Steve Ayan

Locker

Warum weniger Denken mehr bringt

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von Artenauta / fotolia.

Hirngrafiken von Yousun Koh

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98049-3
E-Book: ISBN 978-3-608-10044-0
Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Vom Nutzen und Nachteil des bewussten Lebens

Zu viel des Guten

Was heißt hier denken?

Mut zur Selbstvergessenheit

Intermezzo: Wir Kontrollfreaks

1. Kapitel
SERENDIPITÄT oder Wie man dem Schicksal auf die Sprünge hilft

Worin wir einem exzentrischen Lord und seinem Geistesblitz begegnen, welcher besagt, dass manche Zufälle im Leben nicht so zufällig sind wie andere.

Unverhofft kommt oft

Eine Formel für Glückspilze

Im Bann der Aufmerksamkeit

Überforderte Willenskraft

Sich ablenken hilft

Erklär mir die Welt!

Intermezzo: Der Forscher

2. Kapitel
EMBODIMENT oder Warum der Körper mitdenkt

Welches zeigt, dass Sinn und Sinnlichkeit eng zusammenhängen und warum wir selbst dann oft das Richtige tun, wenn wir nicht wissen wie.

Gefühlter Geist

Nebenbei lernen

Wer überlegt, verliert

Was die Psyche stark macht

Mythen über Resilienz

Intermezzo: Die Sportlerin

3. Kapitel
INTUITION oder Was Es uns sagt

Welches zeigt, dass wir oft gerade das Richtige tun, wenn wir uns keinen Kopf darum machen.

Implizit zum Ziel

Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst

Entscheiden Sie sich jetzt!

Ein Herz für mich

Logik der Unvernunft

Kopf + Bauch = prima Ratio

Das flexible Ich

Intermezzo: Der Musiker

4. Kapitel
DEFAULT-MODE oder Wann Ihr Gehirn auf Leerlauf schaltet

Welches erklärt, wie man das Gewicht der Gedanken misst, warum wir uns nicht selbst kitzeln können und weshalb Tagträume besser sind als ihr Ruf.

Auf den Schultern eines Riesen

Wie frei sind wir wirklich?

Warum wir tagträumen

Eine unsichtbare Folie

Ich will so leiden, wie ich bin

Wer heilt, hat recht

Intermezzo: Der Philosoph

5. Kapitel
EPIPHANIE oder Die Macht der guten Momente

Welches Sie endgültig davon überzeugt, dass selbstvergessene Augenblicke mehr zählen als absolute Effizienz und Kontrolle.

Poesie des Augenblicks

Spiel dich schlau!

Diesseits des Jenseits

Vom Glück der Gewohnheit

Die guten Seiten schlechter Gefühle

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

Intermezzo: Die Schauspielerin

Ausblick
Die Zukunft unseres Denkens

Macht digital dumm?

Im Netz der Angst

Das SEIDE-Prinzip

Zehn Merkzettel für Eilige

Ein Irrtum, der uns oft im Weg steht

Zwei Arten zu denken

Drei Gründe, warum wir zu viel denken

Vier Dinge, über die wir am meisten grübeln

Fünf Säulen der Selbstvergessenheit

Sechs Ratschläge, die Kontraproduktiv sein können

Sieben Denkfallen, in die Sie besser nicht tappen

Acht Sachen, die (nebenbei) glücklich machen

Neun Gedankenbremsen für den Notfall

Zehn Gedanken, die man sich besser aus dem Kopf schlägt

Abkürzungsverzeichnis

Bücher zum Weiterlesen

Danksagung

Anmerkungen

Personenregister

Sachregister

Für Mira, die mich
das Staunen lehrt

»Manchmal sitze ich da und denke.
Und manchmal sitze ich nur da.«

David Hume

»Es ist recht sehr leicht, glüklich zu seyn
mit seichtem Herzen und eingeschränktem Geiste.«

Friedrich Hölderlin

Einleitung


Vom Nutzen und Nachteil des bewussten Lebens

Beginnen wir mit einem Experiment. Keine Angst, es ist ganz einfach: Stellen Sie sich bitte vor einen Spiegel und betrachten Sie sich selbst. Denken Sie dabei möglichst an gar nichts weiter, sondern konzentrieren Sie sich nur auf sich! Was geht dabei in Ihnen vor? Na los, worauf warten Sie?1

… Und?

Lassen Sie mich raten: Die Sache ging nicht lange gut. Ist dieses Fältchen da neu? Du wirst eben auch nicht jünger. Aber zum Frisör könntest du mal wieder gehen. Vielleicht am Wochenende. Ach, da sind wir ja bei Schmitts zu Besuch. Hoffentlich wird das nicht wieder so krampfig wie beim letzten Mal … – Sobald Sie bemerken, wie Ihre Gedanken abschweifen, holen Sie sie zurück. Was denkst du denn da? Konzentrier dich – auf dich! Kann doch nicht so schwer sein.

Aber ja, es kann! Seine Aufmerksamkeit voll und ganz auf sich zu lenken, ist eine Qual. Wir sind von Natur aus miserabel darin. Unser Denken tritt nicht gern auf der Stelle, sondern es schwärmt aus und produziert all die Geschichten, Pläne, Erwartungen, Wünsche und Sorgen, die unser Leben ausmachen. Mit viel Übung mag es gelingen, den mentalen Fokus zeitweise auf die innere Mitte zu heften (wo auch immer die ist). Und das Gefühl der Macht, das sich dabei einstellt, hat durchaus etwas. Wer würde nicht lieber seinen Geist beherrschen, als von ihm beherrscht zu werden? Aber das klappt nicht auf Dauer.

