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Günter Liehr

Frankreich

Ein Länderporträt

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

3. Auflage als E-Book, September 2017
entspricht der 4., aktualisierten Druckauflage vom September 2017

eISBN 978-3-86284-349-7

Inhalt

Vorbemerkung

Geschichte: Von der Erbfeindschaft zur offiziellen Freundschaft

Die Französische Revolution: Schreckensbild oder Verheißung?

Krieg gegen Napoleon

Germanischer Chauvinismus

Der Krieg von 1870/71

Der große Krieg

Zwischen den Kriegen

»Monsieur Hitler«

Vier Jahre Besatzung

Der Mythos der Résistance

Die französische Zone

Der Saarstaat

Annäherung mit Hindernissen

Abschied von den Kolonialreichen in Indochina und Algerien

Der Freundschaftsvertrag

Die Mairevolte und ihre Folgen

Das andere Deutschland

Trauma »réunification«

Der steinige Weg nach Europa

Die Republik: Stärken und Schwächen

Die großen Erinnerungen

Die Idee der Größe

Trennung von Staat und Kirche

Glaubensfragen

Islam und Islamismus

Je suis Charlie

Schändlichkeit und Perversion

Bevölkerung: Jeder Dritte kommt von auswärts

Korrekturen am Geschichtsbild

Bedrohtes Franzosentum

Explosion der Vorstädte: Unruhe in den Randzonen der Republik

Die Hauptstadt: befriedetes Machtreservat

Zentralismus und Dezentralisierung

Die Sprache als nationales Heiligtum

Probleminsel Korsika

Elsässische Identitätsfragen

Staat und Politik

Die Parteien: ein schillerndes Spektrum

Die extreme Rechte nistet sich ein

Eine Verfassung für den General

Das wechselhafte Image des Präsidenten

Der Staat als Wirtschaftslenker

Kostspieliges Scheitern

Atomkraft als nationales Projekt

Lob des Gesundheitssystems

Der Bürger als Rebell

Konfliktkultur

Empörung und Ungehorsam

Gesellschaft: Hierarchie und Eigensinn

Das heilige Privatleben

Kinder, Karriere, Familie

Schule als Schicksal

Grande École oder Universität?

Betriebskultur

La Bouffe: eine verzehrende Leidenschaft

Einladung zum Dîner

Zivilisationsgetränk Wein

Die Liebe zum Land

Week-end und Ferien

Kultur und Kommunikation

Die Rückkehr der Bücher

Kino als »kulturelle Ausnahme«

Die Musikszene: Belebung durch die Quote

Medien unter Einfluss

Arte: das deutsch-französische Fernsehexperiment

Nachbemerkung

Anhang

Überblick zur Geschichte seit der Französischen Revolution

Literatur

Abkürzungsverzeichnis

Kontaktadressen

Übersichtskarte

Basisdaten

Über den Autor

Vorbemerkung

Flutwelle, Orkan, Erdbeben, Erdrutsch, Tsunami, Vulkanausbruch: Im Jahr 2017 häuften sich in den Medien die Vergleiche mit Naturphänomenen. In Frankreich schienen gewaltige Kräfte zu toben und alles durcheinanderzuwerfen. Es war ein Wahljahr, wie ich es noch nie erlebt habe, auch deshalb, weil es sich endlos hinzog: Mit den Primaires folgten acht Wahlgänge aufeinander, eine Zumutung!

Der Wahlkampf lenkte alle Blicke auf Frankreich, denn es stand Entscheidendes auf dem Spiel: Nicht auszuschließen war, dass die nächste Präsidentin Marine Le Pen hieß. Würde nach dem Brexit-Schock und der Wahl von Donald Trump in den USA nun der nächste herbe Schlag kommen? »Le Pen im Élysée, das wäre das Ende des europäischen Projekts, wie wir es kennen«, so schrieb Theo Sommer in der Zeit. Sollte ausgerechnet aus Frankreich, einem Kernland der Europäischen Gemeinschaft, der Todesstoß für die EU kommen? Der Spiegel bezeichnete die Präsidentschaftswahl als »Endspiel um die politische Zukunft Europas«. Das Endspiel nahm teilweise Formen eines wunderlichen Dramas an, mit Spannungsbögen, überraschenden Wendungen und grotesken Intermezzi. Der Unterhaltungswert war hoch, das Niveau des Stücks oft weniger. Dem als Favorit gehandelten Kandidaten der Républicains François Fillon kam der eigene Zynismus in die Quere. Es stellte sich heraus, dass der sich streng moralisch gebende Konservative seiner Gattin Penelope jahrelang eine Scheinbeschäftigung auf Kosten der Staatskasse ermöglicht hatte. Dann wurde auch noch ruchbar, dass er sich sündhaft teure Maßanzüge von einem zwiespältigen Geschäftsmann hatte schenken lassen. Die Entlarvung des Moralapostels hätte Stoff für eine Komödie von Molière abgeben können. Aber das Lachen blieb einem im Hals stecken. Denn natürlich war dieser Beleg für die Korruptheit der Eliten nur Wasser auf die Mühlen der blonden Walküre. Bei den Sozialisten ging es eher zu wie in einer Shakespeare-Tragödie: Die Parteigrößen übten schnöden Verrat an ihrem offiziellen Kandidaten Benoît Hamon und dienten sich einem aussichtsreicheren Konkurrenten an. Überraschend erfolgreich war der Volkstribun Jean-Luc Mélenchon, laut Spiegel ein »linksradikaler Europafeind«, der das Publikum unter anderem mit den Hologrammen seiner Person zu amüsieren wusste, die er an mehreren Orten gleichzeitig auftreten ließ. Wäre er in die Stichwahl gegen die FN-Chefin gekommen, wäre die Entscheidung zwischen zwei EU-Gegnern gefallen. In einem Appell beschworen 25 Ökonomie-Nobelpreisträger die Gefahr des Protektionismus, und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnte die Franzosen vor den »Sirenengesängen« der Populisten. Das Fazit der Tageszeitung Le Monde lautete: »Le Pen, Mélenchon, dieselbe Gefahr«. Diese beiden im zweiten Wahlgang? Eine Horrorvorstellung auch für Wolfgang Schäuble: »Dann ist es mit der republikanischen Vernunft in Frankreich vorbei.« Der Philosoph Peter Sloterdijk wetterte gegen das linke Schreckbild Mélenchon: »Frankreich würde sich in ein großes Venezuela verwandeln. Das Kapital würde das Land verlassen.«

Zunächst gab es Entwarnung, als nach dem ersten Wahlgang der Gegner von Marine Le Pen feststand: Es war nicht Mélenchon, sondern der politische Senkrechtstarter Emmanuel Macron. Wofür er politisch stand, war vielen erstmal nicht so wichtig, es ging um Katastrophenverhinderung. Macron wurde gewählt. »Der Alptraum bleibt Europa erspart«, gab sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung erleichtert. Der 39-jährige Ex-Investmentbanker schritt zu den Klängen der Europa-Hymne gemessenen Schritts zu seinem ersten Auftritt, kurz darauf bescherte das Wahlvolk seiner frisch gegründeten Partei mit ihren oft völlig unbekannten Kandidaten die absolute Mehrheit.

