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Paolo Emilio Petrillo
Der Riss

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Paolo Emilio Petrillo

Der Riss

1915–1943
Die ungelösten Verflechtungen
zwischen Italien und Deutschland

Übersetzung aus dem Italienischen:
Ingo Pfänder und Paolo E. Petrillo

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Herausgegeben von

GABRIELE DI LUCA und HANS KARL PETERLINI

Die Drucklegung dieser Publikation wurde gefördert von

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Titel der Originalausgabe:

Paolo Emilio Petrillo: Lacerazioni / Der Riss 1915–1943: I nodi irrisolti tra Italia e Germania. La lepre edizioni, Roma 2014

Petrillo, Paolo Emilio: Der Riss.

19151943. Die ungelösten Verflechtungen zwischen Italien und Deutschland

© 2016 Edizioni alphabeta Verlag, I-39100 Meran/Merano (BZ), Sandplatz 2 books@alphabeta.itwww.alphabetaverlag.it

Drava Verlag, A-9020 Klagenfurt/Celovec • Gabelsbergerstraße 5/II office@drava.atwww.drava.at

Umschlaggestaltung: Dall’O & Freunde
Umschlagfoto: Bundesarchiv, Bild 101I-568-1537-11 / Fotograf: Benschel

Italien, Barletta. Fallschirmjäger bei Verhaftung von uniformierten Italienern

Edizioni alphabeta Verlag
ISBN 978-88-7223-258-3
Drava Verlag
ISBN 978-3-85435-808-4

eISBN 978-3-85435-812-1

Für Chiara, Brando und Nicol

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Michael Stürmer

Vorwort zur italienischen Ausgabe

Luigi Vittorio Ferraris

Einführung (Erste Begegnungen mit Zeitzeugen)

Berlin

Treuenbrietzen

Heinz Ruhle und Hans Baatz

Die Quellen

Meldungen aus dem Reich

Joseph Goebbels, Tagebücher 1924–1945

Das Kempowski-Archiv

Die Presse

Zeitzeugnisse

ERSTER TEIL

Phasen eines Prozesses

Gespräch mit Siegfried Bock

1915–1943: Phasen eines Prozesses

1922–1933: „Italia docet“

1934–1935: Die Überwindung des Hindernisses Österreich

1936–1937: Der Bolschewismus, Spanien, Mussolini in Berlin

1938–1939: Höhepunkt und Niedergang einer „atemberaubenden Annäherung“

September 1939–Juni 1940: Anfang und Ende der italienischen Nichtkriegführung

Fridolin von Senger und Etterlin, ein General am Verhandlungstisch

1940–1941: Italien und sein „Parallelkrieg“

Gespräch mit einigen Veteranen des Afrikakorps

Unternehmen Barbarossa: die Wende von Stalingrad

Juli 1943, die Landung der Alliierten auf Sizilien

Auszüge aus dem Manuskript und den Tagebüchern von Fritz Wolter

Mussolinis Sturz in den Tagebüchern Goebbels’

Rastenburg, 25./26. Juli: Gesprächsprotokolle aus dem Führerhauptquartier

Aus den Meldungen des Sicherheitsdienstes über die Lage im Inneren am 29. Juli 1943: Berichte über den Regierungswechsel in Italien

Italien am 8. September 1943: Die Erinnerungen des Soldaten Wilhelm Velten

Die Rede Hitlers vom 10. September 1943

Die Reaktionen der Deutschen auf die Rede Hitlers

ZWEITER TEIL

Zeitzeugen

Rudolf H., Mai 2010

Karl L., November 2010

Hermann Hieke, Juli 2010

Walter R., September 2010

Willi Sitte, August 2010

Dr. E. P., Dezember 2013

Bibliographie

Michael Stürmer*

Vorwort

Es wäre vergeblich, die gründlich fokussierte Studie unseres Freundes Paolo Emilio Petrillo in wenigen Sätzen in einem Vorwort zusammenzufassen. Dies gilt schon deshalb, weil Vittorio Conte Ferraris, noch zu Bonner Zeiten legendärer, umschwärmter und langjähriger Botschafter Italiens in der Bundesrepublik Deutschland, eben dies profunde und mit Meisterschaft bereits getan hat. Die Leserin/der Leser wird es erfahren und dadurch bereichert werden.

So wie Italien, als Ferraris Botschafter in Bonn war – um ein englisches Wort zu borgen –, über seiner Gewichtsklasse spielte, so weiß der erfahrene Diplomat aus der römischen Innensicht der Dinge die Tragik jener unseligen Allianz zu würdigen, welche die Diktatoren in Berlin und in Rom zunächst improvisierten und seit 1935 – Beginn der italienischen Abessinien-Invasion – ihren Völkern auferlegten bis zum bitteren Ende in den Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Höhepunkt und zugleich Wendepunkt am Mittelmeer war der politisch-militärische Umbruch des 8. September 1943, als die Reste der italienischen Streitkräfte die Seite wechselten und Italien sich den siegreichen Alliierten zuwandte. Einige Bemerkungen mehr allgemeiner Natur sollen genügen.

Geschichte und Geographie sind mächtige Kräfte, die Italien und Deutschland immer wieder trennen und zugleich unauflöslich verbinden, länger allemal, als es die europäischen Nationalstaaten und Nationalkulturen gibt. Zwei verspätete Nationen des 19. Jahrhunderts, das Deutschland des Fürsten Bismarck und das Italien des Grafen Cavour mussten ihre Identität suchen und finden gegen die ehrwürdige Überlieferung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, gegen das Papsttum ebenso wie gegen das Mächtekonzert des Wiener Kongresses von 1815. Das alles, eingeschlossen das traumatische Erlebnis des Großen Krieges, in den Italien 1915 auf Seiten der Entente eintrat und am Ende traumatisiert und verbittert dastand, nicht wissend ob Sieger oder Besiegter. Der jähe Aufstieg des sozialistischen Zeitungsredakteurs und Agitators Benito Mussolini zum faschistischen „Duce“ binnen weniger Jahre war genuiner Ausdruck dieses Widerspruchs. Adolf Hitler, auch er Erbe des Weltkriegs, hat aus der italienischen Erfahrung viel gelernt und sich mancherlei Theater-Requisiten und Rituale besorgt. Das hat dem „Führer“ anfangs die Verachtung des römischen Originals eingebracht, später dann jene Mischung aus Bewunderung und Angst, die Mussolini dazu verführte, sich als Kriegsherr aufzuspielen: Zuerst im nachholenden Imperialismus an den Küsten Afrikas – Libyen und Abessinien, wo Italien das Mare Nostrum suchte und stattdessen alsbald auf die Sanktionen der Westmächte im Völkerbund traf. Hitler wurde Retter in der Not und bot Hilfe bei der Überwindung der Sanktionen, namentlich Kohle und Stahl. „Achse“ oder „Stahlpakt“, gleichviel: Es war ein Teufelspakt. Der italienische Duce scheint bald gespürt zu haben – aber da war es zu spät –, dass er sein Schicksal und das seines Regimes an die deutsche Diktatur und den „Führer“ gebunden hatte: Lösbar nicht einmal im versprochenen Endsieg, sondern allein in der Niederlage und Katastrophe.