Der Strom Ihrer Gedanken reißt niemals ab. Nicht einmal nachts, wenn Sie schlafen, denn Ihr Gehirn ruht nie. Permanent ziehen Einfälle, Assoziationen und Bilder durch die Schluchten Ihrer Hoffnungen und Ängste, mäandern durch das Delta der Triebe und münden in den unermesslichen Ozean des Unbewussten. Das bewusste Ich, um im Bild zu bleiben, ist nur die Gischt auf dessen Wellen. Von dem Tohuwabohu in der Tiefe darunter bekommen Sie, dieses bewusste Ich, nichts mit. Und das ist auch gut so.

Kehren wir noch einmal zu unserem Experiment zurück. Sie stehen also vor dem Spiegel und horchen in sich hinein. Nur, wie machen Sie das eigentlich? Kurz gesagt: Sie versuchen, all das auszublenden, was Sie ablenken könnte – äußere Reize genauso wie gedankliche Assoziationen. In diesem Augenblick arbeitet jener Teil Ihres Gehirns auf Hochtouren, der den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit ausrichtet.2 Und das schlaucht! So sehr, dass die mentale Selbstkontrolle schon bald erlahmt.

Trotzdem bemühen wir sie andauernd. Denn ein Mangel an bewusster Kontrolle3 gilt heute als die Wurzel fast aller Übel. Ob Stress im Beruf oder Partnerprobleme, Übergewicht oder Umweltsünden, Misserfolg oder Sinnleere, um all dem vorzubeugen, so glauben wir, müsse man zuerst an der eigenen Haltung arbeiten. Mehr Achtsamkeit! Mehr Nachdenken! Mehr Bewusstsein(1)! So finde man zur inneren Harmonie und nebenbei rette man auch noch die Welt.

Viele Menschen hat ein regelrechter Bewusstseinsfimmel ergriffen: Sie glauben, nur wer alles bedenke und ganz »bei sich« bleibe, werde seines Lebens froh. Also gelte es, alles möglichst bewusst zu tun – bewusst arbeiten, bewusst entspannen, bewusst kommunizieren, bewusst einkaufen, bewusst essen, bewusst atmen, eben einfach bewusst leben. Ist das der Königsweg zum Glück?

Laut Psychologen, Hirnforschern und Verhaltensökonomen ist die Macht des bewussten Denkens eng begrenzt. Ihren Befunden zufolge erschöpft es nicht nur rasch, sondern es erweist sich oft als kontraproduktiv. Wer sich in den Fokus seiner Aufmerksamkeit nimmt und das eigene Tun bewusst zu steuern versucht, hat regelmäßig das Nachsehen: beim Lernen und Vergessen, beim Entscheiden und Schlussfolgern, beim Bewegen und im sozialen Umgang sowie bei dem Versuch, sein Verhalten zu ändern oder einfach Freude zu empfinden. So mancher steht sich mit dem gesteigerten Bewusstsein selbst im Weg(2).

Je stärker wir uns selbst kontrollieren, desto schwerer fällt es uns, echte Befriedigung zu finden. Statt uns dem Glück näher zu bringen, lässt uns die Konzentration aufs Ich häufig Chimären nachjagen. So paradox es klingen mag: In vielen Fällen haben wir tatsächlich mehr davon, wenn wir uns und unserem Tun weniger Aufmerksamkeit schenken. Und aus diesem Grund bemühen sich viele Menschen nicht etwa zu wenig darum, alles richtig zu machen, sondern zu sehr!

Ich möchte in diesem Buch zeigen, dass wir vielmehr aus den selbstvergessenen Momenten im Leben Kraft und Klarheit schöpfen. Wer auch einmal gedankenlos dahintreibt, wer nicht bedenkt, sondern sich zerstreut, Tagträumen nachhängt oder einer Leidenschaft frönt, der verschwendet damit gerade nicht seine Zeit, wie uns die Bewusstseinsgurus glauben machen wollen. Woher kommt die Idee, mehr Denken führe automatisch zu mehr Zufriedenheit und Erfolg? Und wie lautet die Alternative? Darum geht es in diesem Buch.

Zu viel des Guten

Das Merkwürdige am eingangs geschilderten Experiment ist, dass einem das, worauf man sich dabei konzentrieren soll, wie ein glitschiges Stück Seife immer wieder entwischt. Was bleibt übrig, wenn ich die großen und kleinen Dinge des Lebens, das vermeintlich Wichtige und das Abseitige, das mein Denken erfüllt, ausblende? Ich – das ist kein Ding, sondern eine Sichtweise: eben meine Art, die Welt zu betrachten, einschließlich aller Lücken, Verzerrungen und Schönfärbereien. Sobald ich den Blick von der Welt abwende, ist auch meine individuelle Sicht darauf passé. Das Subjekt braucht ein Objekt, um sich darin zu spiegeln.

Bevor es allzu philosophisch wird, halten wir fest: Das bewusste Nachdenken hat nicht immer Vorteile. Manchmal fördert es Fehler und Unruhe statt ihnen vorzubeugen. Denn unser Denken ist keineswegs so absichtsvoll und kontrolliert, wie wir glauben. Und weil wir es für mächtiger halten als es ist, sitzen wir so leicht dem Irrtum auf, mehr denken helfe immer.