Ist damit wieder alles in Ordnung? Mir kam es vor wie die Flucht in die Arme des Erlösers. Auch dass bei den Parlamentswahlen die Zahl der Nichtwähler bei über 50 Prozent lag, weist darauf hin, wie sehr die gewohnten Verhältnisse aus den Fugen geraten sind. Die Franzosen scheinen ihres Parteiensystems zutiefst überdrüssig zu sein. Die fortdauernd hohe Arbeitslosigkeit und die Konfrontation mit dem islamistischen Terror tragen das ihre zur Krise des Selbstverständnisses bei. Auch nach den Wahlen ist das Land verunsichert und gespalten.

Längst hat Frankreich für seine Nachbarn den einstigen Vorbild- und Wohlfühlcharakter verloren. Wie sehr hatte man dieses Land früher verehrt und glorifiziert! Vielen war Frankreich die Heimat des guten Lebens, der kulinarischen Verheißungen, aber auch der kritischen Köpfe, der fortschrittlichen Geister, und dies ungeachtet der seit Langem schon schwächeren Wirtschaftsleistungen. Nun ist so etwas natürlich immer mit Illusionen verbunden. Je intensiver man sich hingegen auf dieses Hexagon einlässt, desto mehr entfaltet sich seine Komplexität, desto faszinierender wird es. Es gibt gewiss hinreichend Gründe, sich über Frankreich aufzuregen, aber es ist, mit all seinen Widerhaken und Schattenseiten, weiterhin ein großartiges Land, und es verlangt danach, kennengelernt zu werden.

Meine erste Reise als Student nach Frankreich führte per Anhalter in den Süden. Ich trampte zwischen Avignon, Nîmes und Sète herum und landete schließlich bei der Weinlese zu Füßen des Mont Canigou am Rande der Pyrenäen. Alles war gut: das flimmernde Licht unter den Platanen, die plätschernden Dorfbrunnen, der Pastis-Geruch in den Cafés, die melodiös und genussvoll plaudernden Menschen auf den Märkten, die Chansons von Georges Brassens und Jacques Brel, die ich zum ersten Mal hörte. Groß war gleich die Begeisterung.

Von da an ging es immer wieder hinein in dieses weite Land.

Was für einen großen Reichtum an Landschaften haben sie da, in ihrem heiligen Sechseck, dazu schnurgerade Straßen bis zum Horizont, Dörfer und Städte mit Patina. Und wie angenehm sind die Leute! Sie haben sonntags ihr Huhn im Topf und zuckeln gemächlich mit ihren zerbeulten 2 CVs und R4s umher, eine Gauloise im Mundwinkel, ja, damals rauchte man noch, und wie … Es war nicht schwer, dieses Frankreich zu mystifizieren. Viele verehrten das Land als Gegenmodell zum eigenen. Leben und leben lassen schien hier die Devise, auch war nicht alles so saubergekratzt und abgezirkelt wie daheim, manchmal gar ein wenig schmuddelig, mit Sägespänen auf dem Kneipenboden, in die man gleich auch die Erdnussschalen hinschmiss und die Zigarettenasche. Ich erinnere mich, wie ein deutscher Elektriker-Freund fassungslos die lose von Haus zu Haus baumelnden, verknoteten Stromleitungen betrachtete. Ein bisschen chaotisch-improvisiert, aber irgendwie sympathisch. Die Franzosen konzentrieren sich eben mehr aufs Wesentliche.

Und dazu die politische Gesinnung, diese erfrischende Radikalität! Im Lande des Mai 68, dieser großartigen Aufwallung, schienen auch noch in den siebziger Jahren geistige Freiheit und kritisches Engagement zu Hause zu sein. »Schaffen wir französische Zustände!«, hatte Hans Magnus Enzensberger damals in einer Rede gerufen. Man hatte gelernt, dass unterm Pflaster der Strand lag und dass man Voltaire nicht verhaftet. Der konservative de Gaulle hatte dies zu bedenken gegeben, als seine Anhänger 1960 zur Zeit des Algerienkriegs ein Exempel gegen den unbotmäßigen Jean-Paul Sartre statuieren wollten, während daheim kritische Intellektuelle von führenden Politikern mal als »Pinscher«, mal als »Ratten und Schmeißfliegen« tituliert wurden. Wie anders dagegen dieses Land, in dem sich Politik und Poesie zu verbinden schienen, wo in den Cafés Surrealisten, Rebellen und Lebenskünstler beim Aperitif saßen!

»Frankreich ist der Inbegriff all dessen, was das Menschenleben schön und würdig macht.« So heißt es in Friedrich Sieburgs 1929 erschienenem Buch Gott in Frankreich?. Diese immer wieder neu aufgelegte Bibel der Frankophilen hat beim deutschen Publikum in besonderem Maße die Vorstellungen über das Nachbarland geprägt. Warum schätzte Sieburg Frankreich? »… weil ich schwach genug bin, mich in einem altmodischen und unordentlichen Paradies lieber aufzuhalten als in einer blitzblanken und trostlosen Musterwelt.« Wie spätere Frankreich-Pilger litt auch er schon unter Deutschlands moderner Kälte und fand hier die vormoderne, charmant zurückgebliebene Gegenwelt.

Sieburg selbst hatte übrigens zeitweilig andere Töne angeschlagen: Als frankophiler Nazi war er 1941 mit einer Propagandatruppe durch Frankreich gezogen und hatte sich als »Kämpfer und Nationalsozialist« präsentiert, auf die Franzosen eingeredet, sich einzubringen ins neue Nazi-Europa, und sie aufgefordert, »Schluss zu machen mit dem ewigen Durchwursteln, den schlichten Glücksvorstellungen von Freizeitanglern … wovon sich Deutschland längst mutig befreit hat«.

Dennoch hatte Sieburgs idyllisierendes Frankreich-Bild lange Nachwirkungen und schlägt sich noch heute in gewissen Stereotypen nieder. Dabei wird die wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität des industrialisierten Frankreich allerdings gern ausgeblendet. Das war lange ein Problem deutscher Frankreich-Schwärmer, in deren Vorstellungen sich die Franzosen nicht recht wiedererkennen konnten und wollten.