Mussolinis imperiale Exkursionen hätten ihn warnen müssen: Der opportunistische Kriegseintritt 1940, um einen Teil der französischen Beute an sich zu reißen; der Krieg auf dem Balkan im Sommer 1941, der das deutsche „Unternehmen Barbarossa“ gegen die Sowjetunion um entscheidende vier Wochen verzögerte; endlich die Kriegserklärung gegen die Sowjetunion. Wen die Götter verderben wollen, so sagten die Römer, den schlagen sie mit Blindheit.

Keine Kameraden, das begann schon qualvolle Monate vor der Katastrophe von Stalingrad: Das war im Winter 1942/43 die Kriegswende, in der das italienische Hilfscorps zwischen Don und Wolga unterging, schlecht bewaffnet und unzureichend munitioniert, der Eiseskälte des russischen Winters hilflos ausgesetzt, demoralisiert und ohne Hilfe von den deutschen Truppen, die im mitleidlosen und disziplinlosen „Rette sich wer kann“ vergeblich ihr Entkommen suchten. Die traumatische Erfahrung des militärischen Desasters in Tunesien und des nahezu gleichzeitigen Zusammenbruchs der Fronten im Süden der Sowjetunion waren für die militärische Führung Italiens die Flammenschrift an der Wand. Jetzt oder nie galt es zu handeln, solange es noch Bewegungsraum gab und Italien noch nicht hilfloses Objekt des Kriegsgeschehens am Mittelmeer und am Schwarzen Meer war. Regimewechsel durch Gefangennahme und Sturz des Duce und, damit eng verbunden, Seitenwechsel der Allianzen: Spät aber nicht zu spät kam den führenden Kräften im Militär die Erkenntnis, dass das deutsche Bündnis tödliche Gefahr bedeutete, dass Italien schon wegen seiner Lage im Mittelmeer und dreieinhalb tausend Kilometer Küstenlinie sich niemals hätte gegen die Mächte stellen dürfen, die über See- und Luftherrschaft verfügten. Italiens einzige Chance bestand darin, den „Duce“ zu stürzen durch den „Faschistischen Großrat“ und mit den von Süden vorrückenden Alliierten ungesäumt in Verhandlungen einzutreten – in einem Wort zu retten, was zu retten war.

Die Lacerazione des 8. September war mehr als ein Regimewechsel von oben. Es war klassisches, von der Not erzwungenes renversement des alliances, Diktat der Staatsräson, und Nicolo Macchiavelli, wenn er denn noch lebte, hätte seinen Beifall gegeben. Für Italien begann damals eine neue Ära. Das Land fand im Chaos des Rückzugs die Brücke in die Nachkriegszeit: Der Preis des Bürgerkriegs war nicht zu hoch, und er war kalkulierbar, da der deutsche Rückzug Richtung Brenner und der alliierte Vormarsch in dieselbe Richtung eine faktische Garantie bedeuteten, dass die Kriegswende nicht in der kommunistischen Machtergreifung enden würde. Dass diese Angst nicht aus der Luft gegriffen war, zeigten die Kämpfe der folgenden Monate und vielleicht sogar das Geschehen in Griechenland zwei, drei Jahre später. Der 8. September 1943 hat lange Schicksalslinien in die europäische Geschichte gezeichnet.

Anders in Deutschland. Die Umkehr des italienischen Bundesgenossen – personifiziert durch den Namen des Marschall Badoglio – war Teil der Kriegswende, die in Stalingrad und Nordafrika begonnen hatte. Aber militärisch wurde das Risiko als begrenzbar angesehen. Das Terrain begünstigte immer den Verteidiger, in diesem Fall die Wehrmacht, und die Alpenkette versprach noch lange Sicherheit. Anders die Front im Osten, die im Wanken war und nach Stalingrad keinen Halt mehr fand, die drohende Landung der West-Alliierten an der Atlantikküste und der Luftkrieg gegen die deutschen Städte, die zu Massengräbern wurden. In Deutschland musste sich der Ausgang des Krieges entscheiden, militärisch zwischen den Westalliierten, politisch zwischen Stalins Totalitarismus und westlicher Lebensform: Dagegen war, was auf der Apennin-Halbinsel geschah, nur Nebenhandlung. Das erklärt, nebenbei bemerkt, warum bis heute der 8. September 1943 in der italienischen Erinnerung sehr groß eingeschrieben ist, in der deutschen aber nicht.

Jener Widerstand, den der Faschistische Großrat leistete, stürzte mit dem Diktator auch das Regime. So konnte aus den Trümmern der alten Ordnung und der Katastrophe des Krieges eine neue Legitimität entstehen. In Deutschland scheiterte ein knappes Jahr später die Verschwörung des 20. Juli 1944: Es gab keinen faschistischen Großrat, dem in geordnetem Verfahren die Macht zu übergeben gewesen wäre. Es gab Männer mit militärischer Macht, die bereit waren sich zu opfern. Aber wie das Land physisch zu retten, ohne Bürgerkrieg seelisch zu heilen, die Lage an den Fronten zu stabilisieren und den Alliierten die Bedingung des „unconditional surrender“ abzuverhandeln wäre – dafür gab es weder eine italienische noch eine deutsche Lösung.

Mai 2016

* Deutscher Historiker und Journalist. Er lehrte u. a. an der Universität Erlangen-Nürnberg, in Harvard und an der Sorbonne in Paris, außerdem am Institute for Advanced Studies, Princeton und an der Johns Hopkins University in Bologna. In den 80er Jahren war er außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl. Michael Stürmer spielte dann im sogenannten Historikerstreit (1986/87) eine maßgebliche Rolle. Von 1988–98 war er Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen. Er schrieb für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Neue Züricher Zeitung und ist heute Chefkorrespondent bei der Welt und der Welt am Sonntag. Michael Stürmer ist Officier de la Légion d’Honneur.

Luigi Vittorio Ferraris*

Vorwort zur italienischen Ausgabe

Das psychologische und kulturelle Verhältnis zwischen Italien und Deutschland, oder besser zwischen Italienern und Deutschen, stellt ein altes Problem dar. Und wenn es darüber auch eine umfangreiche italienische und deutsche Literatur gibt, keiner von jenen, die für mehr oder weniger lange Zeit in einer der Regionen diesseits oder jenseits der Alpen miteinander gelebt haben, konnte dem Versuch widerstehen, die Stereotypen zu hinterfragen und womöglich zu überwinden, seien sie nun positiv oder negativ.

