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Gianluca Falanga

Italien
Ein Länderporträt

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Gianluca Falanga

Italien

Ein Länderporträt

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An S.

quando l’ora è blu
gli dei stanno a guardare

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über www.dnb.de abrufbar.

2. Auflage als E-Book, August 2016
entspricht der 3., aktualisierten Druckauflage vom Juli 2016
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Cover: Stephanie Raubach, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von iStock, © iStock/deimagine
Lektorat: Günther Wessel, Berlin

eISBN 978-3-86284-347-3

Inhalt

Italien: halb Garten und halb Kerker

Italienische Zustände

Die Palmengrenze

Zukunftsängste

Altes Land, junge Nation: eine kurze Geschichte Italiens

Das Risorgimento: die Geburtsstunde der italienischen Nation

Ein beschämendes Made in Italy: der Faschismus

Geburtsfehler einer unvollendeten Demokratie

Don Camillo und Peppone: das Italien der zwei »Kirchen«

Aufbruch und Terror: die 70er Jahre

Von der Ersten zur Zweiten Republik: die Stunde des Cavaliere

Mafia heißt Politik: Geschichte eines Krebsgeschwürs

Die Stabilität des Chaos: Demokratie auf Italienisch

Die Italiener und ihre Herrscher

Demokratieabbau?

Im Gleichgewicht: die Gesellschaft der Dauerkrise

Die Familie über alles

Beunruhigende Anzeichen

Der Papst und die Italiener

Als Frau in einer Männergesellschaft

Armut und Reichtum in einer unzivilen Gesellschaft

Die Moral der Ausnahme

Homo italicus: Macken und Leidenschaften des Italieners

Die Italiener und das Fernsehen

Die Italiener und das Gesetz

Die Italiener und die Religion

Die Italiener und die Freundschaft

Ein Land als Weltkulturerbe: Kunst und Kultur in Italien

Historische Verantwortung: italienische Kulturpolitik

Kunst: zwischen Einmischung und politischer Apathie

Eine alltägliche Kunst: die Italiener und das Essen

Anhang

Literaturverzeichnis und Lesetipps

Nützliche Informationen

Basisdaten

Über den Autor

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»Schade, dass man hier nicht dauernd leben kann. Von diesen kurzen Besuchen hat man nichts als ungestillte Sehnsucht und die Empfindung der Unzulänglichkeit auf allen Seiten.«

Sigmund Freud

Italien: halb Garten und halb Kerker

Womit soll ich anfangen, will ich deutschen Lesern von Italien berichten? Was weiß man hier von, was versteht man unter Italien? Obwohl das Stiefelland zu den von den Deutschen am meisten besuchten Ländern der Welt gehört, ist es augenscheinlich ziemlich wenig. Gehen wir also auf Nummer sicher und beginnen mit Goethe.

Der größte deutsche Dichter kam dreimal nach Italien. In die Geschichte eingegangen ist die erste Reise, die er Anfang September 1786 unternahm, als er Weimar bei Nacht und in aller Heimlichkeit in Richtung Süden verließ. Es war eine Flucht. Goethe war nicht nur ein anerkannter Dichter, sondern auch Geheimer Legationsrat, sprich: Minister im Kabinett des Herzogs Carl August von Sachsen. Ein Job, der ihn von seiner literarischen Tätigkeit ablenkte und seine Kunst erstickte. Deshalb zog er nach Süden, nach Italien: Wo sollte er sonst neue Inspiration und frischen Antrieb für seinen Geist finden?

Allerdings war Goethe auf der Suche nach einem sehr bestimmten Italien. Genauer gesagt, es ging ihm gar nicht um Italien. Er wollte nur eine Vision bestätigt sehen – einen Traum mit offenen Augen träumen: »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen …«. Die großen Maler des Mittelalters und der Renaissance interessierten ihn wenig. In Florenz weilte er gerade mal drei Stunden, und in der Sixtinischen Kapelle schlief er sogar ein. Die prunkvolle Barockkunst ließ ihn ziemlich kalt wie auch die zeitgenössische politische Situation des Landes. Nur in Rom, Paestum, Pompeji, Agrigent fand der Dichter das ersehnte Ambiente für seine künstlerische Wiedergeburt: das griechischrömische Altertum.

Weit weniger bekannt als Goethes Italien-Aufenthalt von 1786 bis 1788 sind die gescheiterten Versuche des Dichters, diese Erfahrung zu wiederholen. Eine zweite Reise endete schon in Venedig, beim dritten und letzten Mal schaffte er es nur noch bis zur italienisch-schweizerischen Grenze und machte gleich wieder kehrt. Seine innere Einstellung hatte sich wesentlich verändert, ihn bewegte kein Bedürfnis mehr nach einem Ausbruch aus dem Alltagsleben in Weimar. Italien war nicht mehr das Land, das ihn früher so sehr begeistert hatte. Die Wirklichkeit, für die er bloß keine Augen gehabt hatte, hatte das Ideal abgelöst und war in den Vordergrund gerückt. Aus Mignons »Land der Zitronen« wurde:

»Noch ist Italien, wie ich’s verließ, noch stäuben die Wege,

noch ist der Fremde geprellt, stell er sich, wie er auch will.

Deutsche Rechtlichkeit suchst du in allen Winkeln vergebens,

Leben und Wesen ist hier, aber nicht Ordnung und Zucht;

jeder sorgt für sich, ist eitel, misstrauet dem andern,

und die Meister des Staats sorgen nur wieder für sich.

Schön ist das Land! Doch ach! Faustinen find ich nicht wieder.

Das ist Italien nicht mehr, das ich mit Schmerzen verließ.«

Was lehrt uns Goethe? Schon bei ihm zeigt sich, dass die beinah sprichwörtliche Italien-Liebe der Deutschen traditionell von einem Widerspruch charakterisiert ist: Die Leidenschaft für die jahrhundertealten Kulturschätze, Naturschönheiten und die Leichtigkeit des Lebens ist von einem doch recht deutlichen Desinteresse an der sozialen und politischen Wirklichkeit begleitet. Bei keinem anderen Land auf der Welt klaffen Ideelles und Reales in der Wahrnehmung der Deutschen so weit auseinander wie bei Italien. Daraus resultieren einerseits eine weitgehend ehrlich empfundene, teilweise rührend naive Faszination für Italien, andererseits eine Ignoranz dem gegenüber, was die Italiener gerade beschäftigt oder welche historischen Erfahrungen sie geprägt haben. Diesseits der Alpen scheint man für ein statisches Italien-Bild zu schwärmen. Für eine Ansichtskarte. Und wie schön wäre Italien ohne Italiener!