Es dauerte eine Weile, bis sich in der Wahrnehmung der Deutschen das moderne Frankreich, voller Ungleichzeitigkeiten und mit Schönheitsfehlern behaftet, an die Stelle des imaginierten Idylls setzte. Die vielen Begegnungen und Austauschprogramme, die nach dem 1963 geschlossenen Élysée-Vertrag zustande kamen, haben dazu zweifellos einiges beigetragen. Tatsächlich kann sich die Freundschaftsbilanz sehen lassen. 2000 Städtepartnerschaften wurden geschlossen, über sieben Millionen junge Franzosen und Deutsche haben an Programmen zum Jugend- und Schüleraustausch, zur Berufs- und Sprachausbildung teilgenommen. Partnerschaften von Regionen, Universitäten, Schulen wurden gegründet, kulturelle Großveranstaltungen wie »Paris–Berlin« oder »Germania und Marianne« fanden statt. Der deutsch-französische Kulturfernsehkanal Arte nahm den Sendebetrieb auf, eine deutschfranzösische Brigade wurde aufgebaut, eine gemeinsame Adenauer-de-Gaulle-Briefmarke herausgegeben und sogar gemeinsame Geschichtsbücher für den Schulgebrauch.

Im Januar 2013 wurde das 50. Freundschaftsjubiläum gefeiert. Es reiste die Pariser Nationalversammlung, 577 Abgeordnete, nach Berlin zu einer gemeinsamen Sondersitzung mit den Kollegen vom Bundestag, in der Philharmonie gab es ein Konzert mit Stücken von Beethoven und Saint-Saëns. Allerdings fiel das Jubiläum in eine wenig enthusiastische Phase, in der »mehr Grabenkämpfe als Gemeinsamkeiten« herrschten, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung feststellte. Französischerseits war man verschnupft darüber, dass sich Deutschland nicht recht an dem gerade begonnenen Mali-Krieg beteiligen wollte. Eine »verdrießliche Goldene Hochzeit« sei das, klagte Le Monde.

Es fehle die Leidenschaft bei diesem alten Paar, das die Krise weiter auseinanderdividiert habe, anstatt es enger zusammenzubringen, nörgelte Le Point. Aber auch wenn das neue Paar Merkel-Hollande eine etwas verkrampft wirkende Freundschafts-Demonstration hinlegte, um interne Unstimmigkeiten zu kaschieren, wies L’Obs (früher: Nouvel Observateur) doch darauf hin, dass es nirgendwo auf der Welt ein anderes Zweistaatenbündnis gebe, das derart dichte und vielgestaltige gemeinsame Strukturen hervorgebracht habe.

Wie sehr mag man in Frankreich die offiziell befreundeten östlichen Nachbarn? Recht beliebt sind deutsche Unterhaltungskünstler, vor allem, wenn sie sich »französisieren«. Hanna Schygulla, Ingrid Caven, Ute Lemper, Diane Kruger oder gerne auch Menschen aus der Modebranche wie Claudia Schiffer oder Karl Lagerfeld – alle, die kommen, um dem Pariser Betrieb zu huldigen, werden gern aufgenommen, gelegentlich gar adoptiert.

Jemand, den die Franzosen auch mochten, war Kanzler Helmut Kohl, der immer wieder versicherte, wie tief er Frankreich verbunden sei. Dann allerdings ereignete sich das Größte Annehmbare Unglück: die deutsche Wiedervereinigung. Und für eine Weile verwandelte sich der gemütlich-behäbige Koloss in ein gefährliches Monstrum, dem in den Presse-Karikaturen prompt eine Pickelhaube aufgesetzt wurde. Als »Bismarck im Pullover« wurde er apostrophiert. »Wird der deutsche Riese alles verschlingen?«, fragte bang eine Überschrift, andere riefen auf Deutsch: »Achtung!«, beschworen den »Blitzkrieg« des »chancelier Kohl« oder »La Grosse Allemagne« – das fette Deutschland.

Diese Aufregung legte sich bald wieder, man beruhigte sich. Allerdings verringerte sich das Interesse am Nachbarn, zum Beispiel an der Sprache. Entgegen den politischen Willensbekundungen spielt sie an französischen Schulen eine immer geringere Rolle. Früher war Deutsch ein Prestigefach für begabte Kinder und wurde aus diesem Grund als zweite Fremdsprache gewählt, aber das ist vorbei. Es haftet ihm der Ruf eines schwierigen und unschönen Idioms an, unverdrossen werden damit bisweilen immer noch bellende Nazi-Schergen assoziiert.

Zur bislang letzten Schulreform von 2016 gehörte obendrein die Streichung der »classes bi-langues«, die das simultane Erlernen von zwei Fremdsprachen, in der Regel Deutsch und Englisch, gestatteten. Diese Klassen funktionierten zwar recht gut, aber die Bildungsministerin Najad Vallaud-Belkacem hielt das Modell für zu elitär, also weg damit. Eine »Katastrophe«, eine »zerstörerische Reform« sei dies, schimpfte Alfred Grosser. Deutsch laufe Gefahr, ein Orchideenfach zu werden, warnte der Direktor des Pariser Goethe-Instituts. Auch der ehemalige Premierminister und frühere Deutschlehrer Jean-Marc Ayrault mischte sich ein. So ruderte die Ministerin unter dem Eindruck der Kritik wieder zurück.

Ist die deutsch-französische Freundschaft womöglich eine Einbahnstraße? Eine recht unausgewogene Angelegenheit? Zwar erhalten die Deutschen bei Umfragen allgemein hohe Sympathiewerte und werden als die wichtigsten Partner in Europa bezeichnet, aber darin scheint vor allem der offizielle Diskurs nachzuwirken. Während es die Deutschen nach Frankreich drängt, nicht nur nach Paris, sondern auch in die Bretagne, die Provence, ins Elsass, ins Périgord oder in die Pyrenäen, mag von französischer Seite kaum jemand ins Nachbarland reisen. »Deutschland? Das ist nun wirklich das letzte Land, wo ich Lust hätte, meine Ferien zu verbringen!«, musste die derzeitige Generalsekretärin des Deutsch-Französischen Jugendwerks, Béatrice Angrand, hören, als sie ihrer französischen Umgebung vom Nachbarland vorschwärmte.

Die große Ausnahme ist Berlin. Die deutsche Hauptstadt übt seit einigen Jahren eine unglaubliche Anziehungskraft aus. Bei jungen Leuten gilt sie als Hochburg des coolen Amüsements. Mit Lowcost-Fliegern kommen sie Woche für Woche in Scharen in die Arm-aber-sexy-Metropole, um die Nächte durchzumachen und tagsüber zu schlafen. Berlin ist Kult. Sogar die Currywurst wird verehrt.

Über diese Party-Touristen hinaus haben sich auch größere Mengen Franzosen für länger dort angesiedelt. Schätzungen zufolge liegt ihre Zahl zwischen 20 000 und 35 000. Berlin bietet ihnen günstige, große Wohnungen, das Leben ist entspannter und stressfreier als in Paris, die Stadt gilt als kulturell attraktiv, vital und kosmopolitisch, gleichzeitig wird die ruhigere Gangart gepriesen, die grünere und sauberere Umwelt. Berlin ist gewissermaßen das Anti-Paris. Künstler finden leistbare Atelierräume und ein kreatives Reizklima. Auch bei französischen Schriftstellern wirkt der Zauber. Schon kursiert der Ausdruck »Saint-Berlin-des-Prés«. Man weiß zwar nicht, wie lange diese Faszination anhält, aber dies sind zweifellos ermutigende Entwicklungen.