Im Europa von heute, das zwar mit seinen Institutionen und in seinem politischen Handeln, aber noch nicht mit den Herzen zusammengewachsen ist, sind die Differenzen immer noch vorhanden, mit fehlender Sensibilität für die historischen Wurzeln, die in ihrer Komplexität Licht und Schatten zeigen. Aber man darf auch nicht vergessen: In Europa gibt es kein zweites Beispiel dafür, dass über einen Zeitraum von zweitausend Jahren zwischen zwei Völkern oder zwei Kulturen ununterbrochen solch intensive und reiche Beziehungen bestanden – auch wenn sie keineswegs immer freundschaftlich waren.

Mit seinem frischen und unvoreingenommenen Wagemut ist es dem beherzten Journalisten Paolo Emilio Petrillo gelungen, in einem lebendigen Bild von Einklängen und Missklängen [dt. im Original] nach siebzig Jahren die Erinnerungen von einfachen Soldaten wieder ins Leben zu rufen, mit dem Ziel, einen schwierigen Teil der gemeinsamen Geschichte offenzulegen. Heucheleien verflechten sich mit Rechtfertigungen, und dabei zeigt sich schließlich, wie es ganz normalen Menschen, die von dramatischen Ereignissen mitgerissen wurden, gelingt, eine eigene, sinnige Menschlichkeit zu finden. Petrillo spürte mit einer bewunderungswürdigen Hartnäckigkeit ehemalige deutsche Kriegsteilnehmer auf (von denen auch einige in den diplomatischen Dienst aufgestiegen waren), um das Bild zu rekonstruieren, das sie von jenem Italien hatten, mit dem sie erst verbündet, dann verfeindet waren. Und er hat die Zeitzeugenberichte ergänzt, indem er auf die unschätzbaren Meldungen aus dem Reich zurückgriff, auf Informationen, die von den Polizeiorganen gesammelt worden waren, um zu erfahren, was die Leute auf der Straße dachten und wie es um die Stimmung im Dritten Reich stand. Eine Stimmung, die, wie wir sehen werden, keineswegs so euphorisch war, wie das auf den spektakulären Nürnberger Kundgebungen geboten wurde.

In Italien werden die dreißiger und teilweise auch die vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu häufig heraufbeschworen, um die Wahrheit zum Zweck einer simplen Demagogie zu beugen, man könnte schließlich sagen, um die unangenehme und schuldhafte Komplizenschaft zwischen Nationalsozialismus und Faschismus, zwischen Hitler und Mussolini vergessen zu lassen. Petrillo rekonstruiert mit großem Elan jene zehn Jahre, indem er auf kluge Weise bekannte Quellen, aber auch Tagebücher und Presseartikel aus dieser Zeit verwendet, und er führt so unserem lückenhaften Gedächtnis die Verantwortungslosigkeit vor allem von Ciano und Mussolini vor Augen: Wenn Ciano in seiner Oberflächlichkeit sich viel zu spät des Fehlers bewusst wurde, sich zu sehr an das Dritte Reich gebunden zu haben, so beharrte Mussolini dickköpfig auf seinem eingebildeten „Parallelkrieg“, um begierig Vorteile aus den Früchten der Siege der Deutschen zu ziehen, die man für unausbleiblich gehaltenen hatte, die aber dann allmählich immer unwahrscheinlicher wurden.

Die Erzählung wird noch fesselnder dank der Zeitzeugenberichte, die Unverständnis und Zweifel bestätigen: Man hatte von der späten Kriegsteilnahme Italiens im Juni 1940 nicht gerade viel gehalten, als „wir Deutschen schon gesiegt hatten“, während sich wenig später die naheliegende Erwartung abzeichnete, dass Italien im Mittelmeerraum Unterstützung brauchen würde, da es viel zu schwach war, um die Probleme alleine zu bewältigen. Den militärischen Fähigkeiten Italiens hatte man nicht viel Respekt entgegengebracht, ohne dass dies einer diffusen und sentimentalen Sympathie für Italien geschadet hätte: Wie ein roter Faden zieht sich in der Vorstellung der Deutschen die eigentümliche, dem „mediterranen Wesen“ scheinbar angeborene „Unzuverlässigkeit“ durch. Eine Unzuverlässigkeit, die sich in den Niederlagen in Afrika und in der Tragödie des italienischen Expeditionskorps in Russland (Corpo di Spedizione in Russia (csir)) zeigte. Dennoch messen die deutschen Zeitzeugen den Vorwürfen, die Italiener hätten in der verlorenen Schlacht am Don zu wenig Einsatz gezeigt, keine Bedeutung bei – wo, so wird gesagt, das Bündnis, die folgenden Ereignisse vorwegnehmend, bereits in die Brüche ging –, sondern beklagen die unzureichende Ausrüstung der italienischen Truppen.

In den von Petrillo veröffentlichten Zeitzeugenberichten entdecken wir Erstaunen und Befremden über die Vorgänge des 25. Juli1, als jenes Regime, das zwanzig Jahre an der Macht war, ohne Widerstand gestürzt wurde. Der endgültige Wendepunkt war dann der 8. September, der die These von der „italienischen Unzuverlässigkeit“ bestätigte: ein auf offensichtlich unredliche Weise vollzogener Frontwechsel nach der falschen Beteuerung, „der Krieg wird fortgesetzt“. Dennoch erscheint der Vorwurf des Verrats eher der Propaganda des Regimes zu entspringen, als dass er die Empfindungen der deutschen Soldaten ausdrücken würde. Ja, es dringen auch Stimmen durch, die über das unvorhergesehene Ereignis froh waren, weil es vielleicht ein rascheres Ende des Krieges herbeigeführt hätte. Es gab sogar freudige Reaktionen darauf (die aber selbstverständlich aus Vorsicht nicht offen gezeigt wurden), dass es den Italienern gelungen war, die nicht mehr zu leugnende Realität zu akzeptieren, dass nach Stalingrad und seinen siebenhunderttausend Toten der Krieg bereits verloren war.

