der Natur zu leben.

Frankfurt am Main, Anfang April 1993                                            Alfred Schmidt

Anmerkungen zum Vorwort des Verfassers
zur französischen Ausgabe

1 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und ­Hermann Schweppenhäuser, Band I.3, Frankfurt am Main 1980, S. 1232.

2 Cf. hierzu Iring Fetscher, Überlebensbedingungen der Menschheit. Ist der Fortschritt noch zu retten?, München 21985, S. 110.

3 Cf. Alfred Schmidt, Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 31988, S. 32ff.

4 Engels an Marx, Brief vom 15. Dezember 1882, in: Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 425 (Hervorhebung von Engels).

5 Marx, Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, »New York Daily Tribüne«, Nr. 3840 vom 8. August 1853, in: Ausgewählte Schriften, Band I, Berlin 1964, S. 330.

6 Manifest der Kommunistischen Partei, in: ibid., S. 30f.

7 Ibid.

8 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf), Berlin 1953, S. 313.

9 Ibid.

10 Marx, Das Kapital, Band III, Berlin 1953, S. 873.

11 Cf. Fetscher, l.c., S. 120f.

12 Marx, Grundrisse, l.c., S. 387.

13 Ibid.

14 Ibid., S. 387; 388.

15 Cf. ibid., S. 79.

16 Ibid.

17 Ibid.

18 Ibid.

19 Ibid.

20 Ibid., S. 79f.

21 Ibid., S. 231; cf. auch S. 415. – Cf. zur historischen Notwendigkeit des »­Hindurchgangs« der Menschheit durch die kapitalistische Produktionsweise auch Fetscher, l.c., S. 115ff.

22 Marx, Grundrisse, l.c., S. 80.

23 Ibid., S. 231.

24 Marx/Engels, Werke, Band I, Berlin 1957, S. 375.

25 Marx, Das Kapital, Band III, l.c., S. 289.

26 Marx, Das Kapital, Band I, Berlin 1955, S. 531 (Hervorhebungen vom Verfasser).

27 Marx bezieht sich in diesem Zusammenhang (cf. ibid., S. 532) auf Justus von Liebig, dessen Buch Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur und Physiologie (71862) er dafür lobt, die »negative Seite der modernen Agrikultur ... vom Naturwissenschaftlichen Standpunkt« aus entwickelt zu haben. Cf. dazu auch Fetscher, l.c., S. 137.

28 Marx, Das Kapital, Band I, l.c., S. 531f. (Hervorhebungen von Marx). – Cf. hierzu auch die Theorien über den Mehrwert, wo es lapidar heißt: »Antizipation der Zukunft – wirkliche Antizipation – findet überhaupt in der Produktion des Reichtums nur statt mit Bezug auf den Arbeiter und die Erde. Bei beiden kann durch vorzeitige Überanstrengung und Erschöpfung, durch Störung des Gleichgewichts zwischen Ausgabe und Einnahme, die Zukunft realiter antizipiert und verwüstet werden. Bei beiden geschieht es in der kapitalistischen Produktion« (in: Marx/Engels, Werke, Band 26.3, Berlin 1968, S. 303).

29 Marx, Das Kapital, Band I, l.c., S. 532.

30 Marx/Engels, Werke, Band 26.3, l.c., S. 295.

31 Marx, Brief an Engels vom 25. März 1868, in: Marx/Engels, Werke, Band 32, Berlin 1965, S. 52f. (Hervorhebungen von Marx).

32 Marx, Das Kapital, Band II, Berlin 1955, S. 241. – Marx kommentiert hier Friedrich Kirchhofs Handbuch der landwirtschaftlichen Betriebslehre, Dessau 1852, S. 58.