In unserer vom Optimierungsstreben dominierten Zeit glauben viele Menschen, sie müssten alles durchdenken und im Griff haben: Warum sie gerade das tun, was sie tun, und wieso es ihnen gerade so geht, wie es ihnen geht, und wie sie noch besser, kompetenter und authentischer sein können. Bei alldem kommen sie jedoch nie an ein Ziel, denn jenes Ich, das sie optimieren wollen, und das Maß an Bewusstheit, von dem sie träumen, gibt es nicht.

Der Bewusstseinsfimmel ist so weit verbreitet, dass er fast jeden irgendwann einmal ergreift. Viele Beispiele in diesem Buch entstammen meinem eigenen überspannten Denken und bestimmt erkennen Sie sich oder Menschen aus Ihrem Umfeld – Freunde, Angehörige, Kollegen – darin wieder. Wir alle suchen hin und wieder die Stopptaste für unseren rastlosen Geist, doch kaum jemand vermutet sie im unbekümmerten Laissez-faire. Diese Fähigkeit brauchen wir heute aber dringender denn je.

Von den gut 4000 repräsentativ ausgewählten Deutschen, die am Freizeit-Monitor 2014 der Stiftung für Zukunftsfragen teilnahmen, nannten fast Dreiviertel (71 Prozent) »den eigenen Gedanken nachgehen« als einen ihrer häufigsten Zeitvertreibe.4 Das waren mehr als doppelt so viele wie 20 Jahre zuvor, bei der Erhebung von 1994 (29 Prozent). »Über wichtige Dinge reden« hat mit 63 gegenüber 28 Prozent ebenfalls stark zugelegt. Dagegen gab zuletzt nicht einmal mehr jeder Zehnte (7 Prozent) an, regelmäßig Freunde zu sich einzuladen oder eingeladen zu werden (1994 war es 28 Prozent). Zugleich führen »spontan sein« und »Freunde treffen« die Liste der unerfüllten Freizeitwünsche an. Sind wir so sehr mit uns beschäftigt, dass wir die schönen Dinge des Lebens darüber vergessen?

Natürlich müssen wir uns immer wieder auf uns besinnen. Anders wären wir kaum fähig, einer schnellen Verlockung zu widerstehen und übergeordnete Ziele zu verfolgen. Würden wir nicht unsere Aufmerksamkeit lenken, wären wir dem Feuerwerk der Eindrücke hilflos ausgeliefert. Angesichts der Informationsflut in Zeiten von Smartphone und Internet wissen wir oft nicht, wo uns der Kopf steht. Je mehr News, Posts, Apps und Adds auf uns einprasseln, desto mehr fragen wir uns, was wirklich zählt. Der Drang nach innen mag da verständlich sein, doch mehr Ruhe und Orientierung beschert er uns nicht.

Hinzu kommt das Primat der Selbstverbesserung: Wir haben gelernt, das Ich als Kapital zu betrachten; Stärken müssen genutzt und ausgebaut, Schwächen getilgt werden. »Man soll sein Können in möglichst viele Richtungen mobilisieren, um in den Vollbesitz seiner Möglichkeiten zu kommen«, erklärt der Soziologe Heinz Bude(1) den aktuellen Zeitgeist. »Daraus ergibt sich aber auch: Wenn man scheitert, dann nicht an den Grenzen, die einem gesetzt werden, sondern an sich selbst. (…) Das ist für viele Menschen ein echtes Problem, weil es eine Stimmung der Angst erzeugt, der Sorge zu versagen.«5

Glück empfinden wir allerdings vor allem dann, wenn wir gerade nicht bei uns, sondern außer uns sind. Wenn wir uns mit anderen verbunden fühlen, eine Einsicht oder eine zündende Idee in uns aufblitzt, wenn wir uns einer Lust hingeben, sei es dem Rausch der Bewegung, der Musik, des Spielens oder der Liebe, oder wenn wir an etwas teilhaben, das unser eigenes Dasein übersteigt. Solche Erfahrungen lassen sich nicht herbeizaubern, aber man kann ihnen den Boden bereiten. Wie, das soll dieses Buch ein wenig zu verstehen helfen.

Die Forschungsergebnisse, die ich dafür gesichtet habe,6 machen deutlich: Das bewusste Denken ist widerspenstiger, als wir meinen. Ein Beispiel dafür gab der Psychologe Daniel Wegner(1) von der Harvard University bereits vor fast 30 Jahren. Wer versucht, nicht an einen weißen Bären zu denken – so die Aufgabe in Wegners Experiment(2) –, dem erscheint dieses Bild fast unvermeidlich vor dem inneren Auge.7 Dieses Phänomen ging als der White-Bear-Effekt in die Fachliteratur ein. Es ist nur eine von vielen Paradoxien und Denkfallen, die uns im Alltag begleiten. Sie offenbaren nicht nur eine Menge über die Natur unseres Geistes, sondern haben auch praktische Konsequenzen. Um etwa gesünder zu essen oder das Rauchen aufzugeben, sollte man sich mental nicht zu sehr darauf einschießen; denn wer partout nicht an sein Laster denken will, tut es gerade darum umso eher – und kommt schwerer davon los. Um schlechte Gewohnheiten abzulegen, bedarf es deshalb weniger eines eisernen Willens als vielmehr der richtigen Ablenkung!

Ist jene »böse« Zerstreutheit, die wir so gerne beklagen, vielleicht gar nicht schlimm? Hat unser fahriger Geist sogar etwas für sich? Ich meine: Ohne das Übermaß an Bedenken und Nöten, welches uns der Bewusstseinsfimmel einflößt, entpuppt sich das unglückliche, weil gedankenlose Ich als Klischee.

Was heißt hier denken?