Petrillo wollte die seelischen Auswirkungen bei den deutschen Soldaten aufspüren, für die von einem Augenblick auf den anderen die Verbündeten zu Feinden wurden: einem Feind, der mit allen Mitteln gegen eine Armee vorgehen wollte, die kaum noch an einen Endsieg glaubte, aber durch die Bedingungen gezwungen war, auch vor grausamen Reaktionen nicht zurückzuschrecken. Man muss auf jeden Fall – zumindest in der durch den Abstand vieler Jahre gefilterten Erinnerung – auf den Realismus in Deutschland hinweisen, der die neue Situation zur Kenntnis nahm, die nach dem 8. September entstand, was angesichts der fanatischen Stimmung, die durch Hitler ununterbrochen angeheizt wurde, nicht zu erwarten war. Das Pflichtbewusstsein [dt. im Original] stand außer Frage, auch wenn beschämende oder grausame Aktionen begangen werden mussten, während man zugleich hoffte, der Katastrophe einer drohenden Kapitulation noch entgehen zu können. Die Veteranen neigen zu der Behauptung, oder wollen daran glauben, dass sie einen normalen Krieg geführt haben; oder streichen lieber all das, was Reue hätte hervorrufen können, aus dem Gedächtnis. So behaupten sie sogar, vom Holocaust oder von den Lagern nichts gewusst zu haben: ziemlich merkwürdige Rechtfertigungen, vor allem, wenn sie von Zeitzeugen vorgebracht werden, die in anderen Punkten sehr wohl ein äußerst genaues Erinnerungsvermögen besitzen.

Die Erinnerungen dieser sehr alten Menschen, die aber noch einen ganz wachen Geist besitzen und die Ereignisse und ihre eigene Rolle zu analysieren wissen, geben mit Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit genauen Einblick in die Gefühle der Soldaten der Wehrmacht nach dem 8. September, auch den Italienern gegenüber. Diese ehemaligen Soldaten wollen sich von der SS distanzieren und vermeiden es im Übrigen anzuerkennen, wie sehr sich die Wehrmacht und vor allem ihre stolzen Feldmarschälle mitschuldig gemacht haben, was ja zur Genüge dokumentiert worden ist. Durch die faszinierende Lektüre dieser Erinnerungen entsteht das menschliche Bild von Soldaten, von denen verlangt wurde, einen sinnlosen Krieg zu führen, im Bewusstsein der zu erwartenden Niederlage.

Die Entfremdung [dt. im Original] heute zwischen Italien und Deutschland, dieser präzise, von Rusconi verwendete Begriff, kann nicht einfach den von Petrillo befragten Zeitzeugen zur Last gelegt werden, da sie ja nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit repräsentieren. Es ist wichtig, dass die lange zurückliegende Vergangenheit – welche der Nationalsozialismus und der Faschismus mit Unterstützung der Massen in Nürnberg und auf der Piazza Venezia miteinander teilten, bis die Italiener, viel flexibler als die Deutschen, plötzlich zur Vernunft kamen – die Beziehung dieser beiden Länder nicht belastet, die heute gefestigte liberale Demokratien in einem vereinigten Europa sind. Wenn es auch noch kein europäisches Volk gibt, so haben wir doch gewiss ein Europa unterschiedlicher Völker, die heute in ihren Überzeugungen in Bezug auf Humanität und Freiheit vereint sind, um zu erklären, dass mit Vernunft alte Vorurteile überwunden werden sollen. Und dass man auf jene echten Empfindungen zurückgreifen sollte, die durch die Höllenglut des Krieges zwar entstellt, aber nicht in Vergessenheit geraten sind.

Also ein Buch, das seine Leser verdient: Nicht so sehr, um die Ereignisse einer ideologischen und politischen Allianz, die sich elend geirrt hatte, dem Vergessen zu entreißen, und auch nicht, um die Gründe eines Gegners zu verstehen, der viel zu oft grausam handelte, aber auch unfähig war, sich seinem Schicksal zu entziehen (das Scheitern des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 ist dafür ein trauriges Beispiel), sondern eher, um die vielfältigen Gefühle der Deutschen zu verstehen, auch die widersprüchlichen. Aus den Interviews treten uns Soldaten entgegen, wahrscheinlich keine „Verbrecher“, die jene dramatischen Erfahrungen wachrufen, die sie in einem Italien gemacht hatten, an das sie sich im Allgemeinen – vielleicht ein Widerspruch – mit Sympathie und Zuneigung erinnern. Ebenso positiv erinnert man sich an die Italiener, auch wenn sie ihrem Wesen nach natürlich sehr anders sind.

Die Augenzeugenberichte von einfachen und deshalb beispielhaften Akteuren über eine konfliktreiche Vergangenheit, die dank des Engagements von Paolo Emilio Petrillo gesammelt worden sind, haben Seltenheitswert und müssen vor dem Vergessen bewahrt werden, das durch die fortschreitende Zeit zwangsläufig droht. In diesem Sinne sollten sie daher gelesen und verstanden werden: in ihrem Licht und in ihrem Schatten, zwischen Bekenntnissen und Ungewissheiten. Jedenfalls in ihrer Wahrheit.

* Diplomat und Dozent für internationale Beziehungen. Er lehrte an verschiedenen italienischen und ausländischen Universitäten, u. a. in Rom (LUISS, Roma Tre) und in Jena. Ferraris war von 1980 bis 1987 Botschafter Italiens in Bonn; von 1987 bis 2000 Mitglied des italienischen Staatsrats, 1996 Staatssekretär im Außenministerium. Von 1986 bis 2006 war er Präsident des deutsch-italienischen Zentrums „Villa Vigoni“. Heute ist er Präsident der Italienischen Gesellschaft für Studien zur Mittel- und Osteuropäischen Geschichte (AISSECO) und Ehren-Sektionspräsident des Staatsrats. Ferraris ist Cavaliere di Gran Croce dell’Ordine al Merito della Repubblica Italiana, Träger des Großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland und des Tiroler Adler-Ordens.

Einführung

Vor etwa fünfzehn Jahren kam ich in ein kleines Dorf in Nordrhein-Westfalen, nicht weit von der holländischen Grenze. Anja, die zu jener Zeit mit mir an der Ruhr-Universität in Bochum studierte, hatte mich gebeten, sie zu ihren Großeltern zu begleiten, um Möbel für ihre neue Wohnung abzuholen. „Die Eltern meiner Mutter wohnen nicht weit weg, ungefähr fünfzig Kilometer von hier.“

Wir stellten das Auto vor einem Einfamilienhaus ab, da kam uns schon Anjas Großvater entgegen, ein hoch gewachsener Mann, jenseits der Siebzig, der aber jünger wirkte. Er schnitt gerade die Rosenhecke, als er unsere Ankunft bemerkte. Er begrüßte seine Enkelin sehr liebevoll, mich sehr freundlich.

