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Marcus Hernig

China
Ein Länderporträt

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Marcus Hernig

China

Ein Länderporträt

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Für Eva Siao, die laowai im Osten,
und Lin Yutang, den baixing im Westen

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über www.dnb.de abrufbar.

3. Auflage als E-Book, August 2016
entspricht der 4., aktualisierten Druckauflage vom Juli 2016
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Cover: Stephanie Raubach, Ch. Links Verlag. Yiwu Markt in der Provinz Zhejiang © Jan Siefke
Lektorat: Dr. Stephan Lahrem/Günther Wessel, Berlin

eISBN 978-3-86284-351-0

Inhalt

Vorwort

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Laowai – Ausländer

Herr Wai kommt nach China · China interkulturell: East is East and West is West · »Das kommt mir Chinesisch vor« · In China arbeiten: laowai-Karrieren · Nach China auswandern? – Historische laowai-Schicksale · Deutsch-Chinesische Wahlverwandtschaften

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Baixing – Inländer

Die hundert Familiennamen · Minderheiten von Xinjiang bis nach Taiwan · Die Gelben · Zwischenmenschliche Beziehungen: guanxi von Chef bis Freund · Harmonie im Gegensatz: die zwei Seelen der Chinesen · Der Lauf des Lebens: Kindheit · Heirat und Ehe · Scheidung · Der Graben zwischen den Generationen

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Lishi yu zhengzhi – Geschichte und Politik

Mauern, Mythen und Geschichte · Zhongguo: von den vielen Reichen zum einen Reich der Mitte · Vom 20. in das 21. Jahrhundert: große Sprünge aus der Vergangenheit · China und die Fremden

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Jiaoyu bisai – Bildung als Wettbewerb

Bestform als Ziel: der größte Wettbewerb der Welt · Lehr- und Lerngewohnheiten · Bildung als Auslese · Nach der Schule: Der Wettbewerb geht weiter

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Caishen – Der Geldgott

Götter zum Reichwerden · »Jedermanns« Wünsche an den Geldgott · Giga-Geldgötter: »Einige werden zuerst reich« · Geldgott-Trends: Von der Kopie zu »Made in China 2025«

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Yinshi zhi mei – Speis und Trank

Totalphänomen Essen · Gesundheit: die Balance des Bauches · Kleine kulinarische Reise · Eine gesunde Verdauung macht glücklich · Tischsitten, Tischgewohnheiten und Tischlisten · Vom Glück des Teetrinkens

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Xiangxia – Reisen aufs Land

Eine Reise ins Landesinnere · Landessitten und Landesfeiern · Landmänner: Lao Mao und Lao He · Landarmut · Das Verschwinden des Landes

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Dadushi – Metropolen

Grundstoff Beton · Shanghai: Stadt ohne Gegenwart · Shanghai: China oder nicht China? · Leben in der Vergangenheit · Shanghai: Stadt der Deutschen · Antithese Peking · Zukunft: hellgraue Megastadt-Region

Anhang

Literaturverzeichnis

Wichtige Medien

Chinesisch-deutsches Glossar

Basisdaten

Karte

Über den Autor

Über den Autor

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Marcus Hernig

Jahrgang 1968, Studium der Sinologie, Germanistik und Geschichte in Bochum und Nanjing, seit 1992 in China, lebt seit 1998 in Shanghai, langjährige Tätigkeiten in der chinesisch-deutschen Bildungs- und Kulturarbeit, u.a. als Lektor des DAAD und als Beauftragter des deutschen

Generalkonsulats in Shanghai für Bildungszusammenarbeit, deutsche Sprache und Literatur, seit 2007 Seminarleiter, Berater und Autor, chinesisch-deutsche Programme für Unternehmen, Kreativwirtschaft und Bildungseinrichtungen, Gastprofessor an der Tongji-Universität Shanghai und an der Zhejiang-Universität Hangzhou.

Vorwort

»Die Menschen sind es!«
Eva Siao

Die Neuauflage dieses Buches fällt in eine Zeit, die von Unsicherheiten geprägt ist. Chinas Wachstum, das die Weltwirtschaft und den globalen Kapitalismus heute wesentlich mitbestimmt, hat sich verlangsamt. Stimmen mehren sich, die schon ein Ende des noch nicht einmal begonnenen »Goldenen Zeitalters« Ostasiens, verkünden. Das Leben im Lande ist nicht mehr günstig, wie noch vor wenigen Jahren und mit steigendem nationalem Selbstbewusstsein verschlechtert sich der Status des »privilegierten Ausländers«. Die chinesische Regierung betreibt eine kompromisslose Zentralisierung, um in Zeiten der Neuausrichtung das gewaltige System China, von dem mittlerweile die Welt lebt, zusammenzuhalten.

China bleibt ein Superlativ, wie auch immer diese Entwicklungen voranschreiten. China bleibt ein Land der Gegensätze, die einander nicht ausschließen, sondern auf merkwürdige Weise oft komplementär sind. Das ist mit gewohnten westlichen Denkmustern des »Entweder-oder« oft schwer zu verstehen.

China ist das Land mit der längsten kontinuierlichen Geschichte und den meisten Hinrichtungen. China predigt Sozialismus und praktiziert knallharten Kapitalismus. China ist gefährlich nah, wenn chinesische Firmen Arbeitsplätze in Europa zerstören oder ausrangierte Brauereien und Stahlwerke abmontieren, wie vor Jahren in meiner Heimatstadt Dortmund geschehen. China ist aufregend nah, wenn deutsche Kinder beginnen, in den Schulen Chinesisch zu lernen und dafür Französisch oder Italienisch verschmähen. China ist gut, und China ist schlecht. China kreiert Begeisterung, wenn es in TV-Sonderberichten seine Glitzerwelten und beispiellosen architektonischen Möglichkeiten zeigt, China erzeugt Empörung, wenn es Blei in niedliches Kinderspielzeug mischt.

Und die Chinesen? Chinesen konsumieren westliche Markenprodukte aller Art, kaufen mehr im Ausland als jedes andere Volk unseres Planeten und arbeiten ehrgeizig daran, selbst zum Land für Innovationen und neuen Weltmarken »made in China« zu werden. Chinesen sind höflich und lächeln immer, Chinesen sind hart und unfreundlich im Alltag. Chinesische Frauen sind hübsch. Chinesen sind Allesfresser, essen sogar Hunde, schlürfen ihre Nudeln und spucken wie Lamas. Chinesen kaufen Unternehmen weltweit, nicht zuletzt in Deutschland. Die Chinesen sind da und werden weiter kommen. Mit den Chinesen müssen wir rechnen.

Die Liste solcher Stereotype und Halbwahrheiten könnte leicht fortgesetzt werden. Stereotype von anderen Menschen und Ländern aufzubauen gehört zur Geschichte der Menschheit. Je weiter ein Land von einem anderen entfernt ist, desto häufiger entstehen schablonenhafte Bilder, die auch in Zeiten weitreichender Vernetzung und umfassender Reisemöglichkeiten hartnäckig weiterbestehen. Gerade China gilt vielen Menschen, auch Buchautoren, noch immer als »skurril, seltsam« und trotz aller beeindruckenden Leistungen dem Westen unterlegen. Es ist schwer, dieses Chinabild gerade auch aus deutschen Köpfen zu verdrängen.