Die berühmte Skulptur »Der Denker« von Auguste Rodin(1) (1840–1917) steht sinnbildlich für den menschlichen Geist. Was die wenigsten wissen: Rodin konzipierte die Figur ursprünglich als Teil eines Höllentors, das unvollendet blieb. 1880 wurde der Bildhauer beauftragt, das Eingangsportal zum geplanten Kunstgewerbemuseum am Gare d’Orsay in Paris zu entwerfen. Es sollte ein Flachrelief nach Motiven aus Dante Alighieris(1) Die Göttliche Komödie werden. Die Museumspläne ließ man aus Geldmangel zwar bald fallen, Rodin aber inspirierte die »Porte de l’enfer« zu einigen seiner schönsten Werke wie »Der Kuss« und eben »Der Denker(2)«.

Die Gestalt des Sinnenden, der in gebückter Haltung, den Kopf auf die Faust gestützt, in die Tiefe blickt, sollte Dante selbst darstellen, wie er die Geknechteten betrachtet. Wacht er über sie? Grübelt er über die Ursachen der Pein? Oder gehört er selbst zu jenen Leidenden, in deren Reigen er sich so harmonisch einfügt? Diese Spannung macht den Reiz des Kunstwerks aus(2).

Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Denken sind natürlich nicht dasselbe, und man sollte sie nicht in einen Topf werfen. Wenn wir sagen, wir würden etwas »bewusst tun«, meinen wir damit dreierlei: Dass wir ganz auf das jeweilige Tun fokussieren und uns nicht ablenken lassen, dass wir es kontrollieren und steuern, es uns also nicht nur unterläuft, und dass wir es mit Bedacht ausführen, das heißt, alle relevanten Faktoren und möglichen Folgen einkalkulieren. Fokus, Kontrolle und Bedachtheit heißen die Ideale derer, die am Bewusstseinsfimmel leiden.

Die Sache hat nur einen Haken: »Denken« bezeichnet eine Tätigkeit, die ebenso bewusst wie unbewusst ablaufen kann – obwohl wir in der Alltagssprache damit meist nur die erste Variante meinen (in diesem Sinn ist das Wort auch im Untertitel dieses Buches gebraucht). Traditionell verstehen Psychologen unter Denken das zielgerichtete Lösen von Problemen, eine Art geistiges Probehandeln, das es uns erlaubt, Szenarien durchzuspielen. Vom konvergenten(1), auf ein Ziel gerichteten Denken (etwa aus zwei Prämissen einen logischen Schluss ziehen) unterscheiden sie das divergente(1), das kreative Einfälle hervorbringt. Beide Formen – nachdenken und ausdenken – gehen im Alltag fließend ineinander über. Dass Fakten und Fiktionen dabei leicht verschwimmen, hat eine weitreichende Konsequenz: Nicht nur der Schlaf der Vernunft gebiert Gespenster, sondern auch ihr Übereifer!

Eine weitere wichtige Differenzierung ist die zwischen denken, grübeln(1) und sich sorgen. Sorgen sind in die Zukunft gerichtet und meist von diffuser Angst geprägt: Und wenn ich meinen Job verliere? Wenn meine Beziehung zerbricht? Könnte ich eine schlimme Krankheit bekommen? Oder einen großen Fehler begehen? Grübeln nimmt dagegen eher Vergangenes ins Visier – verpasste Chancen oder bestimmte Ereignisse, etwa was andere gesagt oder getan haben. Dabei wälzt der Grübler immer wieder die gleichen, unbeantwortbaren Fragen und gerät mit jedem Versuch, sie zu klären, tiefer in eine Abwärtsspirale. Am Ende steht oft die Selbstverurteilung: Jetzt grübelst du wieder und bleibst doch dumm; nicht einmal dazu taugst du!

Jeder grübelt ab und zu, das ist ganz normal. Zum Problem wird es allerdings dann, wenn das Gedankenkarussell gar nicht mehr stillsteht und das Grübeln zwanghaft wird. Wo die Grenze zwischen tolerierbaren Bedenken und übersteigerter Grübelei(2) verläuft, weiß allerdings niemand. Einzig der Leidensdruck des Einzelnen entscheidet. Was uns zu der Frage führt: Leiden die Opfer des Bewusstseinsfimmels überhaupt? Die Krux am Zu-viel-Denken ist tatsächlich, dass viele es nicht für ihr Problem, sondern für die Lösung halten. An notorischen Grüblern lässt sich das gut beobachten: Sie bemerken ihr Grübeln zunächst entweder kaum oder sie bewerten es positiv. Sie haben das fragliche Thema nur noch nicht richtig, nicht ausgiebig genug durchdacht(3).

Verabschieden wir uns davon, dass nur der richtig lebe, der sein wahres Ich kennt und alles kontrolliert. Es gibt kein wahres Ich. Und wir können niemals alles kontrollieren. Statt darüber zu verzagen, sollten wir begreifen: Weniger ist mehr! Nur wer sich vergisst, findet zu sich.

Mut zur Selbstvergessenheit

Vor einigen Jahren beschrieb ich den modernen Psychokult als eine Quelle vieler Seelennöte.8 Als Gegenmittel empfahl ich damals mehr Selbstvergessenheit(1) – nur was das sei, führte ich nicht näher aus. Seitdem beschäftigte mich die Frage, wie das Nichtdenken unser Leben bereichert und wie wir es im Alltag kultivieren können.