„Sie kommen also aus Rom – eine wunderschöne Stadt!“ sagte er kurz darauf, als wir allein im Garten spazieren gingen. „Wissen Sie, dass ich auch einmal dort gelebt habe? Zwischen 1941 und Ende 1943, als Wehrmachtsoffizier.“ „Ah …“ entgegnete ich, und dachte an die Gefängniszellen der Via Tasso, an die Deportationen in der Nacht des 16. Oktober 1943, an die Erschießungen bei den Fosse Ardeatine, an Marzabotto …

„Das waren keine schönen Erfahrungen“, fuhr der alte Herr sogleich fort. „Bis September ’43 waren wir Verbündete. Und viele von uns hatten italienische Freunde. Es gab engere Beziehungen, ja sogar Liebschaften. Dann, von einem Tag auf den anderen, wurden wir Feinde, Besatzungstruppen.“ Er sagte das ruhig, mit Worten, die viel Zeit gehabt hatten, ihre Bitterkeit zu verlieren. Worte, die vielleicht nötig waren, dachte ich dann, um mich als Gast empfangen zu können.

Für die Italiener ist der 8. September 1943 ein schmerzhaftes und schwieriges Ereignis, das vielleicht noch nicht völlig geklärt, aber zumindest lange diskutiert worden ist. Was aber stellt dieses Ereignis für die Deutschen dar? Welchen Einfluss, auch emotional, hatte es auf die Politik der deutschen Besatzer, die bis zum April 1945 in Italien waren? Und in welchem Maße prägen die Urteile, die sich die Deutschen damals bildeten, weiterhin das heutige Italienbild? Vielleicht könnte hier jene schleichende Entfremdung zwischen beiden Ländern, von der man vor einigen Jahren sprach, eine ihrer Ursachen haben.2 Um rekonstruieren zu können, wie die Badoglio-Proklamation samt ihren Auswirkungen und Konsequenzen in Deutschland ‚verdaut‘ worden sind, erscheinen die Berichte derjenigen besonders wertvoll, die diese Ereignisse (oder bestimmte Geschehnisse dieser Zeit) mit eigenen Augen erlebt hatten. Die Erzählungen der Zeitzeugen.

Hätte ich diese Recherche damals nach der Begegnung mit Anjas Großvater begonnen, wäre sie einfacher und fruchtbarer gewesen. Der Impuls zu dieser Arbeit kam jedoch erst viel später, auf Grund der Aktualität sozusagen. Als in Deutschland lebender Journalist, der sich häufig mit den deutsch-italienischen Beziehungen befasste, musste ich feststellen, dass gewisse alte Vorbehalte immer noch Eingang finden in die täglichen Medienberichte. Mehr noch: Sie scheinen immer wieder den Hintergrund zu bilden für das Aufeinanderprallen gegenseitiger Vorurteile, auf deren Austausch die Kommunikation zwischen Rom und Berlin sich gelegentlich reduziert.

Festzustellen ist jedenfalls, dass sowohl in der deutschen Erinnerungsliteratur als auch in historischen Abhandlungen der 8. September 1943 kaum Beachtung findet. Auch wenn der italienische Bündnisbruch nicht zum Gegenstand offizieller Debatten wurde, so stellt er in der deutschen Bevölkerung doch bis heute den Nährboden für eine Skepsis dar, deren Motive sich – wenn auch durch die Zeit gemildert – nicht nur nicht verändert, sondern durch die Nachkriegsgeschichte Italiens scheinbar Bestätigung gefunden haben. Übrigens findet sich seit langem bei den Deutschen die Auffassung von der italienischen Unzuverlässigkeit noch heute ein sensibler Begriff in der Beziehung zwischen Deutschland und Italien. Schon Bismarck beobachtete mit Misstrauen Italiens Weg der Verwirklichung seiner nationalen Einheit. Später dann mussten die Deutschen den „Verrat“ von 1915 wegstecken, dessen langer Schatten bis in den August 1939 reichte, als das faschistische Italien eine Kriegsbeteiligung hinauszögerte.3

Im September 1943, mitten in einem Krieg, dessen Situation sich von Tag zu Tag verschlechterte, erfuhr die deutsche Öffentlichkeit von der Proklamation Badoglios; man hatte im Grunde schon mit so etwas gerechnet. Die beiden Nationen, die einst Alliierte waren, standen sich nun auf einmal wieder als Feinde gegenüber. Die Besetzung Italiens war für die Deutschen die notwendige Konsequenz dieses Wechsels der Fronten, da nun ihre eigenen Staatsgrenzen bedroht waren, während für die Italiener die Besetzung der entscheidende Auslöser für einen Freiheitskampf war. Das Ergebnis des Krieges sollte dann in der Beurteilung dieser beiden Standpunkte sein Urteil sprechen und Deutschland ging daraus an Leib und mehr noch an seiner Seele zerstört hervor. Die Bilder von Auschwitz hatten den Deutschen, auch jenen, die keine Schuld auf sich geladen hatten, die Möglichkeit genommen, über ihre eigene Trauer, ihr Leid und ihre Enttäuschungen zu sprechen. Das kann man gut verstehen. Damit war es allerdings unvermeidlich, dass bestimmte Themen, über die man nicht offen sprechen konnte, sich nach und nach wie anerkannte Tatsachen oder selbstverständliche Urteile in der vox populi einnisteten.

Wenn man ältere Deutsche fragt, wie sie über das Verhalten der Italiener im September 1943 denken, erhält man gewöhnlich ironische oder süffisante Antworten, Andeutungen eines noch nicht ganz verdauten Unmuts. Gelegentlich auch einen Funken Verständnis. Zwei Ansichten tauchen regelmäßig auf: Nach Aussage der Deutschen sei in militärischer Hinsicht die italienische Abkehr kein Grund zu besonderer Besorgnis gewesen; und moralisch gesehen habe die Kehrtwende von ’43 keine besondere Überraschung dargestellt, da man – sowohl mit Blick auf die Geschichte als auch nach den Erfahrungen jener drei gemeinsamen Kriegsjahre – der Meinung war, dass man sich auf die Italiener nicht verlassen könne.

Berlin

„Entschuldigen Sie, darf ich Ihnen eine Frage stellen?“

„Nur wenn Du mir nicht irgendeinen Unsinn verkaufen willst …“ Tonfall und Akzent lassen keinen Zweifel: jener Herr, wahrscheinlich jenseits der Achtzig, ist ein Berliner und gehört einer Generation an, die man jetzt nicht mehr so leicht trifft.