Über den aktuellen Drang nach Berlin hinaus haben schon über viele Jahre hinweg Städtepartnerschaften, Jugendaustausch- und Erasmusprogramme Kontakte gefördert, Freundschaften entstehen lassen und zahlreiche deutsch-französische Ehen gestiftet. Nur sollte man sich darüber im Klaren sein, dass dieses relativ neue Freundschaftsverhältnis zwischen beiden Ländern konkurriert mit einem tief verwurzelten Unbehagen, das weit zurückreicht.

Geschichte: Von der Erbfeindschaft zur offiziellen Freundschaft

Die Französische Revolution: Schreckensbild oder Verheißung?

Eine deutsch-französische Freundschaft lag angesichts der Beziehungsgeschichte beider Länder nicht auf der Hand. Das Spezialverhältnis zwischen den Nachbarn ähnelte über lange Phasen einem verbissenen Gerangel. »Stets war es beiden unmöglich, einander gleichgültig zu sein«, schrieb Ludwig Börne, »denn entweder mussten sie einander hassen oder lieben«. Periodisch machte sich Hass in extremer Weise bemerkbar. Immer aber gab es hüben wie drüben Leute, die für den Chauvinismus nichts übrig hatten, der sich gegen die Nachbarn richtete.

Zentraler Ausgangspunkt für franzosenfeindliche Delirien wie für Hochrufe war die Französische Revolution. Mit dem Sturm Pariser Volksmassen auf die Bastille am 14. Juli 1789 wurde der Untergang des Ancien Régime besiegelt. Eine tiefgreifende Umgestaltung von Staat und Gesellschaft setzte ein, Feudalrechte wurden abgeschafft, die Erklärung der Menschenrechte verabschiedet.

Ein Funke der Begeisterung sprang auch auf andere europäische Länder über. Gottes- und obrigkeitsfürchtige Deutsche verteufelten die Revolution mitsamt den Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, denn auch die Machtstrukturen in den vereinzelten deutschen Kleinstaaten waren dadurch gefährdet. Bei unabhängigeren Geistern allerdings stieß das Ereignis – anfangs zumindest – auf sehr positive Resonanz: »Von diesem Moment an erwachte neues Leben in mir, voller unerhörter Hoffnung auf eine vollkommene Veränderung der Welt«, jubelte Johanna Schopenhauer, als sie vom Sturm auf die Bastille hörte. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel schwärmte vom »herrlichen Sonnenaufgang«, während Friedrich Gottlieb Klopstock 1789 in seinem Gedicht »Kennet euch selbst« ausführlich »des Jahrhunderts edelste That« besang, wofür ihn die Pariser Nationalversammlung mit einem Bürgerdiplom ehrte. »Wer hätte den französischen Sprudelköpfen die Besonnenheit zugetraut, mit der sie jetzt zu Werke gehen?«, staunte auch der Literat Johann Heinrich Voß. Im liberalen Hamburg organisierten weltoffene Kaufleute 1790 eine Bastille-Feier und erhoben ihre Gläser auf die Abschaffung des Fürsten-Despotismus. »Es war ein herrlicher Tag, und es wurde manche Thräne der Rührung vergossen«, berichtete Adolph Freiherr von Knigge. Der Gastgeber, der Kaufmann Georg Heinrich Sieveking, hatte eigens für das Fest ein Lied gedichtet: »Freye Deutsche! Singt die Stunde, / Die der Knechtschaft Ketten brach, / Schwöret Treu’ dem großen Bunde / Unsrer Schwester Frankreich nach!« Als Sieg des Lichts über die Finsternis wurde von kritischen Geistern in deutschen Landen die Revolution gefeiert. An deutschen Universitäten begann es zu gären. Die Pariser Vorgänge lösten die erste deutsche Studentenbewegung aus. Professoren wetterten gegen die Kleinstaaterei und riskierten Berufsverbot. Unzählige reisten als deutsche Revolutionspilger nach Paris, um das weltgeschichtliche Ereignis in Augenschein zu nehmen oder, wie es Joachim Heinrich Campe in seinen Briefen aus Paris ausdrückte, »dem Leichenbegängnis des französischen Despotismus beizuwohnen«. Campe beschwerte sich über die böswillige, ungerechte »Beurtheilung der großen, für die gesammte Menschheit so überaus wohlthätigen französischen Revolution«, die die deutschen Medien durchzog. Den Besuchern, die sich ins Pariser Getümmel stürzten, musste die Allgegenwart der ungehinderten politischen Debatten wie ein Wunder erschienen sein, und sie ließen sich von der revolutionären Begeisterung mitreißen.

Aber dann, nach den Septembermorden des Jahres 1792, als angesichts der Bedrohung durch die preußische Truppen die Insassen Pariser Gefängnisse vom eindringenden Plebs recht wahllos massakriert wurden, wandte sich doch mancher ab, der zunächst die Umwälzung begrüßt hatte. Deutsche Geistesgrößen sahen nun die Gefahr einer »Pöbelherrschaft« auf Europa zukommen. Dieses Blutbad bestätigte die Meinung konservativer Revolutionsgegner und erleichterte die Diffamierung der Revolutionssympathisanten. Die aber bangten nach der Kriegserklärung der europäischen Fürsten um die Errungenschaften der Revolution, so wie Friedrich Hölderlin, der an seine Schwester schrieb: »Der Missbrauch fürstlicher Gewalt wird schröcklich werden. Glaube das mir! Und bete für die Franzosen, die Verfechter der menschlichen Rechte.«

Dennoch gab es weiterhin jene, die trotz allem das revolutionäre Ideal im Blick behielten. Eine Hochburg der Revolutionsanhänger war die Universität Jena noch Mitte der 1790er Jahre. Es gab dort geheime politische Klubs, man heftete sich Kokarden an den Hut, malte sich die rote Jakobinermütze in die Stammbücher und schrieb dazu Verbalradikales wie »liberté ou la mort« oder auch »Die Menschheit wird von bitterm Harm und Tyrannei gekränkt, bis an dem letzten Pfaffendarm der letzte König hängt.« Jugendlicher Übermut, gewiss. Manche aber machten Ernst, engagierten sich bei den französischen Revolutionstruppen und fielen für die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Vergessen sind die meisten ihrer Namen.

Im Oktober 1792, als die französischen Truppen im Krieg gegen die revolutionsfeindliche Koalition den Rhein entlang vorstießen, wurde in Mainz nach Pariser Vorbild der Jakobinerklub Freunde der Freiheit und Gleichheit gegründet. Im März 1793 rief der frisch gewählte Rheinisch-Deutsche Nationalkonvent für das Gebiet von Landau bis Bingen einen »freien, unabhängigen und unteilbaren Staat«, die Mainzer Republik, aus. Ihre Souveränität wurde allerdings schon nach drei Tagen aufgegeben, denn bedrohlich näherten sich die feindlichen Truppen. Daher entschloss sich der Mainzer Freistaat, sich mit der französischen Republik »brüderlich und unzertrennlich« zu vereinigen. Dennoch eroberten preußische Truppen im Juli das Gebiet zurück und machten dem Experiment ein Ende. Die Freiheitsfreunde, sofern sie nicht fliehen konnten, wurden eingekerkert. In Paris sammelten sich geflohene Republikaner. Wie sie wurden später auch andere deutsche Jakobiner verfolgt, ins Exil getrieben und totgeschwiegen.