Sich selbst vergessen bedeutet laut Wörterbuch »so konzentriert auf seine Gedanken oder auf eine Tätigkeit sein, dass man nicht merkt, was um einen herum passiert«.9 Die Synonyme sind überwiegend negativ konnotiert: gedankenlos, zerstreut, geistesabwesend. Selbstvergessenheit hat einen schlechten Ruf, obwohl wir doch wissen, wie berauschend sie sein kann. Jene seligen Augenblicke der Kindheit, als man ganz im eigenen Tun aufging, erscheinen uns rückblickend als Brennpunkte des Glücks, und so mancher wünscht sich, er könnte noch einmal so bedenkenlos in eine Sache vertieft sein.

Andererseits fürchten wir uns aber auch davor. Wer sich hingibt, der ist schließlich nicht mehr Herr über sich; er macht eine Reise ins Ungewisse, ohne Lenkrad und Bremse. Dieses Buch soll Mut machen, der Selbstvergessenheit zu trauen. Denn sie beschert sie uns oft die machtvollsten Erfahrungen im Leben(2).

Wir halten uns für rationale Wesen, die effizient Informationen verarbeiten und Probleme lösen. Dabei übersehen wir jedoch das unberechenbare Moment, das in uns steckt. Gehirne kommen nur per Versuch und Irrtum ans Ziel, das unterscheidet sie grundlegend von Computern. Anders als ein Rechner, der die ihm einprogrammierten Schritte abspult, ist der Mensch von Natur aus ein Schlendrian, ein Durchwurstler. Das ist sogar wissenschaftlich erwiesen!

So stieß ich bei der Recherche zu diesem Buch auf eine Vielzahl von Laborexperimenten und Feldstudien, die ein verbreitetes Dogma entkräften: Wir müssen nicht alles im Griff haben. Und wir sollten uns auch nicht über alles den Kopf zerbrechen. Die Dosis macht das Gift, wusste schon der Humanist und Arzt Paracelsus(1) (1493–1541), und dieser Grundsatz gilt auch für unseren Geist. Lassen wir uns nicht weismachen, mehr Bewusstsein helfe immer. Statt dem Glück hinterherzurennen, sollten wir ihm Gelegenheit geben, unseren Weg zu kreuzen.

Zwei Missverständnisse will ich gleich zu Beginn ausräumen: Erstens heißt Selbstvergessenheit(3) nicht, alles Nachdenken und Selbst-Reflektieren einzustellen. Wie auch? Es geht nicht darum, ignorant durchs Leben zu stolpern (zumal man sich nicht aussuchen kann, wie ignorant man sein will). Die Zähne zusammenbeißen und Probleme beiseite schieben ist ebenso wenig Sinn der Sache. Es geht darum, was uns wirklich weiterhilft: Gedankenakrobatik oder Lockerlassen?

Und zweitens ist dieses Buch kein Ratgeber zum Umgang mit seelischen Notlagen. Bei gravierenden Leiden sollten Sie einen gut ausgebildeten Psychologen oder Mediziner aufsuchen. Gleichwohl ist es häufig auch im Rahmen einer Psychotherapie sinnvoll, Formen des selbstvergessenen Tuns wiederzuentdecken. Im Augenblick aufzugehen, ohne Hintergedanken und ohne Plan – das tut der Psyche gut und kann sogar ihre Heilung fördern.

Selbstvergessenheit(4) stellt sich freilich nicht per Knopfdruck ein. So wie man nicht vorsätzlich spontan sein kann, kann man auch nicht bewusst abschalten. Wir können nur einen Rahmen dafür schaffen, Rituale und andere Formen gedanklicher Auszeiten pflegen oder uns mit Hilfe anderer Menschen oder bewegender Momente von der Fixierung aufs Ich lösen.

Was Menschen glücklich macht, weiß im Grunde jeder. Nicht Geld, sondern Erfahrungen. Nicht Besitz, sondern Beziehungen. Teilen statt horten. Helfen und Hilfe erhalten. Dankbar sein. Lob und Anerkennung bekommen und anderen spenden. Etwas schaffen. Gemeinschaft erleben. Den eigenen Körper spüren. Sich überwinden. Krisen meistern. An etwas glauben. Den Weg wichtiger nehmen als das Ziel. Wir wissen auch: Glück bleibt nicht. Es ist nicht von Dauer, sondern kommt und geht. Das alles wissen wir nur zu gut. Warum handeln wir nicht danach?

Weil wissen und tun verschiedene Paar Stiefel sind. Wir sollten uns nicht über Kleinigkeiten ärgern, trotzdem passiert es uns ständig. Wir sollten Nachsicht üben, aber wir gehen hart mit uns und anderen ins Gericht. Zeigt das nicht gerade, dass uns Selbstvergessenheit(5) eher schadet? Ist nicht die Gedankenlosigkeit unser Problem? Wenn ich Sie vom Gegenteil überzeugen könnte, wäre ich glücklich.

Festhalten und loslassen, anstrengen und entspannen, sich konzentrieren und sich ablenken – zwischen diesen Polen bewegt sich unser Leben. Es zu gestalten, bleibt jedem selbst überlassen. Dafür gibt es kein Patentrezept, keine To-do-Liste zum Auswendiglernen. Wir brauchen keinen »Fahrplan« zum Glück, denn man findet es eher, je weniger man danach sucht.

Und das erwartet Sie im Folgenden: Zunächst werfen wir einen Blick darauf, warum wir die besten Ideen oft dem Zufall verdanken und wie er sich bezirzen lässt. Viele großartige Einsichten und Durchbrüche gehen auf ein Phänomen namens Serendipität(1) zurück, glückliche Fügungen, die unvorhersehbar, aber gewissermaßen reif waren. Und man kann ihnen sogar nachhelfen!