Dabei eröffnet die Globalisierung enorme Chancen, solche Stereotype abzubauen und »ganz normal« zusammenzuleben. In Shanghai und in der Yangtse-Region zwischen Nanjing und Ningbo lebt eine ständig steigende Zahl Deutscher, mindestens um die 12 000. Das ist eine Schätzung, denn konkrete statistische Angaben fehlen. Umgekehrt studieren in Deutschland rund 30 000 Chinesen, die größte Gruppe unter den ausländischen Studenten. Hunderttausende Chinesen leben und arbeiten langfristig zwischen Hamburg und München, Aachen und Dresden. Firmenübernahmen und Investitionen in Deutschland werden in den nächsten Jahren weiterhin die Präsenz der Chinesen in Deutschland erhöhen. Chinesische Viertel wie in Hamburg oder Berlin, aber auch im Rheinland sind mit zunehmender wirtschaftlicher Präsenz stark im Wachstum begriffen. Häufig unbemerkt sind die einst so fernen Chinesen zu Nachbarn geworden, und das nicht nur, weil man in der Zwischenzeit schneller nach China oder Deutschland fliegen kann, als man mit dem Zug von Hamburg nach Rom fährt.

Die Globalisierung hat die Beziehung zwischen Deutschen und Chinesen aber auch versachlicht. Meist geht es ums Geschäft, um Märkte und Profit zum beiderseitigen Nutzen. Trotz des raschen Anstiegs der Ausländerzahlen in China ist ein wirkliches Miteinander immer noch selten. Viele der Ausländer in Beijing oder Shanghai leben in luxuriösen Wohnanlagen für sich. Wohnen sie unter Chinesen, dann meist besser und geräumiger als diese. Den Kontakten zwischen laowai und baixing – Fremden und Einheimischen, Ausländern und Inländern – fehlen oft wirkliche Freundschaften. Die Lebens- und Alltagswelten in China bleiben oft klar getrennt. Integration von Ausländern in die chinesische Gesellschaft ist nicht vorgesehen, im Gegenteil haben neue bürokratische Hürden den Aufenthalt in den letzten Jahren eher erschwert als erleichtert. So bleibt man einander häufig aus Unkenntnis fremd – und Beziehungen entstehen so schnell wie sie auch wieder vergehen.

Doch wer es mit China ernst meint, der ist offen und interessiert sich für alles, was die Menschen hier bewegt, glücklich macht oder auch bedrückt. Eine gute Freundin, die 50 Jahre lang in China gelebt hat, hat mir vor Jahren als jungem Studenten ihre Überzeugung mitgegeben: »Die Menschen sind es, Marcus!« Daher gebührt den Menschen, Ausländern und Einheimischen, die in China zusammenleben und China zusammen erleben möchten, auch der Ehrenplatz der beiden ersten und längsten Kapitel des Buches.

Das Leben im gegenwärtigen China wirkt oft genug wie ein großer Strom, der alle und alles mitreißt. Es lohnt sich daher, sich ab und an in die wenigen verbliebenen ruhigen Orte Chinas zurückzuziehen: In Suzhous Gärten, in die aquarellartige Schönheit des Tai-Sees, die weiten Ebenen und Berge in Westchina oder eines der Teedörfer in Fujian. Unter der wogenden modernen Oberfläche des Landes steckt viel Geschichte, die die Gegenwart mitbestimmt.

Dieses Buch beabsichtigt, Grundstrukturen chinesischen Lebens ohne Stereotype und Superlative in ehrlicher Weise aufzudecken. Miteinander zu konkurrieren, reich werden zu wollen, sich von der ländlich-agrarisch geprägten zur städtischen High-Tech-Gesellschaft zu wandeln, ist sehr anstrengend. Schon immer hat man sich beim Essen in China vom Druck des Alltags und der Gesellschaft entspannt. Das erklärt nicht zuletzt die hohe Bedeutung des Essens hier, des Bauches überhaupt.

Chinesen legen noch immer viel Wert auf Zahlensymbolik – und die Acht ist die chinesische Glückszahl. Daher sind es acht Themen, die die Struktur »meines Chinas« bilden. Das ist eine bewusst subjektive Auswahl. Lücken sind angesichts der gebotenen Kürze und Komplexität der Einzelthemen auch in dieser vielfach überarbeiteten Neuauflage nicht zu vermeiden.

Shanghai im Juni 2016

Marcus Hernig

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Laowai – Ausländer

Herr Wai kommt nach China

Sie ist nicht zu übersehen, die chinesische Nationalflagge gleich hinter den Einreiseschaltern im Terminal 2 des Shanghaier Flughafens Pudong. Vor einigen Jahren hing sie hier noch nicht, doch nun ziert das Fünf-Sterne-Banner die Rückwand vor der meist sehr junge blau-uniformierte Zollbeamte schnell und effizient Pässe kontrollieren und Visa abstempeln. An ihrem Schalter sind kleine Kästen angebracht, die mit Smiley-Buttons dazu auffordern, die Leistung des jeweiligen Schalterbeamten per Knopfdruck zu bewerten. Neues nationales Selbstbewusstsein, verbesserte Serviceleistungen und Emoji-Kultur gleich beim Grenzübertritt auf dem Flughafen. Drei Trends, die mir anzeigen, was China heute ausmacht und wohin der Weg weiter gehen wird.

Lächelnd gibt mir die sympathische Grenzwächterin das wichtige Eintrittsdokument zurück. Ich drücke den freundlichsten aller Smileys – große Zufriedenheit mit der Leistung. Nun ist mein Pass ordnungsgemäß rot gestempelt. Rot ist offiziell, verleiht jedem Dokument Gewicht und symbolisiert außerdem Glück. Ich atme auf, haste weiter zu den Gepäckbändern, die mir meine mitgebrachte Habe wiedergeben sollen. Auch das ist nach 15 weiteren Minuten erledigt. Nun liegt nur noch der Durchgang mit dem roten und dem grünen Ausgangsschild »declare goods« oder »nothing to declare« vor mir. Ich zögere kurz, schließlich sind drei Flaschen Wein und der heimische Schinken aus Westfalen im Gepäck. Standen da nicht eben zwei große Schilder, die das Mitführen von Lebensmitteln jeder Art verboten haben? Soll ich nachfragen? Das deutsche Gewissen regt sich, ich zögere. Doch alle anderen strömen wie selbstverständlich durch den grünen Durchgang, Menschen mit beachtlichen Gepäckmengen, meist Chinesen. Die müssen es wissen. Also einfach hinterher. Ich habe Glück. Vor mir schiebt ein heimkehrender Chinese einen mit drei Koffern und fünf Kartons hoch bepackten Trolley vor sich her. Prompt wird er herausgewunken und muss sein schweres Gepäck auf das Laufband des Scanners wuchten. Mich sehen die Flughafenzöllner nicht einmal an, als ich mit unsicherem Blick meinen einzigen schweren Koffer hinter mir herziehe. Sonst gibt es keine weiteren Kontrollen, und ein wenig bezweifle ich, ob die Zöllner wirklich interessiert, was die einreisenden Massen aus aller Welt so alles ins Land schleppen. Chinesen sind zu weltweit reisenden Top-Konsumenten geworden. Was sie aus dem Ausland mitbringen, ist enorm. Viele Fluggesellschaften haben auf den weltwirtschaftlich bedeutenden Shopping-Wahn der Chinesen im Ausland reagiert und ihre Freigepäckkontingente einfach verdoppelt. Nun bin ich durch: »Huanying nin dao Zhongguo lai, pengyou!« – »Willkommen in China, mein Freund!«