„Nein, ich habe nichts zu verkaufen“, antworte ich. „Wenn, dann habe ich etwas zu fragen. Sie haben den Krieg erlebt, nehme ich an.“

„Ich war Adjutant bei der Artillerie; man schickte mich an die Westfront, aber nur für die letzten Monate.“

„Darf ich Sie fragen, ob Sie sich an den September 1943 erinnern können, als die Italiener keine Verbündeten mehr sein wollten?“

„Nein, das dürfen Sie nicht. Das sind alte Geschichten, die keinen mehr interessieren, und außerdem habe ich andere Probleme.“

„Das stimmt nicht, dass das niemanden mehr interessiert“, lasse ich nicht locker. „Und außerdem ist das ein Thema, über das noch nie offen gesprochen worden ist.“

„Man wird darüber nicht in Büchern geschrieben haben“, knurrt der alte Herr, während er sich auf den Weg macht, „aber was passiert ist, war doch klar. Alle hatten eine Vorstellung von der Situation. Im Übrigen haben wir Deutsche den Italienern niemals sehr vertraut, auch schon nicht, bevor sie das Bündnis haben platzen lassen.“

Ich folge ihm, während er auf ein Wohnhaus auf der anderen Straßenseite zuläuft und mir wird klar, dass er nur wenige Meter von dem Supermarkt entfernt wohnt, wo ich ihn angesprochen habe: „Was haben denn Ihre Kameraden über die italienischen Soldaten gesagt? Nach den Berichten einiger Veteranen des Afrika-Korps“, füge ich lächelnd hinzu, „war ihr Ruf als Kämpfer eher umstritten …“

„Wie ich schon sagte, hatten wir nicht viel Vertrauen zu den Italienern, auch auf militärischem Gebiet.“

Er schließt schon das Gartentor, als ich meinen letzten Versuch starte: „Nicht mal eine kleine Plauderei? Würden Sie mir vielleicht Ihren Namen nennen?“

„Nein danke. Wie ich Ihnen schon sagte, interessiert sich für diese Geschichten niemand mehr. Umso weniger tut mein Name hier etwas zur Sache.“

Ganz ähnlich war im Wesentlichen der Kommentar von Wolf Jobst Siedler, dem Gründer des gleichnamigen Verlags, Autor von historischer Literatur und Teilnehmer am Italienfeldzug: „Der Waffenstillstand war kein besonderes Ereignis“, sagte er mir während unseres Treffens in seinem Berliner Haus. „Militärisch gesehen schätzten wir die Italiener nicht sonderlich.“ Und er wiederholte mehrmals diesen Satz: „Nein, von den Italienern hielten wir nicht viel.“

Wahr oder nicht wahr? Überheblichkeit, oder nachträgliche Empörung? Ich stelle die Frage General Max Giacomini4, der lange Zeit Vorsitzender des ANEI (Associazione nazionale ex internati = nationale Vereinigung ehemals internierter Soldaten) war: „Die fehlende Achtung der Deutschen gegenüber den italienischen Streitkräften hat quasi Tradition, das ist etwas, das aus den Zeiten Bismarcks herstammt“, antwortet Giacomini. „Ich gebe Ihnen ein Beispiel: 1937 erklärte Generalfeldmarschall Werner von Blomberg, seinerzeit Reichskriegsminister, nachdem er an einigen Manövern in der Poebene teilgenommen hatte, dass Italien im Falle eines Krieges weder eine Hilfe, noch eine Gefahr darstellen würde: d.h. weder eine Hilfe im Bündnisfall, noch eine Gefahr im entgegengesetzten Fall. Vergessen Sie auch nicht, dass jene Manöver kurz nach der Pariani-Reform stattfanden, die nach dem damaligen Chef des Generalstabs der italienischen Armee, Alberto Pariani, benannt worden ist. Diese Reform sah unter anderem eine Neugliederung der Infanterie-Divisionen vor: Man ging nämlich dazu über, eine Division, die bisher aus drei Infanterie-Regimentern und einem Artillerie-Regiment gebildet wurde, nun aus zwei Regimentern Infanterie und einem der Artillerie aufzubauen. Eine Aufstellung, die strukturell einen gewaltigen Fehler darstellte, was auch Werner von Blomberg sofort erkannte. Die Maßnahme bot jedoch den Vorteil, den Kreis der Divisions-Generäle zu erweitern und damit Ambitionen auf eine Karriere im militärischen Führungskader zu wecken, und darüber hinaus der Propaganda des Regimes die Möglichkeit zu bieten, eine größere Anzahl von Divisionen zu vermelden. Jedenfalls glaube ich nicht, dass die Badoglio-Proklamation tatsächlich keinerlei Befürchtungen beim deutschen Militär hervorgerufen haben sollte. Wahrscheinlich muss man dabei zwischen hohen Offizieren und niederen Rängen unterscheiden: Vielleicht hatte für Letztere diese Frage keine so große Bedeutung, vor allem wenn sie nicht an der italienischen Front waren; aber für die Kommandoebene bedeutete dies, dass das Verteidigungsszenario der deutschen Heimat nun eine ganze Reihe von Modifikationen, das heißt eine bedeutende Umstellung verlangte.“

Treuenbrietzen

Treuenbrietzen ist eine Kleinstadt in Brandenburg, etwa siebzig Kilometer südwestlich von Berlin. Hier erschossen die Nazis am 26. April 1945, als sowjetische Truppen den Ort erreichten, 127 italienische Häftlinge, die bis zu diesem Moment als Zwangsarbeiter in der hiesigen Munitionsfabrik arbeiteten. Wegen dieses Massakers, über das man lange Zeit geschwiegen hatte, entwickelte sich in den letzten Jahren zwischen Italien und Treuenbrietzen ein kultureller Austausch.

Aus dem gleichen Grund hatte Friedel Mihm, damals 62 Jahre alt, ein pensionierter Angehöriger der Bundeswehr und seit einigen Jahren Bürger von Treuenbrietzen, mir angeboten dabei behilflich zu sein, ein Treffen mit einigen älteren Herren aus diesem Ort zu arrangieren.5 Aber der Hauptgrund für die Hilfsbereitschaft von Mihm lag in der Geschichte seiner Familie, die vom Krieg und den Ereignissen in Italien betroffen war.

„Ich entstamme der zweiten Ehe meines Vaters“, erzählte er, während wir vor dem gemeinsamen Treffen einen Tee tranken. „Mein Vater war damals 59 Jahre alt und hatte schon andere Söhne aus der ersten Ehe. Daher waren meine Brüder etwa 20 Jahre älter als ich und gingen alle in den Krieg.“ Einer, berichtete er, fiel; ein anderer war an der Front in Italien – und sei später nie wieder in dieses Land zurückgekehrt, und das sei kein Zufall gewesen. „Mein Bruder Karl hat in Italien gekämpft, auch in Montecassino. Er erzählte mir von einem seiner italienischen Kameraden, mit dem er viel Zeit verbracht hatte und der ihm eines Tages sagte: ‚Karl, ab morgen werde ich auf Dich schießen, wenn ich Dich sehe. Ich stehe jetzt auf der anderen Seite, ich bin ein Partisan‘. Mein Bruder sagte, dass er diese Sätze schon verstehen konnte, weil sie irgendwie einer Idee von Aufrichtigkeit verpflichtet waren. Aber zu schweigen, oder schlimmer noch, zu lügen, wie es Badoglio nach der Vereinbarung des Waffenstillstands getan hatte, war für ihn unvorstellbar. Auf jeden Fall wollte Karl nach dem Krieg nicht mehr nach Italien zurückkehren, wenn er auch zu zwei italienischen Arbeitern, die zur Belegschaft seiner Firma gehörten, ein sehr gutes Verhältnis hatte. Aber dorthin wollte er keinen Fuß mehr hinsetzen.“