Das zweite Kapitel erklärt, warum unser Geist längst nicht so kühl und abstrakt arbeitet, wie wir glauben. Die Erkenntnis, dass unser Körper mitdenkt, steht im Zentrum der Embodimentforschung. Ihre Resultate haben weitreichende Folgen für unseren Alltag.

Das dritte Kapitel verrät, weshalb der Gegensatz zwischen Bauchgefühl und rationalem Abwägen eine Illusion ist, und warum man eine vertrackte Angelegenheit, nachdem man sich eine Weile mit ihr beschäftigt hat, am besten ruhen lässt und sich auf andere Gedanken bringt.

Im vierten Kapitel steigen wir in die Tiefen des Gehirns hinab und ergründen, weshalb es niemals ruht, sondern laufend assoziiert und nach vorne blickt.

Das fünfte und letzte Kapitel schließlich ist der Tatsache gewidmet, dass die schönsten Momente solche sind, in denen das Denken einmal Pause macht.

Die hier dargelegte Sicht auf unsere bewusste Handlungssteuerung mag überraschen, vielleicht sogar verstören. So sehr sind wir gewohnt, Denken und Bewusstsein für Garanten des guten Lebens zu halten, dass es schwerfällt, sich davon zu lösen. Und natürlich stellt sich dann automatisch die Frage, wie wir uns anders als mittels willentlicher Anstrengung auf den Alltag einstellen können. Auch das werde ich zu beantworten versuchen.

Sie können dieses Buch nicht zuletzt auch als Sprungbrett zum Weiterlesen benutzen; dazu dienen die Anmerkungen und Literaturhinweise am Schluss. Wie ich aus eigener Erfahrung weiß, fehlt uns ja oft nur der richtige Anstoß, um über das eigene Denken hinauszusteigen.

Vielleicht hilft dabei auch ein Bild: Stellen Sie sich vor, das Leben sei ein Klettergerüst. Wir hangeln uns von Holm zu Holm, stets hoffend, dass wir den nächsten zu fassen kriegen. Die Kunst besteht darin, im richtigen Moment loszulassen. Denn wer sich festklammert, verliert den Schwung, den er braucht, um voranzukommen.

Hep, hep, hep!

Intermezzo: Wir Kontrollfreaks

(aus einem Internetforum)10

andersanders:

Hi, ich hab ein ziemliches Problem mit mir! Ich bin ununterbrochen am Denken – über mich selber, über das, was andere über mich denken, über den Sinn des Lebens, darüber warum man denkt, wie man denkt, wo der Ursprung des Verhaltens liegt, warum man sich benimmt, wie man sich benimmt, ob es angemessen ist zu lachen nach einem Witz, wie man die Welt und die Menschen verbessern könnte, ob ich richtig gehe beim Gehen, ob ich beim Schreiben alles richtig geschrieben hab, wie sich mein Gehirn verhält, wenn ich einschlafe. Diese ununterbrochenen Gedankengänge erschweren mir das Zusammenleben mit der Umwelt erheblich (und ich bin keiner, der irgendwie isoliert von der Außenwelt ist). Die Folgen vom zu vielen Denken sind unter anderem Konzentrationsschwierigkeiten, Übermüdung und Depressionen. Die einzigen Momente, in denen ich nicht denke, sind wenn ich sehr viel Alkohol trinke – dass dies keine Lösung ist, ist mir auch klar. (…) Meine Frage ist, ob ich mich einfach damit abfinden muss, dass ich ein Träumer oder einfach nur depressiv bin, oder gibt es irgendeine Erkenntnis, die mir fehlt?

Kerry2:

Kann es sein, dass du so viel denkst, weil du glaubst, alles kontrollieren zu müssen?

Mittagsstern:

Was hältst du davon, dein Denken auf ein Ziel zu richten? Denken an sich ist ja nicht verkehrt, aber es sollte niemals gegen sich selbst gerichtet sein. Viele Fragen, die du stellst, beschäftigen sich mit dem Sinn des Lebens, wende dich doch entsprechender Literatur zu, damit du deinem Gehirn Futter gibst und durch die Erkenntnisse zu dir selber finden kannst.

tinchen078:

So geht es mir auch … oder ging! Ist schon besser geworden, ich wache allerdings morgens schon mit einem megavollen Kopf auf. Bin, während ich aufwache, schon am denken und überlegen, so dass ich mir teils denke: Jetzt hör auf zu denken, das ist ja nicht normal!

sophie:

Deine Berichte erinnern mich stark an mein eigenes Leben. Die Perfektion, die ich nach außen zeigen möchte, die Selbstkontrolle, auch die der Körpersprache usw. (…) Heute weiß ich, dass es durch einen Mangel an Selbstwertgefühl ausgelöst wurde. Ich hatte ständig das Gefühl, nicht so gut zu sein, wie meine Umwelt mich haben wollte (ich bildete es mir ein). Ich habe viel an mir gearbeitet, genieße heute den Tag und bin nicht schon beim nächsten Morgen, bevor er angefangen hat. (…) Manchmal schreibe ich auch die Gedanken auf, die mich nicht loslassen, dann kann ich sie aus meinem Kopf verbannen. Vielleicht hilft auch dir das.

andersanders:

Ich denke immer, dass alle anderen in allem besser sind und dadurch stresse ich mich, aus Angst zu versagen. Wobei mich dieser Stress, glaube ich, versagen lässt. Aber ich werde es mal versuchen, nur das Positive aus einem Tag zu ziehen, wobei ich diese positiven Gedanken nur sehr schwer aus den überwiegend negativen Gedanken befreien kann. Denn auch, wenn ich was gut gemacht habe, denke ich kurze Zeit später an etwas, das meiner Meinung nach schlechter und wichtiger war!