Beim Gang durch die weiten neu erbauten Hallen chinesischer Flughäfen wird dem Neuankömmling – oder dem China-Rückkehrer – schnell bewusst, was China heute sein will. Ein kompromisslos modernes Land der Superlative. Beim Bau des dritten Terminals des Hauptstadtflughafens Peking durfte sich der britische Architekt Norman Foster mit seinem Design im XXL-Format verwirklichen. Anfang der 1990er Jahre landete man noch auf einem ackerlandartigen Areal und wurde mit Hilfe von Traktoren weiter befördert. Inzwischen soll der nach dem US-amerikanischen Atlanta weltweit zweitgrößte Flughafen mit seinen drei Terminals an seine Kapazitätsgrenzen gelangt sein. Die Folge: 2019 soll ein weiterer Großflughafen im Süden der Stadt verwirklicht werden und der rund 150 Millionen Einwohner starken Metropolregion Peking-Tianjin-Hebei neuen Aufschwung verleihen. Dann soll Peking endgültig das Drehkreuz der Welt sein, durch das jährlich mehr Passagiere geschleust werden, als das Nachbarland Japan Einwohner hat.

Die Logik des chinesischen Wachstums im 21. Jahrhundert erinnert in guter Parteitradition an die ehrgeizigen Pläne des Kommunisten Mao Zedong (1893–1976), der China bereits in den 1960er Jahren zur führenden Weltmacht machen wollte. Die Grundideen ähneln einander, selbst wenn sich die Umstände, Mittel und Objekte des Konkurrenzkampfes völlig verändert haben. Modernes chinesisches Bauen wirkt organisch. Nicht wegen der Formen, sondern weil ständig gebaut wird. Das funktioniert nach dem Prinzip der Zellteilung: Aus eins mach zwei, aus zwei mach vier etc. Anders als zu den Zeiten, da China noch Agrarland war und die Aufteilung des Bodens den Bauern nichts als immer kleinere zweidimensionale Parzellen übrig ließ, plant das moderne, urbane China der Zukunft dreidimensional, also in Kubikmetern. Und die lassen noch erstaunlich viel freie Nutzfläche zu.

Weder in Pudong noch im Hauptstadtflughafen reißt der Strom der laowai ab. In immer kürzeren Zeitabständen landen die Maschinen, die die beiden Metropolen ansteuern. Die Freunde aus aller Welt, die hier chinesische Erde betreten, kommen längst nicht mehr nur aus Tokio, Seoul, Pjöngjang, Los Angeles, New York, London, Moskau oder Frankfurt, wie noch vor einem Jahrzehnt. Karatschi, Neu-Delhi, Istanbul, Dubai und andere Destinationen haben längst das Erscheinungsbild der Ausländer in China bunter gefärbt – selbst wenn die meisten Ankömmlinge mit den üblichen kantigen Business-Koffern oder -Trolleys ausgestattet sind, die auf ähnliche Absichten schließen lassen.

Für die Weiterreise hinein in die Metropolen gibt es zwei Optionen: Die mittlerweile längsten U-Bahn-Netze der Welt, in wenigen Jahren nur gegraben und in Betrieb gesetzt, in Shanghai ergänzt durch eine Transrapid-Trasse oder die unzähligen Taxioptionen. Dazu gehören reguläre Taxen in verschiedenen Farben wie neu eingerichtete Fahrdienste etwa des weltweit operierenden Unternehmens Uber. Mithilfe von Smartphone Apps mit Baby-sprech-Appeal namens »Didi« oder »Dida« kann das passende Fahrzeug leicht geordert werden, per GPS wird der Kunde geortet. Steigende Konkurrenz auch auf diesem Servicesektor ermöglicht dem erfahrenen User Deals und Schnäppchen. Auch das erfährt der Chinareisende schnell: Ohne Smartphone ist Leben im China des 21. Jahrhunderts fast unmöglich.

Zuviel an Neuem direkt nach der Ankunft. Daher am besten Schlange stehen und warten, bis ich es mir in meinem Taxi bequem machen kann. Glücklicherweise ist es grün lackiert. Die grünen, die türkis- und goldfarbenen sowie die metallicblauen Taxen genießen in Shanghai absolutes Vertrauen. Sie gehören den großen Taxifirmen, die sehr gut organisiert sind. Ihre Fahrer sind meist höflich und verfügen über gute Ortskenntnisse. Am schlechtesten organisiert sind die dunkelroten Taxen der Kleinunternehmer mit dem »X« im Kennzeichen. Die lasse ich gern leer vorbeifahren oder steige nur ein, wenn ich absolut keine andere Wahl habe. Oft sind die »schwarzen Taxen«, meist Neuwagen von Privatfahrern, die sich nebenher als »Taxifahrer« noch etwas dazuverdienen, dann noch die bessere Wahl. Beim Blick aus dem Fenster stelle ich erstaunt fest, dass die eintönigen Marschlandfelder, die Pudong noch vor wenigen Jahren kennzeichneten, schon wieder deutlich weniger geworden sind. Der Flughafen frisst sich ins Land, und wo er endet, erheben sich unzählige Fabriken und Firmenniederlassungen. Verloren und versprengt kauern unscheinbare Bauernhäuser dazwischen. Die letzten Biotope der »Ureinwohner« von Pudong. Der Taxifahrer beginnt mit mir einen Smalltalk, auf den der müde Ausländer sich gar nicht recht einlassen möchte: »Wo kommst du her? Wie lange bist du schon in China? Gefällt es dir?« Kurze Antworten nötigen dem Taxifahrer das Standardlob für jeden laowai ab, der ein paar Sätze Chinesisch zum Besten geben kann: »Du sprichst wirklich ein sehr gutes Mandarin.«

Für einen deutschen laowai ist die wichtigste Frage die erste: »Woher kommst Du?« Das knappe »Deguo – Deutschland« stärkt das Selbstbewusstsein, denn der Daumen des chinesischen Gesprächspartners schnellt für Sekunden in die Höhe. Dann setzt es Lobeshymnen auf deutsche Autos, deutsches Bier, deutsche Qualität und manchmal sogar bemerkenswerte deutsche Politiker namens Gerhard Schröder oder Adolf Hitler. Letzterer hat in den vergangenen Jahren in den Großstädten zu meiner Erleichterung an Popularität eingebüßt. Im Hinterland wie Anhui oder Shanxi aber gelten starke Führer weiterhin sehr viel.