33 Marx, Das Kapital, Band II, l.c., S. 241.

34 Marx/Engels, Werke, Band 20, Berlin 1968, S. 275f.

35 Ibid., S. 276.

36 Ibid.

37 Ibid.

38 Ibid., S. 455.

39 Ibid., S. 454.

40 Ibid., S. 452f; cf. hierzu auch S. 455.

41 Ibid., cf. S. 277.

42 Ibid., S. 453.

43 Ibid., S. 454. – Hinsichtlich der von Engels erwogenen Möglichkeit auch die Naturbeherrschung künftig lückenlos zu beherrschen, haben spätere Marxisten wie Max Adler sich mit Recht eher skeptisch geäußert. Adler warnt davor, »in die übliche und gedankenlose Verherrlichung des technischen Fortschritts zu verfallen, wie sie die bürgerliche Welt zu ihrer Berühmung und Rechtfertigung liebt«. Es bleibt zu beachten, »daß eine Möglichkeit sozusagen für den Einbruch der unbeherrschten Natur in das System der geregelten und beabsichtigten Naturwirkungen nicht nur immer bestehen bleibt, sondern, wo er gelingt, gerade infolge der größeren, aber momentan durchbrochenen Naturbeherrschung auch bedeutsam größere, ja manchesmal sogar katastrophale Wirkungen hervorruft« (Natur und Gesellschaft. Soziologie des Marxismus 2, Wien 1964, S. 81; 83).

44 Marx/Engels, Werke, Band 20, l.c., S. 454.

45 Ibid.

46 Marx, Das Kapital, Band III, l.c., S. 826.

47 Marx/Engels, Werke, Band 3, Berlin 1962, S. 5ff.; 42ff.

48 Cf. hierzu besonders das III. Kapitel, Abschnitt C): Weltkonstitution als historische Praxis. – In seinem Artikel Praxis (1973) hat der Verfasser die »praxeologische« Auffassung der Wirklichkeit näher entwickelt (in: Alfred Schmidt, Kritische Theorie. Humanismus. Aufklärung, Stuttgart 1981).

49 Am deutlichsten noch im Abschnitt B) des II. Kapitels, wo der Verfasser den »Stoffwechsel von Mensch und Natur« erörtert und dabei auch auf dessen Zusammenhang mit den komplexen Interaktionen innerhalb des Naturganzen zu sprechen kommt.

50 Marx/Engels, Werke, Band 3, l.c., S. 43.

51 Marx, Das Kapital, Band I, l.c., S. 8.

52 Marx/Engels, Werke, Band 20, Berlin 1968, S. 453.

53 Max Adler, Natur und Gesellschaft, l.c., S. 84.

54 Ibid., S. 83 f.

55 Marx/Engels, Ausgewählte Schriften, Band II, Berlin 1964, S. 11 (Hervorhebungen vom Verfasser).

56 Marx, Das Kapital, Band III, l.c., S. 879.

57 Martin Heidegger hat denn auch im Humanismusbrief den Marxschen Materialismus als Ausdruck einer weltgeschichtlichen Erfahrung des modernen Bewußtseins interpretiert und gegen »billige Widerlegungen« verteidigt. »Das Wesen des Materialismus«, betont Heidegger, »besteht nicht in der Behauptung, alles sei nur Stoff, vielmehr in einer metaphysischen Bestimmung, der gemäß alles Seiende als das Material der Arbeit erscheint. Das neuzeitlich­metaphysische Wesen der Arbeit ist in Hegels Phänomenologie des Geistes vorgedacht als der sich selbst einrichtende Vorgang der unbedingten Herstellung, das ist Vergegenständlichung des Wirklichen durch den als Subjektivität erfahrenen Menschen. Das Wesen des Materialismus verbirgt sich im Wesen der Technik« (Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den »Humanismus«, Bern 21954, S. 87f.).

58 Marx, Das Kapital, Band I, l.c., S. 47; cf. auch S. 186.

59 Cf. Alfred Schmidt, Humanismus als Naturbeherrschung, in: Jörg Zimmermann (Hrsg.), Das Naturbild des Menschen, München 1982, S. 301ff.

60 Cf. Alfred Schmidt, Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 31988, S. 46ff.

61 Marx/Engels, Werke, Band 3, l.c., S. 7.

62 Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke, hrsg. von Werner Schuffenhauer, Band 5, Berlin 1973, S. 206.