Wie entsteht diese Wahrnehmung? Zum einen dadurch, dass Italien in Deutschland als Ferienland schlechthin gilt. Zum andern liegt es nicht an den Deutschen, sondern an Italien selbst – an seiner Komplexität. Tatsächlich ist die Halbinsel ein schwieriges, geradezu unfassbares Land. Unter der dünnen, aber festen Oberfläche von heiterer Unbekümmertheit, von verführerischer Unverantwortlichkeit, kurz: dem sogenannten dolce vita, verbirgt sich ein zutiefst unruhiger Kern, eine Wirklichkeit von heftigen, nicht selten gewaltsam ausgetragenen Konflikten. Hier bestehen in einer einmaligen, seltsamen und faszinierenden Harmonie Gegensätze nebeneinander, die sich bekämpfen und gegenseitig durchdringen: Avantgarde und Rückständigkeit, Leidenschaft und Gleichgültigkeit, Anmut und Brutalität, Genie und Stumpfsinn, Macht und Anarchie. Um das Gewirr der italienischen Wirklichkeit zu verstehen, sind Unvoreingenommenheit und Neugier für die widersprüchlichsten Aspekte des Menschlichen und des Zusammenlebens vonnöten. Das kann man natürlich nicht von allen, die sich Italien hauptsächlich auf der Suche nach Erholung und Ablenkung zuwenden, verlangen. Aber was wäre, wenn Sie, lieber Leser aus Berlin, Dortmund oder München, sich dafür entscheiden würden, sich irgendwo in dem Belpaese niederzulassen und mit dem italienischen Alltag wirklich auseinanderzusetzen?

Ein Trost vorweg: Italien ist selbst den Italienern ein Rätsel. Noch mehr: Der Widerspruch, der der deutschen Italien-Sehnsucht innewohnt, ist den Italienern alles andere als fremd. Ganz im Gegenteil. Nichts ist Millionen Italienern vertrauter als der Widerspruch zwischen dem, wie ihr Land ist, und dem, wie es sein könnte. Die soziale und politische Wirklichkeit Italiens, die in Deutschland meistens undurchsichtig, geradezu absurd und unerklärbar erscheint, bietet seiner Bevölkerung genug Gründe für ernste Sorgen, Wut, Fassungslosigkeit und Verzweiflung. Doch die überwältigende Mehrheit der Italiener lebt in einem Zustand permanenter Ablenkung von ihrer eigenen Realität, und das nicht mit Gelassenheit, sondern in Resignation vor der vermeintlichen Unveränderbarkeit des Bestehenden.

Um es mit den Worten eines mutigen Staatsanwaltes auszudrücken, der seit vielen Jahren Mafia, Korruption und Wirtschaftsverbrechen bekämpft: »Italien ist ein Land, das desillusioniert. […] Zu feige und unreif, um in seine Wirklichkeit zu schauen. […] Von Zeit zu Zeit scheint mir, dass es immer weniger ernst wird. Anstatt sich so zu sehen, wie es wirklich ist, erzählt es sich immer neue, mittelmäßige Geschichten und Märchen, an die es am Ende auch glaubt, und verliert so seine Identität.« Das Fernsehen – mindestens ein Gerät läuft in jeder Familie zwölf Stunden lang ununterbrochen – ist der am häufigsten gewählte Fluchtweg aus den unzähligen Ungerechtigkeiten und Miseren, die das angeblich süße Leben in Italien so amara, so bitter machen können. Aber es ist nicht das einzige Betäubungsmittel. Jede Mode erfasst die Italiener mit einer Intensität, die eine Wahrheit verrät: Die meisten wissen nur in der Gegenwart zu leben, ohne ein kollektives Gedächtnis und ausreichende Kenntnisse über die Wurzeln ihrer Probleme zu haben, kurz: ohne sich allzu viele (gemeinschaftsrelevante) Fragen zu stellen.

Dieser Fatalismus löst in Deutschland Lächeln und Kopfschütteln aus, wirkt gleichzeitig aber auch sympathisch. In Italien ist er jedoch mit Bitterkeit erfüllt, einer Bitterkeit, die in dem Gefühl gründet, in einem außergewöhnlichen Land zu leben, das der westlichen Zivilisation so viel gegeben hat. Was hat Italien in den Jahrhunderten alles geleistet, was könnte aus diesem Land werden, wenn nur … – immer wieder hört man solche Seufzer auf den Plätzen von Mailand, Rom, Palermo. Das Gejammer über den Niedergang Italiens vereint den großen Dichter mit dem Mann von der Straße. Doch – und das ist das Kuriose dabei – gab es offensichtlich niemals ein Goldenes Zeitalter, dem nachgetrauert werden könnte, denn über Korruption und Unsitten beklagten sich schon mittelalterliche Dichter, und zwar in einem Tonfall, der sich kaum von demjenigen unterscheidet, mit dem die Presse weltweit über Andreottis oder Berlusconis Italien berichtete bzw. das heutige Italien darstellt.

Die Kluft zwischen den Visionen von Italien und der tatsächlichen Wirklichkeit des Landes findet sich also nicht nur bei den Deutschen. Vielmehr ist sie dem Bild und der Identität Italiens eigen. Ein Halbvers in einem Lied des populären römischen Sängers Francesco De Gregori von 1979 drückt dieses Dilemma treffend aus, das jeder Italiener mit sich durch das Leben trägt. Auch wenn er uns jetzt dunkel vorkommt, lassen Sie uns ihn durch die Seiten dieses Buches mitnehmen, wo er wie ein kleines Leitmotiv im Hintergrund erklingen wird: L’Italia, metà giardino e metà galera – Italien, halb Garten und halb Kerker.