Der VW Touran, der mich hinein in die Stadt trägt, hat mit vielen anderen neuen Modellen die alten VW Santanas der Vorjahre teilweise abgelöst oder ergänzt. Auch er ist ein chinesisches Auto deutscher Herkunft aus Shanghais 1985 gegründetem Joint-Venture. Der Santana, Chinas Volkswagen zum »Selberschrauben«, beginnt langsam aus dem Stadtbild Shanghais zu verschwinden. 30 Jahre sind ein Jahrhundert für das schnelllebige Wirtschaftswunderland.

Mittlerweile haben wir die Yangpu-Brücke erreicht, die mit 7658 Metern Länge im Norden Shanghais den Huangpu-Fluss überspannt. Zwei neue Superlative beeindrucken mich, auch wenn ich sie im grauen Dunst des Tages nur als Silhouetten warnehme. Zur linken Seite erhebt sich der Shanghai Tower mit 632 Metern Höhe, 2013 gerade höchstes Gebäude Chinas und zweithöchstes der Welt, was natürlich nur kurzfristig Bestand haben wird. Links und rechts der Brückenpfeiler zieht sich der größte Containerhafen der Welt den Huangpu-Fluss entlang. Hier kann Shanghai der Binnenstadt Peking locker den Schneid abkaufen: Knapp vor Singapur und deutlich vor dem immer deutlicher abgeschlagenen Hongkong profiliert sich Shanghai als größte Hafenstadt der Welt – auch wenn man vom Meer weit und breit nichts sieht. Sieben chinesische Küstenstädte rangierten 2012 unter den 10 größten Häfen der Welt. Europa landet mit seinem Top-Hafen Rotterdam nur abgeschlagen auf dem 11. Platz und keine der ehemals stolzen Seefahrernationen im Westen kann und will derzeit noch mit China mithalten. Konkurrenz im ewigen Wettbewerb gegeneinander hat Shanghai aber bereits im eigenen Lande bekommen: Das Ex-Fischerdorf Qingdao, als Tsingtau von den Deutschen zwischen 1897 und 1914 zur Stadt kolonialisiert, will bis 2020 Welthafen Nummer Eins sein.

Am Ufer des Huangpu ist Chinas Kubikmeter-Architektur am dichtesten, im Uferschlamm wächst das neue Zentrum im Jahrestakt. Hier wird die Welt in Einheiten von hundert Höhenmetern gemessen. Immer neue Wolkenkratzer-Formen werden realisiert. Architekten aus aller Welt konnten ihren Phantasien freien Lauf lassen – gern gab man bislang den Wolkenkratzer-Experten aus den USA den Zuschlag zum Bauen. Das soll bald anders werden: nationaler, chinesischer, selbstbewusster – mit eigenen Leuten. »Ich wohne da drüben in Yangpu«, sagt der Taxifahrer und deutet in eine andere Himmelsrichtung, wo schäbige, betongegossene Hochhaustürme zu erkennen sind. »Das da hinten ist eure Welt, die der laowai und der Regierung, nicht unsere Welt.«

Die genaue Zahl aller ausländischen Firmen in China kennt niemand, denn jede Statistik veraltet umgehend, die Gegenwart ist zu schnell für gründliche Recherche. Das neue Zentrum Chinas heißt Lujiazui, was so viel bedeutet wie der »Weiler der Familie Lu«. Angehörige der Familie Lu bewohnten noch in der grauen agrarischen Vorzeit, das heißt vor wenigen Jahrzehnten, die sumpfigen und mückenverseuchten Gestade am Ostufer des Huangpu-Flusses. Chinas Regierung verwandelte den einstigen Weiler zur Hochfinanz- und Dienstleistungszone. Die Lus von Shanghai mussten wegziehen und leben nun wie mein Taxifahrer in den hoch- und längsgekanteten Betonquadern der Randbezirke. Pudongs Finanz- und Dienstleistungszentrum ist Prototyp und Ideal von Chinas gegenwärtiger Zeitbeschleunigung. James Kynge nennt das »Kompression von Entwicklungszeit«. Das Ergebnis dieses Prozesses ist ein Patchwork der Lebenswelten, das man als das Gleichzeitige des Ungleichzeitigen bezeichnen könnte: Wir fahren, nun schon auf der alten Shanghaier Seite Puxi, was »westlich des Huangpu-Flusses« heißt, an Obst- und Gemüsehändlern mit Verkaufskarren vorbei. Die gab es ähnlich schon zur alten Kaiserzeit. Dahinter recken sich die Glas-Beton-Wolkenkratzer in die Höhe, organisch eben.

Hongkonger, Taiwanesen sowie die junge Generation des Landes treffen im Finanz- und Dienstleistungszentrum mit laowai aus der ganzen Welt zusammen. Sie repräsentieren das neue China, inklusive der 60-Stunden-Wochen für Manager in den Investment-objekten einer sozialistischen Regierung. Hier ist eine der Lebenswelten für Ausländer in China entstanden. Peking dagegen ist eher eine Flächenstadt, wirkt amerikanischer in der Anlage. Doch im Grunde bietet die Hauptstadt in ihren langgezogenen Glas-Beton-Quadern Chinesen und Ausländern ein ähnliches Arbeitsumfeld. In Chongqing, Chengdu und Wuhan, den aktuellen Stars des Hinterlandes, finden sich vergleichbare Lebenswelten.

China interkulturell: East is East and West is West

Mittlerweile hat der Taxifahrer das Radio eingeschaltet. »Love Radio« plätschert aus dem Lautsprecher. Englische Schlager, Schlagworte und viel Unverständliches werden in lockerer Form dargereicht. Dies gehört zum Alltag eines Taxifahrers. Der Jetlag lässt mich dösen. Der Taxifahrer ist unerbittlich und versucht weiter Konversation zu treiben: »Du sprichst toll Chinesisch, nicht einfach für einen laowai, unsere schwere Sprache zu lernen. Wie viel verdienst du? 50 000 im Monat oder noch mehr? Ihr Ausländer seid reich, habt es schon geschafft. Wir sind eben noch auf dem Weg. Das ist ganz schön anstrengend. Sieben Tage in der Woche, zehn Stunden am Tag Fahren. Diese verfluchten Abgase, immer mehr Autos. Aber das Leben ist hart, nicht zu ändern. Meine Tochter muss zur Uni, die Uni ist verdammt teuer. Eine andere Wahl habe ich eh nicht – mei you banfa

Ich verstehe und nicke. So denken viele. Mei you banfa – Ich habe keine Wahl. Wenn ich überleben will, muss ich hart arbeiten. Für uns Ausländer gilt das nicht. Wir kommen aus einem fada-Land, einem entwickelten Land, einem Land, das es schon geschafft hat. Das es nicht erst noch schaffen muss wie China. Deshalb sind wir privilegiert. West und Ost sind gegensätzliche Himmelsrichtungen. Der ferne Westen ist Europa und Amerika, die Heimat der »echten« laowai. Deswegen sind sie auch weiß und nicht schwarz wie Afrikaner oder dunkel gebräunt wie Inder. Afrikaner und Inder sind zwar eindeutig Ausländer, aber für die Chinesen nicht fada, keine 100-prozentigen laowai.