Etwas weiter nördlich, im französisch besetzten Gebiet zwischen Köln und Koblenz, schickten sich republikanische Rheinländer im Sommer 1797 an, eine Cisrhenanische (also links des Rheins gelegene) Republik zu gründen, mit grün-weiß-roter Trikolore als Flagge. Aber die zunächst auch von Frankreich angestrebte deutsche Tochterrepublik kam dann doch nicht zustande. Im November wurde stattdessen das gesamte linksrheinische Gebiet, darunter auch Mainz, annektiert, und es entstanden vier neue französische Départements.

Krieg gegen Napoleon

1799 putschte sich Napoleon Bonaparte, der Revolutionsgeneral aus dem korsischen Ajaccio, an die Macht. 1804 krönte er sich zum Kaiser der Franzosen. Durch seine Eroberungsfeldzüge änderte sich auch die politische Landschaft Deutschlands einschneidend. Mit dem Reichsdeputationshauptschluss wurde der deutsche Flickenteppich flurbereinigt: Anstelle der unzähligen kleinen Territorien entstanden mittelgroße Staaten wie Baden, Bayern oder Württemberg, doch nach dem Sieg des napoleonischen Heeres über die österreichischen und russischen Truppen bei Austerlitz im Winter 1805 war es nach 800 Jahren endgültig zu Ende mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Der letzte Kaiser Franz II. legte die Kaiserkrone nieder. Rechtsrheinisch entstanden als französisch geführte Modellstaaten das Großherzogtum Berg mit Düsseldorf als Hauptstadt, regiert von Napoleons Schwager Joachim Murat, und das Königreich Westfalen mit der Hauptstadt Kassel und Napoleons Bruder Jérôme als König. Beide Länder kamen, ebenso wie die annektierten linksrheinischen Gebiete, in den Genuss des Code Napoléon. Dieses weitgehend schon während der Revolutionszeit erarbeitete Gesetzeswerk stellt bis heute trotz vieler Abänderungen die Grundlage des französischen Zivilrechts dar. So schien die napoleonische Herrschaft zunächst eine Verbesserung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse zum Ziel zu haben. Der Code Napoléon brachte das Aus für die alte Ständegesellschaft, die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz sowie Gewerbe- und Religionsfreiheit, das hieß auch: Befreiung der Juden aus den Ghettos. Ein wesentlicher Grund, warum Heinrich Heine zeitlebens ein großer Verehrer Napoleons blieb.

Heftig umjubelt wurde der »Empereur« vielerorts bei seinen Auftritten. Napoleonbüsten zierten die Wohnstuben der Bürger. Hegel pries den Korsen als »Geschäftsführer des Weltgeistes«. Nur hatte Bonaparte letztlich mit dem Weltgeist weniger im Sinn als anfangs angenommen. Viel wichtiger als die Ausbreitung der bürgerlichen Freiheiten in ganz Europa war ihm die Ausdehnung der eigenen Macht. Die Rheinbund-Staaten dienten ihm in erster Linie als Geldquellen und Lieferanten von Soldaten für seine Grande Armée. Krieg und Machtausdehnung enthüllten sich bald als Selbstzweck. Reformen, wo sie stattgefunden hatten, waren demnach nicht viel mehr als »Kollateralgewinne«.

Im Modell-Königreich Westfalen kam zu den Soldatenaushebungen noch das ruinöse Regime des Herrschers. »König Lustig« wurde Napoleons kleiner Bruder von den Untertanen genannt, denn »Morgen wieder lustig« soll der einzige deutsche Satzbrocken gewesen sein, den der junge Herr aus Ajaccio zu artikulieren vermochte. »Lustig« war aber auch sein Herrschaftsstil: Jérôme profilierte sich als eine Art Playboy-König, der die Staatskasse für Feste, Feuerwerke und Mätressen plünderte. Napoleon war dieser Bruder ein bisschen peinlich, zumal er sich auch noch militärisch als Drückeberger erwies. Jérôme sei das »Gespött von ganz Deutschland«, zürnte der »Empereur«, nicht ganz zu Unrecht. Im nordhessischen Dialekt lebt die Erinnerung an den fröhlichen König Jérôme als »Schrohm« fort, was so viel heißt wie Schürzenjäger …

Die ununterbrochene Abfolge immer neuer militärischer Abenteuer, die nur noch das Ziel der Machtvergrößerung verfolgten, die damit verbundene Aushebung von Soldaten und immer hemmungslosere materielle Auspressung und Ausplünderung durch die Truppen der Grande Armée, dann auch die verheerenden wirtschaftlichen Folgen der Kontinentalsperre, mit der England in die Knie gezwungen werden sollte – all dies führte dazu, dass die anfängliche Bewunderung mehr und mehr in Ablehnung und Hass auf die Franzosen umschlug. Das erklärt den Zulauf von Freiwilligen bei den Befreiungskriegen, die 1813, nach dem desaströsen Russlandfeldzug Napoleons, begannen. Neben den regulären Truppen der von Preußen geführten Anti-Napoleon-Koalition wurden auch Freikorps aufgestellt, in denen sich viele Studenten engagierten.

Im Zeitraum von nicht mal einer Generation kam es vom Seufzer des schwärmenden jungen Ludwig Tieck – »O, wenn ich itzt ein Franzose wäre!« zum nationalistischen Hassprediger Ernst Moritz Arndt: »Der Name Franzos muss ein Abscheu werden in deinen Grenzen, und ein Fluch, der von Kind auf Kindeskind erbt.« Den Franzosenhass sah Arndt als Notwendigkeit an, er sollte als Triebmittel des deutschen Nationalismus, als Katalysator der angestrebten deutschen Einigung wirken und das Deutschtum von welschen Einflüssen reinigen: »Ich will den Hass gegen die Franzosen nicht bloß für diesen Krieg. Ich will ihn lange Zeit, ich will ihn für immer! Dieser Hass glühe als die Religion des deutschen Volkes, als ein heiliger Wahn in allen Herzen und erhalte uns immer in unserer Treue, Redlichkeit und Tapferkeit!«

Schauerlich. Aber ähnliche Exzesse finden sich in der Propaganda des »Turnvaters« Friedrich Ludwig Jahn, Vorkämpfer einer nationalen Erziehung, und von »heiligem Wahn« durchtränkt, der sich am napoleonischen Wahn entzündete, war auch die Poesie der Befreiungskriege. In Theodor Körners Lied von der Rache wird die Lust beschworen, wenn das »Gehirn aus dem gespaltnen Kopfe / Am blutgen Schwerte klebt«, und weiter: »Wir türmen die Hügel ihrer Leichen / Zur Pyramide auf! / Dann brennt sie an, und streut es in die Lüfte, / Was nicht die Flamme fraß, / Damit kein Grab das deutsche Land vergifte / Mit überrhein’schem Aas!«

Von der Idee der Menschenrechte und vom Universalismus der Revolution ist hier nichts mehr zu spüren. Der später hochverehrte Körner fiel 1813, noch vor der Völkerschlacht von Leipzig. Das Ende Napoleons und die Befreiung des deutschen Landes erlebte er nicht mehr.