Italienische Zustände

Was ist Italien? Ein Land, eine Nation? Klemens Fürst von Metternich behauptete 1814/15 beim Wiener Kongress, dass Italien nicht mehr als »ein geographischer Ausdruck« sei. Passend für ihn, denn für die Habsburger-Monarchie war die politische Zersplitterung des Landes sehr günstig. Unbeabsichtigt hat er aber mit diesem oft zitierten Ausspruch einen nützlichen Interpretationsschlüssel geliefert: Geographie. Ein Blick auf die Landkarte kann vieles vom Wesen und Schicksal eines Landes verraten. Für das Verständnis Italiens ist dieser Blick sogar unabdingbar.

Der Belpaese, das schöne Land, ist ein Zipfel Europas in dem Meer, an dem die Wiege der europäischen Zivilisation liegt. Am Mittelmeer begegnen sich drei Kontinente, und das macht aus Italien auf sehr eigene Art und Weise ein Grenzland. Allerdings eines mit fester Verankerung am Kontinent Europa. Diese beiden Aspekte prägen nicht nur das Leben und die Kulturen Italiens, daraus resultiert auch die historische Entwicklung der Halbinsel: vom Kreuzungspunkt und Katalysator von alledem, was aus dem Mittelmeerraum kommend über Jahrhunderte die Geschichte und die Identität Europas bestimmt hat, hin zur Peripherie und Frontlinie eines Okzidents, der sich zu Beginn des zweiten Millenniums von Globalisierung und Massenmigration bedroht fühlt.

Ein »geographischer« Standpunkt hilft auch dabei, einen weiteren grundlegenden Aspekt der italienischen Wirklichkeit zu erkennen. Italien gibt es nur im Plural. Damit meine ich die Vielfalt lokaler Identitäten und Kulturen, die in ihrer Gesamtheit Italien erst ausmachen – Kulturen und Identitäten, die teilweise in so starkem Widerspruch zueinander stehen, dass es verwundert, dass Italien noch nicht daran zerbrochen ist. Der traditionelle Nord-Süd-Konflikt kann nicht allein die großen regionalen Unterschiede und unzähligen Lokalpatriotismen erklären. Gleichwohl ist die Analyse dieses Konflikts hilfreich, um die Zerrissenheit des Landes und seine vielfältigen Gegensätze zu verstehen.

Italiener behaupten oft, Italien sei keine Nation, denn seine Einwohner könnten ihre Partikularismen nicht überwinden. Die italianità sei im Vergleich zum Nationalbewusstsein anderer europäischer Länder eine eher schwache nationale Identität. Ein Grund dafür liege darin, dass Italien, ähnlich wie Deutschland, ein junger Nationalstaat ist. Das schwache Nationalgefühl, vereint mit einem hartnäckigen Misstrauen gegenüber dem Staat, habe im Laufe der Jahrzehnte dazu geführt, dass sich immer wieder Teilidentitäten behauptet hätten – und zwar oft als Polarisierung: Faschisten gegen Antifaschisten, Katholiken gegen Laizisten, Nord- gegen Süditaliener.

Ich zweifle daran, denn eine solche Analyse berücksichtigt nur die letzten 150 Jahre, aber die Wurzeln Italiens und der Italiener reichen viel weiter zurück. Ganz sicher ist die Bevölkerung der Halbinsel dem Nationalstaat gegenüber nicht grundsätzlich feindlich und skeptisch eingestellt. Dennoch glänzt sie weder durch Nationalpatriotismus noch durch »Staatssinn«. Diese Einstellung ist kein Produkt ihres natürlichen Anarchismus, wie man in Deutschland oft glaubt, sondern eher das Ergebnis einer langen Geschichte.

Italien ist eines der wenigen Länder auf der Welt, das sich schon als Kulturnation verstand, bevor die Vorstellung von einer Nationalgemeinschaft und einem Einheitsstaat politisch wirksam wurde. Die Herausbildung der nationalen Identität erfolgte frei sowohl von jeglicher zentralstaatlichen Instanz als auch von einem maßgebenden wirtschaftlichen Zentrum. »Italien ist ein literarischer Ausdruck«, sagte der Dichter Giosué Carducci Ende des 19. Jahrhunderts. Für ihn war der wahre Vater der Nation weder ein Staatsmann noch ein Politiker, sondern ein Dichter. Und zwar Dante Alighieri, der bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts in seiner Göttlichen Komödie als Erster die italianità in allen ihren Facetten, dem spezifischen Geflecht von Trieben, Lastern, Sehnsüchten und Hoffnungen, beschrieb.

Das römische Erbe, die katholische Kirche, die Renaissance, Kunst und Literatur bildeten jahrhundertenlang die Grundlage der eigenen Identität, einer Identität, die spontan, unabhängig von dem Willen eines Königs oder einer Regierung, entstanden war. Die italianità war vom Anfang an eine Lebensform, ja eine Lebenskunst, eine Kultur der Geselligkeit, des Benimms, eine besondere Weise, Kreativität im Leben aufzufassen und einzusetzen. Italiener definieren sich bis heute beispielsweise gern über Küche und Esssitten, die ein sehr starkes Moment des Zusammenhalts darstellen und besser als alles andere Italien symbolisieren.

Von daher erscheint die vermeintlich historische Unfähigkeit der Italiener zur Staatsbildung bzw. zu einer effizienten Organisation des Staates in einem anderen Licht. Es ist eher ein Versagen der Italiener als ein Versagen der Nationalstaatsidee. Der politisch-ideologische Entwurf einer Nation ist nicht einfach gescheitert: Er befand sich schon immer in der Krise, weil er sich vornahm, den unregierbaren, zersplitterten und streitlustigen Pluralismus der italienischen Wirklichkeit in ein – seinen Bewohnern zutiefst wesensfremdes – Herrschafts- und Organisationsmodell hineinzuzwängen. »Italiener«, so schrieb Goethe treffend, »sind auf die wunderbarste Weise sämtlich Widersacher, haben den sonderbarsten Provinzial- und Stadteifer, können sich alle nicht leiden, die Stände sind in ewigem Streit und das alles mit immer lebhafter gegenwärtiger Leidenschaft«.