Noch immer leben viele in einer anderen Welt, in der allein die Wohnungsmiete oft vier Durchschnittsgehälter eines Taxifahrers beträgt. In Peking eventuell noch mehr, denn in Chinas sozialistischer Hauptstadt klafft die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinander. Das ist für die, die nicht dazugehören, durchaus in Ordnung. Mit dieser Welt haben sie ohnehin nur insofern zu schaffen, als sie ihnen Verdienstmöglichkeiten bietet. Welchen anderen Sinn sollte Arbeit schließlich haben? Und wenn wir Ausländer Jobs schaffen, »dann passt das schon«, sagt der Taxifahrer. Sozialneid wie in Europa ist eher unbekannt. Die einen haben es eben geschafft, die anderen nicht.

Eine solche Einstellung ist gerade für uns Deutsche nicht leicht zu akzeptieren. Keine starken Gewerkschaften, keine Diskussionen über Mindestlohn. Man nimmt das, was man bekommt. Viele Chinesen verdienen mittlerweile weit besser als manch ein Ausländer, kaufen Wohnungen oder Villen zu Euromillionen-Preisen, nehmen die deutsche Luxuskarosse noch gleich mit dazu, viele andere Chinesen hingegen müssen versuchen mit 1000 RMB oder weniger (ca. 130 EUR) im Monat auszukommen. Ein eigentlich aussichtsloses Unterfangen. Trotzdem wird überlebt.

Die meisten Ausländer in China sind hingegen privilegiert und oft genug Menschen, die ein Leben im Elfenbeinturm globalisierter Strukturen führen – weitab der Alltagswelt meines Taxifahrers. Allerdings erleben Großstädte in den letzten Jahren die Entwicklung eines Mittelstandes, der die einst große materielle Lücke zwischen Ausländern und Chinesen schließt. Die materielle Besserstellung westlicher Ausländer im Lande verringert sich mit jedem Jahr, in dem China weltpolitisch und ökonomisch an Gewicht zunimmt. Heute zählt nicht mehr so sehr die ausländische Herkunft – wie es war, als ich selbst Ende des 20. Jahrhunderts als junger Student nach China kam –, sondern vor allem Immobilienbesitz in der Stadt.

Nach einer Stunde Fahrt über die »äußere Ringstraße« Shanghais komme ich weit im Westen an. Im Siedlerland, wie manche sagen, dort, wo die Stadt weiter wächst und immer neue Ränder bildet, mit dem Umland zu einer Masse aus Neubauten und Baustellen verschmilzt. An mein altes Zuhause in einem alten Stadtviertel nicht weit vom Zentrum erinnern hier nur noch die Platanen, die die kleine, doch viel befahrene Straße ein wenig vor der Sommerhitze schützen. Früher lebte ich in alten Shanghaier Reihenhäusern aus den 1930er und 1940er Jahren, dort wo Anfang des 20. Jahrhunderts wichtige Schriftsteller lebten. Sie hatten die Abrisskolonnen und wuchernden Hochhäuser ringsum auf Distanz gehalten. Noch. »Schöne Gegend«, meinten Taxifahrer oft, wenn sie mich dorthin brachten. Das ist nun Vergangenheit, denn die Mietpreise sind gewaltig gestiegen. Gentrifizierung auf Shanghaier Art: schnell und kompromisslos. Wer lange in China lebt, muss bereit sein zu verzichten, unter Umständen Gewohnheiten wieder aufzugeben, sich dem schnellen Fluss der Zeit anzupassen.

Vor meinem Wohncompound-Hochhaus mit dem Drei-Zimmer-Apartment zahle ich, ohne Trinkgeld zu geben, denn das ist nicht üblich, bedanke mich aber bei dem beredten Fahrer für die nette Unterhaltung und dafür, dass er mir den schweren Koffer noch auslädt. Der Touran entschwindet meinem Blick. Viele Ausländer wohnen hier in »Neu-Shanghai«, sie werden von Einheimischen noch immer laowai genannt. Laowai sind in Shanghai ein sehr vertrauter Anblick geworden, und daran, dass auch ich oft so heiße, habe ich mich gewöhnt. Was hat es nun auf sich mit diesem Namen, den jeder Ausländer ganz schnell und ganz zu Beginn seines Chinaaufenthalts lernt?

Lao, das dazugehörige Attribut, drückt nichts anderes aus als eine gewohnte, kumpelhafte Nähe, mit der viele Chinesen die Menschen in ihrer persönlichen Umgebung benennen. Lao Wang etwa ist der nette Nachbar oder gute Kollege, der ein paar Jahre älter ist oder eine höhere Wertschätzung verdienen sollte, daher lao – der »Alte«. Das ist durchaus positiv gemeint. Das Gegenstück zum laowai wäre eigentlich xiao nei – der »kleine Inländer«. Xiao – im Gegensatz zu lao – ist die umgangssprachliche Herabsetzung der eigenen Person gegenüber dem anderen, den man ehrerbietig vertraut mit »alt« bezeichnet. Deswegen nennen sich Taxifahrer bescheiden »kleiner Lu« oder »kleiner Wang«, selbst wenn sie auf die 50 zugehen. Aber sie sind eben nur Taxifahrer.

Wertschätzung für den Ausländer ist bei Chinesen also durchaus vorhanden. Problematisch für den Fremden ist jedoch, dass er die Bezeichnung laowai genauso früh lernt wie ni hao (Guten Tag). Von Beginn an als Ausländer identifiziert zu werden, berührt nach westlichem Verständnis ein doppeltes Tabu. Das erste Tabu besteht darin, dass ein Fremder von seinen Mitmenschen nicht in aller Öffentlichkeit als Ausländer tituliert werden darf. Stellen wir uns nur einmal vor, wir träfen auf dem Potsdamer Platz mitten in Berlin plötzlich auf einen Menschen aus Sri Lanka und riefen ihn an: »Ach, der Herr Ausländer ist auch schon da!« Selbstverständlich würden unsere Mitmenschen auf der Straße, einschließlich des Angesprochenen selbst, uns voller Entrüstung Ausländerfeindlichkeit attestieren. Zumal wahrscheinlich ist, dass mindestens einer von fünf Passanten ebenfalls Ausländer ist. Das zweite Tabu besteht darin, dass Fremde eigentlich nicht das Recht haben, einen anderen direkt und ohne Umschweife kumpelhaft »anzuquatschen«, eine Gewohnheit, die das Wort laowai ebenfalls einschließt. Das verletzt nach Ansicht interkultureller Psychologen aus Europa und Amerika das Proximitätsgefühl des Angesprochenen, das Gefühl für seine Privatsphäre.