Die erhoffte staatliche Einheit sollten die Befreiungskriege nicht bringen. Aber eines war in die Wege geleitet: eine Politisierung, in der sich Freiheitstöne und Nationalbewusstsein mit Franzosenhass mischten. Von der anfangs begrüßten napoleonischen Herrschaft mit ihren verheißungsvollen Reformen blieb am Ende nur eine rücksichtslose, aus dem Ruder gelaufene Militärdiktatur, eine Enttäuschung, die das Umkippen in Chauvinismus, ja Rassismus begünstigte. Man darf sich fragen, ob hierin nicht der größte politische Schaden der napoleonischen Herrschaft für Deutschland besteht.

Nach dem Einzug der preußischen und russischen Truppen nach Paris wurde Napoleon im April 1814 zur Abdankung und ins Exil auf die Insel Elba gezwungen, während in Frankreich mit Ludwig XVIII. wieder ein Bourbonenkönig den Thron bestieg. Im März 1815 kehrte Napoleon noch einmal für hundert Tage zurück. Auf seine endgültige Niederlage bei Waterloo folgte die Verbannung auf die Insel Sankt Helena im Südatlantik, wo er 1821 starb. Sein Sarg wurde 1840 nach Paris überführt und in einer nationalen Zeremonie im Invalidendom beigesetzt.

In Frankreich genießt der »Empereur« heute wie eh und je hohes Ansehen. Die Pariser Geographie der Straßennamen und Metrostationen ist reich bestückt mit Erinnerungen an napoleonische Schlachten, natürlich nur siegreiche – Castiglione, Mondovi, Bassano, Arcole, Rivoli, Pyramides, Aboukir, Marengo, Ulm, Austerlitz, Iéna, Eylau, Friedland, Wagram. Neben der Grande Armée haben auch seine Marschälle und Generäle ihre Avenuen und Boulevards, daneben die Friedensschlüsse von Campo Formio, Presbourg und Tilsitt, und auf dem Place Vendôme steht die aus erbeuteten Kanonen gegossene Siegessäule, von der Bonaparte im Cäsarengewand grüßt. Für viele bleibt er eine nationale Lichtgestalt. Der Handel mit Napoleon-Literatur und Devotionalien floriert, der Kult scheint ungebrochen. Allerdings wurde 2006 auf größere Feiern zum 200. Jahrestag des Sieges von Austerlitz verzichtet. Kurz nach den feurigen Unruhen in Frankreichs Vorstadtghettos und den Großdemos der Studenten waren Präsident und Regierung bemüßigt, jeden weiteren Zwist zu vermeiden. Es waren nämlich unter Frankreichs schwarzer Bevölkerung plötzlich Stimmen laut geworden, die anklagend darauf hinwiesen, dass Napoleon die zuvor während der Französischen Revolution abgeschaffte Sklaverei in den Kolonien wieder eingeführt hatte. Premierminister Dominique de Villepin hatte sich zwar vorher in einem Buch als Bewunderer Napoleons geoutet, war aber plötzlich anderweitig beschäftigt und sagte kurzfristig die Teilnahme am Austerlitz-Fest zu Füßen der Vendôme-Säule ab. Es war irgendwie nicht der rechte Moment.

Germanischer Chauvinismus

Nach dem Sturz Napoleons bemühten sich die Vertreter der europäischen Staaten auf dem Wiener Kongress 1814/15 um die Wiederherstellung vorrevolutionärer Zustände und die Wiedereinsetzung der alten Herrschaftsdynastien. In Deutschland trotzten Freiheitskämpfer diesen restaurativen Tendenzen. Freilich barg ihr Kampf gegen die vom Wiener Kongress installierten reaktionären Regime selbst einen reaktionären Keim, es mischten sich vorwärts- und rückwärtsgewandte Ideen. Groß blieb der Einfluss des »Turnvaters« Jahn, der in seinem Opus Deutsches Volksthum predigte: »Wer seinen Kindern die französische Sprache lehren lässt, ist ein Irrender; wer darin beharrt, sündigt gegen den Heiligen Geist; wenn er aber seinen Töchtern Französisch lehren lässt, so ist das ebenso gut, als wenn er ihnen die Hurerei lehren lässt.«

Das Wartburgfest am 4. Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig geriet dann zur Demonstration eines teilweise recht fragwürdigen Patriotismus. Jahn steuerte als zentralen Veranstaltungspunkt die erste moderne Bücherverbrennung bei. Es heißt, er habe selbst die als undeutsch geltenden Werke ausgesucht, die dann ein Jünger ins Feuer warf. Joseph Goebbels hat das Verfahren bekanntlich als Propagandaminister des »Dritten Reiches« dankbar aufgegriffen. Unter den auf der Wartburg in die Flammen geworfenen Schriften waren sowohl der Code Napoléon als auch das Buch Germanomanie des jüdischen Schriftstellers Saul Ascher. Der burschenschaftliche Nationalismus hatte neben seiner antifranzösischen auch früh schon eine antisemitische Komponente.

Die Karlsbader Beschlüsse 1819 brachten das Verbot der Burschenschaften und verschärfte Pressezensur. Politische Friedhofsruhe senkte sich wie ein muffiger Teppich über die deutschen Lande. Patriotische Studenten wurden verhaftet oder ins Exil getrieben. Als 1830 die Pariser Julirevolution dem Restaurationsregime des Bourbonenkönigs Charles X. ein Ende bereitete, wehte erneut frischer Wind aus Frankreich herüber und ermutigte die liberale und demokratische Opposition. Aufmüpfig meldete sich das Junge Deutschland zu Wort, Schriftsteller wie Ferdinand Freiligrath, Georg Herwegh oder Karl Gutzkow stritten für Presse- und Meinungsfreiheit, einige gingen deutlich auf Distanz zum deutschtümelnden Getue der Turner und Burschenschaftler. »Ich hasse jede Gesellschaft, die kleiner ist als die menschliche«, verkündete Ludwig Börne. Heinrich Heine zog gleich ganz nach Paris um, ins revolutionäre »neue Jerusalem«, um von dort aus deutschen Lesern die »französischen Zustände« näherzubringen. 1835 wurden Heines Schriften wie die der Jungdeutschen auf Beschluss des Frankfurter Bundestages in ganz Deutschland verboten. Es wurde ihnen vorgeworfen, »die bestehenden Verhältnisse herabzuwürdigen und alle Zucht und Sittlichkeit zu zerstören«.