So stehen wir vor dem ersten unlösbaren Widerspruch Italiens: Es gibt ein klar definiertes Selbstbewusstsein, das sich in einer Vielzahl von starken, kaum einigungswilligen Partikularismen und Egoismen äußert, aber diese lassen sich nicht in einer Nation zusammenfassen. Heute scheint im Gegenteil das fragil ausbalancierte Gleichgewicht, das zeitweise ein verträgliches Zusammenleben von National- und Lokalidentitäten ermöglicht hat, wieder stärker verlorenzugehen. Schon in den frühen 1990er Jahren begann man Italien als eine künstliche nationale Gemeinschaft zu bezeichnen. Seitdem wird das Land mehr und mehr als »zerfaserte« Gesellschaft am Rand der endgültigen Auflösung wahrgenommen.

Italiener sind nicht daran gewöhnt, darüber nachzudenken, was sie vereint. Lieber konzentrieren sie sich darauf, was sie teilt und trennt. Kürzlich hielt der populäre Komiker Roberto Benigni, der für den Film Das Leben ist schön einen Oscar gewann, einen Monolog zur Eröffnung einer seiner Fernsehlektüren von Dantes Divina Commedia:

»Wir dürfen nicht vergessen, woher wir kommen. Denn wenn ein Volk an seine Vergangenheit nicht mehr denkt, kann es nur noch verzweifeln. […] Wir gehören zu einem winzig kleinen Land in der Welt, über dem der Himmel ein Füllhorn von Schönheiten ausgeschüttet hat. […] Wir dürfen nicht vergessen, was wir alles ohne Hilfe anderer erfunden haben. Sämtliche Reiche, die es in der westlichen Welt gegeben hat, sind blasse Nachahmungen des Römischen Reiches. […] Italien hat alles erfunden, was modern ist. In der Welt, in den Künsten, in den Wissenschaften, im Recht. Die Straßen, die Zivilisation. Jede Kunstbewegung ist nichts im Vergleich zum italienischen Rinascimento. Die Pariser oder Wiener Schule, das elisabethanische und viktorianische England, das New York der 70er Jahre: Kleinigkeiten. Das italienische Rinascimento ist einzigartig. […] Die Musik: Wir haben die Musik alphabetisiert. Wir haben Noten und Instrumenten ihre Namen gegeben. Piano, violino, con dolcezza, con brio, toccato, contrappunto, maestro, orchestra: alles wunderschöne italienische und zugleich allgemeingültige Wörter. […] Ebenfalls in der Architektur: arco, tetto, piazza, palazzo, mezzanino, studio. In der Malerei: barocco, manierismo, introspezione, prospettiva, affresco. […] Im Bankwesen: finanza, conto, cassa, credito. Alles italienischen Wörter. […] Italien ist der einzige Ort auf der Welt, wo zuerst die Kultur vor der Nation entstand. Wir sollten stolz darauf sein.«

Seine Worte berührten die Zuschauer tief – allerdings nur kurz. Benignis Absicht war – jenseits von Chauvinismus –, den Stolz sowie das Selbst- und Kollektivbewusstsein der von Wirtschaftskrise und Tagespolitik bedrückten Italiener zu kitzeln. Und das tat er eben nicht, indem er die Erfolge Italiens als Nationalstaat aufzählte, sondern eine einfache Tatsache in Erinnerung rief: Italien war nach der Antike nie wieder eine politische Weltmacht, jedoch immer eine kulturelle Weltmacht – ein Ort, der der ganzen Menschheit Kultur und Forschritt in einem unvorstellbaren Maß geschenkt hat. Die westliche Zivilisation verdankt Italien sehr viel, und angesichts der bescheidenen Dimensionen des Landes kann man das in jeder Hinsicht für ein kleines Wunder halten.

Doch der Alltag bietet den Italienern kaum Gelegenheit, sich an dieses Wunder zu erinnern. Eigentlich keine. Was ist also Italien heute für ein Land? Der Philosoph Lucio Colletti: »ein Land, das in den Strudel der Modernisierung hineingerissen wurde und aus diesen herauskam, ohne geschichtliche Erinnerung seiner selbst und ohne Beziehung mehr zu seinen eigenen Traditionen«. Journalisten und Publizisten in der ganzen Welt überschlagen sich mit ihren alarmierenden Berichten aus Italien, und tatsächlich gibt es im heutigen italienischen Alltag Tendenzen, die schon mehr als beunruhigend bezeichnet werden müssen.

Was ist Italien? Jenseits aller geographischen und historischpolitischen Betrachtungen ist Italien weniger ein Land, sondern ein Zustand. Dieser kann sich durchaus verändern, doch unter der Oberfläche der Gesellschaft verbergen sich Verhältnisse, die nicht wandelbar erscheinen. Italiens Geschichte der letzten eineinhalb Jahrhunderte kennt Momente des beschleunigten und radikalen Wandels, die wie Revolutionen aussehen: die Einigung Italiens 1861 nach den Unabhängigkeitskriegen, die Machtergreifung des Faschismus 1922, die Befreiung vom Nationalsozialismus und die Einführung der Demokratie 1945, der Zusammenbruch des gesamten Parteiensystems der Nachkriegszeit infolge der Schmiergeldskandale 1992/93. Trotzdem scheint keine andere Formel zu der italienischen Geschichte und zum Schicksal des Landes besser zu passen als das von Giuseppe Tomasi di Lampedusa in seinem Meisterwerk Der Leopard wunderbar dargestellte Prinzip des cambiare tutto, perché nulla cambi – alles ändern, damit sich nichts ändert.

Mir erscheint Italien wie ein Schachbrett, auf dem Hoffnung und Resignation eine nicht enden wollende Partie spielen. Manchmal führt der eine Spieler, manchmal der andere. Blickt man auf das Italien von heute, scheinen Resignation und Aussichtslosigkeit wieder die Oberhand gewonnen zu haben. In der Öffentlichkeit wird nur noch vom Niedergang gesprochen. Die Angst vor Verelendung, vorm Abstieg Italiens zur Randprovinz einer Welt, deren neue Macht- und Antriebszentren inzwischen weit entfernt liegen, beherrscht die Gemüter. Doch liegen die Zeiten, in denen ziviles und politisches Engagement starke soziale Bewegungen hervorgebracht hat, nicht so weit zurück. Damals übernahm die Hoffnung auf Veränderung die Initiative. Gewiss ist die Partie, in der es nicht nur um das Schicksal Italiens geht, noch nicht entschieden.