In letzter Zeit scheinen die Chinesen stärker auf die Forschungsergebnisse westlicher interkultureller Psychologen zu hören. Es gibt Erziehungsberechtigte, die ihren Kindern den überraschenden Gebrauch des Wortes laowai verbieten. Es sei schließlich nicht höflich, direkt einen Menschen, der fremdartig aussieht, mit laowai anzusprechen. Doch noch in den frühen 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts waren Ausländer eine echte Rarität selbst in Chinas Großstädten. Damals, als weder Peking noch Shanghai über ausreichende Straßenbeleuchtung verfügten, sah man sie selten auf den sozialistischen Boulevards. Und noch seltener in den dunklen Gassen, die im 21. Jahrhundert wie selbstverständlich als beliebte Ausländerwohnviertel gelten und wo heute sich in gleißendem Neon Bar an Bar reiht. Das hatte auch politische Gründe: Das China des späten Mao Zedong und selbst das der frühen Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings (1904–1997) zwischen 1978 und 1992 propagierten eine strikte Trennung, obwohl oder weil man die Ausländer brauchte. Zu Zeiten der Kulturrevolution (1966–1976) war alles Ausländische bis auf ganz wenige Ausnahmen tabuisiert, in den Jahren der frühen Reformen wirkte der wohlhabende westliche Ausländer oft als »Positivabzug« des eigenen Negativs.

Der laowai war ein Exot, der schon durch sein Äußeres immer auffiel: Er war weißer als man selbst, meist größer, war besser gekleidet, trug Markenprodukte, während man eigentlich nur »Made in Shanghai« als Marke kannte und gerade die erste McDonalds- und Kentucky-Fried-Chicken-Euphorie verarbeitete. Der laowai konnte – trotz aller Abendkurse – besser Englisch und verkehrte in Fünf-Sterne-Hotels, die damals für jeden Durchnittschinesen unerreichbar waren. Selbst als »armer Student« war er reich, denn die Regierung hatte für diese laowai gesonderte Kantinen, Wohnheime mit Doppelzimmern und ähnliche unglaubliche Luxusdinge kreiert. Da durfte man als Inländer nur hinein, wenn man sich von einem gestrengen Ordnungswächter registrieren ließ – und wer seinen Ausweis nicht dabei hatte, der hatte sowieso keine Chance. Äußerst problematisch waren engere Beziehungen zwischen laowai und den Einheimischen. Ließ man sich als Ausländer gar auf eine Liebesbeziehung ein, musste man sich unangenehme Kommentare, gar Beschimpfungen anhören und konnte froh sein, wenn man sie aufgrund der noch mangelnden Sprachkenntnis nicht verstand. Vielleicht waren die Leute nur überrascht und machten ihrer Überraschung Luft, weil sie keinen näheren Kontakt mit Menschen hatten, die sich damals noch eindeutig durch hellere Haare, spitzere Nasen und rundere Augen von der Masse der »ungestylten« Wangs, Xus oder Lis unterschieden.

Im 21. Jahrhundert kümmert sich in den großen Städten niemand mehr darum, ob weiße, schwarze oder andersfarbige Menschen Hand in Hand mit ihren chinesischen Freundinnen oder Freunden durch die Straßen spazieren. Dort hat ein starker Anpassungs- und Gewöhnungsprozess stattgefunden: Zum einen ist der zwischengeschlechtliche Umgang durch den Einfluss der Medien und die internationalen Kontakte weitgehend enttabuisiert worden. Auch zwischen jungen Chinesen ist es üblich geworden, Zuneigung öffentlich zu zeigen, manchmal in einer Offenheit, die viele laowai überrascht, die China bereits aus früheren Jahren kennen. Andere, die erst jüngst ins Land gekommen sind und die Vergnügungsstraßen der großen Städte gewohnt sind, denken, China sei schon immer so freizügig und Sex überall zu haben gewesen.

Allein in den Jahren zwischen 2002 und 2005 verdreifachte sich die Zahl der »ordentlich registrierten« Expatriates (Expats), der meist zeitlich befristet entsandten ausländischen Mitarbeiter internationaler Firmen, von 50 000 auf 150 000 landesweit. Diese Entwicklung hat in den Metropolen wie Shanghai und Peking, aber auch in Städten wie Nanjing oder Wuhan zu einer entsprechenden Gewöhnung an den laowai im Stadtbild geführt. 2010 wurden laut der englischsprachigen Shanghai Daily insgesamt 593 832 Ausländer gezählt. Zwei Jahre später waren es allein in Shanghai 173 000 solcher Expatriates, was allerdings gerade rund einem Prozent der Einwohnerzahl des Großraums Shanghai entspricht. Diese Zahlen entstammen dem letzten verfügbaren Zensus, die Art und Weise wie gezählt wurde, lässt jedoch erhebliche Zweifel an der Verlässlichkeit dieser Zahl aufkommen. Koreaner, US-Amerikaner chinesischer Abstammung und Japaner sind die drei größten Ausländergruppen. Die aber qualifizieren sich aufgrund ihrer auffallenden Ähnlichkeit mit den Festlands-Ureinwohnern nicht als laowai.

Der erste chinesische Kaiser Qin Shihuang (259–210 v. Chr.) war ebenso grausam wie klug bzw. hatte in seinem Kanzler Li Si einen noch klügeren Berater. Der hatte nämlich erkannt, dass Einheit und Einigkeit dann zu erzielen sind, wenn man das große Gemeinsame (da tong), das alle verbindet, herausstellt und dabei trotzdem die kleinen Unterschiede (xiao yi) bestehen lässt. Diese politische Maxime wird heute in Bezug auf den laowai beherzigt. Interessanter als die großen Gemeinsamkeiten, dass auch laowai Menschen sind und eine zunehmend verständlichere Sprache sprechen, meist Englisch, sind jedoch die kleinen Unterschiede, die man bei häufigerem Kontakt immer deutlicher bemerkt. Kleine Schönheitsfehler des laowai wie übertriebener Bartwuchs oder zu strenger Körpergeruch werden durch andere Unterschiede wie etwa die bei Ausländern anzutreffenden blauen Augen wettgemacht. Immer mehr modebewusste junge Großstädterinnen kaufen gefärbte Kontaktlinsen, um ihre Augen größer erscheinen und bläulich schimmern zu lassen. Auch an den Haaren werden die Unterschiede festgemacht. Haare sind kein unwichtiger Wirtschaftsfaktor in der chinesischen Gesellschaft. Schließlich gibt es fast so viele Friseursalons wie Restaurants im Land. Schön sein ist »in« in China und beginnt bei den Haaren, die gelockt, geglättet, gesträhnt, gefärbt werden – bei Frauen und bei Männern, versteht sich. Vorbilder für das richtige Styling liefert der laowai, der in zahlreichen Friseursalons von bunten Plakaten herablächelt. Ähnliches gilt für die boomende Kosmetikindustrie des Landes: jung sein, schön sein, »in« sein. Auch in diesem Bereich dienen die Nasen, Gesichter und andere Körperteile der laowai als Ideal. Das hat zu einem veränderten äußerlichen Leitbild im neuen China geführt: Augen werden chirurgisch vergrößert, und manche junge Frauen lassen sich operativ die Beine verlängern, was oft schreckliche Verkrüppelungen zur Folge hat. Manchmal hat die Attraktivität der kleinen Unterschiede etwas Bizarres.