Heinz Ruhle und Hans Baatz

„Mindestens bis in die Mitte der 60er Jahre war das Bild vom Italiener als „Verräter“ in Deutschland ziemlich verbreitet. Praktisch ein Gemeinplatz.“

Es ist Heinz Ruhle, der das sagte, Jahrgang 1933 und einer der Zeitzeugen, die ich in Treuenbrietzen traf. Er war zu jung, um eingezogen zu werden, und erlebte so damals in seinem Ort die Exekution der italienischen Gefangenen. Er könne sich gut an den Berg von Leichen erinnern: Er war zwölf Jahre alt und half dabei, sie zu begraben.

„Mein älterer Bruder hatte am Krieg in Italien teilgenommen, wo er auch eine Verlobte hatte“, schilderte er. „Er war Jagdflieger und hatte die Aufgabe, Schiffskonvois auf dem Weg nach Afrika zu schützen. Er erzählte, dass die Beziehungen zu den Italienern sehr gut waren, sowohl zu den Soldaten als auch zur Zivilbevölkerung. Von ihm habe ich tatsächlich niemals das Wort ‚Verrat‘ vernommen, auch nicht von seinen Kameraden; sie sprachen jedoch, das schon, von der Unzuverlässigkeit auf dem Schlachtfeld. Es gab verschiedene gemischte Einheiten während des Krieges, die von Italienern und Deutschen gebildet wurden, und unsere Leute beschwerten sich über die geringe Zuverlässigkeit des Verbündeten: Sie berichteten, dass die Italiener bei einem Angriff gerne das Weite suchten, oder wenigstens uns Deutsche vorauslaufen ließen. Aber über Italien wussten wir im Grunde sehr wenig.“

Die Nachrichten, sagte mir Ruhle, beschränkten sich in Wirklichkeit auf die Sondermeldungen, das heißt auf mehr oder weniger wichtige Meldungen über die Ereignisse an der Front. Und auch das große Interesse an dem Waffenstillstand hielt nicht lange an. Für einige Tage war Italien auf allen Titelseiten und Gegenstand von Artikeln, die den „Verrat“ brandmarkten und ihn als „unerhörte Niedertracht“ anprangerten. Dann ließ die Aufmerksamkeit allmählich nach, die Medien wandten sich hauptsächlich wieder den Ereignissen an der Ostfront zu und die Berichterstattung über Italien beschränkte sich auf einzelne Kämpfe, wie die von Anzio oder Montecassino, oder man berichtete über einige Aktionen der „Terroristen“, wie zum Beispiel das Attentat in der Via Rasella in Rom.

„In unserer Wahrnehmung“, erklärte Ruhle, „war Italien weniger ein Verbündeter als vielmehr so etwas wie unser Eigentum, etwas, über das wir die Vormundschaft hatten. Über die Lage in Italien wussten wir wirklich wenig oder gar nichts. Und die Propaganda des Regimes war eine Maschinerie für Gehirnwäsche. Sie diente hauptsächlich dazu, Hass und Vorurteile zu nähren. Vorurteile, die vielleicht auch heute noch nicht ganz verschwunden sind.“

Seine Interpretation der Ereignisse überzeugte den anderen Teilnehmer des Treffens, Hans Baatz, keineswegs. Baatz, Jahrgang 1927, wurde im Februar 1945 eingezogen und sogleich an die inzwischen sehr nahe Ostfront geschickt. „Das waren keine Vorurteile“, schaltete sich Baatz ein. „Italien und Deutschland waren Verbündete und es gab ein Abkommen, das gebrochen worden ist. Das richtige Wort dafür ist ‚Verrat‘. Ich war nicht in Italien, ich habe in der Tschechoslowakei gekämpft und wurde dort verwundet, aber ich habe verschiedene Kriegskameraden kennengelernt, die an der italienischen Front gewesen sind. Sie erzählten mir von dauernden Verteidigungskämpfen, von Rückzugsgefechten und der ständigen Angst, dass da jemand sein könnte, der hinterrücks auf dich schießt. Das war die Folge einer ganz klar zu benennenden Situation, nämlich der eines Verrats. Das Problem der deutschen Soldaten in Italien war letztlich, dass sie nicht mehr wussten, in welche Richtung sie schauen sollten: vorne waren die Amerikaner, hinter deinem Rücken konnte gleichzeitig ein Partisan sein. Und unsere schlimmsten Feinde waren die Partisanen.“

Während ich zuhörte, kam mir der Gedanke, dass während der Besetzung Italiens dieses Selbstbild, Opfer eines Verrats geworden zu sein, dazu beigetragen haben könnte, Rachegefühle unter den Deutschen zu erzeugen, bis hinab in die untersten Reihen der Vollstrecker.

Heinz Ruhle ergriff wieder das Wort: „An einen Tag kann ich mich sehr gut erinnern, und zwar, als der Duce befreit wurde.“

Die Befreiung Mussolinis durch Skorzeny am 13. September 1943 war auf den Titelseiten aller Zeitungen. „Der Duce wurde befreit. Sensationeller Handstreich deutscher Fallschirmtruppen, des Sicherheitsdienstes und der Waffen-SS. Ganz Europa jubelt über diese Befreiungstat“6, so titelte z.B. die Deutsche Polarzeitung, eine damals auf Deutsch erscheinende Tageszeitung in Norwegen und Finnland.

„Die Deutschen waren sehr glücklich, auf den Straßen herrschte Festtagsstimmung“, erinnerte sich Ruhle. Dennoch habe sich in Deutschland die Nachricht der Inhaftierung des Duce am 25. Juli zunächst nicht verbreitet. „Wir haben nicht gewusst, dass Mussolini vorher gefangen genommen worden war. In Treuenbrietzen bekam man keine Tageszeitungen, es gab nur ein Lokalblatt, Der Streiter für Volk und Heimat. Im Übrigen hatten die Leute weder Zeit noch Lust gehabt sich zu informieren: Der Krieg wurde ja jeden Tag schlimmer. Die laufenden Bombenangriffe, das karge Essen … Auf jeden Fall hatte man an anderes zu denken. Aber wir wussten, dass der Duce ein guter Freund des Führers war und dass er von unseren Soldaten befreit worden war. Auf jeden Fall war das eine wunderbare Nachricht. Und alle waren glücklich und stolz darüber.“

Bevor Adolf Hitler sich an seine Landsleute wandte, um die Hintergründe und Folgen der Badoglio-Proklamation zu erklären, hatte er vorsichtshalber fast zwei Tage verstreichen lassen; dann schließlich hielt er, von Joseph Goebbels gedrängt, am Abend des 10. September eine lange Rede im Großdeutschen Rundfunk, die am folgenden Tag ungekürzt von fast allen Zeitungen wiedergegeben wurde.7 Erst an diesem 10. September erfuhren die Deutschen durch einen Insider-Artikel, der identisch als Aufmacher in verschiedenen Zeitungen erschienen war, dass Mussolini am 25. Juli nicht nur durch Badoglio als Ministerpräsident ersetzt, sondern außerdem in einer Privatresidenz des Königs Vittorio Emanuele III. unter Arrest gestellt worden war.