Die Palmengrenze

Die meisten Einwohner der Halbinsel verstehen sich nur im Ausland als Italiener oder wenn sie vor dem Fernseher sitzen und der nazionale, ihrer Fußballnationalmannschaft, zujubeln. Sonst definieren sich Italiener in der Regel über den Geburtsort, egal ob das eine Großstadt, ein Stadtteil, ein Dorf oder ein Tal ist.

In Deutschland, in England und in den Vereinigten Staaten trifft man häufig Menschen, welche die Frage – für Italiener geradezu eine Gretchenfrage – »Woher kommst du?« mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck und Unentschiedenheit beantworten: »Ich weiß nicht so genau. Ich wurde in Dortmund geboren, bin aber in Bremen groß geworden. Ich habe in Heidelberg studiert und in Hannover gearbeitet. Jetzt lebe ich in Berlin.« Auf eine solche Antwort reagiert ein Italiener mit einer schlecht verborgenen Verlegenheit, wenn nicht gerade mit Mitleid für seinen anscheinend wurzellosen Gesprächspartner. Weil Italiener immer genau wissen, woher sie kommen.

Wer in Mailand oder Catania das Licht der Welt erblickt hat, hält sich und wird auch meistens von den anderen auf Lebenszeit für einen Lombarden oder einen Sizilianer gehalten. Ob er noch in seinem Heimatort lebt oder inzwischen woanders hingezogen ist, ist dafür vollkommen irrelevant. Falls der Mailänder dann mit einem Lombarden aus Bergamo oder der Cataneser mit einem Sizilianer aus Agrigent zusammensitzt, nutzen sie sofort die Gelegenheit, ihre Identität noch genauer zu bestimmen, indem sie auf die Grenzen ihrer Herkunftsstadt, ja sogar des Stadtviertels verweisen.

Die Gründe für die starke Verbundenheit der meisten Italiener mit ihrem Geburts- oder Kindheitsort sind zahlreich. Vieles hängt mit der jahrhundertenlangen Kleinstaaterei und den unterschiedlichen historischen Erfahrungen der einzelnen Regionen zusammen. Nicht zuletzt tragen die starken Mundartunterschiede zu diesem als campanilismo bezeichneten Phänomen bei. Die italienischen Dialekte machen auch die elementarste Verständigung zwischen einem Sizilianisch und einem Emilianisch sprechenden Italiener, zwischen einem piemontesischen Bauer und einem apulischen Maurer, zwischen Jugendlichen aus Friaul und Gleichaltrigen aus Padua äußerst schwierig. Und Sprache ist ein grundlegendes Element für die Identitätsbestimmung.

Campanilismo heißt frei übersetzt etwa »Treue zum eigenen Kirchturm«. Diese »Treue« hat ganz offensichtlich zwei Seiten, eine positive und eine negative. Eindeutig zu wissen, wo man hingehört, ein Bewusstsein für die eigenen Wurzeln ist zweifelsfrei gut für die persönliche Entwicklung und auch für die Glücksfindung. Eine solche Identität verweist nicht auf einen abstrakten Begriff wie die Nation, sondern auf einen bestimmten Ort mit konkreten Sitten und Gewohnheiten. Andererseits ist die Emanzipation des Individuums von seiner Familie und seiner ursprünglichen Umgebung ebenso wichtig. Es ist kein Zufall, dass in dem von Lokalidentitäten und -patriotismen beherrschten Italien inländische Mobilität praktisch nur Migration heißt – ein Begriff, der mit negativen Gefühlen beladen ist: Frust wegen der erzwungenen Entfernung aus der vertrauten Umgebung, Leiden an der Eingewöhnung in eine neue Umgebung, unter »anderen Italienern«, die jeden von außerhalb Kommenden stets über dessen Herkunft definieren. Die Leichtigkeit, mit der beispielsweise Amerikaner aus Jobgründen den Wohnort wechseln, ist Italienern absolut fremd.

Campanilismo bedeutet nicht nur eine sympathische Rivalität, ein modernes Überbleibsel der mittelalterlichen Zeit der Stadtstaaten, als sich Kommunen wie Siena und Florenz bekriegten. Campanilismo verkörpert auch ein spezielles Provinzdenken, das nicht selten die gesellschaftlichen und individuellen Horizonte beschränkt. Aber schlimmer noch: Er kann von egoistischen, unsolidarischen, teilweise sogar fremdenfeindlichen Gefühlen durchtränkt sein.

Italien erscheint heute mitunter wie ein Land, das nicht in der Lage ist, die verschiedenen Teile, aus denen es besteht, zusammenzuführen. Diese Unfähigkeit beruht auf der falschen Prämisse des nationalen Einheitsstaates – dem Streben danach, die unterschiedlichen Mentalitäten und Lebensarten in ein einziges Gesellschaftsmodell hineinzuzwängen statt sie sich frei entfalten zu lassen. Deshalb konnte der Staat seit seiner Gründung im 19. Jahrhundert den Konflikt zwischen Nord- und Süditalien nicht lösen.

Die questione meridionale, die »Südfrage«, stand mal ganz oben auf der politischen Agenda von Regierungen und Parteien wie beispielsweise am Ende des 19. Jahrhunderts oder nach dem Zweiten Weltkrieg, mal wurde sie verleugnet und vergessen wie unter Mussolini und heute. In ihr findet die innere Zerstrittenheit der italienischen Gesellschaft ihren radikalsten Ausdruck. Die Lösungsversuche gingen immer von derselben Voraussetzung aus: Der Süden solle sich dem sozialen und wirtschaftlichen Modell des Nordens anschließen. Ob der Süden eigene Modelle des Wirtschaftens und der sozialen Organisation hätte hervorbringen können, wurde nie bedacht, selbst von den lokalen intellektuellen und politischen Eliten nicht.