»Das kommt mir Chinesisch vor«

»Chinesisch lernen ist doch bestimmt sehr schwer, oder?« Davon ist nicht nur der Taxifahrer, sondern die Mehrheit der Chinesen überzeugt, und in vielen Fällen werden sie in dieser Überzeugung auch bestätigt. Obwohl sich der laowai redlich bemüht. Weltweit geht man von 40 Millionen Chinesisch-Lernern aus, in naher Zukunft sollen in möglichst allen Ländern der Welt 100 Millionen Nichtchinesen Chinesisch lernen. Konfuzius-Institute, Chinas ebenso preiswerte wie effiziente Antwort auf das deutsche Goethe-Institut, schießen wie Pilze aus dem Boden, 2013 sollen es in 108 Ländern über 350 sein. Tendenz weiter schnell steigend. Keine andere Sprache der Welt verzeichnet einen derartigen Zugewinn an Interesse – aber auch keine andere galt so lange als kulturelle Barriere. Noch heute wird nicht vorausgesetzt, dass ein Ausländer Chinesisch kann, selbst wenn er schon einige Zeit mit China zu tun hat. Es gibt Menschen, die partout mit Ausländern Englisch reden, auch wenn diese schon mehrfach ganze Sätze fließend auf Chinesisch geäußert haben. Die Annahme, dass laowai kein Chinesisch sprechen, ist zu tief verwurzelt. Umgekehrt loben manche Taxifahrer oder dienstbeflissene Verkäufer den Fremden bereits nach drei gebrochen geäußerten chinesischen Wörtern, wie »ausgezeichnet« er doch die chinesische Sprache beherrsche. Ein Paradox? Woran liegt es, dass auch viele Ausländer hartnäckig glauben, es sei schwierig bis unmöglich, Chinesisch zu lernen?

Im Prinzip sind es zwei Eigenschaften der chinesischen Sprache, die ihren Erwerb so schwierig machen: die Bedeutung richtiger Betonung und die eigenwillige Schrift. Chinesisch ist eine sogenannte Tonsprache. Das bedeutet, dass seine Wortbildung und Grammatik anders funktioniert als die der europäischen Sprachen. Viele Bedeutungsunterschiede werden über vier verschiedene Grundtöne geregelt. Diese Tonhöhen waren im alten Chinesisch, das viele Wörter mit nur einer Silbe kannte, fast ausschließlicher Schlüssel zum Verstehen. Der erste Ton wird gedehnt und gleichmäßig lang gesprochen wie: aaa. Der zweite Ton hebt die Stimme an wie eine Frage: a?, der dritte lässt die Stimme zunächst tiefer werden: a. und dann wieder höher: a?, während der vierte Ton wie bei der Beendigung eines Satzes kurz und knapp die Stimme nach unten fallen lässt: a. Ähnlich klingende Wörter erhalten durch die Aussprache in unterschiedlichen Tonhöhen eine gänzlich andere Bedeutung, was, wenn man es nicht berücksichtigt oder beherrscht, zu unfreiwillig komischen Situationen führen kann. So geschehen etwa vor einigen Jahren, als ich meinem chinesischen Freund Zhou zu erklären versuchte, dass ich mein gestriges Minigolf-Spiel verloren hatte und das auch noch besonders betonen wollte: wo zuotian shi shu le (ich-gestern-sein-verloren). Statt shu richtig im ersten Ton zu sprechen, traf ich dummerweise den vierten Ton. Und schon hielt es Zhou nicht mehr vor Lachen: »Haha, gestern warst du also ein Baum!« Abgesehen von einem kurzen Einblick in den chinesischen Humor wird an dieser Stelle das Tonsprachenproblem deutlich: Der falsch gewählte vierte Ton machte aus »verlieren« einen »Baum«! Jeder Ausländer, der in einer chinesischen Stadt Taxi fährt, wird ähnliche Erfahrungen des Missverstehens kennen. Während wir in den westlichen Sprachen in der Regel kein Problem damit haben, wenn ein Ausländer ein Wort nicht auf der ersten, sondern auf der zweiten Silbe betont, macht im Chinesischen der Ton »die Musik«, und eine falsche Betonung kann den gesamten Sinn entstellen. Aus »Bäumen« wird »verlieren«, aus einem berühmten Garten mit Pflaumenbäumen, den ich eigentlich besuchen wollte, werden US-Dollar. Der Taxifahrer versteht nicht und gibt sich der Illusion hin, in US-Dollar (mei-yuan) bezahlt zu werden, statt mich in den Pflaumenbaum-Garten (mei-yuan) am Taisee zu fahren, wo ich doch eigentlich hinwollte.

Die zweite Schwierigkeit des Chinesischen ist allgemein bekannt: die Schrift. Das ist ein wirkliches Problem für jeden, ob Chinese oder nicht, denn Schreiben muss mit großem Aufwand gelernt werden. Das umfangreichste Zeichenwörterbuch, das heute noch gebräuchlich ist, ist das Große Lexikon der chinesischen Schriftzeichen (Hanyu da zidian). Es verzeichnet rund 50 000 Eintragungen. Davon sollte man die 10 000 wichtigsten schon beherrschen, wenn man sich auf akademischem Bildungsniveau bewegen möchte. Selbst die tägliche Zeitungslektüre verlangt dem Leser die zumindest passive Kenntnis von 4000 bis 5000 Schriftzeichen ab. Die übrigen 40 000 Schriftzeichen des Zeichenlexikons werden heute übrigens kaum noch verwendet. Sie sind Relikte der langen Geschichte chinesischer Schriftsprache, die früher jedem Wort, jedem Phänomen der materiellen und geistigen Welt möglichst ein eigenes Zeichen zuwies. Das erklärt, dass selbst unter Ausnutzung der vier Töne – in manchen Dialekten sind es sogar bis zu acht Töne – immer noch sehr viele gleichklingende Wörter existieren. Die kann man letztlich nur durch Kenntnis der richtigen Schreibweise auseinanderhalten. Dafür paukten und pauken chinesische Schüler jahrelang Zeichen, wiederholen, memorieren, kopieren, lernen ganze Textpassagen auswendig.