The_Master:

Auch ich habe Probleme mit Kontrolle. Wenn ich keine Kontrolle habe, fühle ich mich ausgeliefert. (…) Ich denke mir seit Kurzem: Hey, diese Gedanken, Gefühle bist nicht vollständig du. Es sind nur doofe Gedanken, Gefühle. Nicht mehr. Ich falle nicht auf diesen »Angstkreislauf« rein! Durch diese Technik beruhige ich mich und die Gedanken verschwinden und tauchen dann auch nicht mehr so oft auf.

1. Kapitel


SERENDIPITÄT(2) oder Wie man dem Schicksal auf die Sprünge hilft

Diese Geschichte beginnt am 28. Januar 1754. Ihre Protagonisten sind ein exzentrischer englischer Lord, drei indische Prinzen und ein wiedergefundenes Maultier, das eigentlich ein Kamel war. Doch der Reihe nach.

An jenem Wintertag vor gut 260 Jahren schrieb Sir Horace Walpole(1) (1717–1797), der vierte Earl of Orford, auf seinem Landsitz Strawberry Hill bei London einen Brief an seinen Freund Horace Mann(1). Die beiden hatten sich 14 Jahre zuvor kennen gelernt, als Walpole auf seiner »Grand Tour« durch Frankreich und Italien in Florenz Station gemacht hatte. Mann war dort lange Zeit britischer Botschafter beim Großherzogtum Toskana, das nach dem Tod des letzten Medici 1738 an die Habsburger gefallen war.

In seinem Brief berichtete Walpole seinem Freund von einer Entdeckung, die er kurz zuvor gemacht habe: In einem Band über Wappenkunde war er auf die gleichen Insignien gestoßen, welche in einem Porträt Bianca Cappellos(1) (1548–1587) auftauchten, das Mann(2) ihm aus der Toskana zugesandt hatte. Das Bildnis zeigte die Großherzogin, die aus einem venezianischen Adelsgeschlecht stammte, wohl in reich verzierter Robe(2).

Vor lauter Begeisterung über diesen an sich unspektakulären Fund (man stelle sich Walpole als ebenso gelehrten wie verschrobenen Aristokraten vor) bezeichnete er ihn als Fall von serendipity – ein Wort, das er kurzerhand selbst erfand. Denn wie es der Zufall wollte,11 erinnerte ihn die Sache an ein »albernes Märchen«, das er als Kind gelesen hatte: »Die drei Prinzen von Serendip«.

Serendip(3) ist Sanskrit und ein alter Name für Ceylon, das heutige Sri Lanka. Dort spielt die Prinzensaga, die Walpole(2) als Knabe in die Finger bekommen hatte und die ihm beim Verfassen des Briefes wieder in den Sinn kam. Das Original stammte vermutlich aus dem Persien des 13. Jahrhunderts. Durch eine italienische Übersetzung von 1557, der 1583 auch eine deutsche folgte, verbreitete sich das Märchen in Europa. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts machte es unter gebildeten Briten die Runde, die zu jener Zeit von allem Orientalischen entzückt waren.12

»Die drei Prinzen von Serendip« schildert die Abenteuer der Söhne des weisen Königs Jafer, die in die Fremde ziehen, um ihre Bildung zu vervollkommnen und andere Sitten kennen zu lernen. In mehreren Episoden ziehen die drei in Sherlock-Holmes-Manier kuriose Schlüsse aus Beobachtungen entlang des Weges. Wie sich Walpole zu erinnern meint, hätten die Prinzen etwa erkannt, dass auf der Straße vor ihnen ein Maultier unterwegs gewesen sei, das auf dem rechten Auge blind war.

Tatsächlich treffen die drei in der Geschichte einen Kameltreiber, der eines seiner Tiere vermisst. (Hier spielte Walpole(3) das Gedächtnis einen Streich: Er machte aus dem Höckertier ein für Engländer geläufigeres Maultier.) Auf die Frage, ob sie den Ausreißer gesehen hätten, schütteln die Prinzen den Kopf – und erwidern: Ist das Tier auf einem Auge blind? Der Mann bejaht. Fehlt ihm ein Zahn? Stimmt auch. Und lahmt es? Wieder richtig! Woher sie das alles wüssten, fragt der Mann verblüfft. Sehr einfach, so die Brüder: Nur links des Weges sei gegrast worden, also musste das Tier rechts blind sein. Verstreute Büschel, die ihm beim Fressen aus dem Maul gefallen waren, offenbarten den fehlenden Zahn. Und dass das Tier lahmte, verrieten Schleifspuren im Sand.

Als die Suche nach dem Kamel zunächst erfolglos bleibt, glänzen die Prinzen mit immer neuen Details. Das Tier sei auf der einen Seite mit Butter, auf der anderen mit Honig beladen, erklären sie, und es trage eine Schwangere. Schließlich findet der Besitzer dank der Prinzen sein Tier samt Ladung und hochschwangerer Frau wieder.

Das also ist die Entstehungsgeschichte des Wortes serendipity(4). Doch zunächst schlummerte Walpoles Trouvaille viele Jahre in Manns(3) Briefschatulle in Florenz. Es blieb bei der einmaligen Erwähnung im besagten Schreiben; weder der Autor noch sein Adressat nahmen je wieder darauf Bezug. Was insofern bemerkenswert ist, als die beiden Männer in den folgenden Jahren noch einige Hundert Briefe wechselten.