Die spezielle historisch-politische Entwicklung der »Südfrage« werde ich an anderer Stelle ausführlich behandeln. Allgemein geht der Nord-Süd-Konflikt in Italien über den bisher dargestellten campanilismo hinaus. Rivalitäten und Lokalegoismen führen keineswegs direkt zu einem Gegensatz zwischen nord- und süditalienische Zentren und Regionen. Eine natürliche Solidarität des Nordens gegenüber dem Süden gibt es nicht. Beispielsweise war das nordöstliche Venetien bis in die 1970er Jahre hinein ein armes Agrargebiet, aus dem viele Menschen in die industriellen Großstädte auswanderten. Auch die venezianischen Emigranten bekamen die Feindseligkeit der örtlichen Bevölkerung zu spüren und wurden lange Zeit wenig schmeichelhaft als meridionali del nord, als »Süditaliener des Nordens«, bezeichnet. Nachdem Venetien zu einer der reichsten und produktivsten Regionen Italiens aufgestiegen ist, ist es in den Block der »fleißigen« Regionen Norditaliens aufgenommen worden.

Beim Nord-Süd-Konflikt geht es um Unterschiede im Weltbild. Dem arbeitsamen, produktiven Norden wird ein weitgehend chaotischer, unregierbarer und unproduktiver Süden entgegengestellt. Trotz aller Vorurteile, Verallgemeinerungen und Vereinfachungen ist diese Sicht nicht aus der Luft gegriffen. Doch bevor ich näher darauf eingehe, möchte ich daran erinnern, dass es ein »drittes Italien«, das Centro, gibt. Mittelitalien setzt sich aus den Regionen zusammen, die von der quasi »protestantischen« Arbeitsmoral des Nordens genauso weit entfernt sind wie von der Mentalität und den gesellschaftlichen Dynamiken des Südens. Merkwürdigerweise prägen gerade diese im Nord-Süd-Schema vergessenen Regionen das Bild Italiens für Millionen von Touristen weltweit, für die Italien ein friedliebendes, entspanntes und genießerisches Land ist: die Weinhügel der Toskana, die osterien der Emilia Romagna mit karierten Tischdecken und Rotwein in Korbflaschen, die ländlichen Idyllen der umbrischen Bergdörfer.

Die unsichtbare Grenze, die Italien durchschneidet, überschreitet man beim Durchfahren der Halbinsel auf einem nicht eindeutig bestimmten Breitengrad, der gewöhnlich irgendwo südlich von Rom lokalisiert wird. Wo sie genau verläuft, ist unbekannt, aber ihre Existenz ist nicht zu leugnen, und wenn man sie einmal überschritten hat, fällt es einem sofort auf. Man hat nicht das Gefühl, eine geographische Grenze passiert zu haben, sondern eine Welt hinter sich zu lassen und eine völlig andere zu betreten. Eher als von Welten sollte man besser von grundverschiedenen menschlichen und kulturellen Einstellungen reden. Der französische Wirtschaftsphilosoph Serge Latouche spricht davon, dass sich in Italien auf krasseste Weise ein Konflikt ausdrückt, der überall in Europa zu finden ist: der Gegensatz von protestantischer Rationalität und mediterraner Vernunft.

Latouche bezieht sich auf die Theorie des italienischen Soziologieprofessors und Philosophen Franco Cassano, der an der Universität in Bari lehrt und 1996 das Buch Il pensiero meridiano (etwa Der südliche Gedanke) veröffentlichte. Die westliche Kultur und unsere Weltanschauung haben ihre Wurzeln im Süden, am Mittelmeer. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich der Okzident aber davon entfernt, indem er sich den ökonomischen Rationalismus zu Eigen gemacht hat, der Werte wie Effektivität, Schnelligkeit und Profit in den Mittelpunkt stellt. Die Kultur der Langsamkeit, der Lebensweisheit, der spontan empfundenen Solidarität sowie des kulturellen Kompromisses, die für eine Grenzwelt wie das Mittelmeer, wo sich verschiedene Kulturen seit Jahrhunderten begegnen und gegenseitig beeinflussen, typisch waren, ist so durch den rationalistischen Fundamentalismus und die Ethik des Kapitalismus abgelöst worden. Letztere sind heute nicht nur in den nordwestlichen Regionen des Globus verbreitet, sondern weltweit. In den Mittelmeerregionen sind allerdings Elemente jenes ursprünglichen Kultursystems teilweise noch vorhanden. In Italien, einem Land, das vom Mittelmeer gänzlich umgeben, aber auch fest an den Kontinent gebunden ist, ist der Konflikt zwischen zwei kulturellen Modellen damit vorprogrammiert.

Geradezu paradox scheint allerdings, dass sich heute niemand mehr daran erinnern will, dass Langsamkeit, Lebensweisheit und Kompromiss die Grundlagen der westlichen Kultur darstellen. Das Diktat des nordwestlichen Entwicklungsmodells lässt die Kulturen des Südens als rückständig erscheinen. Sie seien zum Tode verurteilt, sie sollen korrigiert oder bekämpft werden. Das verursacht in den südlichen Bevölkerungen ein Minderwertigkeitsgefühl, löst Frust und nicht selten auch Hass aus. Laut Cassano wäre die Wiederentdeckung und Aufwertung der südlichen Kulturen, des »mediterranen Wegs«, die einzige Möglichkeit, den Westen, ja sogar die ganze Welt aus einer unerträglich gewordenen, gefährlichen Situation herauszuführen. Man denke nur an die Beschleunigung des Lebens, die für viele Neurosen verantwortlich ist, an die zunehmende Ökonomisierung aller menschlichen Beziehungen sowie an die Verwüstung der Umwelt durch Massenkonsum und Überproduktion. Für all diese Probleme sei ein radikaler Kurswechsel nicht nur wünschenswert, sondern dringend notwendig. Die uralten Kulturen des Südens und ihre Werte könnten, laut Cassano, Ansätze zur Veränderung bieten. Cassano weiß, wie schwierig eine Wiederaufwertung des mediterranen Denkens ist. Nachdem man sich jahrzehntelang minderwertig gefühlt und eine Randexistenz geführt hat, ist das Selbstbewusstsein des Südens erschüttert. Darüber hinaus hat sich ein negatives Urteil gegenüber den mediterranen Kulturen in der Öffentlichkeit verfestigt.