Im Jahr 1840 erhob Frankreich erneut Ansprüche auf die linksrheinischen Gebiete. Schon während der Französischen Revolution war die Forderung nach dem Rhein als natürlicher Grenze laut geworden. Tatsächlich spricht man in Frankreich auch heute gern von »outre-Rhin«, wenn ganz allgemein Deutschland gemeint ist. Aber es denkt sich niemand etwas Böses dabei. 1840 war die Rheingrenze jedenfalls in Frankreich eine populäre Forderung und erregte die Öffentlichkeit. Bei den Deutschen legten sich die Produzenten nationaler Rheinsymbolik ins Zeug. Ernst Moritz Arndt zeigte sich in antifranzösischer Hochform: »Nun brause fröhlich, Rhein: / Nie soll ob meinem Hort / Ein Wälscher Wächter sein!« Nikolaus Becker verfasste das Gedicht Der deutsche Rhein, darinnen es heißt: »Sie sollen ihn nicht haben, / Den freien deutschen Rhein«, ein Dauerbrenner über Jahrzehnte, und Max Schneckenburger veröffentlichte mit dem Lied Die Wacht am Rhein gar eine Art zweiter Nationalhymne. Ihre Verse sind in den Sockel des 1883 eingeweihten Niederwalddenkmals eingemeißelt. Kraftstrotzend und wehrhaft hockt bei Rüdesheim die Walküre Germania überm Strom und schaut drohend gen Westen. Die Dame selbst wurde aus französischen Beutekanonen gegossen, ein Gegenstück zur Pariser Vendôme-Säule, deren Bronzeschaft aus Kanonen besteht, die die französischen Truppen in Austerlitz erbeutet hatten.

Vor dem Hintergrund einer schweren Wirtschaftskrise lieferten Proteste gegen das Zensuswahlrecht in Paris den Auslöser der Revolution von 1848. Im Februar wurde der durch die Julirevolution von 1830 eingesetzte Bürgerkönig Louis Philippe entmachtet, eine provisorische Regierung verkündete die Republik – die zweite nach der von 1792. Erneut sprang der revolutionäre Zündfunke aus Paris auf Deutschland über. Aber ein weiteres Mal wurden die Hoffnungen des republikanischen Lagers enttäuscht. Die deutsche Revolution scheiterte, ihre Protagonisten wurden gnadenlos verfolgt. Und Paris erlebte nach den Verbrüderungsszenen des Februar zwischen Bürgern und Arbeitern im Juni den zweiten, hässlicheren Teil der 48er Revolution: Der Klassengegensatz war deutlich aufgebrochen, brutal ließ die Regierung den Aufstand Pariser Arbeiter niederschlagen. Danach ließ sich der Neffe von Napoleon, Louis Bonaparte, zum Präsidenten wählen und schuf 1851 per Staatsstreich die Voraussetzungen für sein »Zweites Kaiserreich«. Die Idee vom demokratischen Europa war bis auf Weiteres auf Eis gelegt.

Der Krieg von 1870/71

Nicht nur die deutschen Nationalisten entwarfen Negativkarikaturen von der gegnerischen Seite. Zu einer zünftigen Erbfeindschaft gehören zwei.

Schon im Verlauf der Französischen Revolution, also parallel zur Verbreitung des nationalen Gedankens, war in Frankreich das Bild des Deutschen als »Barbaren« aufgetaucht. Während die eigene Nation als Hort der Zivilisation definiert wurde, sah man im Osten kriegerische, dumpf-brutale Finsterlinge, die aus ihren dunklen germanischen Wäldern hervorbrachen. Solche Vorstellungen verfestigten sich allmählich zu Stereotypen, die bei jeder neuen Konfrontation mit den Nachbarn wieder belebt werden konnten.

Nachdem infolge sich hochschaukelnder Spannungen Frankreich im Juli 1870 Preußen den Krieg erklärt hatte, las man etwa im Petit Journal: »Wir segnen ihn, diesen Krieg, weil durch ihn die Flut der Barbaren niedergeschlagen wird! Und unserem durch die grässliche Invasion entehrten Frankreich werden wir im Blut der germanischen Fürsten eine neue Jungfräulichkeit schaffen!« Während der Krieg von 1870/71 für die Franzosen ein Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei war, stiftete er für die Deutschen die lang ersehnte Einheit. Am 1. September 1870 war mit der Niederlage von Sedan das Schicksal Napoleons III. besiegelt. An der Seite Preußens hatten sich auch die süddeutschen Fürsten am Krieg beteiligt. Der preußische Kanzler Otto von Bismarck nutzte die Siegeseuphorie nach Verträgen mit den Einzelstaaten zur Gründung des Deutschen Reiches. Am 18. Januar 1871 wurde im Spiegelsaal von Versailles der Preußenkönig Wilhelm I. zum deutschen Kaiser proklamiert. Für Frankreich war das eine bittere Demütigung, aber noch schlimmer war die im Friedensvertrag festgelegte Abtretung des Elsass und eines Teils von Lothringen. Von den 1,6 Millionen Einwohnern der abgetrennten Gebiete wanderten rund 100 000 nach Frankreich aus, vor allem aus der Gegend um Metz, wo schon lange kein Deutsch mehr gesprochen wurde.

Die Feindbilder, die aberwitzigen Vorurteile und Hassausbrüche waren von Anfang an keineswegs bloß eine Sache des sogenannten Pöbels, sondern wurden beiderseits von hochgebildeten Angehörigen der kulturellen Eliten hervorgebracht. 1871 schreibt der Autor Paul de Saint Victor: »Wenn wir aber wollen, dass Frankreich sich wieder zu seiner ganzen Größe erhebt, beeilen wir uns, diesen dringlichen, lebendigen und wesentlichen Hass in seine Seele zu senken! Halten wir diesen Hass lebendig wie ein heiliges Feuer! Lernen wir zu hassen! Man liebt Frankreich, indem man Preußen verabscheut.« Bald sollte es erneut Gelegenheit geben, das »heilige Feuer« auflodern zu lassen.

Der große Krieg

Als im Jahr 2001 von der französischen Regierung entschieden wurde, einen dritten Pariser Großflughafen im Département Somme, 125 Kilometer nördlich der Hauptstadt, zu bauen, kam es zu massiven Protesten, die sich bald über die betroffenen Gemeinden hinaus ausweiteten. Die Bewohner des Santerre-Plateaus in der Picardie demonstrierten nicht nur mit überraschender Heftigkeit gegen das programmierte Verschwinden ihrer Dörfer, sondern sie führten ein unerwartetes Argument an: Die für den Airport vorgesehene Lokalität liegt auf dem Gebiet der Somme-Schlacht, in der 1916 über eine Million Menschen ihr Leben ließen. Die Gegend ist übersät mit französischen, britischen und deutschen Soldatenfriedhöfen. Die aber hätten dem Flughafen weichen müssen, Tausende von Gräbern wären umgebettet worden.