Bekannt wurde die geniale Wortschöpfung erst viel später: Im Jahr 1833 erschien Walpoles gesammelte Korrespondenz in Buchform, gefolgt von einer zweiten Sammlung 1857, die seinen Ruhm als »bester Briefschreiber des 18. Jahrhunderts« begründete. Walpole(4) wurde stilprägend für das Genre – und beinahe unbemerkt trat die Serendipität aus dem privaten Sprachschatz eines exzentrischen Lords ans Licht der Öffentlichkeit.

Unverhofft kommt oft

Dezember 2014. Auf einer Zugfahrt blättere ich im Mobil-Magazin der Bahn. Mein Blick fällt auf eine Anzeige – der Heyne-Verlag wirbt in Pastelltönen für den Liebesroman Ein Kuss zu viel von Carly Phillips.13 Neben dem Cover prangen drei Wörter: »Sexy, spannend, Serendipity«. Aha! Wie viele Leser damit wohl etwas anfangen können?

Serendipität(5) – oft im englischen Original gebraucht – ist zu einem Buzzword geworden, zu einem Modebegriff, der öfter verwendet als verstanden wird.14 Denn er scheint auf fast alles zu passen, was irgendwie mit Glück und Zufall zu tun hat: eine unerwartete Wendung, die Erfüllung eines alten Traums, eine Verkettung günstiger Umstände.

Anders als man vermuten könnte, hat »serendipity« etymologisch nichts mit »serenity« (Heiterkeit) zu tun; dennoch klingt darin eine Note freudigen Erstaunens an. Das Oxford English Dictionary definiert den Begriff als »das Talent, glückliche und unerwartete Zufallsentdeckungen zu machen«. Ein anderes großes Wörterbuch des Englischen, das amerikanische Webster’s New International Dictionary, spricht von der »Gabe, wertvolle oder vorteilhafte Dinge zu finden, die man nicht gesucht hat«.

Serendipität heißt zu entdecken, worauf man gerade nicht aus war. Laut einem beliebten Bonmot ist das so, als würde man in einen Heuhaufen springen, um die Nadel zu finden – und mit der Tochter (oder dem Sohn) des Bauern herauskriechen. Kein Lottogewinn, keine lang ersehnte Liebe oder errungene Beförderung also, sondern ein Scheitern, das sich als Glücksfall entpuppt. Darin liegt der Hintersinn des Wortes: Der eigentliche Plan geht schief, doch dafür wird man mit etwas anderem belohnt. Im Deutschen würde man am ehesten vom Glück des Tüchtigen sprechen, was allerdings die ironische Note unterschlägt.

Serendipität(6) beschreibt zudem weniger das Ereignis als vielmehr die Fähigkeit, den Zufall zu bezirzen. Dafür muss einiges zusammenkommen: Experimentierfreude, Beobachtungsgabe und Offenheit sowie auch eine gute Portion Erfahrung. Diese Eigenschaften ergeben eine typische Konstellation, eine mentale Grundeinstellung, die Louis Pasteur(1) (1822–1895) als »vorbereiteten Geist« bezeichnete. Dieser ist für bahnbrechende Entdeckungen und Einsichten besonders empfänglich.

Die Auslöser sind meist subtil – eine kleine Anomalie, eine überraschende Beobachtung. Wie etwa jene, über die Wilhelm Conrad Röntgen(1) (1845–1923) bei Experimenten in seinem Würzburger Labor 1895 stutzte. Der Physiker hantierte mit der damals gerade in Mode gekommenen Kathodenstrahlröhre – einem Glaskolben mit einem Vakuum im Innern, an den man eine elektrische Spannung anlegte. Daraufhin traten zwischen den Elektroden faszinierende Farbenspiele auf, die das Interesse vieler Tüftler weckten.

Eines Tages bemerkte Röntgen bei Versuchen mit seiner Röhre ein grünliches Schimmern. Es trat erstaunlicherweise am anderen Ende der Apparatur auf – außerhalb des Gefäßes! Das Entscheidende war nun, dass Röntgen der Sache auf den Grund ging. Selbst Gegenstände, die weiter von der Röhre entfernt waren, begannen auf einmal zu leuchten, wenn man sie richtig platzierte.

Röntgen bestrahlte alle möglichen Objekte mit dem unsichtbaren Licht. Manche, darunter menschliche Gliedmaßen, ließen sich regelrecht durchleuchten. Die Hand von Röntgens Frau Berta war der erste Körperteil in der Geschichte, von dem ein »Röntgenbild« entstand. Für seine Entdeckung wurde Röntgen(2) 1901 mit dem ersten Nobelpreis für Physik geehrt.

Eine Fülle(7) solcher Zufallscoups aus Wissenschaft und Technik trug der Journalist Martin Schneider(1) zusammen.15 Vermutlich haben Sie heute selbst schon mit einigen davon hantiert, ob beim Löffeln Ihres Frühstückseis, beim Packen Ihrer Tasche oder als Sie einen Merkzettel an die Kühlschranktür klebten. Edelstahl, Klettverschluss und Post-its kamen ebenso unverhofft zustande. Wie Schneider(2) erläutert, hatten ihre Erfinder die Gabe, das vermeintlich Abseitige in den Blick zu nehmen.

Heute ist Serendipität Gegenstand vieler Forschungsrichtungen. Soziologen und Wissenschaftshistoriker, aber auch Psychologen, Informations- und Medienwissenschaftler nehmen sich ihrer an. Der niederländische Mediziner und »Serendipitologe(8)« Pek Van Andel(1) hat mehr als 1000 Beispiele gesammelt und ausgewertet.16