Für Cassano und Latouche bietet der Süden ein vergessenes Vermögen und eine Chance für die gesamte Menschheit. In Italien existiert diese Vision neben einer anderen, die ihr komplettes Gegenteil ist – sie warnt vor der sogenannten Meridionalisierung Italiens. In den 1970er Jahren sprach der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia erstmals von der »Palmengrenze«. Ähnlich wie bei der Erderwärmung, die jedes Jahr die Verbreitungsgrenze der Palmen um einige hundert Meter weiter nach Norden verschiebt, würden sich auch Korruption, politische Unsitten und mafiöse Methoden immer mehr vom Süden nach Norden ausbreiten.

In Mittel- und Norditalien ist das Gefühl, dass diese »Palmengrenze« näher rückt, weit verbreitet. Das erklärt die Erfolge der Lega Nord in den 1990er und 2000er Jahren, als sich diese rechtspopulistische, fremdenfeindliche Partei die Verteidigung und Befreiung des Nordens von Süditalien ganz oben auf ihre politische Agenda setzte. Doch offensichtlich ist die »Palmengrenze« ein Konstrukt, das auf einem Vorurteil beruht. Korruption, politische Unsitten und mangelhafte öffentliche Ethik sind kein alleiniges Laster Süditaliens. Beispiele finden sich auch im Norden zuhauf: etwa das gewaltige Korruptionssystem zur illegalen Finanzierung aller Parteien, das 1992/93 aufgedeckt wurde. Das System war vor allem in Norditalien, genauer gesagt in Mailand verankert. Die illegale Entsorgung von Industrieabfällen in der Region Campania ist ein Beispiel aus jüngerer Zeit, bei dem norditalienische Betriebe mit der Camorra Geschäfte gemacht haben.

Die beiden gegensätzlichen und miteinander unvereinbaren Auffassungen von Süden – einerseits als kulturelles Vermögen und Potential, andererseits als Bedrohung und Hindernis für die Entwicklung und das gute Funktionieren des Landes – machen zusammen die schwierige Identität Süditaliens aus. Vom Umgang mit dieser Identität hängt die Heilung einer tiefen Wunde im Selbstbewusstsein des gesamten Landes ab.

Zukunftsängste

Die in den letzten beiden Jahrzehnten stattgefundene Massenmigration aus Entwicklungsländern hat Italien in seinen Grundfesten erschüttert. Wie sich das Land verhalten und verändern wird, ist schwer zu sagen. Nur eines steht fest: Italien wird ein multiethnisches Land – eigentlich ist es längst schon ein solches. Seine geographische Lage sowie seine jahrhundertealte Geschichte, zurück bis zur Zeit des alten Roms, erlauben keinen Rückzug in eine Festung, keine Abriegelung und Abschirmung. Italien ist das gegenüberliegende Ufer für die Menschen in Afrika und Kleinasien. Für Millionen, die Armut und Hunger leiden, ein gelobtes Land.

Gegenwärtig fühlen sich die Italiener belagert und einer »Naturkatastrophe« ausgesetzt, mit der sie nicht fertig werden können. Die Spannungen in der Gesellschaft sind stark. Die Einwanderung verändert die Stadtlandschaft, verwirrt, entzieht Bezugspunkte, erschüttert Gewohnheiten und Gebräuche, stellt Gewissheiten in Frage. Ein Bild steht symbolisch für alle anderen – ein Fernsehbild, das in die Geschichtsbücher aufgenommen wurde: Ein Haufen Verzweifelter, zusammengepfercht in einem Schiffswrack, nähert sich der Küste Apuliens. Albaner, sagt der Berichterstatter in den Abendnachrichten. Das Wort kommt schnell in Umlauf. Der Name eines vergessenen benachbarten Volkes, nur wenige Kilometer von der adriatischen Küste entfernt. Von der Wende in Osteuropa nach dem Fall der Berliner Mauer ist auch das kleine, jahrzehntelang von einem absurden Regime isolierte Balkanland erfasst worden. Dessen katastrophale wirtschaftliche Lage führt zu einer gewaltigen Massenflucht. Im Sommer 1991 kapern über 10 000 Albaner im Hafen von Vlora einen Frachter und nehmen Kurs auf Bari.

So beginnt die »Invasion«. So beginnt das italienische Trauma. Die emergenza immigrazione, der »Notstand Zuwanderung«, wie das Phänomen der Massenmigration bis heute von vielen bezeichnet wird, erreicht in kürzester Zeit die Straßen aller Großstädte, die Haustür von Millionen Italienern. Ich denke zum Beispiel an die Stadt, in der ich groß geworden bin. Binnen weniger Jahre hat der massive Zuzug von Migranten aus nahezu allen Kontinenten – Tunesier, Marokkaner, Nigerianer, Senegalesen, Chinesen, Singhalesen, Ecuadorianer, Bolivianer, Pakistaner – ganze Viertel verändert. Ghettos entstanden. Aus den ärmsten Ecken Osteuropas kamen weitere Migranten, und die Albaner wurden von Ukrainern und vor allem Rumänen abgelöst. Letztere sind heute die größte Ausländergruppe in Italien. Die Italiener staunten und schauten zuerst schweigend zu. Empörung ließ allerdings nicht lange auf sich warten, während die politische Führung wie gewöhnlich viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Schließlich gestand sie zähneknirschend ein, dass sie machtlos sei, weil Italien offen und ungeschützt im Herzen des Mittelmeeres liege. Eine Steuerung der Migration ist bis heute kaum durchführbar. Ein erster Versuch 1990, nach dem Namen des damaligen Justizministers als Martelli-Gesetz bezeichnet, brachte wenig. Der »Notstand« wurde nicht gestoppt, er verwandelte sich sogar in eine alltägliche Tragödie. Die illegale Einwanderung fordert seit Jahren Todesopfer im Mittelmeer, erzeugt in Italien Frust und Zorn sowie bis dato für undenkbar gehaltene Ausbrüche rassistischen Hasses.