Chinesische Zeichen wirken auf den ersten Blick beliebig. Das stimmt nur zum Teil, denn den Schriftzeichen liegt durchaus eine Systematik zugrunde. Nur ist diese nicht einheitlich, sondern, wie Sprache im Allgemeinen, historisch gewachsen. In der langen Geschichte des Landes haben sich sechs unterschiedliche Bildungsformen von Schriftzeichen (liu shu) herausgebildet, die den Menschen zwingen, sie auswendig zu lernen. Immerhin ist die sechste dieser Bildungsformen mit dem Namen xingsheng, das heißt »Bild und Laut«-System, am weitesten verbreitet. Die meisten chinesischen Schriftzeichen bestehen aus einem sinngebenden Radikal, wie image Holz oder image Metall, die grob andeuten, wie das durch das Zeichen bezeichnete Objekt unserer Welt beschaffen ist. Der andere Teil des Zeichens verrät dem Lernenden die Aussprache: Früher waren Maschinen aus Holz, so dass ein Zeichen wie »image Maschine« aus dem Holz-Radikal besteht und wie das Zeichen image (ji) ausgesprochen wird.

Der Aufwand mit den Zeichen hat schon manchen ausländischen Lernwilligen resignieren lassen: »Das lerne ich nie.« Wer ein solches Schriftsystem entwickelt hat, müsse einfach anders »ticken«. Wirklich? Als deutscher Muttersprachler vergisst man leicht, warum Chinesen und viele andere das Deutsche für ähnlich schwierig halten: nicht wegen der Zeichen, sondern wegen der Grammatik – zum Beispiel wegen der komplizierten Bildung der deutschen Verben, die wir umgangssprachlich als »stark« bezeichnen. Ähnlich wie bei den vertrackten chinesischen Zeichen verfügt unsere Sprache über sieben verschiedene Bildungen dieser Verbformen, deren Ursprung ebenfalls in der Geschichte wurzelt.

Zugegeben – die Sache mit der komplizierten Schrift beschäftigt auch die Chinesen seit langem. Es gab viele Vorstöße namhafter chinesischer Politiker und Intellektueller, unter ihnen der große Schriftsteller Lu Xun (1881–1936), das umständliche Schriftsystem doch endlich abzuschaffen und durch eine praktischere Buchstabenschrift zu ersetzen. Das konnte sich bis heute nicht durchsetzen. Das Einzige, zu dem sich Mao Zedong und seine Kulturpolitiker durchringen konnten, war die eher bescheidene Vereinfachung chinesischer Zeichen in den 1950er Jahren. Das führte dazu, dass in der Volksrepublik China und in Singapur einzelne Zeichen mit weniger Teilstrichen geschrieben werden als in Hongkong oder Taiwan. Man unterscheidet seitdem sogenannte Kurz- und Langzeichen. Japan, das ebenfalls für sein Schriftsystem zu einem Teil chinesische Zeichen verwendet, hat wiederum eigene Kurzschreibungen eingeführt, die besser zu seinen sprachlichen Gewohnheiten passen.

Zum Glück hat das Chinesische auch eine einfache Seite: die Grammatik. Komplizierte Veränderungen der Verben wie in den europäischen Sprachen braucht das Chinesische nicht. Deutsche Verben verändern ihre Form, um Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart auszudrücken, chinesische Verben bleiben immer gleich. Ähnliches gilt für die chinesischen Substantive: Einzahl und Mehrzahl werden nicht durch Wortveränderung ausgedrückt, und unterschiedliche Fälle kennt das Chinesische ebenfalls nicht. Die Satzstellung allein bestimmt, wer wem gegenüber wen vorstellt. Im Chinesischen sind das alles Nominative, von denen jeder seinen festen Ort im Satz hat. Wen wer wem gegenüber vorstellt – das geht nicht.

Selbst die Schrift macht das Leben einfacher, wenn man sie einmal in Teilen beherrscht. So können Japaner, Koreaner und Chinesen untereinander mit Hilfe der Schrift kommunizieren, ohne dass sie auch nur ein einziges Wort der jeweils anderen Sprache sprechen. Das ist der Vorteil einer Schrift, die sich anfangs aus Bildzeichen, Ideogrammen, entwickelt hat und deren Bedeutung sich unabhängig von der lautlichen Realisierung zumindest grob erschließen lässt. Es lag unter anderem an der Schrift, dass China sich über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrtausenden als relativ einheitliches Staats- und Kulturgebilde erhalten konnte. Dieses weltweit einzigartige Phänomen lässt selbst die sprach- und nationalbewussten Franzosen erblassen. Zwei Schrifttypen, eine für den offiziellen und eine für den Alltagsgebrauch, legten vor über 2000 Jahren den verbindlichen Standard fest. Beherrscht man die Schrift, kann man selbst Tücken der Aussprache umgehen: Ein klärendes Wort, eingetippt in das stets mitgeführte Handy oder den Handheld-Computer, löst dann augenblicklich allen Ärger mit der Aussprache und erzeugt ein klärendes Lachen und »Aha« auf beiden Seiten. Dann hat sich der fleißige Ausländer sein Lob wirklich verdient.

In China arbeiten: laowai - Karrieren

Wie integriert sich ein Ausländer in die chinesische Gesellschaft und wird beliebt? Meine Empfehlung lautet: »Werde Medienstar oder Unternehmer.« Es gibt eine ganze Reihe laowai, denen das tasächlich auf diese Weise gelungen ist. Einer davon ist der »Große Berg« (Da Shan), ein Stratege übrigens, der seinen selbstgewählten oder erhaltenen chinesischen Namen zum Programm gemacht hat. Einen persönlichen chinesischen Namen bekommt übrigens jeder Ausländer, und einige suchen sich wahre Künstlernamen aus.

Der »Große Berg« kokettiert damit, der »berühmteste Ausländer Chinas« zu sein. Das verkündet zumindest seine Webseite dashan.com, und das dürfte wohl auch stimmen. Vor rund drei Jahrzehnten, irgendwann in den noch fast ausländerfreien 1980er Jahren, kam der kanadische Prototyp des laowai nach China. Er lernte schnell, akzentfrei und fließend Chinesisch mit Peking-Idiom zu parlieren. Da Shan, der eigentlich Mark Rowswell heißt, bewies: Ausländer können perfekt Chinesisch lernen – »West meets East«. Doch er ging noch einen entscheidenden Schritt weiter und machte sich dabei zwei chinesische Leidenschaften zunutze: die Vorliebe für das Schauspielern und die Manie, ständig vor dem Fernseher zu sitzen. In den späten 1980er Jahren traf er damit ins Schwarze: Es gab nur wenige staatliche Fernsehsender, kein Internet und schon gar kein exhibitionistisches Facebook. Ich selbst kam in den frühen 1990er Jahren nach China. 1994 reiste ich zum ersten Mal in die abgelegenen Lößterrassenlandschaft am Gelben Fluss. Die Bauern kannten mich bereits als Fernsehstar. Ein hockender Zigarettenraucher meinte nur, als er mich sah: »Ich kenne Dich – aus unserem neuen Farbfernseher.« In den Städten wurde ich angeheuert als Talk-Show-Gast, Serienschauspieler oder als Werbeträger. Die medialen Möglichkeiten waren nahezu unbegrenzt.

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