63 Ibid., S. 207.

64 Ibid., S. 206 (Hervorhebungen von Feuerbach).

65 Ibid., S. 207 (Hervorhebungen von Feuerbach).

66 Ibid. (Hervorhebungen von Feuerbach).

67 Marx an Feuerbach, Brief vom 3. Oktober 1843, in: Marx/Engels, Werke, Band 27, Berlin 1963, S. 420.

68 Schellings Werke, hrsg. von Manfred Schröter, Zweiter Hauptband, München 1927, S. 17.

69 Marx/Engels, Werke, Band 20, l.c., S. 307.

70 Diesen Begriff hat Carl Amerys Buch Natur als Politik. Die ökologische Chance des Menschen, Reinbek bei Hamburg 1976, in die wissenschaftliche und politische Debatte eingeführt (cf. S. 17ff.). – Der marxistische Materialismus, erklärt Amery, sei darin inkonsequent gewesen, daß er sich an »Leitvorstellungen aus der politischen Ökonomie« orientiert habe, die es nunmehr »theoretisch und praktisch« den »Leitvorstellungen der Ökologie« unterzuordnen gelte (S. 184). Habe der Materialismus sich bisher damit begnügt, »die Welt zu verändern«, so komme es jetzt »darauf an, sie zu erhalten« (S. 185). – Hieraus folgt, daß Amery hinsichtlich der utopischen Hoffnungen des traditionellen Marxismus erhebliche Abstriche empfiehlt. Die »Perspektive des konsequenten Materialismus« formuliert Amery folgendermaßen: »Versöhnung mit der Erde: das ist die Notwendigkeit, aus der konsequenter Materialismus erwächst und handelt. Nicht Ende der Entfremdung, nicht Fülle der Güter für den Menschen kann sein Ziel sein, sondern zunächst und vor allem eine Zukunftsordnung, die sich aus dem Respekt vor jeder Materie, auch nichtmenschlicher, ergibt. Gewiß, noch immer und stets gilt der Marxsche Satz, daß Natur dem Menschen vermittelt wird und auch die Einwirkung des Menschen auf die Natur (der bekannte ›Stoffwechsel‹) gesellschaftlich erfolgt. Aber dies sagt noch nichts über die Aufgaben aus, die sich die Gesellschaft als Vermittlerin stellt« (S. 166).

Zusätzliche Literatur

Adler, Max: Natur und Gesellschaft. Soziologie des Marxismus 2, Wien 1964 (aus dem Nachlaß).

Amery, Carl: Natur als Politik. Die ökologische Chance des Menschen, Reinbek bei Hamburg 1976.

Fetscher, Iring: Überlebensbedingungen der Menschheit. Ist der Fortschritt noch zu retten? München 21985.

Fraas, Carl: Klima und Pflanzenwelt in der Zeit, ein Beitrag zur Geschichte beider, Landshut 1847.

Harich, Wolfgang: Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der ›Club of Rome‹, Hamburg 1975.

Holz, Hans Heinz: Grundsätzliches zu Naturverhältnis und ökologischer Krise, in: »... einen großen Hebel der Geschichte«. Zum 100. Todestag von Karl Marx: Aktualität und Wirkung seines Werks, hrsg. vom Institut für Marxistische Studien und Forschungen, Frankfurt am Main 1983.

Ders.: Historischer Materialismus und ökologische Krise, in: Dialektik 9, Ökologie – Naturaneignung und Naturtheorie, Köln 1984.

Leiss, William: The Domination of Nature, New York 1972.

Liebknecht, Karl: Studien über die Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung, hrsg. von Ossip K. Flechtheim, Hamburg 1974 (Originalausgabe: München 1922).

Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung, in: Schriften, Band 8, Frankfurt am Main 1984.

Ders.: Konterrevolution und Revolte, Frankfurt am Main 1973.

Materialismus und Subjektivität. Aspekte ihres Verhältnisses in der gegenwärtigen Diskussion. Ein Gespräch zwischen Alfred Schmidt und Bernard Görling, in: Bernard Görling/ Alfred Lorenzer/Alfred Schmidt, Der Stachel Freud. Beiträge und Dokumente zur Kulturismus­Kritik, Frankfurt am Main 1980.

Parsons, Howard L. (ed.): Marx and Engels on Ecology, Westport, Conn. 1977.

Schmidt, Alfred: Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 31988.

Schmidt, Alfred: Humanismus als Naturbeherrschung, in: Jörg Zimmermann (Hrsg.), Das Naturbild des Menschen, München 1982.

Schmidt, Alfred: Praxis, in: Ders., Kritische Theorie. Humanismus. Aufklärung, Stuttgart 1981.

Woltmann, Ludwig: Der historische Materialismus, Düsseldorf 1900.