Bittere Ironie des Schicksals: Den Italienern fällt es heute sehr schwer, sich an ihre eigene Vergangenheit als Emigranten zu erinnern. Als sie zahlreich ihre Heimat für eine Arbeit in den belgischen Minen oder in deutschen Fabriken verlassen mussten. Millionen Italiener kennen – wenn nicht persönlich, dann durch die Erzählung von Verwandten oder Freunden – das Schicksal von Opfer, Entbehrung und nicht selten auch Demütigung, das denjenigen trifft, der sein Land aus Not verlassen muss. Ja, aber wir verhielten uns korrekt und diskret, erwidern manche, wenn sie daran erinnert werden. Wir arbeiteten fleißig, ließen uns nichts zuschulden kommen und waren immer unseren Gastgebern gegenüber respektvoll und dankbar. Zudem waren wir alle Europäer, die kulturellen Grundwerte waren nicht so verschieden, wie es jetzt bei den Afrikanern oder Asiaten der Fall ist. Das stimmt alles nicht. Man vergisst, wie viele italienische Kleinkriminelle (und manchmal auch nicht nur Kleinkriminelle) ihre »Geschäfte« ins Ausland verlagerten und dort weiterverfolgten. Man vergisst die im Nordwesten Europas vorhandenen Vorurteile über die schlechte Arbeitsmotivation der Italiener, die großen Eingewöhnungsschwierigkeiten vieler Emigranten, die Ghettoisierung in Barackenlagern oder Schlafstädten.

Solche Einwände regen aber kaum zum Nachdenken an. Sie stoßen auf eine Mauer von Unbehagen und Gereiztheit. Toleranz, Bereitschaft zum Kompromiss und Verständnis, Menschlichkeit, Vorsicht und Flexibilität bei der Urteilsbildung: Alle diese Eigenschaften, die sich die Italiener immer gern zuerkennen und mit denen sie sich gern schmücken, scheinen sich in Luft aufgelöst zu haben. An ihrer Stelle hat sich ein politischer Zynismus durchgesetzt, der Vorstellungen einer multikulturellen Gesellschaft als naiv und illusorisch verspottet. An jeder Ecke hört man laut den Ruf nach einer »starken Hand«, den Wunsch nach autoritärer Führung, die Ordnung schaffen soll. Ich bezweifele allerdings, dass die Italiener auch wirklich bereit wären, einer solchen Führung zu folgen und zu dienen. Selbst Mussolini, dem es wohl an Autorität nicht fehlte und der von den Italienern Gehorsam wie wenige andere Herrscher erfuhr, soll auf die Frage eines Journalisten geantwortet haben, dass die Italiener zu regieren nicht unmöglich, sondern zwecklos sei. In ihrem Inneren wissen die Italiener sehr gut, dass es keinen autoritären Ausweg aus dieser Situation gibt. Die Welt geht ihren Weg, und Italien wird sich wohl damit abfinden müssen.

Seit meinem Umzug nach Berlin im Jahr 2000 habe ich mich mit der italienischen Zuwanderung befasst. Wolfsburg nahm beispielsweise in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine große Zahl an italienischen Emigranten auf. Der Grund dafür waren bekanntlich die VW-Werke. Wolfsburg war eine »Fabrikstadt«, deren Bevölkerungspolitik von den Bedürfnissen des Konzerns diktiert wurde, was nicht nur auf die soziale Lage, sondern auch auf die Befindlichkeit der Arbeitsmigranten Einfluss hatte. Bis in die 70er Jahre galten die Italiener nur als temporäre Gäste, als zeitlich befristete Arbeitskräfte ohne Anspruch auf eine Zukunft in Deutschland. Deshalb lebten sie lange am Rand der Gesellschaft in Barackenlagern und Ghettos. So konnten die Emigranten ihren Aufenthalt nur als sacrificio verstehen, als Opfer, das man für eine Zeit erbringen musste, um die Familie zu ernähren. Perspektive und Hoffnung verhieß allein die Rückkehr nach Italien.

Doch diese Hoffnung erfüllte sich selten. In Gesprächen mit Gastarbeitern im Ruhestand wurde mir klar, was das eigentliche Problem für zahlreiche italienische Auswanderer war. Es war weniger die Trennung von der Heimat, sondern viel stärker der nicht in Erfüllung gegangene Traum, dorthin zurückzukehren. Viele Gastarbeiter schufteten jahrzehntelang, um sich ein Häuschen in Italien zu kaufen und dort die letzten Lebensjahre zu verbringen. Ihre Bemühungen waren oft vergeblich. Die, die es schafften und endlich nach Italien zurückkehrten, machten eine andere bittere Erfahrung. Sie waren nach den vielen Jahren im Ausland dem Leben und Alltag in ihrer Heimat völlig entfremdet. Es fiel ihnen schwer, mit den einstigen Landsleuten zurechtzukommen. Einige kehrten sogar aus Enttäuschung nach Deutschland zurück, wo sie sich wiederum auch nicht zu Hause fühlen konnten. So mussten sie erkennen, ein ganzes Leben in Deutschland im »Wartestand« gelebt zu haben, nur um am Ende erleben zu müssen, dass sie in einer Art Vorhölle steckengeblieben waren – als Fremde sowohl in Deutschland als auch in Italien.

Das erzwungene Verlassen des Heimatlandes aus Armut und Mangel an Perspektive gehört zu den wichtigsten Erfahrungen der Italiener im Laufe der letzten 150 Jahre. Das betrifft sowohl die Auswanderung ins Ausland als auch die sogenannte innere Migration von Süd- nach Norditalien. Meine eigene Familie ist hierfür ein gutes Beispiel. Zwar ist niemand nach Deutschland ausgewandert, dennoch bezeichnen wir uns als Einwanderer, da beide Elternteile Anfang der 70er Jahre ihre Heimatstadt Salerno verließen und nach Turin zogen. So kenne ich das Gefühl der Entwurzelung und Fremdheit im eigenen Land aus persönlicher Anschauung, wenn vielleicht auch nicht in der Intensität, wie sie Menschen erlebt haben, die aus Italien fortgingen.