Sechs Wochen zuvor hatte das Regime aus durchschaubaren politisch-militärischen Gründen die Absetzung des Duce quasi als eine normale Amtsübergabe dargestellt, ohne Hinweis auf sein persönliches Schicksal. Schon am 12. September jedoch wurde Mussolini auf dem Gran Sasso durch ein deutsches Kommando befreit und unter der Führung des Piloten und Vertrauten Hitlers, des SS-Hauptsturmführers Otto Skorzeny nach Deutschland geflogen. Wie diese Aktion möglich gewesen war, ohne dass das deutsche Kommando auf irgendeinen Widerstand stieß (außer der Tatsache, dass der Forstaufseher Pasqualino Vitocco und der Carabiniere Giovanni Natale beim Versuch, Alarm zu schlagen, ihr Leben verloren), ist bis heute noch nicht restlos geklärt. Fraglos jedoch wusste der Führer die Operation so zu lenken, dass sie ein voller Propaganda-Erfolg wurde.

Am Ende des Tages, nach dem Gespräch mit den beiden Zeitzeugen, begleitete mich Friedel Mihm zu jenem Ort, wo die 127 Italiener erschossen worden waren, einem Steinbruch etwa sechs Kilometer außerhalb von Treuenbrietzen. Zwei Gedenksteine erinnern an das Massaker: einer wurde von der DDR aufgestellt, der andere sehr viel später von der italienischen Republik.

„Als Rechtfertigung für die Exekutionen sagte man damals, die Italiener hätten gestohlen“, erklärte Mihm. „Meiner Meinung nach hat man sie jedoch einfach umgebracht, weil sie zu diesem Zeitpunkt im Wege waren. Die deutschen Soldaten waren auf dem Rückzug Richtung Berlin, die Russen verfolgten sie schon in kurzem Abstand und jene Gefangenen waren nun ein Problem, das man schnell loswerden wollte.“

Bei Sonnenuntergang kehrten wir zurück und mein Tag in Treuenbrietzen neigte sich dem Ende zu. Ich bedankte mich bei Friedel Mihm, der mich aufforderte, seine Hand zu drücken. „Sehen Sie? Wenn man sich in Deutschland die Hand gibt, bedeutet das, dass man sein Wort gegeben hat, dass eine Sache beschlossen ist“, erklärte er. „Früher einmal wurde der Handschlag vom Gesetz anerkannt. Das kennzeichnet unsere Mentalität.“

Worauf sich das bezog, war offensichtlich: „Soll das heißen, dass der 8. September für die Deutschen eine schwere Kränkung gewesen ist?“ „Ja, genau so ist es.“

Die Quellen

Was die hier behandelte Geschichte auszeichnet ist die Tatsache, dass sie bis heute noch nicht erzählt wurde. Dass es sich also sozusagen um eine fehlende Version handelt. Damit meine ich, dass das historische Ereignis 8. September 1943 aus dem Blickwinkel der Deutschen bis heute keine historiographische Beachtung gefunden hat. Das hat seine Gründe: Deutschland, das der schlimmsten Verbrechen für schuldig erklärt und außerdem für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich gemacht wurde, sprach man nach 1945 jegliches Recht ab, seine Stimme zu erheben, es sei denn in Form von Geständnissen oder Selbstkritik. Ein Verhalten, das sicherlich verständlich war, und die Deutschen fügten sich, ohne allzu sehr Einspruch zu erheben, vielleicht auch, weil sie das Schweigen für eine auf jeden Fall nötige Aufarbeitung als angemessen empfanden.

Auch deshalb gibt es wahrscheinlich über den Bruch der Allianz zwischen Italien und Deutschland so wenig deutsche Literatur. Diese gesamte Erfahrung und die Art und Weise, wie die Deutschen 1943 auf Italien geschaut haben, ist deshalb fast ausschließlich „Volkes Stimme“ überlassen worden, den Vorurteilen und dem Spott, den Andeutungen und Bemerkungen zwischen den Zeilen. Und dies zum Teil, weil nach Ansicht der Deutschen der italienische Soldat in einer Schlacht gewöhnlich „einen Schritt vor und zwei zurück“ machte, und außerdem, weil der Schuldige sich so sehr schuldig gemacht hatte, dass er kein Recht mehr zu besitzen schien, etwas zu erzählen. Erst recht in einem Fall wie diesem, bei dem die Rollen durcheinandergeraten waren und der Täter auch der ‚Verratene‘ war.

Während also in Italien der 8. September in der Geschichtsschreibung und der Literatur aus einer Perspektive betrachtet wurde, die sich an der Entstehung der Resistenza orientierte, so hat man in Deutschland, wenn auch mit gewichtigen Unterschieden zwischen Bundesrepublik und DDR, dieses Datum auf offizieller Ebene im Wesentlichen stillschweigend übergangen. Es finden sich manche Spuren in Kriegserinnerungen, die in Deutschland nach 1945 erschienen sind, und einige davon haben wir im Verlauf dieser Untersuchung berücksichtigt.8 Darüber hinaus wurde durch Nachforschungen in privaten Manuskripten, Zeitschriften jener Zeit und persönlichen Zeugnissen eine umfangreichere Bibliographie zusammengestellt. Im Anschluss folgt eine kurze Erläuterung der wesentlichen Quellen, die benutzt worden sind, und der Kriterien, denen bei der Bearbeitung dieses Themas gefolgt wurde.

Meldungen aus dem Reich

Viele interessante Bezüge, die deutlich machen können, in welcher Weise der sogenannte Mann von der Straße das Verhältnis zu Italien vor dem 8. September 1943 und danach betrachtet hatte, finden sich in einem umfangreichen Werk, das in Italien kaum bekannt ist: Es handelt sich um die siebzehn Bände der Meldungen aus dem Reich9, in einer preiswerten Ausgabe 1984 erschienen, in denen quasi tägliche Meldungen und Berichte versammelt sind, die zwischen 1938 und 1945 vom Sicherheitsdienst bzw. SD