Im Herbst 2001 zeigt mir der Wirt des Cafés von Vermandovillers, einem der bedrohten Dörfer, sein Fotoalbum: »Schauen Sie! So sah das hier aus! Das Dorf war verschwunden, alles bloß Bombentrichter, kein Haus, kein Baum, kein Strauch!« Die Gegend sei nach dem Krieg als »rote Zone« eingestuft, als unbrauchbar aufgegeben worden. Aber die Großeltern seien trotzdem zurückgekommen und hätten alles wieder aufgebaut. Die anderen Gäste mischen sich ein: »Wenn man hier mit dem Bagger einen Graben aushebt, stößt man immer noch auf Skelette, Stahlhelme, Kochgeschirre, Waffenteile!« Früher hätten die Landarbeiter mehr Geld mit dem Verkauf von Altmetall verdient als mit der Feldarbeit. All das erweckt den Eindruck, als sei dieser Krieg erst vor Kurzem beendet worden. Bei genauerem Hinsehen sind seine Spuren zu erkennen. Die Dörfer mit ihren Kirchturmspitzen aus Beton tragen den Stempel der 1920er Jahre, und die zahllosen Soldatenfriedhöfe werden als Bestandteil der regionalen Identität angesehen. »Der Friedhof gehört zu unserem kulturellen Erbe«, erzählt der Friedhofsgärtner des Nachbardorfs. In seiner Schulzeit sei er jedes Jahr am Nationalfeiertag, dem 14. Juli, und am Tag des Waffenstillstands von 1918, dem 11. November, mit der Klasse dorthin gezogen, um die Marseillaise zu singen. Und dann liest er aus dem Gästebuch vor, in dem sich Besucher zum Flughafen-Projekt geäußert haben: »Verflucht sei, wer sich an den Gräbern derer vergreift, die für unsere Freiheit gestorben sind […] wer ihre Ruhestätten mit Beton überziehen will […] Vergreift euch nicht an unseren Toten, lasst sie in der Erde schlafen, die sie so tapfer verteidigt haben. Ihre Ruhe zählt mehr als ein Flughafen!«

Das Projekt wurde dann zurückgezogen. Angesichts der immer höher schwappenden Protestwelle war es nicht mehr haltbar. Die Staatstechnokraten hatten einen sensiblen Faktor ignoriert.

Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, »la Grande Guerre«, ist in Frankreich weitaus lebendiger als in Deutschland, wo die Schrecken des Zweiten Weltkriegs jene des Ersten in graue Vorzeit verdrängt zu haben scheinen. Das hat sicher auch damit zu tun, dass der Erste Krieg zum großen Teil in Frankreich stattgefunden und dort markante Spuren hinterlassen hat. Außerdem hat er unter den Franzosen ungleich viel mehr Opfer gefordert als der Zweite. Seine bekannteste Gedenkstätte befindet sich bei der ostfranzösischen Stadt Verdun, wo 1916 eine der blutigsten Schlachten getobt hatte. Als sich dort am 22. September 1984 Präsident François Mitterrand und Kanzler Helmut Kohl zur Bekräftigung der deutsch-französischen Freundschaft die Hände reichten, wurde dieser Geste in Deutschland weitaus weniger Bedeutung beigemessen als in Frankreich. Manchen Deutschen erschien sie sogar albern oder kitschig. Die Franzosen aber waren bewegt. Sie haben eben zu diesem Krieg ein viel intensiveres Verhältnis.

Der Erste Weltkrieg brach im Juli 1914 nach den tödlichen Schüssen auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo aus. Dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn stand eine Koalition aus Frankreich, Großbritannien, Russland und Serbien gegenüber. In Deutschland wie in Frankreich begleitete ein hurrapatriotisches Konzert den Kriegsausbruch. Die Propaganda schlug hohe Wellen und erreichte neue, rassistische Qualitäten. So machte die Teilnahme afrikanischer Kolonialtruppen aus den Franzosen ein »Mischlingsvolk«. Dunkelhäutige Gestalten mit gebleckten Zähnen tauchten in der deutschen Kriegspropaganda auf, dazu der höhnische Hinweis auf die Hüter der vielgepriesenen Zivilisation und Kultur. Zuvor war in französischen Kampagnen der Einsatz schwarzer Soldaten gezielt hervorgehoben worden. Es waren Postkarten in Umlauf gebracht worden, auf denen sich ein schwarzer Soldat eine Kette aus abgeschnittenen Feindesohren um den Hals hängt. Das Ziel war, Angst und Schrecken zu verbreiten, und es wurde erreicht. Thomas Mann erregte sich über die Ungeheuerlichkeit, auf Deutschland »Hottentotten loszulassen«. Und im Oktober 1914 gaben im »Aufruf der Dreiundneunzig« namhafte deutsche Vertreter von Wissenschaft und Kultur ihrer Empörung Ausdruck, darunter Max Planck, Wilhelm Röntgen, Gerhart Hauptmann, Engelbert Humperdinck und Max Reinhardt: »Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.« Im Gegenzug teilten französische Gelehrte mit, schon an ihrer Schädelform sei abzulesen, dass die Deutschen eine ethnische Veranlagung zum Barbarentum hätten. Und eine naturwissenschaftliche Zeitschrift wies 1915 auf den besonderen Geruch der deutschen Rasse hin: »Dass die Deutschen einen üblen Geruch verbreiten, ist unbezweifelbar! Was die Art dieses speziellen Geruchs angeht, herrscht weniger Übereinstimmung. Viele vergleichen ihn mit dem ranzigen Fettes. Andere versichern, dass er den Ausdünstungen Nichtsesshafter ähnle. Manche entdecken in ihm Ähnlichkeiten mit dem faden Geruch aus Kaninchenställen, dem Geruch abgestandenen Bieres oder geronnener Milch, mit dem Geruch eines schlecht besorgten Hühnerstalles oder einer Tonne alten Pökelfleisches.«

Verbreitete Schimpfworte für die Deutschen waren »Fritz« oder »Fridolin«, vor allem aber die schon im 19. Jahrhundert aufgetauchte Bezeichnung »Boche«, für deren Entstehung es keine eindeutige Erklärung gibt. Fest steht nur, dass mit dem Wort eine besondere Abscheu zum Ausdruck gebracht wird. Die Frage, was mit den Babys geschehen sollte, die nach Vergewaltigungen französischer Frauen durch »Boche«-Soldaten geboren wurden, erregte die Gemüter. Gegen die Befürworter der ansonsten streng verbotenen Abtreibungen, die von der »Infektion« des Volkskörpers durch »teutonische Spermatozoiden« faselten und die biologische Zukunft der französischen Rasse gefährdet sahen, regelte der Staat die Sache und führte die »Boche«-Bastarde der Fürsorge zu, unter Wahrung strikter Anonymität.